Wilfried Stroh

Ad fontes!


„Der einzige Weg für uns, groß, ja wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten“. So schrieb im Jahr 1755 ein noch unbekannter deutscher Lateinlehrer, nach dem aber später ein ganzes Zeitalter benannt werden sollte: Winckelmann und sein Jahrhundert formulierte Goethe als Titel einer eigenen Schrift. Mit Johann Joachim Winckelmann begann in der Tat eine neue Begeisterung für die Antike in einem Zeitalter, das sich sonst in allem weit über die „Alten“ hinaus fortgeschritten glaubte: Was sollte Homer noch im Zeitalter der Dampfmaschine?
Auch wenn Winckelmann zunächst nur an die bildende Kunst der Griechen gedacht hatte, jener Satz und diejenigen, die ihm folgten, entzündeten und erweiterten die Herzen noch viel mehr und öffneten die Augen zu einer neuen Sicht auf die klassische Antike, die damals Gefahr lief, zum bloßen Stück eines überkommenen Schulsacks degradiert zu werden. Die Griechen, vor allem die Griechen, galten nun vor allem einmal als die Verkörperung einer vollkommenen Humanität, d.h. eines Menschentums, in dem der einzelne Mensch nicht auf eine Funktion in der Gesellschaft reduziert wird, sondern gleichmäßig seine Kräfte entfaltet. So entsteht die moderne Idee des Humanismus und mit ihr das humanistische Gymnasium, für das die Antike seitdem konstitutiv ist: „Denn wenn wir uns dem Alterthum gegenüber stellen und es ernstlich in der Absicht anschauen, uns daran zu bilden, so gewinnen wir die Empfindung, als ob wir erst eigentlich zu Menschen würden“ (Goethe).
Zugleich damit entstand ein neuer Sinn für die Schönheit nicht nur der antiken Skulptur und Architektur, sondern auch der griechisch-römischen Poesie und Kunstprosa. Dabei ist weniger an die stoffliche Wirkung der Antike in Dramen wie Goethes Iphigeniezu denken – bis heute beflügeln ja Mythen wie die von Ödipus, Antigone und Medea die Phantasie der Dramatiker –, vor allem war es die ästhetische Vollendung, welche nun die Dichter fesselte. Antiker Form sich nähernd überschreibt Goethe einen Kranz seiner elegischen Gedichte, denn nun erst erwarb man die Fähigkeit, die antiken Versmaße wenigstens annäherungsweise im Deutschen, bald auch in anderen Sprachen, nachzubilden. So entstehen etwa die bis heute unübertroffenen Homerübersetzungen des Johann Heinrich Voss, durch die der griechische Hexameter fest in der deutschen Literatur eingebürgert wurde. Er hat seine Meister noch in Gerhart Hauptmann, Thomas Mann und Bertolt Brecht gefunden.
Die programmatische Rückbesinnung auf die Antike in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts, in deren Bann wir noch heute stehen und die von Deutschland aus auf fast auf die ganze Welt ausgestrahlt hat, war nicht die erste in der europäischen Geschichte. Schon fast 400 Jahre früher begann diejenige Bewegung, die wir heute Renaissance nennen und die in nichts anderem als der „Wiedergeburt“ der Bildung bzw. der Antike bestand und deren berühmtester Schlachtruf (nach Erasmus) lautet: Ad fontes, zu den Quellen! Womit die Griechen und Römer gemeint waren. Weil wir diese Zeit heute gerne auch mit dem erst 200 Jahre alten Schlagwort Humanismus bezeichnen, hat sich die Vorstellung verbreitet, als habe man damals nach mittelalterlicher Gottgebundenheit den Menschen ins Zentrum des Denkens gerückt. Aber damit verwechselt man die Epochen. Die frommen Humanisten der Renaissance, seit Petrara und Boccaccio, sahen im eigentlich Menschlichen nicht die allgemeine Menschenbildung wie das Winckelmannzeitalter, sondern vor allem die Sprache, durch die sich ja der Mensch fundamental vom Tier unterscheidet. Die Vernachlässigung der Sprachkultur war das, was man als das spezifisch Mittelalterliche, Überholte empfand; und so musste nun, da das Griechische im praktischen Leben kaum Bedeutung hatte, der große antike Meister der lateinischen Sprache, Cicero, überragendes Vorbild werden.
Nach Jahrhunderten gelang es jetzt den Gebildeten wieder, vollkommene Satzperioden zu schreiben, harmonische Verse zu dichten und dadurch die Sprache der Römer erneut, wie in der Spätantike, zur führenden Literatursprache Europas zu machen. Dies ist sie ja bis ans Ende des siebzehnten Jahrhunderts geblieben. Aber der Grundsatz, dass Bildung vor allem einmal sprachliche Bildung ist, hat seine Gültigkeit, auch nachdem die Bindung an das Lateinische weggefallen ist, nicht verloren.
Wie Cicero dank seiner formalen Vollendung und Eleganz, aber doch ein wenig anders, hat ein römischer Dichter gewirkt: Ovid. Seine Metamorphosen, das Epos von den Verwandlungssagen, wurden seit der Renaissance nicht nur die Schulpforte zur lateinischen Poesie und das bequeme Who is who der Mythologie, sondern auch ein unerschöpflicher Inspirationsquell für Literatur, bildende Künste, ja sogar für die Musik. Unsere Pinakotheken bezeugen es: Kein anderes Buch außer der Bibel hat solche Wirkung gehabt wie dieses zauberhafte Gedicht, das immer auch die Erlaubnis gab, Erotisches und Heidnisches in eine christlich asketische Welt einzuschmuggeln.
Wir verzichten darauf, die Renaissancen der Antike bis zu Karl dem Großen, dem Lateinreformator, oder gar zu Kaiser Diokletian, dem Erneuerer römischer Bildung am Ende des dritten Jahrhunderts, zurückzuverfolgen. Bereits der Blick auf die vergangenen gut 600 Jahre seit Petrarca, d.h. auf die Neuzeit, zeigt uns, dass die Faszination, die von der klassischen Antike ausging und ausgeht – denn keiner dieser Impulse ist je ganz erloschen – eine vielgestaltige ist. Die Antike scheint immer dieselbe und spricht doch zu jedem Zeitalter und Menschen wieder ein wenig anders. Wer sich mit ihr abgibt, befasst sich darum nicht mit einem alten, bewährten Kulturgut, sondern er kann die Erfahrung machen, dass dieses nie veraltende Alte ihm selber überraschend Neues zu sagen hat. Und, wer weiß, vielleicht hat irgendwo eine neue Renaissance schon begonnen. Auf jeden Fall gelte: Ad fontes!