Wilfried Stroh

Karl Heinrich Ulrichs als Vorkämpfer eines lebendigen Latein

Latein, bis weit in die Neuzeit regina linguarum, hatte im siebzehnten Jahrhundert seinen Rang als führende Sprache der europäischen Dichtung verloren; in der Folgezeit hörte es auch auf, verbindliche Sprache der Wissenschaft zu sein: So mächtig erstarkte nun der Nationalismus der europäischen Völker, dass es auch den Gelehrten wichtiger wurde, die eigenen minder gebildeten Mitbürger in deren Sprache zu erreichen als sich untereinander in einer internationalen res publica litterarum gedanklich auszutauschen. Selbst in der klassischen Philologie, deren Lehrstühle einst solche lateinischer Eloquenz und Poesie gewesen waren, verzichtete man im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts allmählich darauf, die nun endgültig als tot empfundene Sprache zu gebrauchen. Sie wurde reduziert auf ihre Aufgabe als Werkzeug historischer Bildung und Forschung und – vor allem hinsichtlich der Schule – als Mittel formalen Geistestrainings.

Es sind nicht sehr zahlreiche, aber oft imponierende Männer und Frauen, die sich dieser bis in die Gegenwart fortdauernden Tendenz (1) tatkräftig widersetzt und das Latein wieder in seine alten Rechte einzusetzen versucht haben. Latinitas viva, "lebendiges Latein" (2) , heißt heute der Kampfruf dieser weltweiten Bewegung. Einer ihrer Vorkämpfer war – den Lateinern z. Zt. noch so gut wie unbekannt (3)  – der deutsche Jurist, Humanist und Weltbürger Karl Heinrich Ulrichs. Nachdem er mit dem ersten Projekt seines Lebens, dem Kampf für die Entkriminalisierung der von ihm erforschten und aus eigenem Erleben beschriebenen "mannmännlichen Liebe" gescheitert war und sein Vaterland verlassen hatte, widmete er sich in seiner italienischen Wahlheimat von L‘Aquila (in den Abruzzen) der neuen Aufgabe, durch eine vom Mai 1889 bis zu seinem Todesjahr 1895 von ihm herausgegebene Zeitschrift Alaudae, "Lerchen", für den internationalen Gebrauch des Lateinischen und seine völkerverbindende Kraft zu werben. Das Motto der Zeitschrift, die nur aus (lateinischen) Beiträgen des Herausgebers bestand, hieß (von der fünften Nummer, August 1889, an): Linguae Latinae mira quaedam vis inest ad jungendas nationes ("Die lateinische Sprache hat eine ganz außerordentliche Kraft, die Völker zu verbinden"); und in der Tat gelang es Ulrichs, wie er 1894 in seinem Lebensabriss (4)  mit Stolz feststellt, Abonnenten in der ganzen Welt, von Indien und Russland über Ägypten bis nach Amerika und sogar Neuseeland (apud ipsos antipodas, "bei den leibhaftigen Gegenfüßlern") zu finden. Deren Begeisterung schlug sich nieder auch in den nach seinem Tod aus verschiedenen Weltteilen eingegangenen Spenden zur Errichtung eines Ehrenmals; und auf dessen Inschrift hieß es dann, nach Würdigung von Ulrichs‘ wissenschaftlichen Verdiensten um Jurisprudenz und Anthropologie sowie seiner unbeugsamen Haltung als Mensch und Politiker:

TANDEM AQVILAE IN VESTINIS DIV DEGENS
EDIDIT EPHEMERIDEM LATINAM
CVI TITVLVS ALAVDAE
AB ANTIQVO AD NOVVM ORBEM IVRE LAVDATAM

("endlich während seines langen Aufenthalts im vestinischen L’Aquila gab er eine lateinische Zeitschrift mit dem Titel Alaudae heraus, die von der Alten bis zur Neuen Welt gepriesen wurde"). Auch die Nachrufe lassen klar erkennen (5) , dass jedenfalls zur Zeit seines Todes Ulrichs' Leistungen als Lateiner als seine bedeutendsten angesehen wurden. Ich kann sie hier leider nur kurz (und vorläufig) zu würdigen versuchen. (6) 

Cordi mihi per totam vitam fuit lingua Latina ("Mein ganzes Leben hindurch lag mir die lateinische Sprache am Herzen") bekennt Ulrichs in dem schon zitierten Lebensabriss, und er fährt fort: Perpetuum "caeterum censeo", ut ita dicam, mihi mansit: linguam Latinam non esse delendam ("Es war mein dauerndes, wenn ich so sagen darf, Ceterum censeo: die lateinische Sprache dürfe nicht zerstört werden" (7) ). Schon sein erstes gedrucktes Werk, die von der Göttinger Akademie 1846 ausgezeichnete Preisschrift des gerade erst einundzwanzig Jahre alten Juristen (Fori reconventionis origines et doctrina, in Göttingen noch im selben Jahr gedruckt, 65 Seiten) enthält ein unverächtliches, soweit es Gattung und Disziplin zulassen, geradezu elegantes Latein (8) ; die poetische Neigung wird deutlich wie aus dem vergilischen Motto (9) , so aus dem eine Widmung ersetzenden Einleitungsepigramm, in dem er, noch etwas ungelenk, den frühen, für ihn schmerzlichen Tod seines Vaters beklagt:

Heu vetuit manibus haec condonare paternis
    Quas terrae gelidas parca severa dedit
Jam genitoris enim cari nihil illa reliquit
    Quam tumulum et mentem qua meminisse licet.


                            Weh! Streng wehrte die Parze, dies Werk den Händen des Vaters
                                Anzuvertraun; sie warf kalt sie zur Erde hinab.
                            Nichts verblieb mir von ihm, dem geliebten, der mich erzeugte,
                                Als sein Grab und der Geist, der die Erinnrung mir lässt. (10) 

Schon zwei Jahre später (1848) hatte er eine zweite juristische Preisschrift (diesmal für die Berliner Akademie) in lateinischer Sprache verfasst: Pax Westphalica quid constituerit de principum jure reformando religionisque exercitio subditorum ("Die im Westfälischen Frieden getroffenen Verfügungen über die Neugestaltung des Rechts der Fürsten und die Religionsausübung der Untertanen"). Leider ist dieses wegen eines Formfehlers nicht mit Preis ausgezeichnete, nur für preiswürdig erachtete Werk, weil nicht gedruckt, offenbar verloren gegangen (11) . Aber auch Ulrichs‘ juristischer Erstling scheint seiner Würdigung noch zu harren.

Als anderthalb Jahrzehnte später (1864) – Ulrichs war längst aus dem Verwaltungsdienst ausgeschieden und vorwiegend als Privatgelehrter tätig – der erste Teil des Werks erschien, das ihn heute berühmt macht ("Vindex." Social-juristische Studien über mannmännliche Geschlechtsliebe = Forschungen über das Räthsel der mannmännlichen Liebe, 1. Schrift, Leipzig, im Selbstverlag), war mit dem zu jener Zeit unerhörten Bekenntnis der eigenen gleichgeschlechtlichen Neigung sogleich die Berufung auf das klassische Altertum verbunden. In einem schon im ersten Satz zitierten wundervollen Vers des Tragikers Phrynichos über das "auf purpurnen Wangen strahlende Licht des Eros" (d. h. des Sehnsucht erregenden Liebreizes) (12)  konnte er seiner Empfindung in einer, bei humanistisch Gebildeten, halbwegs unanstößigen Form Ausdruck verleihen; im Folgenden sind es neben vielen namentlich genannten Griechen auch die Römer, "Virgil’s ecloga II. ‚Alexis‘, die Schriften des Suetonius, des Petronius, die Scriptores historiae Augustae u.s.w." (S. 2), die, wie Ulrichs sagt, "lautes Zeugniß" für die von ihm behauptete ubiquitäre Existenz der "Urninge" ablegen (13) (deren Namen er einer etwas vergröbernden Interpretation von Platons "Symposion" abzwingt (14) ). Eine von ihm geplante Anthologie homoerotischer Poesie, Nemus sacrum sollte darüber hinaus Gedichte unter anderem von Catull, Properz, Martial und Calpurnius enthalten und so auch Zeugnis von der lateinischen Belesenheit des Herausgebers ablegen. Leider scheint sie nie erschienen zu sein, aber einige Proben daraus gibt der siebte Teil der Forschungen (Memnon, Abth. I, 1868, S. XV ff.).

Aber nicht Ulrichs‘ Beschäftigung mit römischer Literatur oder gar dem klassischen Altertum überhaupt kann Gegenstand dieser kurzen Betrachtung sein – so lohnend diese Untersuchung für den Philologiehistoriker wäre -, sondern nur seine kreative Handhabung der lateinischen Sprache. Sie manifestiert sich schon etwa in dem schönen, nach einem Hexameterschluss rhythmisierten Motto "Vincula frango." ("Ich breche die Bande"), das Ulrichs diesem und späteren Teilen seiner Forschungen voranstellt, und das den Schlüssel zum, wie immer, lateinischen Titel Vindex ("Befreier, Rächer")gibt: Er will die "Urninge" aus den Sklavenketten (15)  vor allem der Strafgesetze befreien; das den zweiten Teil der Forschungen ("Inclusa") einleitende Vergilzitat "Rerum cognoscere causas" weist ihn dann als Aufklärungsphilosophen wie Lukrez aus. (16)  Bemerkenswert aber ist vor allem der lateinische Zweizeiler, in dem er seine Auffassung der Veranlagung zur "mannmännlichen Liebe" zusammenfasst:

Sunt mihi barba maris, artus, corpusque virile,
His i n c l u s a quidem: sed sum maneoque puella. (17) 

Hab ich den Bart auch vom Mann, die Glieder, den Körper, das alles
schließt mich von außen nur ein: Ich bin und bleibe ein Mädchen.


Hatte Platon gelehrt, dass der Körper (wie ein Kerker) die Seele einschließe, so stellt Ulrichs nun fest, dass bei ihm und den "Urningen" die Seele einer Frau im Körper eines Mannes eingeschlossen sei. (18) Das Zwittrige dieser sich in zwei Versen ausdrückenden Natur dürfte wohl auch die Erklärung geben für das zumal in seinem zweiten Teil rätselhafte Pseudonym Numa Numantius (19), unter dem Ulrichs die ersten fünf Teile seiner Forschungen erscheinen lässt. Numa als der legendäre römische Gesetzgeber, der die Stadt Rom, wie Livius sagte (1, 19,5), "mit Recht, Gesetzen und Sitten neu zu begründen" unternommen hatte, bot sich als Name für den Justizrefomer Ulrichs geradezu an. Dank seiner weiblichen Endung auf –a war er zugleich ja auch geeignet, das Weibliche in dessen Natur auszudrücken. Um aber doch die Dominanz seiner nach außen hin manifesten Männlichkeit sicherzustellen, wurde ihm nun der (sonst nicht existierende) aus dem Vornamen entwickelte Familienname Numantius beigegeben, so dass sich denn in weiblichem Numa und männlichem Numantius Seele und Körper von Ulrichs zu spiegeln scheinen.

Kommen wir zur eigentlichen lateinischen Dichtung! Ulrichs hat sie nicht oder kaum zum Ausdruck der eigenen erotischen Empfindungen verwendet. (20) Sein erstes lateinisches Gedichtbüchlein Apicula Latina. Lateinische Studentenlieder. Mit angehängten kleinen deutschen Poesien, Leipzig o. J. (abgeschlossen: Stuttgart 1879) ist im wesentlichen ein (der Alma Mater in Göttingen von ihrem "vormals Studio" gewidmeter) Studentenspass, der schon durch seinen Titel ("Lateinisches Bienchen") eine frühere deutsche Sammlung Auf Bienchens Flügeln variiert, auf die Ulrichs auch vielfach Bezug nimmt. So sogleich im ersten kurzen (sapphischen (21)) Lied:

Ad apiculam meam, I.

Quae nimis duros patriis susurros
Versibus ludens prius edidisti,
Nunc, apis, lingua Latii canora
        Carmina funde.
 

An mein Bienchen, I.

Allzu roh und rauh war dein Stimmchen früher,
Als du in der Muttersprache die Verse summtest:
Jetzt, du Biene, singe lateinisch klangvoll
            tönende Lieder!


Die dahinter steckende Auffassung von der Überlegenheit des Lateinischen wird in den als Anhang beigegebenen "Bemerkungen" (22) erläutert. Zwar sei das Deutsche "eine reiche und biegsame" Sprache, aber im "Puncte der Schönheit" könne es mit der lateinischen "den Vergleich nicht ertragen": "Mir imponirt die edle Einfachheit und die ruhige Kraft dieser volltönenden Sprache, mit ihrem Ebenmaß der Silben und ihrem unverleichlichen Gemisch von nicht zu vielen Consonanten und wohlklingenden Vocalen." Und da Ulrichs im wesentlichen Übersetzungen bietet, nimmt er "nur die Rolle des Steinhauers" in Anspruch, "welcher eine Papierzeichnung in Alabaster überträgt" (S. 25 f.).

Dieser als Ausdruck der Bescheidenheit gemeinte Vergleich ist insofern noch immer etwas zu hoch gegriffen, als sich Ulrichs‘ Übertragungen nur selten in den Bereich der eigentlich lateinischen Metrik (mit ihren Feinheiten der Silbenquantität) wagen (ein Beispiel dafür war die zitierte Strophe): Schon um zu studentischen Kneipzwecken singbar zu sein, gibt er meist einfach gereimte rhythmische Verse nach mittelalterlichem Vorbild, wie es im neunzehnten Jahrhundert vor allem durch das (bis heute unausrottbare) Gaudeamus igitur wieder aufgelebt war. Aus dem beliebten "Rundgesang und Gerstensaft" wird dann etwa (S. 4):

Cantus et spumantia
    Pocula amamus;
Vivat cerevisia!
    Juvens bibamus! (23) etc.
Ein Gedicht, das sich auch nach zahlreichen pocula noch leidlich singen lässt. Origineller ist ein "makkaronischer", d. h. lateinisch-französisch gemixter "König in Thule", der so beginnt (S. 16):
Thules regi (24) vetusto
Fido jusqu’ à la mort,
Moriens ejus puella
Dederat poculum d’ or.

Hic calix illi mansit
Toujours un grand bijou;
Et boire de ce calice
Etait au roi si doux.

Aber neben solchem schieren Ulk finden sich auch poetische Perlen wie eine sehr freie und antik empfundene Bearbeitung von Matthissons (durch Beethovens Vertonung berühmt gewordene) "Adelaide", von der wenigstens der Anfang zusammen mit dem deutschen Original zitiert sei (S. 19):
Einsam wandelt dein Freund im Frühlingshaine,
Mild von zauberischem Licht umflossen,
Das durch wankende Blüthenzweige zittert,
    Adelaide.

In der spiegelnden Fluth, im Schnee der Alpen,
In des Tages letztem Goldgewölke,
Im Gefilde der Sterne strahlt dein Bildniß,
    Adelaide.

Ante dilectos fugio sodales;
Atque, seu suaves nemorum recessus
Solus accedens patulaeque amoenam
    arboris umbram,

Sive, queis nubes superantur, arces
Alpium Aurora glacieque (25) rubras,
Te voco et nomen vacuas in auras:
    "Adelaida!"

Das hieße in wörtlicher Prosa (die von der lateinischen Formschönheit keinen Eindruck geben kann) etwa:
Ich fliehe vor den Freunden, die mir zuvor lieb waren.
und ob ich nun in die süße Entlegenheit
der Haine einsam gehe und in den lieblichen Schatten
des weit ausladenden Baumes,

oder, zu den Burgen der Alpen, die den Schnee
noch überragen und deren Eis von Aurora gerötet ist,
dich und deinen Namen rufe ich in die leeren Lüfte:
"Adelaide!"

Der phantastische Überschwang Matthissons, über den sich der gut aufgelegte Ulrichs in seinen Anmerkungen (vielleicht etwas übertrieben) lustig macht – zu V. 5: "Denkt sich der Dichter hier den Schnee eine Fata morgana wiederspiegelnd? Oder Fräulein Adelaide als einen aus Schweizerschnee zusammengekneteten Schneekerl?" -, ist hier insgesamt doch schön auf klassisch-horazisches Maß zurückgestutzt. Und nicht minder erfolgreich ist Ulrichs, wenn er, mit umgekehrter Stiltendenz, etwa Goethes lakonisches "Über allen Wipfeln ist Ruh" zur zweistrophigen Ode Carmen sepulcrale, das Pathos steigernd, ausbaut (S. 22). (26) Hier wenigstens glänzt einmal Alabaster.

Insgesamt anspruchsvoller sind die streng metrischen Cupressi (Cypressenzweige), die der Dichter, längst in L’Aquila lebend und sich "Carlo Arrigo Ulrichs" nennend, acht Jahre später (1897) dem geheimnisvoll ertrunkenen König Ludwig II. von Bayern aufs Grab legt. (27) Nach einigen einleitenden Distichen schildert ein kurzes Gedicht (28) die gewaltsame Festnahme und psychiatrische Einkerkerung des sich empörenden Königs (Me credunt, me frena pati? "Ich, meinen sie, ich könnte die Fesseln ertragen?"); dann folgen unter dem Titel Villa regia Berg die Verse, die vielleicht die besten und jedenfalls eigenartigsten sind, die Ulrichs bis dahin in lateinischer Sprache geschrieben hat. Wolfram Setz hat sie jüngst mitgeteilt und – in etwas freierer Metrik – nachempfindend übersetzt (29); so soll hier nur eine Paraphrase des 13 Verse umfassenden Gedichts gegeben sein. Ulrichs malt zunächst stimmungsvoll den ruhig daliegenden Starnberger See, so wie ihn der König empfindet, als Verlockung zu Frieden und Tod: murmurat undas QUIES. REQUIES levis unda susurrat ( "FRIEDE, FRIEDE UND RUH, so murmelt plätschernd die Welle"). Aus den himmelblauen Wassern hört er die Stimme einer leibhaftigen "feuchten Naiade", die ihn ruft, bis das Schlussdistichon, den Tod selber überspringend, resümiert:

                        ... caerula linter
Ad libertatem sic fuit unda tibi.

                                                           ... so war dir die blaue
Welle ein Nachen der dich heim in die Freiheit gebracht.

Kein Zweifel: Dieser Tod war kein Unfall oder Verbrechen, er war in jedem Sinn ein Freitod des tief Gekränkten. So jedenfalls deutet ihn Ulrichs in einem Gedicht, das romantische Stimmung und Sentimentalität recht glücklich mit frei verwendeter (30) antiker Form vereint. (31)

Formgefühl und Empfindung reichen auch im Lateinischen nicht aus, um einen bedeutenden Dichter zu machen: Ulrichs fehlte dazu, bei aller Anerkennung darf man es sagen, die ganz große Phantasie und Schöpferkraft; und so hat er sein Bestes schließlich doch als lateinischer Journalist geleistet. Seine lateinischen "Lerchen", die Alaudae, die ihn, wie wir eingangs sahen, endlich weltweit berühmt gemacht haben, waren eine Lateinzeitschrift, wie es sie, zumindest in Europa (32), vor ihm nicht gegeben hatte: Erst drei Jahre nach dem Verstummen der Lerchen ertönte aus Rom die vom großen Lateinpapst und Dichter Leo XIII. begründete Vox urbis (1898 ff.).Die Alaudae waren von staunenswerter Vielfalt der Themen und Formen (was hier nur noch gerade angedeutet werden kann). Fast immer enthalten sie, vor allem in den ersten Jahren, lateinische Gedichte von Ulrichs (den offenbar die eigene Zeitschrift zu größerer Produktivität als früher stimuliert (33)), dazu kommt, längere Zeit, Sulitelma, ein kleiner Fortsetzungsroman; dann allerlei Bildendes, archäologisch-epigraphische Spaziergänge in Italien, philologische Betrachtungen, aber auch der seinerzeit beliebte "höhere Blödsinn" (in einem Quasillus ineptiarum, "Körbchen voll Unfug") und – natürlich – Nachrichten aus der lateinischen Welt: Wo immer an prominenterem Ort eine lateinische Rede gehalten oder gar eine römische Komödie in der Originalsprache aufgeführt wird – schon damals taten sich die Finnen hervor -, da hören und zwitschern die Lerchen davon, die Morgenröte einer besseren, lateinischeren Zukunft erahnend ... Ulrich‘s früheres Hauptthema, die "mannmännliche Liebe", auch wenn es noch da und dort anklingt, scheint fast vergessen: Erst in einer der letzten, interessantesten Nummern (32a, September 1894) kommt er explizit darauf zurück, als er eine eben erschienen Denkschrift des Herrn von R. de Kraft (sic) Ebing bespricht und seinen Lateinlesern mit aller Wärme ans Herz legt: War von diesem auch die Homosexualität als "Geisteskrankeit" abgewertet worden (Ulrichs dazu S. 356 mit originaldeutscher Einlage: "Scilicet insaniam in promtu habere solent medici [Mit Geisteskrankheit sind Mediziner immer gleich zur Hand]. Was man sich nicht erklären kann, das sehn sie gleich als Irrsinn an" – man denke an König Ludwig), so hatte er doch das Hauptanliegen von Ulrichs, die Entkriminalisierung der verpönten Liebe, mit Nachdruck aufgenommen und begründet – freilich, wie Ulrichs mit begreiflicher Bitterkeit feststellte, ohne dass er, der Vorkämpfer, auch nur mit Namen genannt worden wäre:
 

Hos ego versiculos scripsi; tulit alter honores ....

Ich zwar schrieb das Gedicht, doch erntet ein andrer die Ehre ...


schrieb er, einen angeblichen Vergilvers auf sich selber anwendend. Nun, Krafft Ebing hat zwei Jahre später sein Versehen wieder gut gemacht. Und heute vollends ist, was Ulrichs in seinem ersten Lebensteil gefordert und oft geradezu prophetengleich verkündet hatte, auch wenn er selbst damit gescheitert ist, fast global verwirklicht worden.

Könnte es mit seiner zweiten Lebensmission, der weltweiten Latinitas viva, am Ende ähnlich gehen?
 
 

Fußnoten:
1. Vgl. dazu jetzt besonders Jozef  Ijsewijn / (Dirk Sacré), Companion to Neo-Latin Studies, 2 Bde., Löwen ²1990/1998 und  Françoise Waquet, Latin ou l‘ empire d‘ un signe: XVIe-XXe siècle, Paris 1998.
2. Dazu demnächst mein Artikel „Lebendiges Latein“, in: Der Neue Pauly: Enzyklopädie der Antike, Bd. 14.
3. Immerhin gab schon Dirk Sacré in „Le latin vivant: les périodiques latins“, Les Etudes Classiques 56, 1988, S. 91-104 einen Hinweis auf die Pionierleistung der Alaudae. Mir persönlich ist Ulrichs nur durch die dankenswerte Vermittlung von Wolfram Setz bekannt geworden. Er hat mich auch, z. T. durch Fotokopien, mit dessen wichtigsten lateinischen Werken bekannt gemacht; sie sind jetzt (besonders auch die gesamten Alaudae) vorhanden und zugänglich in der neulateinischen Abteilung der Bibliothek des Instituts für Klassische Philologie der Universität München.
4. Abgedruckt in Nicolaus Persichetti (Hrsg.), In memoriam Caroli Henrici Vlrichs ephemeridis cui titulus „Alaudae“ auctoris sylloge, Ex Arce Sancti Cassiani  1896, S. 5-7.
5. Gesammelt von Niccolò Persichetti, s. oben Anm. 4 (vgl. bes. auch den Titel von dessen Gedenkschrift).
6. Besonders bedaure ich es, dass mir im Moment der Abfassung die grundlegende Arbeit von Hubert Kennedy (Karl Heinrich Ulrichs – Sein Leben und sein Werk, Stuttgart 1990) nicht zur Hand ist; dankbar benutze ich dessen Lebensabriss in Biographisches Lexikon für Ostfriesland, Bd. 2, 1997, 384-387 und das Vorwort zu seiner Neuausgabe von K. H. Ulrichs, Forschungen über das Rätsel der mannmännlichen Liebe, 12 Teile in 4 Bänden (= Bibliothek rosa Winkel Bd. 7-10), Berlin 1994 [zuerst 1864-1879], dort Bd. 1, S. 9-18.
7. Mit Anspielung auf die berühmte Nachricht, der ältere Cato habe jede Senatsrede mit dem Satz beendet: ceterum censeo Karthaginem esse delendam („Im übrigen meine ich, dass Karthago zerstört werden muss“).
8. Der Titel („Ursprünge und Lehre vom Gerichtshof für die Widerklage“) ist vielleicht nicht ganz glücklich formuliert; für den unklassischen  Terminus reconventio entschuldigt sich Ulrichs selber (S. 5 mit Anm. 6).
9. „at mihi mens juvenali ardebat amore.“ VIRG. AEN., „aber mir brannte der Geist in jugendlicher Liebe“ (=Aen. 8, 163:  der alte Euandrus über seine frühere Begegnung mit dem jugendlichen Anchises); durch Zufügung des bei Vergil fehlenden at und Weglassung der bei Vergil folgenden Ergänzung (compellare uirum) wird der Sinn stark verändert. Vielleicht beabsichtigt Ulrichs schon hier ein verschlüsseltes Bekenntnis seiner homosexuellen Veranlagung, deren er sich in jener Zeit zuerst voll bewusst wird: juvenali könnte insgeheim auch einen Genetivus objectivus vertreten, so dass am Ende gar von der „Liebe zu Jünglingen“ die Rede wäre.
10. Unter mentem möchte man logischerweise zunächst den Geist des Vaters, der diesen irgendwie überleben würde, verstehen; aber qua meminisse licet lässt nur an die mens des Dichters denken, der offenbar ausdrücken will, dass ihm vom Vater nur das Grab und die Erinnerung geblieben seien. Auch dass die Parze um der Pointe willen nur gerade die Hände des Vaters in die Erde senkt, ist nicht sehr glücklich erfunden.
11. So nach (mündlicher) Auskunft von Wolfram Setz, der sich auf Nachforschungen Hubert Kennedys beruft.
12. Phrynichus F 12 Snell/Kannnicht (Tragicorum Graecorum fragmenta, Bd. 1, ²1986, S.77): Der homoerotische Bezug (auf Troilos) ergab sich aus dem Ulrichs bekannten Kontext des Zitats bei Athenaios.
13. Der heute vor allem von Foucaultschülern vertretenen Auffassung, es  habe im Altertum den Begriff einer Homosexualität bzw. homosexuellen Veranlagung noch gar nicht gegeben – sie wird widerlegt schon allein durch die Aristophanesrede in Platons ‚Symposion‘ – wäre Ulrichs verständnislos gegenüber gestanden.
14. S. 2: „Eine poetische Fiction Plato’s leitet nämlich den Ursprung der mannmännlichen Liebe ab vom Gotte Uranus, den der Weiberliebe von der Dione“ (zitiert nach der oben in Anm. 6 angeführten Ausgabe). In Wirklichkeit sagt Pausanias bei Platon (schon gar nicht Platon selbst), dass die Vertreter des von der Uranostochter Aphrodite abstammenden „Eros Uranios“ nur die Knabenliebe kennen, wogegen der von der Dionetochter Aphrodite geborene „Eros Pandemos“ seine Anhänger im Bereich der Frauen-  u n d  der Knabenliebe habe (Symposion 180 C ff.). Dort fand Ulrichs auch den Hinweis darauf, dass der Audruck „Knabenliebe" bzw. „Päderastie" eigentlich nicht passe, weil Objekt der Liebe die schon geschlechtsreifen puberes seien.
15. Vgl. bes. Forschungen III („Vindicta“), 1865, S. 27 f.
16. Die fälschliche, von Ulrichs selbst später korrigierte Zuschreibung an Lukrez selber (s. die Erläuterungen Bd. 1, S. 2 im Anhang der Ausgabe von Kennedy [oben Anm. 6]) ist der Sache nach richtig, insofern Vergil sich hier  (georg. 2, 490) auf Lucrez und die befreiende Kraft seiner epikureischen Naturphilosophie bezieht.
17. Inclusa wird von Ulrichs selbst, als Erklärung des Buchtitels hervorgehoben.
18. Ein anderer Zweizeiler zur Beschreibung  der Natur der „Urninge“ entstellt absichtlich eine witzige Formulierung Martials, der die bisexuellen Gebrauchsmöglichkeiten des Manns so ausgedrückt hatte (11, 22, 9 f.): diuisit natura marem: pars una puellis, / una uiris genita est („Die Natur hat den Mann in zwei Teile geteilt; der eine ist für die Mädchen, der andere für die Männer geboren“). Ulrichs macht daraus im Sinne seiner Theorie: diuisum genus est marium: pars una etc. („Zweigeteilt ist das Geschlecht der Männer; ein Teil von ihnen ist für die Mädchen, der andere für die Männer geboren“), Forschungen VI („Memnon“) S. 2.
19. Eine Ableitung von der Stadt Numantia, an die man vage denken könnte, verbietet sich, da das Adjektiv dazu Numantinus heißen müsste.
20. Vgl. dagegen etwa hocherotische deutsche Gedichte wie „Mich dürstet“, in: Forschungen VI („Memnon“ Abth. I) S. IX ; mehr in: Wolfram Setz (Hrsg.): K. H. Ulrichs, Matrosengeschichten und Gedichte, Berlin 1998, 95 ff.
21. Bis auf das Motto (in phalaeceischen Hendecasyllaben) sind die metrischen Gedichte alle in Form der sapphischen Strophe, die Ulrichs auch später bevorzugt.
22. Bezeichnend für Ulrichs‘ selbstkritische Ironie ist die angebliche „Anm. des Setzers“: „Ich finde, daß diese  ‚Bemerkungen‘ ziemlich langweilig zu lesen sind. Mein Rath wäre, sie zu überschlagen“ (S. 25). Ähnlich schäkert er auch in den Alaudae mit seinen Lesern.
23. Streng werden die Regeln rhythmischer Dichtung, die ausschließlich am natürlichen Wortakzent orientiert sein müsste, insofern nicht eingehalten, als immer wieder ein aus der (erst neuzeitlichen) Lesetradition metrischer Verse stammender tonbeugender „Iktus“ eindringt, wie in V. 5 des zitierten Gedichts: Quae est, frater, quam amas? (gesungen: amás statt ámas). Aber das ist eine Unart des neunzehnten Jahrhunderts überhaupt.
24. Zur Betonung  regí (schlimmer V. 3: moriéns ejús) vgl. die vorige Anmerkung.
25. Besser wäre m. E., da Eis nicht röten, nur erröten kann: glaciesque (Druckfehler?).
26. Das Gedicht ist (in späterer Fassung) abgedruckt bei W. Setz (wie oben Anm. 20), S. 22.
27. Eine Abbildung der Titelseite (des der jetzigen Bayerischen Staatsbibliothek München handschriftlich gewidmeten Exemplars) bei Setz (wie Anm. 20), S. 2.
28. Die Form ist eigenwillig, nicht völlig antik: Auf stichische Hexameter folgt im letzten Vers ein elegisch abrundender Pentameter.
29. In der oben Anm. 20 zitierten Sammlung, dort  S. 146 f.
30. Das Metrum entspricht dem des vorausgegangenen Gedichts (vgl. oben Anm. 28). - In den folgenden Gedichten, die nicht mehr alle einen Bezug auf Ludwig haben verwendet Ulrichs in eigenwilliger Weise auch anapästische Formen.
31. Der etwas spätere italienische Dichter Giovanni Pascoli (1855-1912) hat, freilich ungleich großartiger und erfolgreicher, Ähnliches versucht.
32. Nicht genauer bekannt sind mir Natur und Alter des in Philadelphia erschienenen Praeco Latinus, der im September 1895 Ulrichs einen hochpathetischen Nachruf widmet (bei Persichetti [oben Anm. 4] S. 20) und dabei mit offenbar absichtlicher Einschränkung von ihm als concinnator periodici Latini, in Europa, quantum sciamus, unici spricht.
33. Ulrichs‘ metrische Experimente würden eine eigene Würdigung verdienen.