Latein, bis weit in die Neuzeit regina linguarum, hatte im siebzehnten Jahrhundert seinen Rang als führende Sprache der europäischen Dichtung verloren; in der Folgezeit hörte es auch auf, verbindliche Sprache der Wissenschaft zu sein: So mächtig erstarkte nun der Nationalismus der europäischen Völker, dass es auch den Gelehrten wichtiger wurde, die eigenen minder gebildeten Mitbürger in deren Sprache zu erreichen als sich untereinander in einer internationalen res publica litterarum gedanklich auszutauschen. Selbst in der klassischen Philologie, deren Lehrstühle einst solche lateinischer Eloquenz und Poesie gewesen waren, verzichtete man im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts allmählich darauf, die nun endgültig als tot empfundene Sprache zu gebrauchen. Sie wurde reduziert auf ihre Aufgabe als Werkzeug historischer Bildung und Forschung und – vor allem hinsichtlich der Schule – als Mittel formalen Geistestrainings.
Es sind nicht sehr zahlreiche, aber oft imponierende Männer und Frauen, die sich dieser bis in die Gegenwart fortdauernden Tendenz (1) tatkräftig widersetzt und das Latein wieder in seine alten Rechte einzusetzen versucht haben. Latinitas viva, "lebendiges Latein" (2) , heißt heute der Kampfruf dieser weltweiten Bewegung. Einer ihrer Vorkämpfer war – den Lateinern z. Zt. noch so gut wie unbekannt (3) – der deutsche Jurist, Humanist und Weltbürger Karl Heinrich Ulrichs. Nachdem er mit dem ersten Projekt seines Lebens, dem Kampf für die Entkriminalisierung der von ihm erforschten und aus eigenem Erleben beschriebenen "mannmännlichen Liebe" gescheitert war und sein Vaterland verlassen hatte, widmete er sich in seiner italienischen Wahlheimat von L‘Aquila (in den Abruzzen) der neuen Aufgabe, durch eine vom Mai 1889 bis zu seinem Todesjahr 1895 von ihm herausgegebene Zeitschrift Alaudae, "Lerchen", für den internationalen Gebrauch des Lateinischen und seine völkerverbindende Kraft zu werben. Das Motto der Zeitschrift, die nur aus (lateinischen) Beiträgen des Herausgebers bestand, hieß (von der fünften Nummer, August 1889, an): Linguae Latinae mira quaedam vis inest ad jungendas nationes ("Die lateinische Sprache hat eine ganz außerordentliche Kraft, die Völker zu verbinden"); und in der Tat gelang es Ulrichs, wie er 1894 in seinem Lebensabriss (4) mit Stolz feststellt, Abonnenten in der ganzen Welt, von Indien und Russland über Ägypten bis nach Amerika und sogar Neuseeland (apud ipsos antipodas, "bei den leibhaftigen Gegenfüßlern") zu finden. Deren Begeisterung schlug sich nieder auch in den nach seinem Tod aus verschiedenen Weltteilen eingegangenen Spenden zur Errichtung eines Ehrenmals; und auf dessen Inschrift hieß es dann, nach Würdigung von Ulrichs‘ wissenschaftlichen Verdiensten um Jurisprudenz und Anthropologie sowie seiner unbeugsamen Haltung als Mensch und Politiker:
TANDEM AQVILAE IN VESTINIS DIV DEGENS
EDIDIT EPHEMERIDEM LATINAM
CVI TITVLVS ALAVDAE
AB ANTIQVO AD NOVVM ORBEM IVRE LAVDATAM
("endlich während seines langen Aufenthalts im vestinischen L’Aquila gab er eine lateinische Zeitschrift mit dem Titel Alaudae heraus, die von der Alten bis zur Neuen Welt gepriesen wurde"). Auch die Nachrufe lassen klar erkennen (5) , dass jedenfalls zur Zeit seines Todes Ulrichs' Leistungen als Lateiner als seine bedeutendsten angesehen wurden. Ich kann sie hier leider nur kurz (und vorläufig) zu würdigen versuchen. (6)
Cordi mihi per totam vitam fuit lingua Latina ("Mein ganzes Leben hindurch lag mir die lateinische Sprache am Herzen") bekennt Ulrichs in dem schon zitierten Lebensabriss, und er fährt fort: Perpetuum "caeterum censeo", ut ita dicam, mihi mansit: linguam Latinam non esse delendam ("Es war mein dauerndes, wenn ich so sagen darf, Ceterum censeo: die lateinische Sprache dürfe nicht zerstört werden" (7) ). Schon sein erstes gedrucktes Werk, die von der Göttinger Akademie 1846 ausgezeichnete Preisschrift des gerade erst einundzwanzig Jahre alten Juristen (Fori reconventionis origines et doctrina, in Göttingen noch im selben Jahr gedruckt, 65 Seiten) enthält ein unverächtliches, soweit es Gattung und Disziplin zulassen, geradezu elegantes Latein (8) ; die poetische Neigung wird deutlich wie aus dem vergilischen Motto (9) , so aus dem eine Widmung ersetzenden Einleitungsepigramm, in dem er, noch etwas ungelenk, den frühen, für ihn schmerzlichen Tod seines Vaters beklagt:
Weh! Streng wehrte die Parze, dies Werk den Händen des Vaters
Anzuvertraun; sie warf kalt sie zur Erde hinab.
Nichts verblieb mir von ihm, dem geliebten, der mich erzeugte,
Als sein Grab und der Geist, der die Erinnrung mir lässt.
(10)
Schon zwei Jahre später (1848) hatte er eine zweite juristische Preisschrift (diesmal für die Berliner Akademie) in lateinischer Sprache verfasst: Pax Westphalica quid constituerit de principum jure reformando religionisque exercitio subditorum ("Die im Westfälischen Frieden getroffenen Verfügungen über die Neugestaltung des Rechts der Fürsten und die Religionsausübung der Untertanen"). Leider ist dieses wegen eines Formfehlers nicht mit Preis ausgezeichnete, nur für preiswürdig erachtete Werk, weil nicht gedruckt, offenbar verloren gegangen (11) . Aber auch Ulrichs‘ juristischer Erstling scheint seiner Würdigung noch zu harren.
Als anderthalb Jahrzehnte später (1864) – Ulrichs war längst aus dem Verwaltungsdienst ausgeschieden und vorwiegend als Privatgelehrter tätig – der erste Teil des Werks erschien, das ihn heute berühmt macht ("Vindex." Social-juristische Studien über mannmännliche Geschlechtsliebe = Forschungen über das Räthsel der mannmännlichen Liebe, 1. Schrift, Leipzig, im Selbstverlag), war mit dem zu jener Zeit unerhörten Bekenntnis der eigenen gleichgeschlechtlichen Neigung sogleich die Berufung auf das klassische Altertum verbunden. In einem schon im ersten Satz zitierten wundervollen Vers des Tragikers Phrynichos über das "auf purpurnen Wangen strahlende Licht des Eros" (d. h. des Sehnsucht erregenden Liebreizes) (12) konnte er seiner Empfindung in einer, bei humanistisch Gebildeten, halbwegs unanstößigen Form Ausdruck verleihen; im Folgenden sind es neben vielen namentlich genannten Griechen auch die Römer, "Virgil’s ecloga II. ‚Alexis‘, die Schriften des Suetonius, des Petronius, die Scriptores historiae Augustae u.s.w." (S. 2), die, wie Ulrichs sagt, "lautes Zeugniß" für die von ihm behauptete ubiquitäre Existenz der "Urninge" ablegen (13) (deren Namen er einer etwas vergröbernden Interpretation von Platons "Symposion" abzwingt (14) ). Eine von ihm geplante Anthologie homoerotischer Poesie, Nemus sacrum sollte darüber hinaus Gedichte unter anderem von Catull, Properz, Martial und Calpurnius enthalten und so auch Zeugnis von der lateinischen Belesenheit des Herausgebers ablegen. Leider scheint sie nie erschienen zu sein, aber einige Proben daraus gibt der siebte Teil der Forschungen (Memnon, Abth. I, 1868, S. XV ff.).
Aber nicht Ulrichs‘ Beschäftigung mit römischer Literatur oder gar dem klassischen Altertum überhaupt kann Gegenstand dieser kurzen Betrachtung sein – so lohnend diese Untersuchung für den Philologiehistoriker wäre -, sondern nur seine kreative Handhabung der lateinischen Sprache. Sie manifestiert sich schon etwa in dem schönen, nach einem Hexameterschluss rhythmisierten Motto "Vincula frango." ("Ich breche die Bande"), das Ulrichs diesem und späteren Teilen seiner Forschungen voranstellt, und das den Schlüssel zum, wie immer, lateinischen Titel Vindex ("Befreier, Rächer")gibt: Er will die "Urninge" aus den Sklavenketten (15) vor allem der Strafgesetze befreien; das den zweiten Teil der Forschungen ("Inclusa") einleitende Vergilzitat "Rerum cognoscere causas" weist ihn dann als Aufklärungsphilosophen wie Lukrez aus. (16) Bemerkenswert aber ist vor allem der lateinische Zweizeiler, in dem er seine Auffassung der Veranlagung zur "mannmännlichen Liebe" zusammenfasst:
Hab ich den Bart auch vom Mann, die Glieder, den
Körper,
das alles
schließt mich von außen nur ein: Ich bin
und bleibe ein Mädchen.
Hatte Platon gelehrt, dass der Körper (wie ein Kerker) die
Seele einschließe, so stellt Ulrichs nun fest, dass bei ihm und
den
"Urningen" die Seele einer Frau im Körper eines Mannes
eingeschlossen
sei. (18) Das Zwittrige dieser sich in zwei Versen
ausdrückenden
Natur dürfte wohl auch die Erklärung geben für das zumal
in seinem zweiten Teil rätselhafte Pseudonym Numa Numantius (19),
unter dem Ulrichs die ersten fünf Teile seiner Forschungen erscheinen
lässt.
Numa als der legendäre römische Gesetzgeber,
der die Stadt Rom, wie Livius sagte (1, 19,5), "mit Recht, Gesetzen und
Sitten neu zu begründen" unternommen hatte, bot sich als Name
für
den Justizrefomer Ulrichs geradezu an. Dank seiner weiblichen Endung
auf
–a war er zugleich ja auch geeignet, das Weibliche in dessen
Natur
auszudrücken. Um aber doch die Dominanz seiner nach außen
hin
manifesten Männlichkeit sicherzustellen, wurde ihm nun der (sonst
nicht existierende) aus dem Vornamen entwickelte Familienname Numantius
beigegeben, so dass sich denn in weiblichem Numa und
männlichem
Numantius
Seele
und Körper von Ulrichs zu spiegeln scheinen.
Kommen wir zur eigentlichen lateinischen Dichtung! Ulrichs hat sie nicht oder kaum zum Ausdruck der eigenen erotischen Empfindungen verwendet. (20) Sein erstes lateinisches Gedichtbüchlein Apicula Latina. Lateinische Studentenlieder. Mit angehängten kleinen deutschen Poesien, Leipzig o. J. (abgeschlossen: Stuttgart 1879) ist im wesentlichen ein (der Alma Mater in Göttingen von ihrem "vormals Studio" gewidmeter) Studentenspass, der schon durch seinen Titel ("Lateinisches Bienchen") eine frühere deutsche Sammlung Auf Bienchens Flügeln variiert, auf die Ulrichs auch vielfach Bezug nimmt. So sogleich im ersten kurzen (sapphischen (21)) Lied:
Ad apiculam meam, I.Quae nimis duros patriis susurros
Versibus ludens prius edidisti,
Nunc, apis, lingua Latii canora
Carmina funde.
An mein Bienchen, I.Allzu roh und rauh war dein Stimmchen früher,
Als du in der Muttersprache die Verse summtest:
Jetzt, du Biene, singe lateinisch klangvoll
tönende Lieder!
Die dahinter steckende Auffassung von der Überlegenheit des
Lateinischen wird in den als Anhang beigegebenen "Bemerkungen"
(22) erläutert.
Zwar sei das Deutsche "eine reiche und biegsame" Sprache, aber im
"Puncte
der Schönheit" könne es mit der lateinischen "den Vergleich
nicht
ertragen": "Mir imponirt die edle Einfachheit und die ruhige Kraft
dieser
volltönenden Sprache, mit ihrem Ebenmaß der Silben und ihrem
unverleichlichen Gemisch von nicht zu vielen Consonanten und
wohlklingenden
Vocalen." Und da Ulrichs im wesentlichen Übersetzungen bietet,
nimmt
er "nur die Rolle des Steinhauers" in Anspruch, "welcher eine
Papierzeichnung
in Alabaster überträgt" (S. 25 f.).
Dieser als Ausdruck der Bescheidenheit gemeinte Vergleich ist insofern noch immer etwas zu hoch gegriffen, als sich Ulrichs‘ Übertragungen nur selten in den Bereich der eigentlich lateinischen Metrik (mit ihren Feinheiten der Silbenquantität) wagen (ein Beispiel dafür war die zitierte Strophe): Schon um zu studentischen Kneipzwecken singbar zu sein, gibt er meist einfach gereimte rhythmische Verse nach mittelalterlichem Vorbild, wie es im neunzehnten Jahrhundert vor allem durch das (bis heute unausrottbare) Gaudeamus igitur wieder aufgelebt war. Aus dem beliebten "Rundgesang und Gerstensaft" wird dann etwa (S. 4):
Cantus et spumantiaEin Gedicht, das sich auch nach zahlreichen pocula noch leidlich singen lässt. Origineller ist ein "makkaronischer", d. h. lateinisch-französisch gemixter "König in Thule", der so beginnt (S. 16):
Pocula amamus;
Vivat cerevisia!
Juvens bibamus! (23) etc.
Thules regi (24) vetustoAber neben solchem schieren Ulk finden sich auch poetische Perlen wie eine sehr freie und antik empfundene Bearbeitung von Matthissons (durch Beethovens Vertonung berühmt gewordene) "Adelaide", von der wenigstens der Anfang zusammen mit dem deutschen Original zitiert sei (S. 19):
Fido jusqu’ à la mort,
Moriens ejus puella
Dederat poculum d’ or.Hic calix illi mansit
Toujours un grand bijou;
Et boire de ce calice
Etait au roi si doux.
Einsam wandelt dein Freund im Frühlingshaine,Das hieße in wörtlicher Prosa (die von der lateinischen Formschönheit keinen Eindruck geben kann) etwa:
Mild von zauberischem Licht umflossen,
Das durch wankende Blüthenzweige zittert,
Adelaide.In der spiegelnden Fluth, im Schnee der Alpen,
In des Tages letztem Goldgewölke,
Im Gefilde der Sterne strahlt dein Bildniß,
Adelaide.Ante dilectos fugio sodales;
Atque, seu suaves nemorum recessus
Solus accedens patulaeque amoenam
arboris umbram,Sive, queis nubes superantur, arces
Alpium Aurora glacieque (25) rubras,
Te voco et nomen vacuas in auras:
"Adelaida!"
Ich fliehe vor den Freunden, die mir zuvor lieb waren.Der phantastische Überschwang Matthissons, über den sich der gut aufgelegte Ulrichs in seinen Anmerkungen (vielleicht etwas übertrieben) lustig macht – zu V. 5: "Denkt sich der Dichter hier den Schnee eine Fata morgana wiederspiegelnd? Oder Fräulein Adelaide als einen aus Schweizerschnee zusammengekneteten Schneekerl?" -, ist hier insgesamt doch schön auf klassisch-horazisches Maß zurückgestutzt. Und nicht minder erfolgreich ist Ulrichs, wenn er, mit umgekehrter Stiltendenz, etwa Goethes lakonisches "Über allen Wipfeln ist Ruh" zur zweistrophigen Ode Carmen sepulcrale, das Pathos steigernd, ausbaut (S. 22). (26) Hier wenigstens glänzt einmal Alabaster.
und ob ich nun in die süße Entlegenheit
der Haine einsam gehe und in den lieblichen Schatten
des weit ausladenden Baumes,oder, zu den Burgen der Alpen, die den Schnee
noch überragen und deren Eis von Aurora gerötet ist,
dich und deinen Namen rufe ich in die leeren Lüfte:
"Adelaide!"
Insgesamt anspruchsvoller sind die streng metrischen Cupressi (Cypressenzweige), die der Dichter, längst in L’Aquila lebend und sich "Carlo Arrigo Ulrichs" nennend, acht Jahre später (1897) dem geheimnisvoll ertrunkenen König Ludwig II. von Bayern aufs Grab legt. (27) Nach einigen einleitenden Distichen schildert ein kurzes Gedicht (28) die gewaltsame Festnahme und psychiatrische Einkerkerung des sich empörenden Königs (Me credunt, me frena pati? "Ich, meinen sie, ich könnte die Fesseln ertragen?"); dann folgen unter dem Titel Villa regia Berg die Verse, die vielleicht die besten und jedenfalls eigenartigsten sind, die Ulrichs bis dahin in lateinischer Sprache geschrieben hat. Wolfram Setz hat sie jüngst mitgeteilt und – in etwas freierer Metrik – nachempfindend übersetzt (29); so soll hier nur eine Paraphrase des 13 Verse umfassenden Gedichts gegeben sein. Ulrichs malt zunächst stimmungsvoll den ruhig daliegenden Starnberger See, so wie ihn der König empfindet, als Verlockung zu Frieden und Tod: murmurat undas QUIES. REQUIES levis unda susurrat ( "FRIEDE, FRIEDE UND RUH, so murmelt plätschernd die Welle"). Aus den himmelblauen Wassern hört er die Stimme einer leibhaftigen "feuchten Naiade", die ihn ruft, bis das Schlussdistichon, den Tod selber überspringend, resümiert:
... caerula linterKein Zweifel: Dieser Tod war kein Unfall oder Verbrechen, er war in jedem Sinn ein Freitod des tief Gekränkten. So jedenfalls deutet ihn Ulrichs in einem Gedicht, das romantische Stimmung und Sentimentalität recht glücklich mit frei verwendeter (30) antiker Form vereint. (31)
Ad libertatem sic fuit unda tibi.... so war dir die blaue
Welle ein Nachen der dich heim in die Freiheit gebracht.
Formgefühl und Empfindung reichen auch im Lateinischen nicht
aus,
um einen bedeutenden Dichter zu machen:
Ulrichs
fehlte dazu, bei aller Anerkennung darf man es sagen, die ganz
große
Phantasie und Schöpferkraft; und so hat er sein Bestes
schließlich
doch als lateinischer Journalist geleistet. Seine lateinischen
"Lerchen",
die Alaudae, die ihn, wie wir eingangs sahen, endlich weltweit
berühmt
gemacht haben, waren eine Lateinzeitschrift, wie es sie, zumindest in
Europa
(32), vor ihm nicht gegeben hatte: Erst drei Jahre
nach
dem Verstummen der Lerchen ertönte aus Rom die vom großen
Lateinpapst
und Dichter Leo XIII. begründete Vox urbis (1898 ff.).Die
Alaudae
waren
von staunenswerter Vielfalt der Themen und Formen (was hier nur noch
gerade
angedeutet werden kann). Fast immer enthalten sie, vor allem in den
ersten
Jahren, lateinische Gedichte von Ulrichs (den offenbar die eigene
Zeitschrift
zu größerer Produktivität als früher stimuliert
(33)),
dazu kommt, längere Zeit, Sulitelma, ein kleiner
Fortsetzungsroman;
dann allerlei Bildendes, archäologisch-epigraphische
Spaziergänge
in Italien, philologische Betrachtungen, aber auch der seinerzeit
beliebte
"höhere Blödsinn" (in einem Quasillus ineptiarum,
"Körbchen
voll Unfug") und – natürlich – Nachrichten aus der lateinischen
Welt:
Wo immer an prominenterem Ort eine lateinische Rede gehalten oder gar
eine
römische Komödie in der Originalsprache aufgeführt wird
– schon damals taten sich die Finnen hervor -, da hören und
zwitschern
die Lerchen davon, die Morgenröte einer besseren, lateinischeren
Zukunft
erahnend ... Ulrich‘s früheres Hauptthema, die "mannmännliche
Liebe", auch wenn es noch da und dort anklingt, scheint fast vergessen:
Erst in einer der letzten, interessantesten Nummern (32a, September
1894)
kommt er explizit darauf zurück, als er eine eben erschienen
Denkschrift
des Herrn von R. de Kraft (sic) Ebing bespricht und
seinen
Lateinlesern mit aller Wärme ans Herz legt: War von diesem auch
die
Homosexualität als "Geisteskrankeit" abgewertet worden (Ulrichs
dazu
S. 356 mit originaldeutscher Einlage: "Scilicet insaniam in promtu
habere
solent medici [Mit Geisteskrankheit sind Mediziner immer gleich
zur
Hand]. Was man sich nicht erklären kann, das sehn sie
gleich
als Irrsinn an" – man denke an König Ludwig), so hatte er doch das
Hauptanliegen von Ulrichs, die Entkriminalisierung der verpönten
Liebe,
mit Nachdruck aufgenommen und begründet – freilich, wie Ulrichs
mit
begreiflicher Bitterkeit feststellte, ohne dass er, der
Vorkämpfer,
auch nur mit Namen genannt worden wäre:
Hos ego versiculos scripsi; tulit alter honores ....Ich zwar schrieb das Gedicht, doch erntet ein andrer die Ehre ...
schrieb er, einen angeblichen Vergilvers auf sich selber anwendend.
Nun, Krafft Ebing hat zwei Jahre später sein Versehen wieder gut
gemacht.
Und heute vollends ist, was Ulrichs in seinem ersten Lebensteil
gefordert
und oft geradezu prophetengleich verkündet hatte, auch wenn er
selbst
damit gescheitert ist, fast global verwirklicht worden.
Könnte es mit seiner zweiten Lebensmission, der weltweiten Latinitas
viva, am Ende ähnlich gehen?
Fußnoten:
1. Vgl. dazu jetzt besonders Jozef Ijsewijn / (Dirk
Sacré),
Companion to Neo-Latin Studies, 2 Bde., Löwen ²1990/1998
und
Françoise Waquet, Latin ou l‘ empire d‘ un signe: XVIe-XXe
siècle,
Paris 1998.
2. Dazu demnächst mein Artikel „Lebendiges Latein“, in: Der Neue
Pauly: Enzyklopädie der Antike, Bd. 14.
3. Immerhin gab schon Dirk Sacré in „Le latin vivant: les
périodiques
latins“, Les Etudes Classiques 56, 1988, S. 91-104 einen Hinweis auf
die
Pionierleistung der Alaudae. Mir persönlich ist Ulrichs nur durch
die dankenswerte Vermittlung von Wolfram Setz bekannt geworden. Er hat
mich auch, z. T. durch Fotokopien, mit dessen wichtigsten lateinischen
Werken bekannt gemacht; sie sind jetzt (besonders auch die gesamten
Alaudae)
vorhanden und zugänglich in der neulateinischen Abteilung der
Bibliothek
des Instituts für Klassische Philologie der Universität
München.
4. Abgedruckt in Nicolaus Persichetti (Hrsg.), In memoriam Caroli
Henrici
Vlrichs ephemeridis cui titulus „Alaudae“ auctoris sylloge, Ex Arce
Sancti
Cassiani 1896, S. 5-7.
5. Gesammelt von Niccolò Persichetti, s. oben Anm. 4 (vgl. bes.
auch den Titel von dessen Gedenkschrift).
6. Besonders bedaure ich es, dass mir im Moment der Abfassung die
grundlegende
Arbeit von Hubert Kennedy (Karl Heinrich Ulrichs – Sein Leben und sein
Werk, Stuttgart 1990) nicht zur Hand ist; dankbar benutze ich dessen
Lebensabriss
in Biographisches Lexikon für Ostfriesland, Bd. 2, 1997, 384-387
und
das Vorwort zu seiner Neuausgabe von K. H. Ulrichs, Forschungen
über
das Rätsel der mannmännlichen Liebe, 12 Teile in 4
Bänden
(= Bibliothek rosa Winkel Bd. 7-10), Berlin 1994 [zuerst 1864-1879],
dort
Bd. 1, S. 9-18.
7. Mit Anspielung auf die berühmte Nachricht, der ältere
Cato habe jede Senatsrede mit dem Satz beendet: ceterum censeo
Karthaginem
esse delendam („Im übrigen meine ich, dass Karthago zerstört
werden muss“).
8. Der Titel („Ursprünge und Lehre vom Gerichtshof für die
Widerklage“) ist vielleicht nicht ganz glücklich formuliert;
für
den unklassischen Terminus reconventio entschuldigt sich Ulrichs
selber (S. 5 mit Anm. 6).
9. „at mihi mens juvenali ardebat amore.“ VIRG. AEN., „aber mir brannte
der Geist in jugendlicher Liebe“ (=Aen. 8, 163: der alte Euandrus
über seine frühere Begegnung mit dem jugendlichen Anchises);
durch Zufügung des bei Vergil fehlenden at und Weglassung der bei
Vergil folgenden Ergänzung (compellare uirum) wird der Sinn stark
verändert. Vielleicht beabsichtigt Ulrichs schon hier ein
verschlüsseltes
Bekenntnis seiner homosexuellen Veranlagung, deren er sich in jener
Zeit
zuerst voll bewusst wird: juvenali könnte insgeheim auch einen
Genetivus
objectivus vertreten, so dass am Ende gar von der „Liebe zu
Jünglingen“
die Rede wäre.
10. Unter mentem möchte man logischerweise zunächst den Geist
des Vaters, der diesen irgendwie überleben würde, verstehen;
aber qua meminisse licet lässt nur an die mens des Dichters
denken,
der offenbar ausdrücken will, dass ihm vom Vater nur das Grab und
die Erinnerung geblieben seien. Auch dass die Parze um der Pointe
willen
nur gerade die Hände des Vaters in die Erde senkt, ist nicht sehr
glücklich erfunden.
11. So nach (mündlicher) Auskunft von Wolfram Setz, der sich auf
Nachforschungen Hubert Kennedys beruft.
12. Phrynichus F 12 Snell/Kannnicht (Tragicorum Graecorum fragmenta,
Bd. 1, ²1986, S.77): Der homoerotische Bezug (auf Troilos) ergab
sich
aus dem Ulrichs bekannten Kontext des Zitats bei Athenaios.
13. Der heute vor allem von Foucaultschülern vertretenen
Auffassung,
es habe im Altertum den Begriff einer Homosexualität bzw.
homosexuellen
Veranlagung noch gar nicht gegeben – sie wird widerlegt schon allein
durch
die Aristophanesrede in Platons ‚Symposion‘ – wäre Ulrichs
verständnislos
gegenüber gestanden.
14. S. 2: „Eine poetische Fiction Plato’s leitet nämlich den
Ursprung
der mannmännlichen Liebe ab vom Gotte Uranus, den der Weiberliebe
von der Dione“ (zitiert nach der oben in Anm. 6 angeführten
Ausgabe).
In Wirklichkeit sagt Pausanias bei Platon (schon gar nicht Platon
selbst),
dass die Vertreter des von der Uranostochter Aphrodite abstammenden
„Eros
Uranios“ nur die Knabenliebe kennen, wogegen der von der Dionetochter
Aphrodite
geborene „Eros Pandemos“ seine Anhänger im Bereich der
Frauen-
u n d der Knabenliebe habe (Symposion 180 C ff.). Dort fand
Ulrichs
auch den Hinweis darauf, dass der Audruck „Knabenliebe" bzw.
„Päderastie"
eigentlich nicht passe, weil Objekt der Liebe die schon
geschlechtsreifen
puberes seien.
15. Vgl. bes. Forschungen III („Vindicta“), 1865, S. 27 f.
16. Die fälschliche, von Ulrichs selbst später korrigierte
Zuschreibung an Lukrez selber (s. die Erläuterungen Bd. 1, S. 2 im
Anhang der Ausgabe von Kennedy [oben Anm. 6]) ist der Sache nach
richtig,
insofern Vergil sich hier (georg. 2, 490) auf Lucrez und die
befreiende
Kraft seiner epikureischen Naturphilosophie bezieht.
17. Inclusa wird von Ulrichs selbst, als Erklärung des
Buchtitels hervorgehoben.
18. Ein anderer Zweizeiler zur Beschreibung der Natur der
„Urninge“
entstellt absichtlich eine witzige Formulierung Martials, der die
bisexuellen
Gebrauchsmöglichkeiten des Manns so ausgedrückt hatte (11,
22,
9 f.): diuisit natura marem: pars una puellis, / una uiris genita
est
(„Die Natur hat den Mann in zwei Teile geteilt; der eine ist für
die
Mädchen, der andere für die Männer geboren“). Ulrichs
macht
daraus im Sinne seiner Theorie: diuisum genus est marium: pars una
etc. („Zweigeteilt ist das Geschlecht der Männer; ein Teil von
ihnen
ist für die Mädchen, der andere für die Männer
geboren“),
Forschungen
VI („Memnon“) S. 2.
19. Eine Ableitung von der Stadt Numantia, an die man vage denken
könnte,
verbietet sich, da das Adjektiv dazu Numantinus heißen
müsste.
20. Vgl. dagegen etwa hocherotische deutsche Gedichte wie „Mich
dürstet“,
in: Forschungen VI („Memnon“ Abth. I) S. IX ; mehr in: Wolfram Setz
(Hrsg.):
K. H. Ulrichs, Matrosengeschichten und Gedichte, Berlin 1998, 95 ff.
21. Bis auf das Motto (in phalaeceischen Hendecasyllaben) sind die
metrischen Gedichte alle in Form der sapphischen Strophe, die Ulrichs
auch
später bevorzugt.
22. Bezeichnend für Ulrichs‘ selbstkritische Ironie ist die
angebliche
„Anm. des Setzers“: „Ich finde, daß diese ‚Bemerkungen‘
ziemlich
langweilig zu lesen sind. Mein Rath wäre, sie zu
überschlagen“
(S. 25). Ähnlich schäkert er auch in den Alaudae mit
seinen
Lesern.
23. Streng werden die Regeln rhythmischer Dichtung, die
ausschließlich
am natürlichen Wortakzent orientiert sein müsste, insofern
nicht
eingehalten, als immer wieder ein aus der (erst neuzeitlichen)
Lesetradition
metrischer Verse stammender tonbeugender „Iktus“ eindringt, wie in V. 5
des zitierten Gedichts: Quae est, frater, quam amas? (gesungen:
amás
statt ámas). Aber das ist eine Unart des neunzehnten
Jahrhunderts
überhaupt.
24. Zur Betonung regí (schlimmer V. 3: moriéns
ejús) vgl. die vorige Anmerkung.
25. Besser wäre m. E., da Eis nicht röten, nur erröten
kann: glaciesque (Druckfehler?).
26. Das Gedicht ist (in späterer Fassung) abgedruckt bei W. Setz
(wie oben Anm. 20), S. 22.
27. Eine Abbildung der Titelseite (des der jetzigen Bayerischen
Staatsbibliothek
München handschriftlich gewidmeten Exemplars) bei Setz (wie Anm.
20),
S. 2.
28. Die Form ist eigenwillig, nicht völlig antik: Auf stichische
Hexameter folgt im letzten Vers ein elegisch abrundender Pentameter.
29. In der oben Anm. 20 zitierten Sammlung, dort S. 146 f.
30. Das Metrum entspricht dem des vorausgegangenen Gedichts (vgl. oben
Anm. 28). - In den folgenden Gedichten, die nicht mehr alle einen Bezug
auf Ludwig haben verwendet Ulrichs in eigenwilliger Weise auch
anapästische
Formen.
31. Der etwas spätere italienische Dichter Giovanni Pascoli
(1855-1912)
hat, freilich ungleich großartiger und erfolgreicher,
Ähnliches
versucht.
32. Nicht genauer bekannt sind mir Natur und Alter des in Philadelphia
erschienenen Praeco Latinus, der im September 1895 Ulrichs
einen
hochpathetischen Nachruf widmet (bei Persichetti [oben Anm. 4] S. 20)
und
dabei mit offenbar absichtlicher Einschränkung von ihm als concinnator
periodici Latini, in Europa, quantum sciamus, unici spricht.
33. Ulrichs‘ metrische Experimente würden eine eigene
Würdigung
verdienen.