Wilfried Stroh

Warum gibt es die lateinische Sprache, aber kein Land, in dem nur Latein gesprochen wird?


Wenn ich Englisch lernen will, kann ich nach England fahren. Will ich Französisch lernen, nach Frankreich. Warum kann ich also Latein nur aus Büchern und von Lehrern lernen? Warum gibt es kein „Lateinerland“?
Um das zu verstehen, müssen wir weit in die Geschichte zurückgehen. Latein war einmal die Sprache der Landschaft Latium und ihrer Hauptstadt Rom. Später war es die gemeinsame Sprache von ganz Italien, dessen Einwohner alle römische Bürger wurden. Dann in der Kaiserzeit, also nach Christi Geburt, wurde es die Sprache des Römischen Reichs, mit Ausnahme des Ostens: Man sprach also Latein von Spanien bis Rumänien, von Afrika bis Britannien. Überall dort gab es auch Unterricht beim sogenannten Grammaticus, das heißt Sprach- und Literaturlehrer, der dafür sorgte, dass ein gutes Latein in der Art der großen Schriftsteller, wie vor allem Cicero, geschrieben und gesprochen wurde.
Diese Lage änderte sich, als in der Zeit der Völkerwanderung, also etwa vom 6. bis zum 8. Jahrhundert n.Chr., das Römische Reich zerfiel und der Schulunterricht zusammenbrach. Jetzt verlernten sogar die christlichen Pfarrer ihr Latein, und es entstanden die sogenannten romanischen Sprachen, Italienisch, Französisch, Spanisch usw. Wie kam das? Schon seit langem hatte es neben der vom Grammaticus betreuten Hochsprache bzw. Schriftsprache eine nur gesprochene lateinische Umgangssprache gegeben, das sogenannte Vulgärlatein. Aus diesem zunächst einheitlichen Vulgärlatein konnten sich nunmehr in den verschiedenen Teilen des früheren Römischen Reichs, Italien, Frankreich, Spanien usw., eben diese romanischen Sprachen entwickeln, und zwar zum Teil in großem Tempo. Schon damals gab es also bald kein Land mehr, in dem man Latein gesprochen hätte. Überhaupt schien Latein am Ende zu sein.
Da aber kam Karl der Große, der sich i.J. 800 gewissermaßen zum Amtsnachfolger der römischen Kaiser krönen ließ: Er stellte in seinem ganzen Reich den Lateinunterricht wieder her, vor allem für die Pfarrer, die das am dringendsten nötig hatten. Damit konnte aber nun der alte Zustand nicht wieder ganz repariert werden. Nicht nur in Germanien, sondern auch in den romanischen Ländern, wo man früher Latein gesprochen hatte, wurde ja Latein nun auch von den Gebildeten nicht mehr als Muttersprache, sondern als eine Zweitsprache erlernt: Der Pariser lernte zuerst Französisch, dann Latein; der Westfale zuerst Westfälisch, dann Latein usw. Und so blieb das bis ins 18. Jahrhundert, in dem Latein allmählich aufhörte, überhaupt die führende Weltsprache zu sein. Und so bleibt es ja in gewisser Weise bis heute, wo noch weniger Leute Latein schreiben und sprechen, aber doch viele Latein lernen wollen, schon um sich in der Geschichte Europas zurechtfinden zu können. Ein Lateinerland gibt es seit über tausend Jahren nicht mehr. Selbst der Vatikanstaat ist das nicht, auch wenn Papst Benedikt XVI., ein bekennender Lateinfan, das sicherlich gerne so hätte.
Eigentlich schade! Schon der berühmte Pädagoge Comenius hatte vor fast 400 Jahren die gute Idee, man solle doch einen solchen kleinen Staat gründen, in dem nur Latein gesprochen würde. Und derselbe Gedanke wurde vor knapp 200 Jahren noch einmal mit großem Nachdruck beim Wiener Kongress vorgebracht: leider ohne Erfolg. Aber gut Ding will Weile haben, und vielleicht ist das letzte Wort hier noch gar nicht gesprochen. Wer von den Lateinschülern heute Latein nicht nur aus Grammatiken und im Klassenzimmer lernen will, hat dafür auch jetzt schon manche Möglichkeiten: Es gibt Clubs zum Lateinsprechen, lateinische Zeitschriften, internationale Lateinkongresse und natürlich die lateinischen Chatrooms im Internet. Für den Moment können wir also auch noch ohne Lateinerland durchkommen.

Wilfried Stroh war von 1976 bis 2005 ordentlicher Professor für Klassische Philologie an der Universität München. Er ist Verfasser des Buchs „Latein ist tot, es lebe Latein“, List (Berlin) 2007, 414 S., ¤ 18.- (mit Hinweisen bes. auch zum „lebendigen Latein“).