Wilfried Stroh

Ciceros Philippische Reden

 
Salvete, auditores!

De Apologia sive de Defensione Socratis, quam Plato scripsit, docte ac diserte nuper dixit Andreas Patzer collega optimus. Quodsi nunc ego de Ciceronis orationibus Philippicis orationem uel scholam habiturus sum, tria saecula et dimidium quasi percurrenda nobis erunt; a philosophia transeundum erit ad rhetoricam, a litteris Graecis ad Latinas sive Romanas.

Lassen Sie mich mit der Nacherzählung einer Anekdote beginnen, die uns Plutarch in seiner Cicerobiographie, wenn auch in etwas kürzerer Fassung berichtet. Es war im Jahr 78 v. Chr. auf der schönen Insel Rhodos, damals einem Weltzentrum griechischer Bildung, wo nicht nur der noch heute berühmte Philosoph Poseidonios lebte, sondern auch der damals nicht minder bekannte Apollonios Molon, meist nur Molon genannt, Unterricht in Rhetorik erteilte (ein Mann so prominent, dass man ihm drei Jahre zuvor, als er in diplomatischer Mission in Rom war, sogar erlaubt hatte, weil er des Lateinischen nicht mächtig war, im römischen Senat griechisch zu sprechen). Bei ihm meldete sich als Schüler ein ebenfalls nicht mehr ganz unrenommierter junger Römer, der damals achtundzwanzigjährige M. Tullius Cicero - Rhetorikunterricht war sonst in der Regel etwas für Teenager -, der schon in Rom eine kurze, aber erfolgreiche und nicht unspektakuläre Karriere als Gerichtsanwalt hinter sich hatte und vorher sogar - aber das wird er seinem Lehrer Molon kaum verraten haben - als Verfasser eines lateinischen Lehrbuchs der Rhetorik, wahrscheinlich des ersten überhaupt, in Erscheinung getreten war: Rhetorici libri bzw., wie wie sie gewöhnlich nennen, De inventione ("Über die rednerische Erfindung"), ein bis heute völlig unterschätztes Kabinettstück rhetorischer Gelehrsamkeit, in das der junge Cicero das Brauchbarste aus allen ihm bekannten griechischen Lehrbüchern zusammengetragen und dabei geistig durchdrungen hatte.

Was konnte der alte griechische Rhetor dem aufstrebenden römischen Redner bieten? Eine neue Sprech- und Redetechnik, hoffte Cicero, der sich damals in einer Krise seines Lebens befand: Die ersten beiden Jahre seiner aus politischen Gründen erst spät begonnenen rednerischen Laufbahn, hatten, weil er sich zu sehr verausgabt hatte, seine Stimme, ja seinen Körper ruiniert (man bedenke: der antike Gerichtsredner spricht unter freiem Himmel, oft vor großer Zuhörerschaft, ohne Mikrophon, meist mehrere Stunden). Nun rieten ihm die Ärzte von weiterer Rednertätigkeit ab, was den Verzicht auch auf die politische Karriere bedeutet hätte - ein Verzicht, der dem jungen Cicero, bei allem Ehrgeiz, manchmal gar nicht so schwer zu fallen schien: Als er jüngst, zu Beginn seiner zu Kurzwecken unternommenen griechischen Bildungsreise, in Athen beim großen Antiochos von Askalon, der sich, wie Cicero selbst, zur Schule Platons bekannte, philosophische Vorlesungen gehört hatte, hätte er gute Lust gehabt, dort zu bleiben, Philosoph zu werden und Rom und aller Politik Adieu zu sagen. Antiochos selber war es gewesen, der seinen Schüler daran erinnert hatte, dass Ciceros Platz auf dem römischen Forum sei, da ja gerade der Philosoph auch fürs Gemeinwohl tätig sein müsse: Er konnte ihn auf Platons berühmten Satz verweisen, dass entweder die Philosophen Könige oder die Könige Philosophen sein müssten, wenn die Staaten Frieden haben wollten; er hätte auch Ciceros eigene Schrift, die schon erwähnten Bücher De inventione,zitieren können, wo es hieß, dass die Weisheit (sapientia) sich nicht aus der Welt zurückziehen dürfe, sondern sich der Beredsamkeit (eloquentia) zu bemächtigen habe, um die Menschen zu leiten: ein Lebensmotto Ciceros.

So hatte Cicero also beschlossen, wieder bei der griechischen Rhetorik in die Schule zu gehen (denn einen nennenswerten lateinsprachigen Unterricht gab es damals noch nicht), und Molon auf Rhodos als anerkannte Autorität gerade auf dem Gebiet der Vortragskunst um seine Hilfe zu bitten. Ob er, fragte Molon, ein kleines Probestück von Cicero hören könne, eine Übungsrede, griech. melete, lat. declamatio? Natürlich dürften auch Ciceros Mitschüler begierig gewesen sein, den jungen Römer griechisch deklamieren zu hören; und manch einem mag im Bewusstsein eigener Bildungsüberlegenheit bei der Erwartung des Ohrenschmauses barbarischer Provenienz ein feines Lächeln um die Mundwinkel gespielt haben. Rasch war eines der gängigen Themen gestellt, an denen sich Schüler zu üben hatten, etwa:"Orest hat aus Rache für den Vater seine Mutter getötet: Klage ihn an! bzw. Verteidige ihn!" oder: "Alexander der Große will den Ozean überqueren: Berate ihn!" Dann sprach Cicero, fehlerlos, vielleicht sogar akzentfrei, und er sprach so subtil und geistreich in der Argumentation, so wohllautend in Wortfügung und Periodik, so hinreißend in allen Nuancen der dem Redner gebotenen Leidenschaft, dass am Schluss alle darin einig waren, so etwas im Schulunterricht noch nicht gehört zu haben. Begeistertes Bravo - euge, sophos! - und langanhaltender Applaus dankten dem Römer - der nur die eine, entscheidende Anerkennung vermisste: Molon selber, der Meister, saß stumm da, noch lange, nachdem der Beifall verhallt war. Erst dann, als Cicero, schon ein wenig indigniert, fragte, ob er etwa enttäuscht sei, brach er das Schweigen und sagte mit tonloser Stimme (ich zitiere wörtlich): "Dich, Cicero, lobe und bewundere ich; doch zugleich beklage ich das Unglück Griechenlands, da ich sehe, dass das einzige von allem Schönen, das uns noch geblieben ist, durch dich nun den Römern zufällt: Bildung und Rede" (paideia kai logos, in Ciceros Latein etwa: humanitas et eloquentia).

Divinatorisch hat hier Molon, falls die Anekdote (wogegen nichts spricht) wahr ist, erfasst, dass mit Cicero eine neue Epoche der Geistesgeschichte begonnen hatte. Anderthalb Jahrhunderte zuvor hatte noch gegolten, dass (wie später Horaz formuliert) das besiegte und eroberte Griechenland selber seinen Bezwinger besiegt und erobert habe, indem es Literatur und Bildung nach Latium gewissermaßen exportierte; fast hundertfünfzig Jahre lang war fast alle römische Literatur eine von den Römern selbst als kaum gleichwertig empfundene Imitation der griechischen gewesen. Mit und und durch Cicero verkehrt sich nun im ersten vorchristlichen Jahrhundert das Verhältnis: Seinen Reden, seinen rhetorischen und philosophischen Schriften hat zumindest das zeitgenössische Griechenland nichts Ebenbürtiges oder gar Überlegenes mehr gegenüberzustellen; und vollends durch die etwa eine Generation jüngeren Dichter, Lucrez und Catull, dann Vergil und Horaz, wird Latein nun zu einer dem Griechischen fast gleichsetzenden Literatursprache. Nur ein Lebensalter später, in augusteischer Zeit, stellt ein griechischer Rhetoriker, Dionysios von Halikarnass, fest, dass von Rom bereits die entscheidenden Impulse für eine Erneuerung der griechischen Prosa bzw. Redekunst ausgegangen seien. Rom ist nun auch eine, wenn nicht d i e Weltstadt der Bildung geworden.

Dabei war sich Cicero, mit dem diese Revolution beginnt, völlig bewusst, dass er in allem ein Schüler der Griechen war, von denen er denn auch zeitlebens zu lernen suchte. In der Philosophie waren vor allem Sokrates und Platon seine Vorbilder: Jenen bewunderte er als Vater der Philosophie (parens philosophiae), weil er, den Menschen ins Zentrum des Denkens stellend, die Ethik begründet habe und mit seiner dialektischen, gesprächsweisen, Wahrheitsermittlung, die sich alles Dogmatischen enthielt, vorbildlich gewesen sei. Diesen, Platon, hielt er wegen Gedankentiefe und Reichtum des Stils für schlechtweg göttlich, auch wenn ihm nicht alle seine Lehren streng beweisbar zu sein schienen. Ihm folgte er, wie schon gesagt, vor allem in seinem Ideal, als Philosoph politisch tätig zu sein, sich der Redekunst im Interesse der Weisheit zu bedienen; eben darum war er dann aber auch als Redner und Rhetoriker, nicht als Philosoph, kritisch gegenüber Sokrates, dem er vorwarf, wegen seiner Verachtung der Sophisten (also der Redelehrer seiner eigenen Zeit) eine, wie er sagte, "Art Zwiespalt von Zunge und Herz" (discidium quasi linguae atque cordis) geschaffen und die natürliche Einheit von Rhetorik und Philosophie zerstört zu haben, deren Wiedervereinigung er, Cicero, selber als seine größte Lebensaufgabe betrachtete: In der Tat lässt sich kaum ein größerer Gegensatz denken als der zwischen der aller rednerischen Überredungsabsicht Hohn sprechenden Apologie des Sokrates (wie Platon sie als - ich zitiere meinen Vorredner Andreas Patzer - geradezu antirhetorisches Kunstwerk nachgestaltet hat) und den gänzlich auf Überzeugungs- bzw. Überredungserfolg gerichteten, keinen Trick aussparenden, fast jedes Mittel durch den Zweck heiligenden Meisterreden Ciceros.

Sein rednerisches Vorbild musste ein anderer sein. Es wurde, nachdem sich Cicero zunächst vor allem an römischen Vorbildern orientiert hatte, in zunehmendem Maße der berühmteste Redner, den Griechenland gehabt hat: Demosthenes, ein jüngerer Zeitgenosse Platons und - für Cicero wichtig - angeblich sogar dessen Schüler. Dessen "Philippische Reden" (Logoi Philippikoi), d. h. die Reden, die er in den Jahren 351 bis 341 gegen den Athens Freiheit bedrohenden König Philipp von Mazedonien gehalten hatte, gelten, obschon sie letztlich erfolglos waren, d. h. Athens Niederlage bei Chaironeia nicht verhindern konnten, vom Altertum bis heute vielfach als Höhepunkt der Redekunst überhaupt; neben sie stellte sich, ebenso berühmt und beliebt, die im Jahr 330 gehaltene sogenannte "Kranzrede" (Peri stephanu), in der Demosthenes, um öffentlich mit dem Kranz geehrt zu werden, seine gescheiterte Politik nachträglich als schön, sittlich und im höchsten Sinne richtig zu rechtfertigen versucht hatte. Als Cicero nach rascher politischer und - auch dank Molons Hilfe - rednerischer Karriere im frühestmöglichen Alter Consul geworden war und als solcher ungewöhnlichen Erfolg gehabt hatte - es gelang ihm, das Volk für eine höchst konservative, auf die Interessen der aristokratischen Senatspartei ausgerichtete Politik zu gewinnen und dabei einen vom Sozialrevolutionär Catilina angezettelten Staatsstreich zu verhindern -, nach diesem höchst glücklichen, wenn auch nicht unumstrittenen Consulat im Jahr 63 v. Chr. stellte er selbst die zwölf Hauptreden des Jahres zu einem Corpus, d. h. einer geschlossenen Veröffentlichung in mehreren Buchrollen zusammen und nannte das Ganze Orationes consulares ("Consularische Reden") mit der ausdrücklichen Bestimmung, dass sie als Dokumentation seines Redens und Handelns ein Gegenstück sein sollten zu dem Corpus der "Philippischen Reden" des Demosthenes, das ebenfalls zwölf Reden des Meisters umfasst hatte. Gemeinsam war ihnen, dass es politische Reden waren (während griechische Redner sonst nur Gerichtsreden veröffentlichten) und dass es in ihnen um die Bekämpfung der Feinde des Staats ging. Im übrigen waren die Ähnlichkeiten in Stil und Inhalt nur gering. Verschieden war auch die Entstehung der beiden Corpora: Während die Sammlung der Logoi Philippikoi des Demosthenes nicht von ihm selbst stammte, sondern sich erst der nachträglichen Editionstätigkeit sammelnder Philologen verdankte, schuf Cicero sich mit den Orationes consulares gewissermaßen selber die eigenen "Gesammelten Werke". (Durch ihn wird es dann, was noch nicht beobachtet scheint, geradezu ein Brauch der römischen Literatur, den die Griechen so nicht kennen, kleinere geschlossene literarische Werke, besonders Gedichte, nicht nur in einzelnen Büchern, sondern auch in mehrere Bücher umfassenden Großcorpora zusammenzustellen; ich nenne als berühmtestes Beispiel nur die drei Bücher "Oden" des Horaz, die als Ganzes offenbar nach dem Vorbild der griechischen Lyrikereditionen herausgegeben wurden.)

Diesem ersten großen Höhepunkt im Leben und Schaffen Ciceros folgte ein jäher Sturz: Wegen seiner immer umstrittenen Hinrichtung der Catilinarier i. J. 63 musste Cicero, auf Betreiben von Roms heimlichen Machthabern, Pompeius, Crassus und vor allem Caesar, eine Zeitlang ins Exil (wie übrigens auch Demosthenes); und auch als er zurückgekehrt war, gelang es ihm nicht, die alte politische Stellung wieder zu erobern, so dass er sich in den Fünfziger Jahren vor allem auch mit philosophischer und rhetorischer, d. h. redetheoretischer Schriftstellerei befasste und auf bessere Zeiten wartete. Nicht genug damit: Auch sein rednerischer Ruhm blieb in diesen trüben Jahren nicht mehr unangefochten. Ein junger, genialer Redner, Licinius Calvus, ein Freund des Dichters Catull, begann seit 54 v. Chr. gegen ihn in Prozessen aufzutreten (mit dem Bonus der Jugend und seiner kompromisslosen Haltung gegenüber Caesar, dem Cicero sich in diesen Jahren zähneknirschend unterworfen hatte): Er kritisierte bald auch Ciceros Redestil als zu reich an Worten und Redefiguren, als zu eintönig im Rhythmus und Periodenbau und er wagte es, dem anerkannten "König der Gerichtshöfe" ausgerechnet die attischen Redner, deren Größter Demosthenes war, als stilistisches Vorbild vorzuhalten. Er selbst wollte in seiner kraftvoll knappen Eleganz als "römischer Demosthenes" gelten; und neben ihm war es eine Reihe anderer junger Redner, genannt oratores Attici (heute nennen wir sie "Attizisten"), die statt des pompösen Cicero sich die attischen Redner zum Vorbild nahmen, besonders den schlichten Lysias, daneben aber auch die Nichtredner Xenophon und sogar den dunklen Thukydides. Die Kritik besonders des erfolgreichen und noch später bewunderten Calvus scheint Cicero fast die Sprache verschlagen zu haben. Jedenfalls wagt er es erst nach dessen frühem Tod, fast ein Jahrzehnt später, sich selbst zu verteidigen und (in seinen Schriften Brutus und Orator) den Anspruch, selber auch in stilistischer Hinsicht legitimer Erbe des großen Demosthenes zu sein, aufrecht zu erhalten. Politisch war Cicero inzwischen durch Caesars Diktatur nach dem Bürgerkrieg fast völlig kaltgestellt: Seine insgesamt drei Gerichts- und Senatsreden unter Caesar sind Appelle an den mächtigen Alleinherrscher, gegen drei seiner früheren Gegner Gnade, die berühmte clementia Caesaris, walten zu lassen - auch sie Meisterwerke in ihrer Art, aber weit entfernt vom kämpferischen Elan des einstigen Cicero. Nur die philosophische Schriftstellerei gab ihm nun noch die Möglichkeit, wenigstens versteckt Kritik zu üben und zum Widerstand gegen den Allmächtigen, in dem er Platons Bild des Tyrannen verkörpert sah, aufzurufen.

Dann aber wird alles noch einmal anders durch die Iden des März 44, Cäsars Ermordung. Zwar war Cicero selbst nicht unter den Verschwörern - Shakespeare in seinem Julius Caesar hat die Gründe dafür einfühlsam erläutert -, aber als der Caesarmörder Brutus seinen blutigen Dolch in die Höhe hielt, rief er den Namen "Cicero", der für ihn und seine Gesinnungsgenossen längst zu einem Symbol und Losungswort der freien römischen Republik geworden war. Und so lässt sich der mittlerweile zweiundsechzigjährige Cicero, ein Greis, wie er sich nach römischer Rechnung nennt, erneut willig in den Strudel der Politik reißen: Die folgenden anderthalb Jahre, die letzten seines Lebens, führen ihn auf einen zuvor so nie erreichten Gipfel seiner nur auf Einsicht und Redekunst beruhenden Machtstellung; und sie gehören, nicht nur wegen Ciceros, zu den spannendsten (und übrigens auch bestdokumentierten) Jahren der römischen Geschichte überhaupt, ging es hier doch um die Entscheidung, ob Rom noch einmal freie Republik sein könnte, eine auf der Zustimmung des Volks beruhende Herrschaft der im Senat repräsentierten Oberschicht, oder ob es für alle Zeiten zur Monarchie verurteilt wäre. Wir wissen, wie die Geschichte entschieden hat; und wir sehen, wie das Ende der alten Freiheit mit Ciceros Tod, und damit auch dem Ende der alten republikanischen Beredsamkeit, zusammenfällt.

Diese Zeit also - genauer gesagt: einige Monate dieser Zeit bringen also das Werk hervor, mit dem wir uns heute zu beschäftigen haben: Ciceros "Philippische Reden" (Orationes Philippicae), vielleicht das Vollkommenste und Wirkungsmächtigste, sicherlich das Verhängnisvollste von all dem vielen, was er geschrieben hat, ein Werk, das er, um seinem Vorbild Demosthenes zu huldigen, selber so genannt hat - Orationes Philippicae -, obwohl in ihnen der scheinbare Titelheld, König Philipp, überhaupt nicht, nicht einmal in einer Anspielung, vorkommt. Um sie verstehen zu können, müssen wir wenigstens kurz einen Blick auf die geschichtlichen Ereignisse werfen.

Mächtigster Mann in Rom war, nach Caesars Tod, Marcus Antonius, der spätere Triumvir: Als amtierender Consul, Freund Caesars und Herr über dessen Hinterlassenschaft, hielt er die wichtigsten Fäden in der Hand und machte, trotz äußerer Versöhnlichkeit, beim Volk Stimmung gegen die Caesarmörder. Weder diese, die Caesarmörder, die an den Ausbau einer eigenen Machtstellung absichtlich nicht gedacht hatten, noch Cicero, der sogleich auf Versöhnung gedrängt hatte, konnten seiner faktischen Macht, die er zunehmend zu einer Politik gegen den Senat gebrauchte, viel entgegenhalten. Schon kurze Zeit nach der Ermordung müssen Brutus und Cassius aus Rom fortgehen; und auch Cicero zieht sich zeitweise verärgert auf seine Güter zurück, ja im Juli beschließt er, Italien ganz zu verlassen, um allenfalls am 1. Januar 43, wenn neue Consuln im Amt wäre, wieder zur Stelle zu sein. Er ist im August schon in Syrakus, bereit zur Überfahrt nach Griechenland, an der ihn nur das schlechte Wetter hindert, da erreicht ihn die Nachricht von einer Senatssitzung, in der ausgerechnet Caesars Schwiegervater, der Cicero sonst gründlich unsympathische Piso, eine mutige Rede gegen den Consul Antonius riskiert habe. Ein Silberstreifen am Horizont: Der Senat scheint zu erwachen; man frage, heißt es, nach Cicero. Kein Überlegen mehr, er muss zurück nach Rom.

Sogleich kommt es zum Zusammenstoß mit Antonius, mit dem Cicero immer noch offiziell befreundet ist (in der römischen Politik heißt "Freundschaft", amicitia, dass man sich wechselseitig seine Interessieren respektiert und vor allem dem anderen nicht schadet). Der Consul Antonius beruft zum 1. September eine Senatssitzung, auf der neue Ehrungen für den toten Caesar beschlossen werden sollen. Cicero, der solchen Anträgen selbstverständlich opponieren müsste, fürchtet um sein Leben und lässt sich wegen Unpässlichkeit entschuldigen. Antonius, wütend, droht als Zwangsmaßnahme Ciceros Haus einreißen zu lassen. Als am nächsten Senat wieder der Senat tagt, fehlt umgekehrt Antonius - die Leitung hat der weniger bedeutende Mitconsul Dolabella -, dafür ist nun Cicero zur Stelle und hält eine große, grundsätzliche Rede, in der er seiner zunehmenden Enttäuschung über die Politik der Consuln, besonders des Antonius, Ausdruck gibt und diesen, obschon abwesend, mit einem Bußaufruf fast alttestamentarischer Prägung zur Umkehr ruft: "Kehr um, ich bitte dich! Blick zurück auf deine Vorfahren und regiere so den Staat, dass deine Mitbürger Freude daran haben, dass du geboren bist!"( flecte te, quaeso, et maiores tuos respice atque ita guberna rem publicam,ut natum esse te cives tui gaudeant!). Ein ungewöhnlicher Ton im römischen Senat: Cicero ist sich bewusst, mit dieser Rede, die er ein constantiae testimonium ("Zeugnis seiner Grundsatztreue") nennt, ein hohes Risiko eingegangen zu sein - warum auch nicht? Als alter Mann kann er es sich leisten; im letzten Satz sagt er: mihi fere satis est quod vixi vel ad aetatem vel ad gloriam ("Für mich habe ich genug gelebt, im Hinblick auf Alter wie auf Ruhm") - ein Zitat von Caesar, der in seinen letzten Lebensjahren gesagt haben soll: "Ich habe genügend lang gelebt, sei's für die Natur, sei's für den Ruhm"(satis diu vel naturae vixi vel gloriae); aber was beim älteren Caesar, der alles erreicht hatte, Audruck einer gewissen Lebenssattheit war, dem gibt Cicero eine neue, gerade für ihn völlig charakteristische Ausrichtung, indem er fortfährt: "Kommt zu meinem Leben noch etwas hinzu, dann kommt es weniger mir hinzu als euch und dem Staat (huc si quid accesserit, non tam mihi quam vobis reique publicae accesserit)." Das war keine Phrase, sondern schiere Wahrheit: Mit dieser Rede begann, was ein dänischer Philologe "Cicero's fight for the republic" genannt hat, Ciceros letzter Kampf für seine, die freie Republik.

Antonius, der die Rede, wie gesagt, nicht gehört hatte, aber dem davon berichtet wurde und der sie bald auch schriftlich lesen konnte - auch uns ist ja die Rede als "erste Philippica" überliefert -, nahm die Herausforderung sehr ernst. Er beschloss, Cicero zu vernichten, nicht physisch, wie vielfach befürchtet wurde, sondern moralisch mit dessen eigenen Waffen, "Bildung und Rede". Drei Wochen zog er sich angeblich mit einem Ghostwriter zur Ausarbeitung einer Stellungnahme in eine Villa zurück, dann hielt er am 19. September im Senat eine Rede, in der er unter dem Vorwand, Cicero habe die Freundschaft gebrochen (was zumindest formal nicht richtig war), seinerseits diese Freundschaft aufkündigte und dabei in Art einer Generalabrechnung mit Ciceros gesamter politischer Tätigkeit in den letzten zwanzig Jahren ins Gericht ging: Von der Hinrichtung der Catilinarier bis zur Ermordung Caesars erschien hier Cicero mit seiner Streitsucht und Grausamkeit (crudelitas) als der böse Dämon Roms, der auch jetzt wieder einmal dabei sei, seine Vaterstadt in den Bürgerkrieg zu hetzen (was, nebenbei, nicht ganz unzutreffend war). Es ist jammerschade, dass uns diese Rede, wie fast alle Reden von Ciceros Widersachern, verloren ist: Offenbar war nie so gründlich, nie so erbarmungslos, alles, was sich gegen Cicero sagen ließ - und bis heute gegen ihn gesagt wird -, zusammengefasst worden. Cicero, um nicht entgegnen zu müssen, war der Senatssitzung, in der Antonius sprach, wiederum ferngeblieben - die beiden Kampfhähne dieser Zeit scheinen sich überhaupt seit Ciceros Rückkehr nicht mehr persönlich getroffen zu haben -; er zog es vor, seine Gegenrede nur schriftlich auszuarbeiten: Das Resultat liegt uns vor in der sogenannten "zweiten Philippica", der berühmtesten Scheltrede vielleicht aller Zeiten, schon vom Satiriker Juvenal divina Philippica genannt. Wenn heute der Name "Philippica" sprichwörtlich für jede Gardinenpredigt oder Schimpfrede gebraucht wird, beruht dies nicht auf Demosthenes, sondern fast ausschließlich auf dieser einen Rede, die schon für den größten römischen Rhetoriklehrer, Quintilian, das Muster der Invektive ist (und immer wieder zitiert wird). Die Ironie der Literaturgeschichte will es, dass Cicero ausgerechnet diese Rede wie auch die vorhergehende, die er am 2. September gegen Antonius gehalten hatte, höchstwahrscheinlich überhaupt nicht selber mit dem Namen "Philippica" bezeichnet hat: Wie wir noch sehen werden, ist dieser Name erst für die späteren Reden gegen Antonius erfunden worden und passt auch nur zu ihnen: In der sogenannten "zweiten Philippica" (die noch Quintilian als Rede In Antonium zitiert) waren es nicht die Logoi Philippikoi des Demosthenes, sondern, wie die Forschung der letzten Jahrzehnte ergeben hat, die schon erwähnte, nicht minder berühmte Kranzrede des großen Griechen, die das Vorbild abgab: Wie Demosthenes dort die Verteidigung seines Lebens und seiner Politik mit der moralischen Vernichtung seines Prozessgegners, Aischines, verbindet, so hält es hier auch Cicero, wenn er in seiner Gegenabrechnung sich selber rechtfertigt und Antonius als den größten Staatsfeind schmäht.

Ich gebe den Anfang der Rede kurz mit eigenen Worten wieder: "Wie kommt es, Senatoren, dass in den vergangenen Jahren kein Feind des Staates aufgetreten ist, der nicht auch mir den Kampf angesagt hätte? Ich brauche die Namen nicht zu nennen. Wie kommt es, dass Antonius verwegener ist als Catilina, wahnsinniger als Clodius, die ich doch beide um des Staats willen herausgefordert habe? Warum hat er hat mir den Krieg erklärt, ohne von mir auch nur mit Worten gereizt zu sein? Warum? Hat er mich verachtet? Hat er geglaubt, gerade im Senat ein freundliches Echo zu finden? Hat er etwa gar gehofft, rednerisch auf meine Kosten glänzen zu können? Nichts von alledem. Er hat mir aus dem einzigen Grund den Kampf angesagt, weil er nur so den Bösen beweisen konnte, dass er als mein Feind ein Feind auch des Staats, ein Feind unserer Vaterstadt Rom ist!" So in Kurzfassung der Beginn dieser ebenso grandiosen wie furiosen Rede, die ein einzigartiges, bis heute nachwirkendes Porträt des Antonius bietet, der Cicero in seiner moralischen Leichtfertigkeit, vom Liebesleben bis zum Alkoholismus, vor allem aber in seiner Neigung zu provokanten, die römische Moral verhöhnenden Theaterauftritten zutiefst antipathisch war: Wie er seine Geliebte, die Edelprostituierte Cytheris, unter Liktorenbegleitung in der Sänfte durch Italien tragen lässt, wie er in Ausübung eines öffentlichen Amtes (als magister equitum) sich coram publico im Weinrausch übergibt - diese Erbrechensszene war ein Lieblingsstück des Rhetorikers Quintilian -, wie er schließlich als nackter Lupercuspriester und zugleich Consul - ein Skandal für sich - dem Diktator Caesar am Lupercalienfest des Jahres 44 (d. h. wenige Wochen vor den Iden des März) die Königskrone, das Diadem des griechischen Ostens, in aller Öffentlichkeit anbietet - ein Abgrund widerrömischer Servilität -, das sind unvergleichlich einprägsame Höhepunkte von Ciceros polemischer Kunst, in der er, jedenfalls was den satirischen Witz angeht, sogar Demosthenes überbietet, auch wenn er vielleicht nicht über die geballte Kraft von dessen fast heiligem Ernst verfügt. Klar ist auf jeden Fall, dass Cicero über den politischen Zweck dieser Rede hinaus auch die literarische Absicht hatte, mit ihr nachzuweisen, dass er der wahre "römische Demosthenes" sei (ein, wie wir uns erinnern, ja nicht unbestrittener Titel). Wir wissen, dass Cicero damals den Plan hatte, die Kranzrede des Demosthenes (zu Studienzwecken) ins Lateinische zu übersetzen, was er aber wohl nicht mehr ausführte - nur die Einleitung zu dieser Übersetzung ist unter dem Titel "De optimo genere oratorum" erhalten -: Die große Rede in Antonium war gewissermaßen der Ersatz für dieses geplante Projekt. Wir wollen die Rede, so köstlich und berühmt sie ist, nicht weiter betrachten: Da Cicero sie zurückhielt, aus politischer Vorsicht nicht edierte, blieb sie vorläufig ohne Einfluss auf die politischen Ereignisse; so eilen wir voran zu den eigentlichen Philippiken.

Die bestimmende politische Kraft der nun folgenden Wochen, aus denen diese wahren Philippiken hervorgehen, ist nun aber zunächst weder Cicero noch Antonius, sondern ein dritter, verhängnisvoller, den wir bisher mit Absicht ausgepart haben: Octavian, der zukünftige Kaiser Augustus, der mit dem Namen seines Großonkels und vor allem Adoptivvaters Caesar als junger Caesar auftrat. Er, gerade erst zarte neunzehn Jahre alt, war bereits im Mai des Jahres 44 nach Rom gekommen, um das Erbe seines Vaters zu fordern, zum nicht geringen Verdruss des Antonius, der auch mitansehen musste, wie sich der junge Caesar durch Geldgeschenke und üppige Festspiele zu Ehren des alten Caesar beim Volk beliebt machte. Auch mit Cicero hatte Octavian, sogar schon im April, Kontakt aufgenommen; und es war klar, dass er dessen Gunst fürs erste suchen musste, wenn er Antonius ausstechen wollte. Aber wie hätte Cicero dem jungen Mann trauen sollen, der offen sagte, er strebe nach der Ehre und Stellung seines Vaters, der dessen Vergöttlichung auch noch mit aller Kraft betrieb? Die Lage änderte sich, als Antonius am 9. Oktober des Jahres 44 (also einige Zeit nach dem Rededuell mit Cicero) Miene machte, zu offener Gewaltanwendung überzugehen. Er reiste nach Brundisium, um vier aus Mazedonien gekommene Legionen Caesars sich anzueignen - soweit nicht illegal - und mit diesen dann, wie er ankündigte, vor der Stadt zu lagern, um so noch über das Ende seines Consulatsjahres 44 hinaus auf die politischen Entscheidungen Druck ausüben zu können. Schlechte Aussichten für Cicero und die republikanische Senatspartei!

In diesem Augenblick erkennt der junge Octavian seine Chance und begibt sich auf den Weg der unzweideutig rechtswidrigen Gewalt. Er wirbt sich auf eigene Kosten aus den Veteranen seines Adoptivvaters in Campanien eine kleine Armee, und er versucht in Brundisium, die Legionen Caesars bzw. jetzt des Antonius zum Abfall zu verleiten. Antonius lässt sich zu einem kleinen Blutbad unter den Meuterern hinreißen, was die Soldaten weiter gegen ihn verbittert. Schließlich verlassen ihn, während er wieder in Rom ist, um Octavian durch den Senat zum "Feind" (hostis) erklären zu lassen, zwei ganze Legionen, die sich Octavian unterstellen: Dieser wiederum präsentiert sich auf einer Volksversammlung "als unterwürfiger Diener des Vaterlands", dem er gegen Antonius zu Hilfe komme; gleichzeitig traktiert er Cicero mit Briefen, um dessen Unterstützung zu erbitten (was Cicero begreiflicherweise in die größte Verlegenheit bringt: "Ich war nie in größerer Ratlosigkeit" (numquam in maiore aporia fui) bekennt er in einem Brief; er drängt, ich mache Ausflüchte"; nebenbei erfahren wir, dass Octavian ihn mittlerweile sogar "Vater" nennt, für Cicero umso schmeichlerischer, verführerischer, als sein echter Sohn, M. Cicero, der studienhalber gerade in Athen ist, sich dort leider weniger den philosophischen Vorlesungen als vielmehr dem Weingenusse widmet. (Noch in späteren Jahren wird sich dieser geschmacklose, aber trinkfeste Sprössling rühmen, er habe seinen Vater gerächt, indem er Antonius unter den Tisch getrunken habe.) Antonius verlässt nun eilends Rom, um sich die noch nicht abgefallenen Legionen zu sichern. Vorher lässt er nur noch am 28. November im Senat die Provinzen für das nächste Jahr 43 verlosen, wobei sein Buder C. Antonius das begehrte Mazedonien erhält. Er selbst, Antonius, hatte sich schon früher, durch Volksbeschluss wie einst Caesar, die beiden Gallien, transalpina und cisalpina, für das das Jahr nach seinem Consulat (also für das sogenannte Proconsulat) zusprechen lassen. Schon im Dezember ist er mit seinen Truppen in Norditalien, in Rimini, um von dort aus zu Jahresbeginn seine Provinzen zu übernehmen.

Nun konzentriert sich alles Interesse auf Norditalien; denn in Gallia cisalpina ist noch amtierender Statthalter Decimus Brutus, der Caesarmörder (nicht zu verwechseln mit seinem allerdings bekannteren Namensvetter und Mitverschworenen Marcus Brutus). Diesen D. Brutus beschwört nun Cicero, seine Provinz nicht an Antonius,den legitimen Nachfolger zu übergeben: Wenn dieser die Provinz bekomme, gebe es keine Rettung mehr für Rom; wenn nicht, könne der Staat in Ewigkeit von der Monarchie befreit sein. Und D. Brutus hört auf seinen Ratgeber. Am 20. Dezember 44, einem zu wenig bekannten Schicksalsdatum der römischen Geschichte, trifft in Rom frühmorgens ein Brief des Brutus mit einem Edikt ein: Er werde die Provinz dem Consul nicht übergeben, sondern dem Senat zur Verfügung halten. Das konnte unter Umständen der Bürgerkrieg sein: Rom hält den Atem an. Trotzdem wagten es die beiden Volkstribunen, die für diesen Tag den Senat wegen Routineangelegenheiten einberufen hatten, nicht, das Thema auf die Tagesordnung zu setzen, bzw. darüber, wie man in Rom sagt, zu `referierenA: Wäre Cicero an diesem Tag nicht im Senat erschienen, hätte man es wohl Brutus und Antonius überlassen, ihren Streit mit Waffen zu schlichten. Aber Cicero, der zuvor beschlossen hatte, bis Neujahr 43 keine Senatssitzung mehr zu besuchen, war früh in der Sitzung, was zur Folge hatte, dass auch sonst zahlreiche Senatoren kamen, da offenbar Besonderes zu erwarten war.

Und Cicero als erster, wie es scheint, befragt, hielt die wohl nicht nur kühnste, sondern auch wichtigste und verhängnisvollste Rede seines Lebens: die Rede, die wir heute als "dritte Philippica" zählen und in der für die Politik des entscheidenden nächsten Jahres ein für allemal die Weichen gestellt wurden. Ich verrate Ihnen noch nicht: wie, sondern lasse Sie wie einen Zuhörer bzw. wie einen Senator des 20. Dezember 44 die Dramatik dieser weithin improvisierten Rede zumindest an ihrem Anfang miterleben:

"Später zwar, hoher Senat, als es die Lage des Staats erfordert hätte,
einmal aber endlich doch, sind wir einberufen,
was ich für meine Person täglich forderte ..."
Das haben Cicero zwar nicht nur vielleicht die damaligen Senatoren geglaubt, sondern auch die heutigen Kommentare; es ist aber nachweislich unrichtig: Cicero hatte nie eine Senatssitzung gefordert, ja er wäre nicht einmal an diesem Tag gekommen, wenn nicht das Edikt von D. Brutus eingetroffen wäre. Erst jetzt kommt es ihm darauf an, zu eiligem Handeln zu mahnen; und aus eben diesem Grund fälscht er jetzt sein bisheriges Verhalten.
"... da ich sah, dass ein frevelhafter Krieg gegen unsere Herde und Altäre,
gegen unser Leben, unser Hab und Gut,
von einem verkommenen und verworfenen Menschen
nicht erst vorbereitet, sondern schon geführt wurde.
Was hiermit gemeint sein muss, ist leicht zu ahnen: Cicero spricht von den Truppensammlungen des Antonius, die sich allerdings im Moment durchaus nicht auf Rom richten.
Man wartet auf die Kalenden des Januar ...,
Cicero wirft dem Senat vor, was er selbst ebenso getan hat.
... aber Antonius wartet nicht auf sie,
er, der gegen die Provinz des D. Brutus, dieses großen und einzigartigen Mannes ...
Damit deutet Cicero sogleich an, dass er dessen Verhalten belobigen und unterstützen wird.
mit seinem Heer einen Angriff zu machen versucht;
von dort will er zu Stadt kommen, wie er droht, wohlgerüstet und ausgestattet.
Diese Gefahr war freilich nicht ganz von der Hand zu weisen; aus Gallien war schon Caesar gekommen, um mit der Überschreitung des Rubikon den Bürgerkrieg zu eröffnen; aber gleichwohl ist klar, dass vorläufig Antonius im Recht ist, wenn er seine Provinz verlangt: Der illegale Gewalttäter ist zunächst Brutus.- Nun mahnt Cicero zur Eile, ohne dass man fürs erste genau weiß, worauf er hinauswill.
Was soll also noch das Warten? Was soll die geringste Zeitverzögerung?
Zwar steht der erste Januar vor der Tür,
aber eine kurze Zeit ist lang, wenn man nicht gerüstet ist.
Schon ein Tag, ja besser schon eine Stunde,
kann, wenn man nicht vorgesorgt hat, oft großen Schaden bringen.
Beim guten Rat ist es aber nicht so wie beim Opfer,
dass man auf einen bestimmten Tag wartet.
Angespielt ist in dieser (sonst aus Demosthenes inspirierten) Sentenz auf die regelmäßigen Opfer des staatsrömischen Festkalenders.
Wäre denn entweder an dem Tag, wo Antonius zuerst aus der Stadt floh,
der erste Januar gewesen,
oder hätte man auf diesen nicht gewartet,
dann gäbe es bereits keinen Krieg mehr:
Denn kraft der Autorität des Senats
und im Einverständnis mit dem römischen Volk wären wir leicht
mit der Verwegenheit dieses Wahnsinnigen fertig geworden.
Aber ich vertraue darauf, dass die designierten Consuln, ...
Hirtius und Pansa stehen seit langem als Consuln für 43 fest.
... sobald sie ihr Amt angetreten haben, dies tun werden:
Sie haben ja beste Gesinnung, größtes Planungsvermögen, einzigartige Eintracht.
Meiner Eile aber ist nicht nur auf den Sieg,
sondern auch auf die Schnelligkeit begierig.
Damit ist nun große Spannung erregt, denn es ist noch immer höchst unklar, was Cicero im Augenblick tun will: Am ehesten würde man wegen der Erwähnung des D. Brutus daran denken, dass man diesen unterstützen solle - aber das wäre ja nichts, was man längst hätte tun können, da doch eben heute erst sein Edikt in Rom eingetroffen ist. Und tatsächlich gibt nun Cicero seiner Rede eine ganz andere und auch für die Hörer des 20.Dezember unerwartete Richtung:]
Wie lange nämlich noch (quo usque) ...
Cicero erinnert, vielleicht mit Absicht, an den schon im Altertum sprichwörtlich gewordenen Beginn seiner ersten Rede gegen Catilina: Quo usque tandem abutere, Catilina, patientia nostra? (`Wie lange noch willst du, Catilina, unsere Geduld missbrauchen?A)
... wird dieser große, grausame, verbrecherische Krieg
nur durch private Planungen verhindert?
Warum werden sie nicht so rasch als möglich durch die Autorität des Staats gestützt?"
Private Planungen? Damit kann eigentlich nur der eine gemeint sein, dessen Namen der Senat in Ciceros republikanischem Mund am wenigsten erwarten wird. Aber da kommt er, kein anderer als Caesars Erbe, der junge Octavian, mit seinem Namen Caesar:
C. Caesar adulescens, paene potius puer,
incredibili ac divina quadam mente atque virtute ...
"Es war Gaius Caesar, der junge Mann, fast eher noch ein Knabe,
der, mit geradezu unglaublicher und göttlicher Einsicht und Tapferkeit begnadet,
als die Raserei des Antonius auf dem Höhepunkt war,
als man seine grausame und tödliche Rückkehr aus Brundisium fürchtete,
ohne unser Fordern, ohne unser Denken,
ohne dass wir es auch nur gewünscht hätten, weil es ja unmöglich schien,
ein kraftvolles Heer aus dem unbesiegten Geschlecht der Veteranen sich verschafft
und dafür sein väterliches Vermögen verschwendet hat -
nein, ich habe nicht das richtige Wort gebraucht:
Denn er hat es nicht verschwendet, sondern im Heil des Staats angelegt.
Obwohl wir uns aber niemals ihm so dankbar werden erweisen können,
wie wir das schuldig wären,
so wollen wir ihm doch wenigstens so sehr dankbar sein,
wie unsere Herzen den größten Dank nur fassen können.
Denn wer wüsste so wenig, wer wäre politisch so naiv, dass er nicht sähe,
dass, wenn M. Antonius aus Brundisium
mit den Truppen, die er zu haben hoffte,
nach Rom, wie er drohte, hätte kommen können,
er keine Art von Grausamkeit nicht begangen hätte?
Ließ er denn nicht in Brundisium, im Hause seines Gastfreunds,
die tapfersten Männer und die besten Bürger hinschlachten?
So dass, wie es hieß, das Gesicht seiner Frau
vom Blut derjenigen, die vor seinen Füßen starben, bespritzt wurde?
Wäre er, noch benetzt von dieser Grausamkeit, gekommen,
mit noch größerem Hass auf uns alle
als auf die, die er schon hingemetzelt hatte,
wen denn wohl von uns, welchen Guten sonst hätte er geschont?
Von dieser Pest hat nach privater Initiative
- denn anders war es nicht möglich - Caesar den Staat befreit;
wäre e r nicht in diesem Staat geboren worden,
dann hätten wir dank dem Verbrechen des Antonius überhaupt keinen Staat mehr.
Ja, so sehe ich es, so urteile ich:
Hätte nicht dieser eine junge Mann
die wilden Triebe und grausamen Pläne jenes Rasenden vereitelt,
dann wäre der Staat von Grund auf vernichtet worden.
Ihm, Senatoren, müssen wir am heutigen Tag
- denn wir sind nun zum ersten Mal so zusammen gekommen,
dass wir dank seiner Wohltat frei sagen können, was wir denken -
ihm müssen wir heute unsere Autorität zukommen lassen,
damit die Verteidigung des Staats nicht nur sein Unternehmen ist,
sondern auch in unserem Auftrag geschieht."
Ich hoffe, Sie haben diese Worte mit der gebührenden Ehrfurcht und mit dem Schauer einer gewissen historischen Gänsehaut gehört: In ihnen hält der nach König Romulus vielleicht wichtigste Mann der römischen Geschichte, der spätere Kaiser Augustus, in die Literatur seinen Einzug (denn die Briefe, in denen er vorher schon gelegentlich erwähnt wurde, rechnen ja nicht zur Literatur); und er erscheint schon hier so, wie er sich später, bis zu seinem Tod, immer wieder hat abbilden lassen: als der göttliche, nie alternde Jüngling, fast noch ein Knabe ... Er war es, der junge Octavian, auf den Cicero im kunstvoll zerdehnten Prooemium seiner Rede die Spannung erregt hatte; wenn er den Senat wegen desen Säumigkeit schalt, geschah es weniger, um wirkliche Versäumnisse seit dem 28. November anzumahnen, als um eine Folie zu schaffen, auf der junge Caesar mit seinem raschen, genialen, geradezu venividivici-mäßigen Handeln nur umso heller erstrahlen konnte.

Hat Cicero, der Gegner des alten Caesar, ihn wirklich so erlebt? Als das jugendliche Genie, das den Staat vor dem Bösen rettete? Nicht nur sein langes, in den Briefen sich spiegelndes Zaudern scheint dagegen zu sprechen (einmal hieß es sogar: "Von dem möchte ich nicht einmal gerettet werden!"); auch die Chronologie muss uns zumindest skeptisch machen: Die verherrlichten Taten Octavians lagen ja damals schon einige Zeit, ein bis zwei Monate, zurück; und zumindest seit dem Abgang des Antonius am 28. November hätte man schon volle zweiundzwanzig Tage Zeit gehabt, um die Solidarität des Senats mit dem jungen Caesar zu bekunden. Man hatte es nicht getan, auch Cicero hatte keinen Schritt in diese Richtung versucht; denn es war ja, wie wir gesehen haben, erst die Tat des D. Brutus, der Antonius seine Provinz vorenthielt, die ihn am 20. Dezember überhaupt dazu veranlasste, in den Senat zu gehen und zu sprechen. Diese Tat freilich scheint auf ihn wahrhaft elektrisierend gewirkt zu haben: Zum ersten Mal wagte einer von denen, die er wirklich liebte und verehrte - und das waren die Caesarmörder, die seit den Iden des März so wenig aktiv gewesen waren - den offenen, sogar illegalen Widerstand gegen den Consul Antonius. Und so fasste er, offenbar in der Improvisation nur weniger Stunden bis zur Senatssitzung, den verwegenen Plan, nunmehr, da sich ein ernstlicher Widerstand gegen Antonius schon von zwei Seiten regte (Cicero also dem jungen Octavian als Verbündetem nicht mehr allein ausgeliefert war), die große, die ganz große Koalition gegen Antonius zu schmieden: aus der ihm ohnehin feindlichen altrepublikanischen Senatsmehrheit, aus den Caesarianern, die ihn als ebenbürtigen Nachfolger Caesars nicht anerkennen wollten, aus dem Caesarerben, der sein natürlicher Rivale war, und schließlich - man glaubt es ja kaum - aus den leibhaftigen Caesarmördern!

Theodor Mommsen hat einmal von Cicero gesagt, er habe als Politiker und Redner nie etwas Ernstliches bewirkt, sondern allemal nur Pappmauern mit großem Geprassel eingerannt. Vom 20. Dezember 44 kann das gewiss nicht gelten: Die Caesarmörder, wenn auch nur kurzfristig, mit dem Erben und bald Rächer Caesars zu verbünden, war ein Kunststück, das wohl nur Ciceros bezwingender Rhetorik möglich war. Denn eben dies war ja die Absicht seiner Rede, unserer sogenannten `dritten PhilippicaA: dass, wie am Schluss der formelle Antrag lautete, sowohl D. Brutus für sein Verhalten von Senats wegen zu belobigen sei - Cicero verband das mit der kühnen Aufforderung an die übrigen Statthalter, auch sie sollten ihre Provinzen nicht übergeben, sondern dem Senat zur Verfügung halten (womit die Provinzverlosung des Antonius stillschweigend annulliert war) B, und dass an Octavian für seine Verteidigung des römischen Volks und Senats der Dank ausgesprochen und eine Ehrung in Aussicht gestellt werden solle. Und tatsächlich ließ sich der Senat dazu hinreißen, beeindruckt von Ciceros glühendem Patriotismus und seiner Freiheitsliebe, die Taten dieser beiden natürlichen Antipoden, die nur durch ihren gemeinsamen Gegner (und ihre gemeinsame Rechtswidrigkeit) vereint waren, gutzuheißen und nachträglich zu legalisieren. Für die Politik der nächsten Monate waren damit die Weichen gestellt, oder, wie Cicero es gerne blumiger ausdrückte, es waren wieder die "Grundlagen der freien Republik gelegt" worden.

Wir haben unsere Rede bisher nur im Hinblick auf ihr politisches Kernziel behandelt. Sie hatte aber auch ihre literarische Absicht, und diese erschließt sich, je mehr man ins einzelne geht. Cicero will nicht nur alle Kräfte zum Krieg gegen Antonius mobilisieren: Er will auch, wieder einmal und mehr als je, der römische Demosthenes sein. Seine (nach üblicher Zählung) "dritte Philippica" ist eine echte Philippica im Sinne des Demosthenes, der die Athener jahrelang zum bedingungslosen Kampf gegen Philipp von Mazedonien aufrief. Schon im Aufbau der Rede wird es deutlich. Sie hat eine klare Ringkomposition A-B-A: Im ersten und im dritten, letzten Teil mahnt Cicero zum eiligen Handeln (am Schluss ausführlicher als am Anfang); im mittleren Hauptteil entwickelt er sein konkretes Programm: Bündnis mit Octavian, Unterstützung des Decimus Brutus, stillschweigende Annullierung der bisherigen Provinzverteilung. Genau diese Ringkomposition finden wir in den ersten drei Reden, die das Corpus der Logoi Philippikoi eingeleitet haben (den sogenannten "Olynthien"): Sie sind strukturelles Vorbild zu zumindest für diese Rede.

Noch deutlicher, handgreiflicher wird die Beziehung, wenn wir auf die Thematik der Rede sehen. Alle allgemeineren Motive bzw. Themen sind die Motive und Themen des Demosthenes:
1. Wie Demosthenes immer wieder, so konstatiert Cicero, d a s s man sich bereits im Krieg befindet (dieser also nicht allererst begonnen werden müsse).
2. Wie Demosthenes in Philipp den Feind sieht, so erklärt Cicero schon in dieser Rede
- beträchtlich kühner - Antonius zum Feind; wörtlich: "Nicht dem Namen, aber der Sache nach, soll Antonius nicht nur kein Consul sein, sondern zum Feind (hostis) erklärt werden."
3. Wie Demosthenes den notwendigen Krieg mit Philipp nicht bloß als Machtkampf zwischen zwei Staaten ansieht, sondern als einen Kampf um die Erhaltung der Freiheit gegen die Tyrannei, genau so überhöht Cicero ideologisch die Auseinandersetzung mit Antonius zum großen Streit zwischen Tyrannei und republikanischer Freiheit. Liebe zur Freiheit sei, so sagt er (in genauer Entsprechung zu Demosthenes), dem römischen Volk angeboren und wesenseigentümlich. Jetzt gehe es darum, ob man in Knechtschaft lebe (servire) oder diese Freiheit (libertas) wieder gewinnen wolle.
4. Wie Demosthenes immer wieder feststellt, dass gerade nunmehr, im Augenblick der jeweiligen Rede, die Chance zum entscheidenden Handeln (der kairos)gekommen sei, so interpretiert Cicero das plötzliche Auftreten Octavians als die einzigartige Gelegenheit, sich eben jetzt vom Tyrannen zu befreien: Beide sprechen in diesem Zusammenhang geradezu von einem Göttergeschenk, Cicero so: "Wollt ihr nicht die Stunde nutzen, die euch durch Wohltat der Götter zugefallen ist?" Dies ist für ihn um so leichter, als ja Octavian in seinem jugendlich-spontanen Auftreten tatsächlich etwas Göttliches hat: Cicero spricht von seinem "göttlichen Geist" (divina mens); zehn Tage später nennt er ihn geradezu divinus adulescens, "göttlicher Jüngling" (immerhin trat Octavian ja auch von selbst als Divi filius, Sohn des vergöttlichten Caesar, auf).
5. Wie Demosthenes mahnt Cicero: "Diese Gunst der Stunde macht es aber auch notwendig, dass man nunmehr rasch handelt, die Gelegenheit beim Schopfe fasst." Wir haben soeben schon gesehen, wie dieses für Demosthenes so besonders bezeichnende Motiv (das er wie Cicero gerne mit einer Schelte seiner Zuhörer verbindet) die Rede Ciceros einrahmt: Schon die ersten Worte: Serius omnino ... aliquando tamen ("Zwar schon allzu spät, aber wenigstens doch einmal") reißen uns in diese demosthenisch-drängende Stimmung; und vor allem am Ende der Rede wird dann der beschwörende Imperativ des "Jetzt oder nie" in völliger Breite und mit allem Nachdruck ausgeführt.

Kein Zweifel: Diese Philippica Ciceros ist zwar sehr wohl eine für den 20. Dezember 44 berechnete politische Kampfrede, sie ist zugleich aber doch a u c h eine literarische Imitation, eine römische Neubearbeitung der Logoi Philippikoi, gewiß nicht weniger als etwa die Oden des Horaz eine römische Nachgestaltung der griechischen Lieder des Alkaios darstellen oder die Hirtengedichte Vergils den Idyllen des Theokrit entsprechen sollen. Aber, wie in aller Welt soll man sich das vorstellen? Hat etwa Cicero am Morgen des 20. Dezember nach Eintreffen des Brutusedikts, begonnen, Demosthenes zu lesen, um im Senat mit einschlägigen Anspielungen zu glänzen? Unvorstellbar! Oder hat er etwa erst im nachhinein, bei der schriftlichen Ausarbeitung seiner zunächst mündlich improvisierten Rede, dem Ganzen seine demosthenische Ausrichtung gegeben? Kaum glaublich! Viel zu tief ist diese Rede von Geist und Gedanken des berühmten Redners geprägt. Wir müssen es uns anders klar machen: Cicero hat Demosthenes seit seiner Jugend studiert; und er hat es vor allem getan, nachdem ein anderer (Licinius Calvus) als "römischer Demosthenes" aufgetreten war und ihm sogar ein angebliches stilistisches Defizit im Hinblick auf den berühmter griechischen Meister vorgehalten hatte. In diesen Jahren - das zeigte ja nebenbei schon die sogenannte zweite Philippica - ist Demosthenes seinem römischen Bewunderer Cicero näher und vertrauter als je. Dieses dauernde und neuerdings intensivierte Studium brachte am 20. Dezember wie nach langer Schwangerschaft eine plötzliche und unerwartete Frucht. In der genialen Intuition eines Augenblicks sah Cicero zugleich die Möglichkeit jenes Bündnisses von Caesars Mördern mit dem jungen Caesar, und zugleich seine eigene Möglichkeit, ja geradezu Notwendigkeit, nunmehr in vollem Sinn römischer Demosthenes zu werden - und dies auch für geraume Zeit zu bleiben.

Denn die Themen dieser Rede vom 20. Dezember sind die Themen sämtlicher elf Philippiken, die nun in unseren Cicerohandschriften folgen: von der noch am selben Tag gehaltenen Volksrede, der sogenannten `vierten PhilippicaA, bis zur "14. Philippica" am 21. April 43 (Ciceros letzter uns erhaltenen Rede überhaupt). Wie Sie sehen, sind es wiederum, von der dritten bis zur vierzehnten Philippica - denn die ersten beiden sogenannten Philippiken waren ganz anderen Inhalts -, genau zwölf Reden, wie bei den Oratoriones consulares vom Jahr 63, wie bei den Logoi Philippikoi des Demosthenes selber ... Und so gibt es kaum einen vernünftigen Zweifel daran, dass Cicero selbst diese zwölf Reden, von der dritten bis zur vierzehnten - wenn auch natürlich in anderer Numerierung (nämlich von 1 bis 12) - nachträglich zu einem Corpus seiner Orationes Philippicae zusammengefügt hat.

Sieht man näher zu, so ist dieses Corpus so wenig ungegliedert, wie es die Orationes consulares waren. Dort hatten wir, was ich heute nicht näher erläutern kann, ein Aufbauschema von 2 + 4 + 4 + 2 Reden, hier sind es nun: 2 + 5 + 5 Reden. Auf die beiden Reden vom 20. Dezember 44, einer Senatsrede und einer sich anschließenden Volksrede (mit derselben Thematik), folgen zwei in sich symmetrisch aufgebaute Kleinzyklen von Reden: Der erste (nach üblicher Zählung: 5 - 9) betrifft eine an Antonius ausgesandte, aber erfolglose Gesandtschaft. Der zweite (10 - 14) behandelt, der Chronologie der Begebenheiten folgend, die Ereignisse im Osten, wo sich die Cäsarmörder Brutus und Cassius eine militärische Machtbasis schaffen, und schließlich die militärische Auseinandersetzung mit Antonius selber, die mit dem vorläufigen Sieg Octavians und der Senatstruppen bei Forum Gallorum endet. Cicero hat sein Corpus nicht mit dem viel wichtigeren, scheinbar schon endgültigen und entscheidenden Sieg der Schlacht bei Mutina abgeschlossen, obwohl die letzte Rede (die 14. Philippica üblicher Zählung) an eben diesem Tag, dem 21. April 43, gehalten wurde

(natürlich bevor die entsprechende Nachricht eingetroffen war): denn die Meldung von diesem Sieg hätte gewissermaßen dem Gattungscharakter demosthenischer Philippiken widersprochen: Die Logoi Philippikoi waren Kriegsreden in dem Sinn, dass sie immer wieder zum Krieg, zur Eröffnung oder Fortsetzung des Kampfes aufriefen. So durfte auch eine ciceronische Philippica nicht mit endgültigem Siegesjubel abschließen. Die letzte Philippica enthält zwar einen das Corpus wirkungsvoll abschließenden Nachruf auf die Gefallenen der Schlacht von Forum Gallorum - ein Ehrengedenken ganz in Art und mit den Gedanken eines attischen Logos epitaphios, d. h. einer Rede zum Staatsbegräbnis, wie sie auch Demosthenes verfasst hat -, aber der Redner gibt deutlich zu verstehen, dass man zwar eine Schlacht gewonnen hat, jedoch immer noch im Krieg ist. Auch noch diese letzte, an manchen Stellen fast schon sentimentale, Rede schürt den Hass auf Antonius.

So hat Cicero sein Corpus der Orationes Philippicae am Ende gewissermaßen im Hinblick auf ein noch ausstehendes Ziel geöffnet, das Corpus offengehalten. Publiziert aber hat er es - jedenfalls als Corpus - natürlich erst nach der Schlacht von Mutina (die den endgültigen Erfolg zu bringen schien). Und in der gewaltigen Hochstimmung dieser Tage wagte er es denn auch, dem Ganzen den Titel Orationes Philippicae zu geben, ein Titel, dessen Kühnheit nur uns, die wir ihn schon zu oft gehört haben, nicht mehr voll bewusst ist, war es ursprünglich doch, als würde jemand nach Homer noch eine Ilias (sprichwörtlich: eine Ilias post Homerum) schreiben.

Zufälligerweise können wir aus Ciceros Briefwechsel noch erkennen, wie ihm der Mut zu dieser Betitelung zugewachsen ist. Zunächst hatte er in einem (uns verlorenen) Brief an seinen Freund, den Cäsarmörder Marcus Brutus, scherzhaft (iocans) von Philippikoi im Hinblick auf einzelne Reden, die er ihm übersandt hatte gesprochen. (Cicero pflegt ja wichtigere Reden, nachdem er sie gehalten hat, aufzuschreiben und an Interessenten in Kopie zu verschicken.) Brutus, der selber ein großer Verehrer des Demosthenes war, dabei aber der Richtung des Calvus bzw. der Attizisten eher näher stand als der seines Freunds Cicero,

bemerkte mit feinem Gespür dass dieser spassig-anmaßliche Titel nicht als reiner Scherz

sondern eher als eine Art vorsichtiger Anfrage gemeint war; und so kommt er Ciceros direkter Frage (ob er es wohl wagen dürfe ...), höflichst zuvor, indem er dem Namen schon von sich aus sein Placet erteilt: Nach Lob der Reden sagt er nämlich: concedo ut vel Philippici vocentur... ("Ich gebe zu, dass man sie sogar Philippikoi nennen mag ...") - ein Gütesiegel aus kompetentem Munde -, worauf Cicero mit Stolz und Entzücken konstatiert: te gaudere video Philippicis nostris ("Ich sehe, dass du Freude hast an meinen Philippiken"), den Titel also gewissermaßen als abgesegnet betrachtet. So stark ist der schier literarische Ehrgeiz beim Politiker Cicero noch in dieser entscheidenden, für ihn selbst zuletzt tödlichen Krise des Staats.

Aber musste er nicht eben dies fürchten, das Nomen als Omen: den Titel Philippicae als böses Vorzeichen für ein Scheitern? Die demosthenischen Logoi Philippikoi waren ja, wie schon erwähnt, erfolglose Reden gewesen; letztlich hatte König Philipp gesiegt und das freie Athen unter seine Botmäßigkeit gezwungen. Wenn man Ciceros Philippiken, die echten, aufmerksam liest, hat man nicht selten den Eindruck, dass er sich selbst dieses Zweideutig-Ominösen seiner Demosthenes-Pose bewusst ist und jedenfalls immer auch mit dem Schlimmsten rechnet - nur darin, aber doch darin, so fühlbar verschieden von seinem griechischen Vorbild mit dessen unangekränkelter Siegeszuversicht. Wiederum schon in der dritten Philippica (üblicher Zählung) heißt es, wie dann später so oft: "Wenn denn also - mögen die Götter dies Omen abwenden - schon die letzte Stunde für den Staat gekommen ist, dann, wie edle Gladiatoren sorgen, dass sie in Schönheit hinsinken"- das richtige Empfangen des letalen Stoßes galt ja als Krönung der Gladiatorenkunst - "so wollen auch wir, die Führer der Welt und aller Völker, es halten, dass wir eher mit Würde fallen als mit Schmach Knechte sind" (ut cum dignitate potius cadamus quam cum ignominia serviamus). Das Bild vom Gladiator zeigt, dass Cicero hier, mit einer stoischen Vorstellung, an eine Art "Theater der Welt" (theatrum mundi) denkt, in dem die Götter dem Menschen zuschauen und, wenn dieser schön zu leben und zu sterben weiß, applaudieren.

Im übrigen lässt sich auch dieser Gedanke, dass man für die Freiheit zum Tode bereit sein müsse, aus Demosthenes ableiten, aber gerade nicht aus den zum Krieg ermunternden Logoi Philippikoi, wo er wohlweislich ausgespart ist, sondern aus der späteren Kranzrede, in der Demosthenes rückblickend seine und Athens Politik trotz ihrem Scheitern rechtfertigt: Sie, die Athener, hätten, heißt es dort, nichts anderes getan als ihre Vorfahren, die ohne Freiheit nicht einmal hätten leben wollen. Erst Cicero, als würde er sein eigenes Scheitern ahnen, rückt diesen Gedanken in eine Philippika, eine Kriegsrede, und bringt ihn damit zu noch größerer, rührenderer Wirkung.

Zugleich bringt er ihn - und damit kommen wir auf den Anfang dieses Vortrags zurück - in gewisser Weise auch mit seiner sokratisch-platonischen Philosophie in Zusammenhang. Auch Sokrates in Platons Kriton hatte unmittelbar vor seinem Tod gelehrt, dass das Leben nicht das höchste Gut sei und es in seinem eigenen Falle darauf ankomme "schön zu sterben" (apothneskein kalos, wir vergleichen: ut cum dignitate cadamus), weil so der Gott es wolle (wie die allerletzten Worte des Dialogs sagen). Cicero lässt in seiner vorletzten Philippica die Philosophie persönlich (unter ihrem römischen Namen Sapientia, "Weisheit") auftreten und zur Klugheit mahnen. Freilich, Philosophien gibt es manche, und so muss man die Sapientia prüfen, ob sie auch die rechte Einstellung hat. Zitat: "Wenn sie mir dies vorschreibt, dass ich nichts für wertvoller halten soll als mein Leben, dass ich meinen Kopf nicht riskieren und alle entscheidende Gefahr fliehen soll, dann werde ich sie fragen: "Auch wenn ich dann Knecht sein muss?" Wenn sie ja sagt, werde ich auf diese Weisheit, so gebildet sie auch sein mag, nicht hören [Cicero denkt hier wohl an die von ihm verachtete epikureische Philosophie, die dem Menschen ein bloßes Wohl- und Genussleben empfehle].Wenn sie aber antwortet: "Bewahre du in der Weise dein Leben und deinen Leib, deine Güter und dein Vermögen, dass du all dies für weniger wertvoll hältst als die Freiheit und all dies nur dann gebrauchen willst, wenn du es in einem freien Staate tun kannst, und nicht für all dieses die Freiheit, sondern für die Freiheit all dieses hinwirfst, als Pfänder des Unrecht" - dann werde ich die Stimme der Weisheit hören und ihr [jetzt hören wir den Schluss des Kriton] wie einem Gott gehorchen." Es hat im Altertum m. W. keine Philosophie gegeben, die die politische Freiheit so hoch gestellt hätte wie Cicero an dieser Stelle, ja die Stoiker haben sogar die Monarchie als beste Staatsform empfohlen; und so dürfte es wohl eher das persönliche Beispiel des rigorosesten römischen Stoikers, Ciceros Freund Cato, sein, der sich nach der Niederlage gegen Caesar den Tod gegeben hatte, als die Lehre seiner - oder überhaupt einer - Philosophenschule, die Cicero hier vorschwebt: Auf jeden Fall ist das Pathos, mit dem er im Angesicht des Tods das schöne Sterben über das schlechte Leben stellt, dasjenige des platonischen Sokrates.

Und vollends in dessen Sinn sagt er dann in der letzten Philippica über die Gefallenen bei Forum Gallorum: "O glückseliger Tod, wenn er, den wir der Natur schulden, gerade für die Vaterstadt gegeben wird: Euch nenne ich Söhne der Vaterstadt." So hatte es wiederum im Kriton der platonische Sokrates gelehrt: dass über Vater und Mutter die Vaterstadt stehe, und man, wenn sie es befehle, auch zum Tod bereit sein müsse; so hatte es auch Demosthenes, Platons angeblicher Schüler, in der Kranzrede nachgesprochen und im Hinblick auf die politische Freiheit variiert: "Jeder von uns ist nicht nur für Vater und Mutter geboren, sondern auch für seine Vaterstadt. Was macht das für einen Unterschied? Wer glaubt, nur den Eltern geboren zu sein, wird auf den Tod durch das Schicksal, den Tod, der von selber kommt, warten. Wer seiner Vaterstadt sich geboren glaubt, wird bereit sein zu sterben, um sie nicht in Knechtschaft zu sehen." So ist wohl unverkennbar, dass Cicero in diesem letzten seiner Werke, den Philippiken, versucht, die geistigen Heroen seines Lebens, Sokrates bzw. Platon und Demosthenes, zueinander konvergieren zu lassen, um, wenigstens hier, als eine echte Verkörperung der Einheit von Philosophie und Rhetorik, oder wie er es in seiner Jugend formuliert hat: von Weisheit und Beredsamkeit, zu erscheinen.

Wie wir wissen, hatte Cicero bald Gelegenheit, sein Gladiatorenpathos des Tods für die Freiheit - sehr im Unterschied zu Demosthenes, nicht im Unterschied zu Sokrates - zu bewähren. Bald nach dem Sieg von Mutina hatte der göttliche Jüngling, der junge Caesar und zukünftige Augustus, nichts Besseres zu tun, als seinen von ihm "Vater" genannten geistigen Ziehvater, den Mann, der ihn publizistisch überhaupt aufgebaut hatte, zu verraten, sich mit Antonius zu verbünden und, auf Wunsch des neuen Partners, den diesem verhassten Cicero den Häschern der Proskription auszuliefern: Als Ciceros Haupt, das er gladiatorenmäßig dem tödlichen Streich selber geboten hatte, zu Boden fiel, war die Vision des 20. Dezember 44 als eine Fata Morgana erwiesen: Bei Philippi waren die alten, natürlichen Fronten von Caesarmördern und Caesarerben wieder hergestellt; und die republikanische Freiheit erlitt ihre letzte Niederlage.
Auf Ciceros Namen liegt so unter dem Regiment des Augustus ein begreifliches Tabu, resultierend aus der nunmehr eklatanten, den Kaiser belastenden Peinlichkeit der Orationes Philippicae, in denen sich Cicero ja ebenso verblendet wie beredt und ausdrücklich für die staatstreue Gesinnung seines Schützlings verbürgt hatte. Weder Vergil noch Horaz, nicht einmal die Elegiker Properz, Tibull oder der sonst so mutige Ovid wagen seinen Namen zu nennen oder auf ihn anzuspielen. Nur Livius hat ihn, besonders seinen tapferen Tod, gewürdigt; und wenigstens Augustus selber hat ihn einmal noch mit Respekt genannt. Lassen Sie mich mit dieser Anekdote, die wiederum bei Plutarch überliefert ist, ringkompositorisch schließen!

Als er (Augustus) einen seiner Enkel eines Tags dabei überraschte, wie er gerade in einer Cicerorolle las, und wie dieser im Vollgefühl der Peinlichkeit - man liest sonst im Haus des Augustus so etwas nicht - die Rolle verschwinden lassen will (gewissermaßen wie heute ein Schund- oder Pornoheftchen), da nimmt ihm Augustus selber das Buch aus der Hand, liest lange darin und gibt es zurück mit den Worten: "Ein beredter Mann und einer, der seine Vaterstadt lieb hatte" (logios kai philopatris). Diese kleine, noble Äußerung macht die Schurkerei des Augustus kaum geringer. Uns aber mahnt sie, dass, wenn uns diese Kriegs- und Hetzreden Ciceros ihrem Inhalt nach nicht sympathisch sind - und gerade heute, wo der Krieg zunehmend und weltweit geächtet wird, können sie uns nicht sympathisch sein -, dass wir dann doch den uneigennützigen Patriotismus und die echte, in der Tat todesmutige Freiheitsliebe, die aus ihnen spricht, anerkennen, und sie bei allen Vorbehalten, würdigen als rhetorische Meisterwerke der römischen Literatur, die vor allem dank Cicero hinter der griechischen nicht mehr zurückstehen musste.

Literaturhinweise:

Die schönste Einführung zu Cicero insgesamt gibt Otto Plasberg, Cicero in seinen Werken und Briefen, Leipzig 1926 (Ndr.);
von ähnlichen Werken neueren Datums sind zu empfehlen: Marion Giebel, Marcus Tullius Cicero in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek bei Hamburg 1977; Manfred Fuhrmann, Cicero und die römische Republik: eine Biographie, München / Zürich 1989. Der Politiker Cicero wird dargestellt von Matthias Gelzer, Cicero: ein biographischer Versuch, Wiesbaden 1969 und bes. Christian Habicht, Cicero der Politiker, München 1990;
vergleichbare Gesamtwürdigungen des Redners Cicero gibt es nicht, doch bietet die mit Einleitung versehene Gesamtübersetzung der Reden von Manfred Fuhrmann (7 Bde., Zürich / Stuttgart 1970-1982) dem deutschen Leser einen ersten Zugang.
Die Philippiken liegen vor in zweisprachiger (lat.-engl.), kritischer Edition von D. R. Shackleton Bailey, Chapel Hill / London 1986; eine gute Einführung bietet H. Frisch, Cicero's Fight for the Republic, Kopenhagen 1946, vgl. Thomas N. Mitchell, Cicero the Senior Statesman, New Haven / London 1991, 289 ff.; die hier vorgetragenen Aufassungen wurden näher begründet in folgenden Arbeiten des Verfassers: `Die Nachahmung des Demosthenes in Ciceros PhilippikenA, in: Éloquence et rhétorique chez Cicéron (Fondation Hardt: Entretiens sur l>antiquité classique, Bd. 28), Genève 1982, 1-40; `Ciceros demosthenische RedezyklenA, Museum Helveticum 40, 1983, 35-50; "Die Provinzverlosung am 28. November 44", Hermes 111, 1983, 452-458. Vgl. bes. auch Alfons Weische, Ciceros Nachahmung der attischen Redner, Heidelberg 1972.