Wilfried Stroh

Ein unsterbliches Gespenst: Latein


Ist das Latein eine tote Sprache? Meine Antwort darauf gibt der Titel dieses Vortrags:1 Gespenster gibt es nur von Toten, Latein  i s t  also tot – in diesem Punkt wage ich meinem Vorredner der letzten Woche nicht zu widersprechen - obwohl auch ich nicht gerne ein Spezialist für Leichen bin. Aber so ganz tot scheint es doch nun auch wieder nicht, jedenfalls ist es nie ausgestorben, wie etwas das Hethitische oder das Etruskische; und wer sich auch nur in einen der im Internet blühenden Latin Chatclubs einklickt, muss den Eindruck haben, dass Latein seinen Tod sogar irgendwie ganz gut überlebt hat. Wie schwierig und uneindeutig die Dinge im übrigen sind, zeigt schon die Tatsache, dass sich zwar über den Tod des Lateinischen so gut wie alle einig sind, dagegen durchaus nicht über die Frage, wann und woran denn das Latein gestorben sei: mors certa, tempus incertum. Beim Durchblättern der Literatur finde ich etwa folgende Versuche, dem Totenschein des Latein sein Datum zu verpassen.2
Da meinen die einen, erst im 18. Jahrhundert sei das Latein gestorben, damals als es aufhörte die internationale Sprache von Wissenschaft und Universität zu sein. Andere gehen drei Jahrhunderte weiter zurück, und behaupten schon die großen Humanisten der Renaissance hätten das lebendige Latein getötet, indem sie eine bis dahin fröhlich lebende, ja geradezu wuchernde Sprache in das streng schnürende Korsett des Cicerolateins gesperrt und dabei erstickt hätten. Und wieder andere glauben, es sei Karl der Große gewesen, der im achten Jahrhundert durch seine berühmte Bildungsreform, die im wesentlichen eine Wiederherstellung des Lateinunterrichts war, zum Mörder des lebendigen Lateins geworden wäre. Und schließlich gibt es natürlich auch die Meinung derer – sie dürften noch immer in der Überzahl sein -, die annehmen, dass das Lateinische mit dem Ende der Antike, das man dann vom 5. bis 7. Jahrhundert hin- und herschieben kann, sein Dasein als lebende Sprache verloren habe.  Quot capita, tot sensus – wie viele Köpfe, so viele Ansichten. Ich will Ihnen die meine nicht verhehlen: Latein, wenn es denn wirklich gestorben ist, hat seinen Tod schon einige Jahrhunderte früher erlebt: ausgerechnet zur Zeit seiner größten Blüte, der Zeit, die etwa mit Christi Geburt, unserer Zeitenwende, zusammenfällt.
Aber um das zu verstehen, müssen wir mit den Anfängen beginnen: ab ovo. Was ist, was war Latein?3  Von Hause aus, bis ins vierte vorchristliche Jahrhundert, war Latein nur

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1  Er berührt sich in einigen Gedanken und Formulierungen mit älteren Arbeiten und Vorträgen des Verfassers, die z.T. an entlegenen Orten veröffentlicht sind. Vgl. bes. „Vom Zauber des Lateinischen“, Freihof-Mitteilungen (Berichte und Informationen des Freihof-Gymnasiums Göppingen) Nr. 41, Nov. 1984, 28-35( Jubiläumsvortrag); De litteris Latinis hodie docendis – The Importance of Latin Studies for the Present Age, o.O. (München) 1988 (Vortrag an Kamuzu Academy und Universität Zomba, Malawi, zweispr.); „O Latinitas! Erfahrungen mit lebendigem Latein und ein Rückblick auf zehn Jahre Sodalitas“ (zuerst 1995), Gymnasium 104, 1997, 271-290; „Lob des Lateins“, Mitteilungen für Lehrerinnen und Lehrer der Alten Sprachen (DAV Baden-Württemberg) 26, H. 2, 1998, 3-13, auch: http://www.klassphil.uni-muenchen.de/~stroh/lobdeslat.htm (Geburtstagsrede für Michael von Albrecht, Heidelberg); „Weltsprache Latein“. In: zur debatte (Themen der Katholischen Akademie in Bayern) 39, München 2002, Heft 2, 22-24.
Vgl. dazu M. Van Uytfanghe, „Après les ‚morts’ successives du latin: quelques réflexions sur son avenir“, in : F. Decreus / C. Deroux (Hrsg.), Hommages à Jozef Veremans, Brüssel 1986, 328-354. Wichtig jetzt Stotz (wie unten Anm. 22) 29-35. Umfassend zum Problem: Helmut Lüdtke, „‚Tote‘ Sprachen“, in: Martin Haspelmath u.a. (Hrsg.), Language Typology and Language Universals, Bd. 2, Berlin / New York 2001, 1678-1691 (mit Lit.).
3  Einfühlsame und informative Einführung: Jules Marouzeau: Introduction au latin, Paris 1954 ; deutsche Bearbeitung zuerst: Einführung in das Latein, Zürich 1966, dann: Das Latein: Gestalt und Geschichte einer Weltsprache, München (dtv) 1969 (mit Lit.). Zur Gesamtgeschichte der lateinischen Tradition: Karl Büchner (Hrsg.): Latein und Europa: Traditionen und Renaissancen, Stuttgart 1978. Zur Gesamtgeschichte speziell der Sprache: Johannes Kramer, „Geschichte der lateinischen Sprache“, in: Fritz Graf (Hrsg.), Einleitung in die lateinische Philologie, Stuttgart/Leipzig 1997, 115-162 (verzeichnet die wichtigsten Grammatiken und
Standardwerke); Oswald Szemerényi, „Latein in Europa“, in: Büchner (wie oben), 26-46; als Gesamtgeschichte für die ältere Zeit wichtig: Io. Georgius Walchius: Historica critica linguae Latinae, Leipzig (1716) ³1761.

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eine kleine Regionalsprache Italiens: die Sprache der Landschaft Latium, deren Hauptstadt Rom werden sollte. Seine ältesten Sprecher also waren nicht die Römer, sondern die Latini, die Einwohner von Latium und ihre Lokalgötter, die Fauni, die in lateinischen Saturniern, dem einheimischen Versmaß, die Zukunft verkündet haben sollen. Trotz Roms überragender Bedeutung hat sich auch später als Bezeichnung der Sprache lingua Romana gegenüber lingua Latina nie recht durchsetzen können. Indem Rom dann Italien erobert, vom 4. Jahrhundert bis zum Bundesgenossenkrieg (89 v. Chr.), der allen Italikern das römische Bürgerrecht verschafft, breitet auch Latein sich aus: Es verdrängt die anderen Sprachen, Faliskisch, Messapisch, Oskisch usw.; nur das Etruskische leistet partiell Widerstand, und alte Griechenstädte in Süditalien, wie Neapel, Tarent, behalten auf lange Zeit ihr Griechisch. Aber obschon man am Ende der Republik, also in der Mitte des ersten vorchristlichen Jahrhunderts, sogar schon in Westsizilien und dem südlichen Sardinien, Roms ältesten Provinzen, Latein spricht, ist noch in dieser Zeit natürlich Griechisch die führende Weltsprache. Als Cicero im Jahr 62 v. Chr. sein zu Hause ruhmreiches Konsulat auch international verherrlichen möchte, will er einen griechischen Dichter, Archias, dafür gewinnen, wie er sagt: propterea quod Graeca leguntur in omnibus fere gentibus, Latina suis finibus exiguis sane continentur, „darum weil man Griechisches bei allen Völkern liest, das Lateinische in seinen eigenen, doch recht engen Grenzen eingeschlossen bleibt“ (Pro Archia 23).
Vierzig Jahre später sieht die Lage immerhin schon etwas anders aus. Wenn sich Horaz in seiner (i.J. 23 v. Chr. herausgebenen) Sammlung lyrischer Oden – dem bis dahin anspruchsvollsten Werk lateinischer Dichtung überhaupt – seine zukünftige Verwandlung in einen über alle Länder fliegenden Schwan ausmalt (um so den dereinst weltweiten Ruhm seiner Lyrik zu verbildlichen), heißt es (Carmina 2,20,13-20):

            iam Daedaleo notior Icaro
            visam gementis litora Bosphori
               Syrtisque Gaetulas canorus
                 ales Hyperboreosque campos.
         
            me Colchus et qui dissimulat metum
            Marsae cohortis Dacus et ultimi
                 noscent Geloni, me peritus
                      discet Hiber Rhodanique potor


„Schon werde ich, bekannter als der Icarus des Daedalus, die seufzenden Gestade des Bosporus besichtigen, als ein singender Vogel, und die gätulischen Syrten [also Afrika] und die Felder der Hyperboreer [im äußersten Norden]; mich wird der Colcher kennen lernen und der Daker [im heutigen Rumänien], der noch so tut, als ob er den marsischen Soldaten nicht fürchte, und die entferntesten Geloner [in Thrakien], mich wird der kunstverständige Hiberer [in Spanien] einstudieren und der, der aus der Rhone trinkt [also der heutige Franzose].“

Das war, so kühn es zu seiner Zeit geklungen haben muss, die zum Teil echte und wahre Prophezeihung eines vates, „Dichterpropheten“, wie Horaz sich gelegentlich stolz nannte: Er ahnte voraus, dass er gelesen, vielleicht sogar gesungen würde von Byzanz bis Gallien und Spanien, von Britannien bis Afrika - in der Tat überall dort, wo später (noch nicht zur Zeit des Horaz selber) in lateinischen Grammatikschulen die römischen Klassiker traktiert wurden. Obwohl die gebildeten Römer selber lange Zeit zweisprachig blieben, eroberte Latein in der

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Zur antiken Geschichte des Lateinischen: L.R. Palmer, The Latin language, London (1954) ²1955 (deutsch: Hamburg 1990; Paperback. 2000); Giacomo Devoto, Geschichte der Sprache Roms (zuerst ital.), Heidelberg 1968. Umfassende Information: Fabio Cupaiuolo, Bibliografia della lingua latina (1949-1991), Neapel 1993.

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Kaiserzeit schließlich fast alle Provinzen des imperium Romanum5: Nicht nur romanische Sprachen wie Französisch und Spanisch bezeugen ihre Mutter;6 lateinische Lehnwörter hat bekanntlich sogar das Germanische, wie unser Wort „Kaiser“, das offenbar zu einer Zeit übernommen wurde, wo man noch nicht zäsar, sondern kaisar aussprach. Nur die östliche Reichshälfte blieb im Kern griechisch, aber auch dort unter den „römischen Kaisern“, wie sie sich immer nannten, war Latein die offizielle Amtssprache. Im leibhaftigen Konstantinopel lehrt (im sechsten Jahrhundert n.Chr.) der für ein Jahrtausend bedeutendste lateinische  Grammatiker, Priscian; dort wird unter Kaiser Justinian das lateinische Corpus Iuris redigiert; dort wird ein Feldzug des Kaisers vom Hofdichter Corippus in lateinischen Hexametern besungen.
Schon dies weist darauf: Der Welterfolg des Lateinischen beruhte nicht nur auf der Gewalt der römischen Waffen, sondern auch auf der geistigen Leistung der Römer. Sie zeigt sich im römischen Recht, das immer an die lateinische Sprache gebunden blieb; sie zeigt sich aber genau so an der sonstigen literarischen Produktivität. Die Römer waren als einziges antikes Volk befähigt (und willens), die literarischen Formen der kulturell überlegenen Griechen in eigener Sprache nachzubilden, eine dem Griechischen vergleichbare Literatur zu schaffen.7 Dies beginnt mit dem genialen Großvater der lateinischen Literatur, dem Zensor Appius Claudius Caecus, der im Jahr 280 v.Chr. eine Senatsrede gegen den Frieden mit Pyrrhus veröffentlicht, eine Kriegsrede offenbar in Art der Philippiken des Demosthenes (die er sicherlich gekannt hat). Sein Nachfolger, der üblicherweise als der Begründer der lateinischen Literatur gilt, war selber wohl ein romanisierter Grieche, der Freigelassene Livius Andronicus  aus Tarent. Er führte im Jahr 240 ein lateinisches Drama (ob Komödie oder Tragödie, wissen wir nicht) nach griechischer Vorlage offenbar im Staatsauftrag auf. Und diesem Gründungsereignis folgte eine Serie von Dramen (Plautus, Terenz usw.), die anderthalb Jahrhunderte nicht abriss.
Das war unerhört in der antiken Welt. Wo sonst einmal von einem Nichtgriechen ein Drama verfasst wird (wie die Tragödie Exagoge vom Juden Ezechiel, über den „Auszug“ der Kinder Israel), geschieht dies natürlich auf Griechisch, und so ist es in allen Gattungen. Nur in Rom wird die griechische Literatur latinisiert, zunächst das Drama – warum gerade das Drama? Weil danach ein populäres Bedürfnis vorhanden war.8 Der römische Soldat, der auf Feldzügen, vor allem in Unteritalien, griechisches Drama erlebte, wollte selber so etwas Schönes auch in Rom haben. Wäre das Theater nur für die gebildete Oberschicht dagewesen, so hätte es griechisch bleiben können. Aber es war eine Kunstform auch des kleinen Mannes, des Plebeiers, Handwerkers, Tagelöhners; ins Theater gingen ja sogar auch Frauen. Wohl aus diesem Grund veranstaltete Livius Andronicus in seinen Dramen, und nur dort, eine metrische Revolution von großen Folgen. Er verwendete nicht den einheimischen, angeblich schon von den Faunen verwendeten latinischen bzw. italischen Vers (Saturnius), der zur Verfügung

5  Vgl. neben der allgemeinen Lit. (oben Anm. 4) noch immer: Alexander Budinszky: Die Ausbreitung der lateinischen Sprache über Italien und die Provinzen des römischen Reiches, Berlin 1881
6  Vgl. Carl Vossen: Mutter Latein und ihre Töchter: Europas Sprachen und ihre Herkunft, Düsseldorf 141999 (populäre Darstellung)
7  Umfassend informiert jetzt über die Anfänge der lateinischen Literatur: Werner Suerbaum (Hrsg.), Die archaische Literatur: Von den Anfängen bis Sullas Tod (in: Reinhart Herzog / Peter L. Schmidt, Handbuch der lateinischen Literatur der Antike, Bd. 1), München 2002; dazu immer noch lesenwert: Friedrich Leo, Geschichte der römischen Literatur, Bd. 1: Die archaische Literatur, Berlin 1913 (Ndr. 1967, nur dieser Band ist erschienen). Neuere deutschsprachige Gesamtdarstellungen der antiken lateinischen Literatur: Ludwig Bieler, Geschichte der römischen Literatur, 2 Bde. (zuerst 1960), Berlin / New York  41980 (knapp, aber vorzüglich); Michael von Albrecht, Geschichte der römischen Literatur, 2 Bde. (1990), München u.a. ²1994 (auch als Taschenbuch); Manfred Fuhrmann, Geschichte der römischen Literatur, Stuttgart 1999 (ohne Spätantike).
8  Vgl. speziell dazu Jürgen Blänsdorf, „Voraussetzungen und Entstehung der römischen Komödie“, in: Eckard Lefèvre (Hrsg.), Das römische Drama, Darmstadt 1978, 91-134; Wilfried Stroh, „Bühne frei! Die Welt des Theaters“, in: Eckart Köhne / Cornelia Ewigleben (Hrsg.), Gladiatoren und Caesaren: Die Macht der Unterhaltung im antiken Rom, Mainz 2000, 109-130.

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gestanden hätte und den er z.B. für seine Übersetzung der griechischen Odyssee gebrauchte (die für ein exklusiveres Lesepublikum bestimmt war):

        Virum mihi, Camena,   insece versutum
        „Den Mann mir, Camena,    ansage den verschlagnen“.

Das Drama der Römer sollte klingen wie im griechischen Theater; darum gebrauchten er und seine Nachfolger griechisches Versmaß, wobei sie die lateinische Sprache, offenbar ohne ihr doch Gewalt anzutun, nach griechischer Prosodie, also Phonetik, aufbereiteten. Konstitutiv für lateinische Dichtung war von nun an die Unterscheidung von langen und kurzen Silben (die im Saturnius, wo wohl vor allem auch die Wortlänge beachtet wurde, noch minder wichtig war):

         obsequium amicos, veritas odium parit
         q k k k q q q k q k k q k k
        „Gefälligkeit schafft Freunde, Wahrheit macht verhasst“.
 
Das klang fast wie ein entsprechender Vers des Menander. So sehen wir auch von hieraus, dass am Anfang der lateinischen Literatur ein volkstümliches Bedürfnis stand.
    Aber obwohl die Römer diesen Vorgang so ansahen, als seien sie selber dem kulturell überlegenen Griechenland zum Opfer gefallen - nach der berühmten Formulierung des Horaz (Epist 2,1,156 f.): Graecia capta ferum victorem cepit et artes / intulit agresti Latio ... („Das eroberte Griechenland eroberte selber seinen wilden Bezwinger und brachte seine Künste nach Latium“) -, trotz dieser höchst bescheidenen Selbsteinschätzung galt doch im wesentlichen bereits für das erste Jahrhundert v. Chr.: Rom hatte mit Griechenland literarisch nicht nur gleichgezogen, sondern es sogar überflügelt. Den Meisterwerken vor allem von Cicero, dem größten Schriftsteller seines Jahrhunderts, aber auch von den Prosaikern Sallust und Livius, den Dichtern Lukrez, Catull, Horaz, Ovid, und ganz besonders Vergil, dem sogleich als Nationaldichter Verehrten, hatte die griechische Welt damals nichts Ebenbürtiges mehr entgegenzusetzen. Nun strahlte Rom seinerseits auf Griechenland zurück. Sogar die Bewegung des sogenannten Attizismus, die eine Eneuerung der griechischen Literatur mit sich brachte, scheint (was freilich nicht ganz unumstritten ist) von der Begeisterung junger Römer für die klassischen attischen Redner ausgegangen zu sein. Und die römischen Schriftsteller selbst, besonders die Dichter, haben das Gefühl bleibende, klassische Werke zu schaffen; sie glauben seit der Augusteerzeit an eine förmliche Unsterblichkeit ihres Werks und damit ihrer selbst. Am berühmtesten ist der Ausspruch des schon erwähnten Lyrikers Horaz, der am Ende seiner ersten Odensammlung (Carmina 3,30) von dem „Denkmal dauernder als Erz“ (monumentum aere perennius), das er sich errichtet habe, spricht und sich selber verheißt: non omnis  moriar („ich werde nicht ganz sterben“). Was allerdings geknüpft bleibt an die Unvergänglichkeit des „ewigen Roms“: Man werde von seiner Leistung reden, dum Capitolium scandet cum tacita uirgine pontifex („solange aufs Capitol mit der schweigenden Jungfrau [der Vestalin] der Pontifex steigen wird“), d.h. solange der die Dauer Roms verbürgende römische Staatskult fortbesteht. Mit ähnlicher Einschränkung (ohne dass er freilich selber sie als Einschränkung sähe) verheißt Vergil den Helden seiner Aeneis (9, 448 f.) ewigen Ruhm: dum domus Aeneae Capitoli immobile saxum / accolet imperiumque pater Romanus habebit („solange das Haus des Aeneas den unerschütterlichen Felsen des Capitols bewohnen und der Römer sein Reich haben wird“). Die Wirklichkeit hat hier einmal die Wünsche und Prophezeiungen der Dichter überboten: Das römische Reich ist zusammengebrochen, in Rom ist längst ein anderer Pontifex maximus am Werk – aber Horaz und Vergil werden noch immer, zum Teil sogar in deutschen Schulklassen, gelesen.
    Dieses Gefühl der Unsterblichkeit bei den römischen Dichtern, das Bewusstsein der eigenen Klassizität, fällt nun eigenartigerweise – und damit komme ich eigentlich auf mein
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Thema -  zusammen mit dem Tod, vorsichtiger gesagt: dem ersten Tod des Lateinischen. Im linguistischen Sinn ist ja eine Sprache vor allem dann tot, wenn sie aufgehört hat sich fortzuentwickeln; und dieser Entwicklungsstop fällt nun beim Lateinischen eben in die Epoche bereits des Augustus, also, wie ich schon gesagt habe, etwa in die Zeit um Christi Geburt. In den anderthalb Jahrhunderten von Plautus (um 200 v.Chr.) bis Cicero konstatieren wir, besonders in Satzbau (Syntax) und Formenlehre (Morphologie), eine fühlbare Sprachentwicklung. Vergleichen wir dagegen einen Brief Ciceros mit einem etwa des Symmachus (im vierten Jahrhundert n.Chr.), einen Dialog Ciceros mit der berühmten Consolatio philosophiae des Boethius (am Anfang des sechsten Jahrhunderts) oder auch Hexameter Vergils mit solchen des Claudian (der um 400 gedichtet hat), so scheint die Sprache, was zumindest ihren harten Kern angeht, stehengeblieben zu sein. Man hat eine „Syntax des Altlatein“ schreiben können9; eine vergleichbare „Syntax des Spätlatein“ wäre weniger sinnvoll. Eine Weiterentwicklung des Lateinischen seit der Augusteerzeit gibt es eigentlich nur noch im Vokabular: Klar, dass etwa die christliche Religion seit dem zweiten Jahrhundert10 oder der technische Fortschritt in Mittelalter und Neuzeit neue Wörter (Neologismen) nötig machte. Aber wenn etwa die Christen das griechische baptisma (für „Taufe“) lateinisch eingemeinden oder das lateinische sacramentum, ursprünglich der „Fahneneid“ des Soldaten, religiös umfunktionieren oder wenn neuerdings Pater Eichenseer mit seinen Lateinfreunden in Saarbrücken die clusura tractilis für den „Reißverschluss“ kreiert,11 so wird die Sprache damit nicht wesentlich verändert; sie bleibt, in ihrem Kern, die Sprache Ciceros.
    Dieser frühe Tod des Lateinischen ist darum von den Philologen bzw. Linguisten nie recht scharf erkannt worden, weil der literarische Stil der Prosa auch nach Cicero durchaus variabel blieb, weil Cicero trotz seiner Dominanz keineswegs überall und durchweg vorbildlich war. Seit den Fünfzigerjahren v.Chr. gibt es neben Ciceronianern auch Stilisten, die z.T. dezidiert anders schreiben als er: zunächst die Attizisten um Calvus und den Archaisten Sallust, dann die pointenreichen „silbernen“ Lateiner Seneca und Tacitus, schließlich Fronto, Apuleius, Augustin, in der Neuzeit Poggio, Erasmus, besonders Justus Lipsius (um 1600) – sie alle gestalten ein mehr oder minder unciceronisches Latein je eigener Prägung. Und selbst Vergil ist nicht so vorbildlich, dass nicht etwa Ovid und Lucan einen ganz eigenen epischen Sound entwickelt hätten. Aber solche Wechselfälle der parole, wenn man so sagen darf, ändern nichts an der substantiellen Konstanz der langue, die nur hier und dort in Kleinigkeiten schwankt, sich aber nicht mehr eigentlich fortentwickelt, linguistisch gesehen also tot ist.
    Wie ist es zu diesem Tod des Lateinischen gekommen? Da die Frage nie präzise gestellt wird, gibt es keine Antwort, jedenfalls keine anerkannte. Meine eigene Meinung, die ich seit über fünfzehn Jahren (vorsichtigerweise bisher fast nur in populären Vorträgen) vertrete12 und die ich hier zum ersten Mal vor Fachlinguisten, zu denen ich selber nicht gehöre, mit der gebührenden Zaghaftigkeit zur Diskussion stelle, ist die, dass es das Erlebnis eben der als klassisch empfundenen lateinischen Meisterwerke gewesen sein muss, der Werke besonders von Cicero und Vergil, das zur Folge hatte, dass die Gebildeten (nicht bewusst natürlich, aber doch instinktiv) fühlten: eine Sprache, in der Vergils Aeneis oder die Philippischen Reden Ciceros verfasst seien, dürfe sich einfach nicht mehr ändern. Diese Werke verdienten es, so empfand man offenbar, immer gelesen zu werden,  sie mussten immer – wenn nicht tatsächliches Vorbild sein, dann doch zumindest Vorbild sein  k ö n n e n.

9  Charles E. Bennett, Syntax of early Latin, Boston 1910/ 1914 (Ndr. 1966)
10  Dazu bes. Christine Mohrmann, Études sur le latin des Chrétiens, 4 Bde., Rom ²1961-1977
11  Ein Wörterbuch solcher Neologismen ist unter Federführung des soeben (Herbst 2003) verstorbenen Vatikanlateiners Carl Egger entstanden (ital. 1992/1997); deutsche Fassung: Neues Latein-Lexikon – Lexicon recentis latinitatis, Bonn 1998
12  Zuerst in einem Vortrag von 1984 (s. oben Anm. 1).

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Und das konnten sie nicht, wenn die Sprache sich ändern würde. Kein deutscher Dichter orientiert sich mehr an Nibelungenlied oder Walter von der Vogelweide, die uns sprachlich zu weit entrückt sind; aber jedem lateinischen Ependichter, wie dem mittelalterlichen Waltharius, dem frühneuzeitlichen Petrarca oder auch Giovanni Pascoli an der Schwelle zum zwanzigsten Jahrhundert, stand es frei, Vergil zu folgen. So gibt es seit der goldenen Blütezeit der lateinischen Literatur nur noch dieses eine, im Kern unveränderte Latein. Es war also nicht ein Verfall, ein Erschöpftsein der Kraft, das den Tod des Lateinischen bewirkt hat, es war, wenn ich recht sehe, gerade die schiere Kraft und Schönheit der klassischen Meisterwerke. Allegorisierend könnten wir Graf von Platens „Tristan“ zitieren: „Wer die Schönheit angeschaut mit Augen, ist dem Tode schon anheim gegeben ...“.
    Natürlich hat sich das gesprochene Latein des kleinen Mannes seine Entwicklung nicht völlig verbieten lassen. Dieses Latein verändert sich weiter, und es wird dabei fast eine andere Sprache. Aus dem alten Umgangslatein, das auch ein Klassiker wie Terenz gebraucht und sogar Cicero in seinen intimeren Briefen,13 wird nun – und nun erst – das sogenannte „Vulgärlatein“14, in dem die Väter der romanistischen Sprachwissenschaft (Dietz usw.) seit zweihundert Jahren den Quell der romanischen Sprachen erkannt haben. Frühe Zeugnisse für dieses vom Standpunkt der Normgrammatik aus z.T. fehlerhafte Latein sind vor allem die Wandinschriften Pompeiis und die Freigelassenengespräche Petrons, später auch etwa die Warnungen der Grammatiker vor Sprachfehlern. Hier werden Casus durch Präpositionalausdrücke ersetzt (de deo statt  dei, wie später ital. di dio, franz. de dieu), hier wird das Perfekt umschrieben (habeo cantatum statt cantavi, wie ho cantato usw.), hier gebraucht man etwa tirare für trahere; schon an den Wänden Pompeiis sieht der Berufslateiner mit Entsetzen, wie der Ablativ, der lateinische Paradecasus, durch einen schäbigen Akkusativ verdrängt wird: Er steht nicht nur bei frui und uti, sondern – horribile dictu - sogar schon beim präpositionalen cum: „mit den Kameraden“, cum sodales, das ist bitter. Wäre Latein im Zeitalter von Nero und Vespasian noch eine voll lebendige Sprache, hätten  solche Verirrungen natürlich im Laufe der Zeit auch in die Schriftsprache eindringen müssen, wären sie korrekt geworden. So aber bleiben sie Verirrungen, bis heute.
Den tiefsten Einschnitt bedeutete es, dass im „Vulgärlateinischen“, um diesen nicht unumstrittenen Begriff für die Umgangssprache des ungebildeten Mannes beizubehalten, die Unterschiede der Silbenquantitäten allmählich zusammenbrachen, dass man vor allem unter Einwirkung des Wortakzents, der offenbar stärker wurde, Silben fälschlich längte oder kürzte. Während nach einem ausdrücklichen Zeugnis Ciceros zu seiner Zeit noch das ganze Theater aufschrie, wenn versehentlich von einem Schauspieler die korrekte Silbenquantität nicht eingehalten und somit das Metrum zerstört wurde (Orator 173), wird man hier nun unempfindlich. Wiederum schon in der Versinschrift eines pompeianischen Graffito wird die erste Silbe der Göttin Venuswie in schlechtester bayerischer Schulaussprache lang (Vēnus) gemessen:

        amoris ignes si sentires, mulio,
         k q k q q q q q q q k q
        magi(s) properares ut videres Vēnerem 
        k k k k q q q k q q q k k  ,

13  Klassisch ist J.B. Hofmann, Lateinische Umgangssprache, Heidelberg (1926) 41978, wo aber nur die Besonderheiten gegenüber der höher stilisierten Schriftsprache notiert sind; eine eigentliche Darstellung des in der Antike überhaupt gesprochenen Latein gibt es noch nicht. Nur praktischen Zwecken diente das geistvolle Opusculum von Georg Capellanus, Sprechen Sie Lateinisch? Moderne Konversation in lateinischer Sprache (1890), Bonn 151979.
14  Wichtigste Gesamtdarstellung: Veikko Väänänen, Introduction au latin vulgaire, Paris (1963) ³1981

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wohingegen natürlich in den Schulen der Grammatiker weiterhin korrekt Vĕnus mit kurzem e gesprochen und gewertet wurde. Überhaupt wird nun der grammaticus, der „Philologe“ bzw. antike Mittelstufenlehrer, dem die Autorenlektüre der Jugend und ihre erste sprachliche Bildung anvertraut ist, zum Wächter der Sprache, custos Latini sermonis, wie schon Seneca Epistulae morales 95, 65) formuliert, bzw., mit einem neueren Buchtitel, guardian of language15. Er hält beim Latein sozusagen die Totenwache, oder, freundlicher formuliert: Er bürgt als Anwalt des Genius der Latinität für Einheit und Konstanz der Sprache. Bei ihm lernt man immer wieder auch, bis weit in die neueste Neuzeit, korrekte lateinische Verse zu schreiben, Verse, die auf der strengen Einteilung der Silben in lange und kurze beruhen. Bei ihm lernt man überhaupt – hier ist meine Meinung von der vieler Romanisten offenbar verschieden – die alte klassische Aussprache, so gut er sie eben selber beherrscht (denn Tonbänder von Cicero hat auch er keine). Solange es ihn gibt, spricht man jedenfalls „Caesar“ als kaisar. Wobei ich übrigens nicht glaube, dass dieses klassische Normlatein immer erst als eine Art Zweitsprache erlernt wurde: Warum sollen nicht auch gebildete Mütter schon mit ihren Kindern sich in der Sprache des grammaticus unterhalten haben?
        So entsteht, um auf Metrik und Prosodie – d.h. die Phonetik, soweit sie für die Metrik relevant ist - zurückzukommen, erst relativ spät und zögerlich eine Dichtung, die der Entwicklung der volkstümlichen Aussprache Rechnung trägt. Zuerst finden wir so etwas bei Commodian, einem christlichen Autor wohl des dritten Jahrhunderts, der vielleicht mehr aus Versehen als Absicht abenteuerliche Hexameter produziert, denen man ihre Herkunft von Vergil kaum mehr ansieht. Dann ist es aber kein Geringerer als der auch hier Epoche machende Kirchenvater Augustin, der am Anfang des fünften Jahrhunderts in seinem Psalmus contra Donatistas (einem Trutzlied gegen die Sekte der Donatisten) ein Stück Poesie verfasst, das der tatsächlichen Aussprache ungebildeter Afrikaner entsprechen sollte und darum nicht in einem üblichen Versmaß (aliquo carminis genere“, wie er schreibt16) abgefasst sein musste: Bei festgelegter Silbenzahl gelten alle Silben als gleichwertig; nur die Zäsur- und Versschlüsse sind durch den Akzentfall, die Versschlüsse auch durch einen einfachen Vokalreim, leicht reguliert:

        Abundantia peccatórum    solet fratres conturbáre.
        propter hoc dominus nóster    voluit nos admonére

        x  x  x  x  x  x  X  x     x  x  x  x  x  x  X  x

Diese Veränderung, für die Augustin immerhin, wie es scheint, schon volkstümliche punische und lateinische Psalmendichter als Vorgänger hatte, war zweifellos seit Livius Andronicus die größte innovatorische Tat der lateinischen Versgeschichte, ein unerwartetes Stück Leben am lateinischen Leichnam. Seitdem gibt es bis heute zwei Arten lateinischer Dichtung: die „metrische“ (in der es auf die Silbenquantität ankommt) und die „rhythmische“ (in der neben der Silbenzahl meist auch der Wortakzent berücksichtigt wird).17 Dabei konnte sich die „rhythmische“ Dichtung umso leichter verbreiten, als die Silbenquantitäten in Mittelalter und Neuzeit ja auch weiterhin vielfach missachtet wurden, meist wohl auch im Unterricht, obwohl man dort sonst das (letztlich auf der Sprache Ciceros beruhende) Normlatein pflegte. Erst gelegentlich im sechzehnten und dann, zunehmend, im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert mehren sich Versuche, Latein wieder quantitätsrichtig auszusprechen. Dem Buchstaben des Lehrplans nach ist dies sogar die Pflicht an deutschen Schulen; aber in diesem

15  Robert A. Kaster, Guardians of Language: The Grammarian and Society in Late Antiquity, Berkeley u.a. 1988
16  Bequem zugänglich bei Walther Bulst (Hrsg.), Hymni Latini antiquissimi LXXV – Psalmi III, Heidelberg 1965 (mit brillanter Einleitung), dort S. 170 (der Text des PsalmusS. 139-146.
17  Beste Darstellung der Verhältnisse im Mittelalter: Dag Norberg, Introduction à l’étude de la versification latine médiévale, Stockholm o.J. (1958); eine Einteilung aller Gedichte in metra undrhythminoch bei Josephus Eberle (Hrsg.): Viva Camena: Latina huius aetatis carmina collecta et edita, Zürich/Stuttgart 1961 (Blütenlese lateinischer Poesie des 20. Jahrhunderts).

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Fall erregt, soweit man hört, die Pflichterfüllung gelegentlich mehr Befremden als die Pflichtverletzung.
        Das Latein kam in die wohl größte Krise seiner Geschichte, als in der Zeit der Völkerwanderungen das Bildungssystem, d.h. der fundamentale Grammatikunterricht, wenn auch nicht überall gleichzeitig, zusammenbrach (nur in der Reichskrise des dritten Jahrhunderts, die nach heutiger Auffassung die Zäsur zur Spätantike markiert,18 scheint das schon einmal kurz der Fall gewesen zu sein). Das hatte zur Folge, dass, abgesehen von der Entartung des in der Kirche gesprochenen Lateins, auch das geschriebene Latein, selbst bei bemühten Schriftstellern, nun verwilderte und dass die romanischen Sprachen, Italienisch, Französisch usw., entstanden, die sich offenbar erst jetzt (in relativ kurzer Zeit, wie es scheint)  aus dem Vulgärlatein regional verschieden herausdifferenzierten: Der „Vulgärlateiner“ verstand noch Latein, der Italiener kann von Hause aus keines mehr. Auch Augustin litt zwar schon unter dem Problem, wie er sich in seinen Kirchenpredigten vor ungebildetem Volk verständlich machen solle. Aber auch wenn er sich im wesentlichen an die Normgrammatik hielt, wurde er trotzdem vom Volk verstanden. Allein schon die Tatsache, dass Gebildete und Ungebildete, genauer gesagt: vom grammaticus Geschulte und nicht von ihm Geschulte, miteinander kommunizieren mussten, verhinderte, dass sich die Schere zwischen Latein und Vulgärlatein zu weit öffnete; der Verständigungszwang sorgte, meine ich, dafür, dass indirekt auch noch der sermo vulgaris vom grammaticus gesteuert wurde. Solange es letzteren eben gab! Die romanischen Sprachen sonderten sich endgültig vom Latein ab, nicht eigentlich weil sich, wie jetzt Helmut Lüdtke in seinem fundamentalen und tiefschürfenden Artikel über „’Tote’ Sprachen“ formuliert, „die Traditionssprache gegenüber nahezu allen entscheidenden Neuerungen der Spontansprache“ verschloss19  (was an sich natürlich völlig richtig ist), sondern weil die Traditionssprache ihren Wächter verlor. So sind denn, unwiderruflich, die romanischen Sprachen entstanden. Als am Anfang des neunten Jahrhunderts, genauer 813 auf dem Konzil von Tours, die versammelten Bischöfe beschlossen, es sollten hinkünftig lateinische Predigten in die (wörtlich) „ungebildete romanische oder deutsche Sprache“ übersetzt werden (in rusticam Romanam linguam aut Thiotiscam) damit jeder sie verstehe, war das Latein von den aus ihm entstandenen romanischen Sprachen sozusagen aktenkundig getrennt. Hier beginnt das lateinische Mittelalter, wo Latein nunmehr auch in dem Sinne tot ist, dass endgültig niemand mehr diese Sprache von seiner Mutter lernt (der zweite Tod also).
        An Anfang dieses lateinischen Mittelalters steht, wie wohl schon am Anfang der Spätantike (unter Diocletian), eine Bildungserneuerung, also die Wiederherstellung des Grammatikunterrichts (jetzt eindrücklich gewürdigt von Manfred Fuhrmann in seinem schönen Buch über die Geschichte des Lateinunterrichts20). Karl der Große, Carolus Magnus, war der wohl bedeutendste Bildungsreformer Europas. Er sorgte, dass wieder echtes, wenn auch totes, Latein im Anschluss an die spätlateinischen grammatici Latini gelernt wurde (vor allem von den clerici); er machte so Latein zur standardisierten Zweitsprache eines sonst sprachlich differenzierten Europas (schuf also einen Zustand, der so bis ins achtzehnte Jahrhundert fortdauerte). Aus eigenen, sozusagen kontinentalen Kräften konnte das Karl offenbar nicht schaffen. Er holte sich gelehrte Hilfe aus dem Norden, aus Schottland und Irland. Dort hatte sich geschützt vor den Stürmen der Völkerwanderung ein geordneter Lateinunterricht gehalten; dort war, wie Fuhrmann treffend hervorhebt, Latein schon bisher

18  Vgl. Manfred Fuhrmann, Rom in der Spätantike: Porträt einer Epoche, Zürich 1994, , als Taschenbuch: Reinbek 1996, bes. S. 42-46 (zum Einschnitt in der Literaturgeschichte); Reinhart Herzog: „Einführung in die lateinische Literatur der Spätantike“, in: R. Herzog / Peter L. Schmidt (Hrsg.), Handbuch der lateinischen Literatur der Antike, Bd. 5: Restauration und Erneuerung: Die lateinische Literatur von 284 bis 374 n. Chr., München 1989, 1-44.
19  „Tote Sprachen“ (wie oben Anm. 2) 1685
20  Manfred Fuhrmann, Latein und Europa: Geschichte des gelehrten Unterrichts in Deutschland von Karl dem Großen bis Wilhelm II., Köln 2001, bes. 11-15

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echte Zweitsprache, „Vatersprache“ gewissermaßen neben der jeweiligen Muttersprache, gewesen, jetzt ein Vorbild für den Kontinent. Vor allem war es bekanntlich der bedeutende Alcuin von York, der sich um das Bildungswesen verdient machte.
        Es ist aber etwas schief, wenn jetzt Fuhrmann die Dinge so darstellt, als hätten Karl und Alcuin bei ihrer Reform auf das „Spätlatein“ der Spätantike zurückgegriffen und somit Jahrhunderte sprachlicher Entwicklung übersprungen: Latein war immer Latein, und individuelle Entartungen können nicht als Entwicklung gelten. So ist auch zu warnen vor dem Begriff des „Mittellatein“, das gar zu leicht, zumal es dafür eigene Lehrstühle gibt, nach Analogie eines Mittelfranzösisch oder Mittelhochdeutsch, als Bezeichnung einer Entwicklungsstufe missverstanden wird. Wie vor allem Walther Bulst in seiner zu wenig bekannten kleinen Schrift Über die mittlere Latinität des Abendlands21 hervorgehoben hat, steht das „Mittellatein“ zu allen Zeiten des Mittelalters auf derselben antiken Sprachstufe, es entwickelt sich auch hier nicht weiter; und immer gibt es Autoren, die perfekt den Stil antiker Vorbilder nachbilden, wie Einhard den Sueton, Baudri de Bourgueil seinen Ovid. Wenn in geringer stilisierten Texten auch „Fehler“ im Sinn der Normgrammatik toleriert werden (etwa dass man dico oder sentio, nach Analogie neuerer Sprachen, mit quod statt dem Accusativ mit Infinitiv verbindet), so wird doch aus solchen Fehlern nie eine letztliche Sprachrichtigkeit, die es dann ja verbieten müsste, die alte Regel noch anzuwenden.22 Nie war (für „Ich sage, dass ich krank bin“) dico quod aegroto – man verzeihe! – korrekter als dico me aegrotare.
Schöpferisch und geradezu lebendig war auch das an sich tote Mittellatein vor allem in der Erschaffung neuer Formen der „rhythmischen“ Dichtung, die nun in der Regel um den versschließenden Silbenreim bereichert wurde. Lange kannte man in neuerer Zeit dies fast nur aus religiösen Dichtungen wie dem unvergleichlichen Dies irae oder dem Stabat mater. Dann war es vor allem der Genius des Bayern Carl Orff, der entdeckte, dass sich auch die weltliche Lyrik des „rhythmischen Mittelalters“ (bis dahin nur durch wenige Nummern des Kommersbuchs erschlossen) geschickt aufbereitet an ein modernes Publikum vermitteln ließ: Seine ohrwurmreichen Carmina Burana wurden ja überraschenderweise das erfolgreichste Werk des Musiktheaters im vergangenen zwanzigsten Jahrhundert.
Im übrigen wurde die unter Karl dem Großen etablierte Zweisprachigkeit der Gelehrten nunmehr so selbstverständlich, dass man sie sogar unwillkürlich ins Altertum zurückprojizierte. Dante in seinem berühmten Traktat über die Volkssprache (De vulgari eloquentia) meinte, schon die alten Römer hätten neben der Volkssprache (vulgaris locutio), die sie von Mutter und Amme lernten, auch eine Zweitsprache gehabt, die sie grammatica genannt und sich über Studium und Regeln angeeignet hätten, womit natürlich unser klassisches Latein gemeint ist; m.a.W. Cicero hätte nur mit seinen gelehrten Freunden de officiis Latein gesprochen, mit Frau Terentia dagegen zu Hause über den Ärger mit Sohn Marcus Italienisch. So unglaublich es klingt: Diese Ansicht wurde noch im 15. Jahrhundert von historisch Gebildeten vertreten, die sich einfach nicht vorstellen konnten, eine so schwierige Sprache wie die lateinische sei je natürlich erworben worden (im Zusammenhang der über dieses Problem geführten Debatte entstand übrigens, wie jetzt der schon zitierte Lüdtke gezeigt hat,23 überhaupt der Begriff der toten Sprache; ja es gab sogar einen Humanisten, Benedetto Varchi, in der Mitte des 16. Jahrhunderts, der schon völlig richtig zwischen ausgestorbenen und gewissermaßen mausetoten Sprachen – lingue morte affatto – und halb lebenden Sprachen unterschied – lingue mezze vive: Das sind eben Gespenstersprachen wie das Lateinische).

21  Heidelberg 1946
22  Treffend jetzt Peter Stotz, Handbuch zur lateinischen Sprache des Mittelalters, Bd. 1, München 2002, 3-5 (wo die Vokabel „Mittellatein“ programmatisch gemieden wird).
23  „Tote Sprachen“ (wie oben Anm.2) 1681


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        Aber, da wir nun schon bei den Humanisten der Renaissance sind:24 Haben sie sich denn nicht, beginnend mit Francesco Petrarca, gegen das Latein des Mittelalters, das „Mittellatein“ gewandt, es als „Mönchslatein“ oder „Küchenlatein“25  verspottet? Nein, das haben sie nicht! Und darum ist auch die Behauptung, sie etwa hätten, wie klassische Philologen fast regelmäßig behaupten, durch ihre Begeisterung für Cicero und die klassischen Autoren dem lebendigen Latein „den Todesstoß gegeben“,26 von Grund auf verkehrt. Ihr Protest richtete sich nur gegen eine gewisse Entartung des Lateinischen an den Universitäten, in der Wissenschaftssprache, besonders in der Sprache der Scholastik. Tatsächlich bemühten sich diese Scholastiker, wie etwa auch ein Thomas von Aquin, um nur den Größten zu nennen, kaum oder gar nicht um Eleganz ihres Lateins (das sie im übrigen korrekt beherrschten); was sie schreiben, wirkt, wenn man von Cicero, Seneca oder auch Augustin herkommt, hölzern und hässlich; und nur gegen diese vor allem im Spätmittelalter zunehmende Vernachlässigung der Form protestierten die Humanisten - mit denen dann freilich ein neuer Lateinenthusiasmus über Europa kam, wie man ihn auch zu Karls des Großen Zeiten nicht erlebt hatte.
        Petrarca, so formulierten spätere Renaissancehumanisten, wagte es als erster, sein Haupt aus dem Schlamm der Barbarei zu erheben,27  d.h. er versuchte wieder, auch im Stil, ein an Cicero orientiertes Latein zu schreiben. Und dann geht eine Begeisterung für das Latein, das klassische Latein, wie ein Rausch über Europa: „Das Lateinische“, so schwärmt der große Historiker Lorenzo Valla (1440), „wird von allen Nationen verehrt, wie ein Gott, der vom Himmel herabgesandt wurde“ (quasi Deum quendam à Coelo demissum). Latein aber hieß vor allem: ciceronisches Latein. Es entsteht der moderne Ciceronianismus,28  eine Nachahmung Ciceros, die sogar recht sonderbare Blüten treibt. Ein fanatischer Ciceronianer, wie der Kardinal Bembo, spricht von seinen Standesgenossen nicht mehr als von „Kardinälen“ (cardinales), sondern von senatores; er gebraucht nicht mehr das Wort „Nonnen“ (moniales) sondern Virgines Vestales (vestalische Jungfrauen) usw. Die Sprache wird bis an die Grenzen des Unverständlichen von allen christlichen und mittelalterlichen Schlacken gereinigt. Erlaubt ist nur noch, was auch bei Cicero belegt ist. Die förmliche Karikatur eines solchen Ciceronianers hat ein Jahrhundert später, 1528, der berühmte Humanist Erasmus in einem Dialog Ciceronianus sive De optimo dicendi genere („über den besten Redestil“)vorgeführt.  Es tritt dort auf ein gewisser Herr Nosoponus (was etwa so viel heißt wie „Mühekrank“), ein Mann, der ängstlich bemüht ist, nur Ciceronisches zu sprechen, und zwar in der Weise, daß er nicht nur die Wörter vermeidet, die Cicero nicht hat, sondern sogar die Wortformen, die bei diesem zufälligerweise nicht belegt sind. Und so wälzt er aus Angst vor Fehlern am Schluß nur noch stumm seinen Cicero ... - Auch wenn aber die Wirklichkeit bisweilen einer solchen

24  Die immer noch klassischen Darstellungen des (vor allem als antik-heidnisch interpretierten) Renaissancehumanismus durch Georg Voigt, Die Wiederlebung des classischen Alterthums oder das erste Jahrhundert des Humanismus, 2 Bde., Berlin ²1881 und Carl Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien (1860), Stuttgart (Reclam) 1960 sind im vergangenen Jahrhundert stark korrigiert worden besonders durch die Forschungen von Paul Kristeller; vgl. etwa dessen Aufsatzsammlung Humanismus und Renaissance, 2 Bde., München 1976. Zusammenfassend: A. Rabil, jr. (Hrsg.), Renaissance humanism: Foundations, forms, and legacy, 3 Bde., Philadelphia 1988.
25  Zur Herkunft des Begriffs: Rudolf Pfeiffer, „Küchenlatein“ (zuerst 1931), in: R.P., Ausgewählte Schriften, München 1960, 183-187.
 26
Verbreitet vor allem durch Eduard Norden, Die antike Kunstprosa vom VI. Jahrhundert v. Chr. bis in die Zeit der Renaissance, 2 Bde., Leipzig 31915 (= 101995); vgl. dagegen zuletzt bes. Ludwig, „Latein im Leben“ (wie unten Anm. 30) 73 f. Anm. 2.
27  Einen guten ersten Zugang zu diesem „Vater des Humanismus“ gibt jetzt Florian Neumann, Francesco Petrarca, Reinbek 1998 (in rororo-monographien), mit ausgewählten Urteilen
28  Klassische Darstellung: R. Sabbadini, Storia del Ciceronianesimo, Turin 1885; vgl jetzt F. Tateo / B. Teuber / R.E. Schade, „Ciceronianismus“, in: Gert Ueding (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 2, Tübingen 1994, 225-247.
29  Bequem zugänglich in der achtbändigen zweisprachigen Erasmus-Ausgabe von Werner Welzig, Darmstadt (1968-1980) ²1990 (als Paperback 1995), Bd. 7, hrsg. von Theresia Payr (zuerst 1972), S. 2-355

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Karikatur nahe gekommen sein sollte, so wäre es trotzdem verkehrt zu behaupten, die Humanisten hätten dem lebendigen Gebrauch der toten Sprache Latein geschadet; Latein wurde nie wieder so sprühend lebendig, lebhaft und einfallsreich gebraucht wie in diesen Jahrhunderten der Renaissance,30 wobei der größte Lateiner nördlich der Alpen eben Erasmus von Rotterdam ist, ein Mann, in dessen Verehrung sich die Lateinbegeisterung eine ganzen Epoche symbolisiert.
        Eigentlich bahnbrechend aber war für Deutschland31 der „Erzhumanist“ Conrad Celtis, der im Jahr 1487 in Nürnberg vom Kaiser mit dem Lorbeer zum Dichter gekrönt wurde, zum ersten deutschen poeta laureatus; damit war ausgedrückt, daß es nun auch in Deutschland eine lateinische Poesie gebe, die wie die der Italiener in der großen antiken Tradition (besonders des lorbeerbekränzten Horaz) stehe. Die Gedichte freilich, mit denen sich damals der junge Celtis, der später als Professor unserer Universität mein eigener Amtsvorgänger (und Vorbild) ist, diesen Ruhm und Lorbeer erwarb, waren noch ziemlich mäßig.32 Aber schon wesentlich anspruchsvoller waren seine 1502 erschienenen Amores, sein dichterisches Hauptwerk;33 und der von ihm einmal erhobene Anspruch wurde wenigstens von Späteren dann voll eingelöst. Die lateinische Dichtung des sechzehnten und des siebzehnten Jahrhunderts überragt in ihren besten Werken fast alles, was Deutschland damals in der eigenen Sprache hervorgebracht hat.34
        Literarisch führend waren im sechzehnten Jahrhundert zunächst die Protestanten, denen Luthers Freund, Melanchthon, ihre moderne Lateinschule, die Vorläuferin unseres humanistischen Gymnasiums, einrichtete.35 In dieser Schule, in der nur Latein gesprochen werden sollte, herrschte das schöne Bildungsziel der eloquens pietas, der „Frömmigkeit in beredtem Latein“. Ihr diente vor allem auch das von Luther so hoch geschätzte Schultheater,

30  Zur lateinischen Literatur der Renaissance und überhaupt der Neuzeit s. jetzt die knappe Darstellung von Walther Ludwig, „Die neuzeitliche lateinische Literatur seit der Renaissance“ in Graf, Einleitung (wie oben Anm.3) 323-356 (mit Lit.); grundlegend für jede tiefere Beschäftigung ist Jozef IJsewijn / (Dirk Sacré): Companion to Neo-Latin Studies, 2 Bde., Löwen 21990/1998. Viel auch zur Literaturgeschichte gibt Rudolf Pfeiffer, Die Klassische Philologie von Petrarca bis Mommsen (zuerst engl. 1976), München 1982. Zur generellen Rolle des Latein in der Neuzeit: Peter Burke, Küchenlatein: Sprache und Umgangssprache in der frühen Neuzeit (zuerst engl. 1987), Berlin 1989 (populär einführend) und jetzt bes. Walther Ludwig, „Latein im Leben: Funktionen der lateinischen Sprache in der frühen Neuzeit“, in: Eckard Keßler / Heinrich C. Kuhn (Hrsg.), Germania Latina – Latinitas teutonica: Politik, Wissenschaft, humanistische Kultur vom späten Mittelalter bis in unsere Zeit, 2 Bde., München 2003, Bd. 1, 73-106. Ungewürdigt bleibt die neulateinische Literatur in dem (vor allem für den Schulunterricht materialreichen) Werk von Françoise Waquet, Le Latin ou l’empire d’un signe: XVIe-XXe siècle, Paris 1998 (engl.: London/New York 2001).
31  Vgl. als immer noch höchst lesbare Gesamtdarstellung: Heinz Otto Burger, Renaissance – Humanismus – Reformation: Deutsche Literatur im europäischen Kontext, Bad Homburg u.a. 1969; vgl. auch Walther Ludwig (Hrsg.), Die Musen im Reformationszeitalter, Leipzig 2001. Handbuch: Hans Rupprich, Die deutsche Literatur vom späten Mittelalter bis zum Barock, 2 Teile, München I: (1970) ²1994 (bearb. v. Hedwig Heger) /II: 1973. Einzeldarstellungen in Stephan Füssel (Hrsg.), Deutsche Dichter der frühen Neuzeit (1450-1600), Berlin 1993 und Paul G. Schmidt: Humanismus im deutschen Südwesten: Biographische Profile (1993) Stuttgart ²2000. Bis zur deutschen Gegenwart gehen die einschlägigen, meist sehr qualitätvollen Beiträge in Keßler / Kuhn, Germania latina (wie oben Anm. 30), vgl. bes. Laetitia Boehm, „Latinitas – Ferment europäischer Kultur: Überlegungen zur Dominanz des Latein im germanisch-deutschen Sprachraum Alteuropas“, a.O. 21-70.
32  Vgl. W. Stroh, „Horaz und das Proseuticum des Celtis“ in dem einschlägigen Sammelband von Ulrike Auhagen / Eckard Lefèvre / Eckart Schäfer, Horaz und Celtis, Tübingen 2001, 87-119
33  Dazu Claudia Wiener u.a. (Hrsg. ), Amor als Topograph: 500 Jahre ‚Amores‘ des Conrad Celtis – ein Manifest des deutschen Humanismus, Schweinfurt 2002 (mit Lit.)
34  Wertvolle Anthologien: Harry C. Schnur (Hrsg.), Lateinische Gedichte deutscher Humanisten, Stuttgart (1967) ²1978; Wilhelm Kühlmann / Robert Seidel / Hermann Wiegand (Hrsg.), Humanistische Lyrik des 16. Jahrhunderts, lat.-dt., Frankfurt/M. 1997.
35  Lesenswert bleibt, auch neben Fuhrmann (wie oben Anm. 20), die tiefdringende Darstellung von Friedrich Paulsen, Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen Schulen und Universitäten vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart, 2 Bde., 3. Aufl. hrsg. v. R. Lehmann, Berlin/Leipzig 1919-1921. Zur pädagogischen Leistung speziell Melanchthons jetzt sehr informativ: Jürgen Leonhardt (Hrsg.), Melanchthon und das Lehrbuch des 16. Jahrhunderts, Rostock 1997 (mit Lit.).

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das sich in Werken wie dem europaweit gespielten Acolastus des Gnapheus (einer Dramatisierung des verlorenen Sohns nach Lukas) zu wirklicher poetischer Größe erhebt.
        Dieses protestantische Schultheater übernehmen dann die Jesuiten, die von der zweiten Hälfte des Jahrhunderts an, auch ihrerseits der eloquens pietas huldigend, die Führung im Bildungswesen anstreben, wobei sie um so erfolgreicher sind, als ihnen der einheitliche Lehrplan ihrer Ratio studiorum internationale Schlagkraft gibt.36 Ihr (immer lateinisches)  Theaterspiel, mit dem sie zumindest in Deutschland ein Jahrhundert lang mehr für das Bühnenwesen getan haben dürften als jede andere Institution,37  diente nicht nur der propaganda fides, „Verbreitung des Glaubens“, sondern auch der öffentlichen Selbstdarstellung ihres Ordens als führender Macht der Schulbildung, d.h. Lateinbildung.38 Ihre Aufführungen etwa hier in München39 sind bis heute Höhepunkte der lokalen Theatergeschichte. Z.B. wurde hier 1597 zur Einweihung von St. Michael, dem neuen Herz der Gegenreformation, mit tausend Mitwirkenden und viel Musik das zehnstündige Lateinspektakel Triumphus Divi Michaelis aufgeführt,40 mit einer wohl größeren Breitenwirkung als sie selbst Max Reinhardt gut dreihundert Jahre später bei seinen Münchner Masseninszenierungen antiker Tragödien erreichen konnte. Künstlerisch ungleich bedeutender waren die Dramen des Jacob Bidermann, dessen Cenodoxus, 1602, vor dreihundert Jahren, in Augsburg uraufgeführt,41  noch heute in Übersetzung gelegentlich auf die Bühne kommt.42  Alle aber überragt der Genius des Jesuiten Jacobus Balde (1604-1668), eines der größten, leider auch vergessensten lateinischen Dichtes aller Zeiten, eines Manns, der in fast sämtlichen antiken Dichtungsgattungen (und einigen weiteren) ein Lebenswerk geschaffen hat, das an Originalität und Kreativität eigentlich nur noch mit Goethe verglichen werden kann.43 Mit „Münchner Baldestudien“ – denn er wirkte vor allem von München aus - versuchen wir an unserem Institut zur Zeit die Erinnerung an ihn wenigstens wissenschaftlich zu beleben; vielleicht wird sein vierhundertster Geburtstag im Jahr 2004 dazu anstoßen, endlich eine Uraufführung – man denke nur! – seines dramatischen Meisterwerks, der 1654 edierten monumentalen Tragödie Jephtias, zustande zu bringen.44
       So lebt das tote Latein noch im 17. Jahrhundert, dank der Jesuitenmission bis nach Japan und Südamerika, als die führende Sprache nicht nur in Kirche und Wissenschaft, sondern auch in der schönen Literatur. Selbst erfolgreiche Unterhaltungsromane werden aus der jeweiligen Nationalsprache ins Lateinische übersetzt, um überall verstanden werden zu

36  Noch immer fesselnde Lektüre: René Fülöp-Miller, Macht und Geheimnis der Jesuiten: Eine Kultur-und Geistesgeschichte (1947), München 1960 (dort S. 626 ff.  zum Erziehungswesen).
37  Kurze, treffliche Einführung: Fidel Rädle, „Lateinisches Theater fürs Volk: Zum Problem des frühen Jesuitendramas“, in: W. Raible (Hrsg.), Zwischen Festtag und Alltag, Tübingen 1988, 133-147. Sonst am umfassendsten: Jean-Marie Valentin, Les Jésuites et le théâtre (1554-1680), Paris 2001.
38  Hervorgehoben von Barbara Bauer, Jesuitische ‚ars rhetorica‘ im Zeitalter der Glaubenskämpfe, Frankfurt/M. u.a. 1986. Die sprachliche Kultur gerade der bayerischen Jesuiten bezeugt jetzt eindrucksvoll die von  Alois Schmid herausgegebene Bayerische Gelehrtenkorrespondenz: P. Matthäus Rader SJ, Bd. 1: 1595-1612 (bearb. v. Helmut Zäh und Silvia Strodel), München 1995.
39  Karl von Reinhartstoettner: „Zur Geschichte des Jesuitendramas in München“, Jahrbuch für Münchener Geschichte 3, 1889, 53-176
40  Barbara Bauer / Jürgen Leonhardt (Hrsg.), Triumphus Divi Michaelis Archangeli Bavaric -. Triumph des Heiligen Michael, Patron Bayerns (München 1597), Regensburg 2000
41  Zur Erinnerung daran fand im Oktober 2002 in Augsburg ein zweitägiges Symposion statt, dessen Akten demnächst veröffentlicht werden sollen.
42  Zuletzt in einer Fernsehaufzeichnung der Augsburger Puppenkiste, bayern alpha November 2003.
43  Noch immer grundlegend: Georg Westermayer, Jacob Balde (1604-1668), sein Leben und seine Werke. Photomechanischer Nachdruck der Ausgabe München 1868, herausgegeben von Hans Pörnbacher und Wilfried Stroh, Amsterdam / Maarssen 1998; neuere Literatur (ständig ergänzt) unter www.klassphil.uni-muenchen.de/~stroh/balde_lit.htm
44  Fest geplant ist die Wiederaufführung seiner Schulkomödie Iocus serius („Aus Spaß wird Ernst“) durch das Münchner Wilhelmsgymnasium (wo Balde selbst unterrichtet hat); die Premiere soll im Rahmen einer Baldetagung vom 4. bis 7. April (auf dem Freisinger Domberg) stattfinden.

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können. Das hört erst auf mit dem 18. Jahrhundert, in dem, bedingt durch das Erstarken der nationalsprachigen Literatur, auch in Deutschland die letzte große Zeit der lateinischen Dichtung zu Ende geht. Für das Jahrhundert der Aufklärung, der deutschen Klassik und der beginnenden Romantik wird nun das lateinische Verseschmieden zu einer Angelegenheit vor allem der Schulmeister, einer Sache, mit der man unter Männern von Welt keinen großen Ruhm mehr erwerben kann. Das gilt noch nicht für das Latein im allgemeinen. Latein bleibt ja zunächst noch Sprache vor allem der Philosophie und Wissenschaft.45 Latein schreiben Descartes, Spinoza und spätere Philosophen; in Latein erläutert Newton die mathematischen Grundlagen der Physik, Linné das System der Botanik, Galvani die Elektrizität in den Froschschenkeln, und noch Carl Friedrich Gauß schreibt am Anfang des neunzehnten Jahrhunderts seine fundamentalen Werke über Zahlentheorie und Astronomie in lateinischer Sprache.46  Aber damit war gerade Gauß schon beinahe ein Nachzügler; denn im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts war Latein als Sprache der Wissenschaft fast in ganz Europa allmählich durch die modernen Sprachen ersetzt worden. Schon 1688 hatte ein gewisser Professor Christian Thomasius zum Entsetzen seiner Kollegen als erster eine deutschsprachige Vorlesung in Halle gehalten; und die damit begonnene Bewegung kam nicht mehr zum Stillstand (der dritte Tod des Lateinischen). Schuld war nicht etwa eine Defizienz des toten Latein gegenüber der modernen Welt – das Latein blieb wunderbar ausdrucksfähig: Noch Kants „Kritik der reinen Vernunft“ wird erfolgreich ins Lateinische übersetzt; und Goethe hat nach eigenem Bekunden an seinem Lieblingswerk „Hermann und Dorothea“ in der lateinischen Version eines Herrn von Berlichingen mehr Freude noch als am deutschen Original (Latein sei doch eine viel gebildetere Sprache, meint er)47  – also nicht eine Defizienz des toten Latein war schuld an seinem Rückgang, sondern der verhängnisvoll aufkommende Nationalismus bewirkte, dass es dem Gelehrten wichtiger wurde, sich auch dem minder Gebildeten im eigenen Volk mitzuteilen, als den geistigen Austausch in einer international lateinischen res publica litterarum zu suchen. So hatte am Ende des achtzehnten Jahrhunderts die Wissenschaft - von den Theologen und Philologen zunächst einmal abgesehen - das Latein schon fast aufgegeben: ein schwerer, bis heute fühlbarer Verlust! Denn im Englischen, das ja in den letzten Jahrzehnten  d i e  moderne Wissenschaftssprache geworden ist, sind die Engländer, zumal wenn es um Geisteswissenschaften geht, uns anderen überlegen. In Latein wären alle gleich (das kann sowieso keiner).
        Damit war an der Wende zum neunzehnten Jahrhundert das Latein an der Schule seiner stärksten Belastungsprobe seit der Völkerwanderungszeit ausgesetzt. Und es fehlten schon damals die Stimmen nicht, die ihm mit Nützlichkeitsargumenten, genau wie heute, den Garaus machen wollten: Warum noch eine Sprache lernen, die kaum mehr gebraucht wird? Und dennoch erlebt Latein ausgerechnet in der höheren Schule des neunzehnten Jahrhunderts, dem sogenannten neuhumanistischen Gymnasium, wie es hier in Bayern vor allem der Freund Ludwigs I., Friedrich Thiersch, Begründer auch unseres Philologischen Seminars, gestaltet hat, im Zeitalter der leibhaftigen industriellen Revolution, wie in einem geistigen Widerstand gegen diese, eine große, ans Unglaubliche grenzende Nachblüte.48  Kein anderer Weg führt zum akademischen Studium als der durchs Gymnasium; kein Weg führt durchs Gymnasium ohne exzessives Latein: Latein, das nicht nur passiv verstanden, sondern auch aktiv geübt sein will, im schriftlichen Aufsatz, in der mündlichen Rede, ja lange Zeit sogar noch im lateinischen Verseschreiben. Diese Dominanz des Lateinischen ist um so überraschender, als

45  Das Latein der Philologen behandelt in Form eines (seinerseits höchst elegant geschriebenen) ciceronischen Dialogs: Helgus (Oleg) Nikitinski, De eloquentia Latina saeculi XVII et XVIII dialogus, Neapel 2000.  
46  Wichtige Dokumente für dieses Wissenschaftslatein sind gesammelt bei Aemilius Springhetti S.J., Selecta Latinitatis scripta auctorum recentium (saec. XV-XX), Rom 1951.
47  Bei Ernst Grumach, Goethe und die Antike, Bd. 1, Berlin 1949, 79-83 sind solche Äußerungen Goethes über die lateinische Sprache zusammengestellt.
48  Vorzüglich informativ: Manfred Landfester, Humanismus und Gesellschaft im 19. Jahrhundert, Darmstadt 1988

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der deutsche Altphilologe an sich von lateinischer Literatur gar nicht so viel zu halten behauptet. Sie gilt ihm ja im neunzehnten Jahrhundert als wenig originell, als ein weithin unschöpferischer Abklatsch der griechischen Literatur. Aber die Griechen lobt man mehr, und das Lateinische lernt man mehr, angeblich wegen seiner formalbildenden Kraft – über die einschlägige Theorie wird gleich noch zu reden sein -, in Wahrheit wohl mindestens ebenso sehr wegen des Glanzes und Zaubers, der die alte tote Sprache immer noch umschwebte. Das Schullatein des neunzehnten Jahrhunderts ist paradoxerweise schöner, von humanistischerem Schwung erfüllt, als es das Wissenschaftslatein des vorigen Jahrhunderts gewesen war.
        Erst am Ende des Jahrhunderts, als das moderne Realgymnasium seinen Anspruch anmeldete, wurde das Latein als eine noch geübte, zumindest geschriebene Sprache in der Schule zurückgedrängt. Deutscher Gewerbefleiß und deutscher Patriotismus waren gegen das Latein, gegen den altsprachlichen Unterricht überhaupt, verbündet, und ungerügt konnte Kaiser Wilhelm II. im Jahre 1890 ausrufen: Man solle junge Deutsche erziehen, nicht junge Griechen und Römer! So haben erst etwa die letzten gut hundert Jahre den schrittweisen, immer wieder auch verzögerten und aufgehaltenen Abbau des Lateinunterrichts am Gymnasium gebracht; d.h. mit großer Phasenverschiebung hat das Gymnasium dem Rückgang des Lateinischen außerhalb der Schule – die katholische Kirche war hier noch am zögerlichsten – Rechnung getragen. Auch die Universitäten, wie man weiß. An die Stelle des früher zur Promotion in den Geisteswissenschaften erforderlichen Latinums kann heute vielfach auch der Nachweis von Kenntnissen anderer Sprachen (oder auch einmal des statistischen Rechnens) als Ersatz treten. Als ließe Latein sich ersetzen! Als wäre es nur eine Hürde, um das Studium ein bisschen schwerer zu machen und das akademische Niveau zu heben!
        Das Bedenklichste aber ist nicht, dass von zu wenigen Latein gelernt wird – denn etwa im glücklichen  Bayern dürfte es heute der Zahl nach sogar mehr Lateinschüler geben als je zuvor -, sondern dass es so schlecht gelernt wird, dass kaum ein Schüler nach vielen Jahren Unterrichts in der Lage ist, lateinische Texte so zu verstehen, wie er andere fremdsprachliche Texte auffasst, durch einfaches Hören oder Lesen. Das ist keineswegs eine Folge der Tatsache, dass Latein tot ist – wie fast zwei Jahrtausende beweisen -, es ist auch nicht nur die Folge einer zu geringen Stundenzahl an den Schulen, sondern vor allem auch die einer einseitig forcierten formalen Bildung, wie sie der heutigen didaktischen Theorie entspricht und wie sie sich vor allem im sogenannten Konstruieren niederschlägt („Suche das Prädikat ...“, und dann wird der Satz von links nach rechts, von rechts nach links, auseinandergenommen, bis sich sein Sinn quasi als Lösung einer mathematischen Aufgabe ergibt!). Diese Theorie der formalen Bildung, von der die großen Zeiten des Lateinischen nichts wissen, entstand in der Tat in dem Augenblick, wo Latein als Kommunikationssprache wenig mehr gebraucht wurde, also am Ende des 18. Jahrhunderts:49 Wie die Tanzstunde, sagte man da, auch dem zukünftigen Nichttänzer nützlich sei, weil sie seinen Körper geschmeidig und beweglich gemacht habe, so komme auch dem Nichtlatinisten das Latein zu gute, weil es seinen Geist schule, in dem es sich ja – der Leichnam machts möglich – so schön sezieren und analysieren lasse. Das ist eine treffliche und in vielen Publikationen seit zweihundert Jahren wohldurchdachte Theorie, deren Folgen für die Praxis dennoch fatal sind. Wo das Latein nicht um seiner selbst willen gelernt wird, sondern um  a n  ihm, weil es dafür optimal geeignet sei, allerlei Kategorien des Verstands und der Sprache zu erlernen – als Service dann auch für die Erlernung anderer, besonders romanischer Sprachen -, da schwindet notwendig die Sprachbeherrschung und damit auch die Freude am Latein, die es ohne Können nicht geben

49  Vgl. bes. etwa Wilhelm Luther, „Die neuhumanistische Theorie der ‚formalen Bildung’ und ihre Bedeutung für den lateinischen Sprachunterricht der Gegenwart“, Der altsprachliche Unterricht 5, Heft 2, 1961, 5-31. Ganz auf dieser Theorie basiert die  z.Zt. erfolgreichste Apologetik des Lateinunterrichts: Karl-Wilhelm Weeber, Mit dem Latein am Ende? Tradition mit Perspektiven, Göttingen 1998; kritisch dazu mein Vortrag von 1998 (wie oben Anm. 1) und in Classical Review N.S. 51, 2001, 458-459.

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kann. Zur Rechtfertigung des Lateinunterrichts ersonnen, ist diese einst nützliche Doktrin von der besonderen geistesbildenden Kraft der toten Sprache längst selber tödlich geworden – auch weil sie kaum mehr jemanden wirklich überzeugt. Die beste Kennerin des Lateinunterrichts in der Neuzeit, Françoise Waquet, beschloss kürzlich ihre nachrufartige Chronik des neuzeitlichen Latein-„Imperiums“ (1998)50  mit der Forderung, dass diese Sprache nun aber endlich und endgültig von der Schule abtreten solle, weil sie auch für die „gymnastique mentale“ schlechterdings nichts mehr zu bieten habe. Das wäre dann der vierte und bisher schlimmste Tod des Lateinischen: O tempora! o mores! o cadavera!
        Bevor ich mich aber mit diesem Ausruf von unserem Thema und Ihnen verabschiede, sei doch wenigstens auch auf eine Gegenbewegung hingewiesen, die mir zukunftsträchtig scheint und die man jedenfalls nicht unterschätzen sollte: die des „Lebendigen Latein“, „Latin vivant“, Viva Latinitas usw..51 Seitdem der praktische Gebrauch der Sprache auch im Lateinbetrieb von  Schule und Universität reduziert oder beseitigt wurde – also vom Ende des neunzehnten Jahrhunderts an -, gibt es im erklärten Widerstand dagegen vor allem außerhalb der Bildungsinstitutionen weltweite Bemühungen darum, Latein wieder in seine alten Rechte als internationale Kommunikationssprache einzusetzen. Ein Pionier war der deutsche Jurist und Poet Karl Heinrich Ulrichs52, heute berühmter als Vorläufer der sogenannten „Schwulenbewegung“ und als solcher in München sogar von Oberbürgermeister Ude durch einen eigenen Karl-Heinrich-Ulrichsplatz geehrt, der im Jahr 1889 vom Abruzzenstädtchen L’Aquila aus eine lateinische Konversationszeitschrift mit dem beflügelnden Namen Alaudae („Lerchen“) in die Welt zwitschern ließ (und sogar den König von Württemberg als Abonnenten gewann).53 Ihm folgte Papst Leo XII. 1898 mit seiner volleren Vox Urbis, diesem viele andere. Heute gibt der schon erwähnte Pater Eichenseer die in Deutschland beliebte Vox Latina, ein Brüsseler Radiologe, Guy Licoppe, die Melissa heraus. Im Vatikan vertreibt Cletus Pavanetto die gediegene Latinitas; noch mehr aber gelesen werden dürfte der nur im Internet zugängliche, ebenfalls niveauvolle Retiarius unseres amerikanischen Universitätskollegen Terence Tunberg.54
        Überhaupt ist es heute, wie schon eingangs erwähnt, das Internet (interrete) bzw. WorldWideWeb (Tela Totius Terrae), in dem sich die jüngsten und lebendigsten Anhänger der alten toten Weltsprache Latein tummeln können. Rasch findet man hier – denn Lateiner verlinken sich gern per copulas copularum - die wichtigsten heutigen Lateinclubs, etwa den kürzlich entstandenen quicklebendigen Circulus Latinus Panormitanus (Palermo), www.cirlapa.org55), die schon älteren Vereine Societas Latina (Saarbrücken, www.uni-saarland.de/fak5/stockmann/voxlatina), Circulus Latinus Matritensis (Madrid. http://augustinus.eresmas.net), Sodalitas LVDIS LATINIS faciundis (München, www.sodalitas.de) mit dem westfälischen Tochterverein LVPA d.h. Latinitatis Vivae Provehendae Associatio (http:/pagina.de/lvpa) und natürlich auch lateinische Chatclubs wie den Grex alter Latine loquentium (www.grexlat.com). Viele dieser Vereinigungen veranstalten lateinische Seminarien, Tagungen, Festspiele, wie die LVDI LATINI oder die internationalen Conventus und Seminaria der höchst seriösen römischen Academia Latinitati fovendae (www.tekhnai.es/alfconventus/seminaria). Überflüssig zu sagen, dass solche Unternehmungen, zu denen besonders auch die lateinischen Rundfunknachrichten aus

50  Zitiert oben in Anm. 30.
51  Zusammenfassend: W. Stroh, „Lebendiges Latein“, Der Neue Pauly: Enzyklopädie der Antike – Rezeptions- und Wissenschaftsgeschichte, Bd. 15, 2001, 92-99.
52  Zu ihm W. Stroh, „Karl Heinrich Ulrichs als Vorkämpfer eines lebendigen Latein“, In: Wolfram Setz (Hrsg.), Karl Heinrich Ulrichs zu Ehren: Materialien zu Leben und Werk, Berlin 2000, 81-92
53  Ein Nachdruck dieser Zeitschrift, herausgegeben von Wolfram Setz, soll i.J. 2004 erscheinen.
54  www.uky.edu/ArtsSciences/Classics/retiarius. Vgl. Dirk Sacré, „Zeitschriften in lateinischer Sprache“, in: W. Stroh (Hrsg.): Lateinsprechen (= Der altsprachliche Unterricht 37, 1994, Heft 5), 72-75, mit Verweis auf eine frühere, ausführlichere Publikation. 
55  Von hier aus ereicht man viele weitere internationale Lateinvereinigungen.

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Finnland (über: www.yleradio1.fi) und neuerdings die aus Bremen (www.radiobremen.de/online/latein) zählen, ihrerseits wieder an vielen Orten auf den akademischen Lehrbetrieb zurückwirken. So kann man z.B. an der Universität München seit über zwanzig Jahren allwöchentlich ein Colloquium Latinum, öfter auch eine Vorlesung in lateinischer Sprache besuchen. In dieser méthode directe, welche die der alten Humanisten war und die der neuen Fremdsprachendidaktiker ist, wird auch für die Schule, hoffe ich, die Zukunft des lateinischen Sprachunterrichts liegen. Obwohl Latein eine tote Sprache ist, sollte es doch nicht als eine solche, sondern als echte Fremdsprache unterrichtet werden.56
        Manches von dem, was sich unter den Junglateinern der Gegenwart tut, mag oft ein wenig skurril oder auch anspruchslos scheinen, wenn man es mit den Lateinproduktionen größerer Jahrhunderte vergleicht. Das darf aber nicht vergessen lassen, dass auch unsere Zeit bedeutende Lateinhumanisten hervorgebracht hat.57  Ich nenne nur drei Männer des vergangenen Jahrhunderts, die ich persönlich noch erlebt habe: den Herausgeber der Stuttgarter Zeitung Josef Eberle (Iosephus Apella P.L.), einen genialen, von der Universität Tübingen zu Recht zum poeta laureatus gekrönten Lateindichter;58 den Amerikaner Harry C. Schnur (C. Arrius Nurus), der, von Hause aus Jurist,  als bissiger lateinischer Satiriker berühmt wurde59 und in der Stiftung Pegasus limited fortlebt; schließlich den tschechischen Musiker, Dichter und Weltbürger Jan Novák (1921-1984), dem als schöpferischem Lateinkomponisten auch frühere Jahrhunderte keinen Ebenbürtigen an die Seite zu setzen haben.60 Sein Werk pflegen wir besonders an der Universität München. Wenige Minuten, nachdem am 11. September 2001 der Angriff auf das World Trade Center die gesittete Welt erschütterte, wurde beim Münchner Weltkongress Germania latina (veranstaltet vom Seminar für Geistesgeschichte des Humanismus) durch die „Singphoniker“ eine Kantate uraufgeführt, namens Politicon, die der historischen Stunde – wovon wir im Moment der Aufführung noch nichts ahnten - in geradezu beklemmender Weise gerecht wurde. In diesem Politicon hatte Jan Novák Texte über den Staatsfeind zusammengestellt und komponiert, Texte von Cicero, Seneca und eben dem erwähnten Harry C. Schnur, dem amerikanischen Juden, der anlässlich des Baus der Berliner Mauer vor vierzig Jahren zur Verteidigung der Freiheit in leidenschaftlichen lateinischen Distichen aufrief. Um die Lebendigkeit des alten, toten Latein fühlbar zu machen, gebe ich wenigstens noch ein Zitat (leider nur des Texts) aus diesem herrlichen Musikwerk: 61

                Conspecto muro complectere mente, viator,
                        quam sit libertas proxima servitio.
                fallitur impavida quisquis negat esse tuendam
                        cura: ni vigilas, haud mora, servus eris,


        Hast du die Mauer erblickt, so bedenke denn, Wandrer, im Geiste,

56  Vgl. das oben (Anm.53) zitierte Heft von Der altsprachliche Unterricht und ganz besonders das grundlegende Buch von Andreas Fritsch, Lateinsprechen im Unterricht: Geschichte – Probleme – Möglichkeiten, Bamberg 1990.
57  Einen Überblick über die lateinische Dichtung des 20. Jahrhunderts gibt Theodoricus (Dirk) Sacré, Musa superstes: De poesi saeculi XXiLatina, Rom 2001.
58  Vgl. Monika Balzert, „Rühmen und gerühmt werden: Josef Eberle als lateinischer Dichter“, in: Karlheinz Geppert (Hrsg.), Josef Eberle: Poet und Publizist, Stuttgart 2001.
59  Zu ihm bes. Gilbert Tournoy / Dirk Sacré (Hrsg.), Pegasus devocatus: Studia in honorem C. Arri Nuri sive Harry C. Schnur, Löwen 1992
60  Vgl. W. Stroh, „Jan Novák: moderner Komponist antiker Texte”, Atti dell’ Accademia Roveretana degli Agiati a. 249 (1999), ser. VII, vol. IX, A, 33-62 und ders., „De Iano Novák musico et poeta“ in: Keßler / Kuhn, Germania latina (wie oben Anm. 30) 195-216; mehr unter www.klassphil.uni-muenchen.de/~stroh/j_novak.htm.
61  Der gesamte Text (mit Übersetzung) ist abgedruckt in “Texte zu Jan Nováks Politicon“ in: Keßler / Kuhn, Germania latina (wie oben Anm. 30), 216-220. Die Publikation einer CD der „Singphoniker“, die auch dieses Werk enthalten soll, ist in Aussicht gestellt.

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            wie der Freiheit so nah immer die Knechtschaft auch wohnt.
        Wer um diese nicht wachsamen Sinns und furchtlos besorgt ist,
            täuscht sich: Gibst du nicht acht, bist du ein Sklave im Nu.

Auch wenn es heute viele nicht sehr viele sind, die solche lateinischen Verse genießen oder würdigen, diese haben bei sich doch den Reisepass in die Unsterblichkeit. Denn das Gespenst Latein, das gewissermaßen von der Höhe seines Ahnenschlosses aus die Generationen kommen und gehen sieht, ist ja selber unwandelbar und unsterblich. Es wird eine Zeit geben, unweigerlich, wo man auch die Verse Schillers und Goethes, ja auch Rilkes und Brechts, nicht mehr oder nur in Übersetzungen wird verstehen können. Wer Latein schreibt, braucht dies nicht befürchten; er blickt mit dem Kopf eines Janus, wie durch Jahrhunderte zurück, so nach vorne, er spricht, wie mit Cicero und Erasmus, so mit der Nachwelt und wird immer seine Leser finden – falls er sie verdient, versteht sich. Dixi.