Wilfried Stroh

De laudibus linguae Latinae
Lob dem Latein!

Gymnasium Eschenbach, 20. 7. 05
 
 
Latinitatis genius, adesto!
te precor quaesoque
uti omnium hic qui adsunt animos ad amorem tui inflammes,
mihi autem des ueniam
quod te laudando utar barbara lingua.


Das Latein zu loben hat man mich gerufen, aus München nach Eschenbach, aus der deutschen Haupstadt des Lateinischen – denn dort ist ja der berühmte Thesaurus linguae Latinae, das größte Lateinunternehmen der Weltgeschichte - in die Oberpfalz, die ihren Namen immerhin auch dem mons Palatinus verdankt, wo Kaiser Augustus sein Wohnhaus und der römische Apoll Tempel und Bibliothek hatte, und an ein Gymnasium, das stolz darauf ist, seine Schüler nicht nur mit dem landläufigen und heute unentbehrlichen Englisch auszustatten, sondern auch mit der Kenntnis der schönsten Weltsprache, des Lateins.

Kein neues Thema! Und doch liegt gerade hierin natürlich auch die Schwierigkeit meines Unternehmens. Die anerkannt herrlichsten Gegenstände sind ja eben darum am schwersten zu loben, weil über sie alles Wichtige schon von Früheren gesagt scheint, weil es, wie dies einst der große Redner Isokrates bei seinem Lob der schönen Helena festgestellt hat, fast unmöglich ist, hier noch etwas Eigenes beizutragen, nicht nur alten Kohl (cramben repetitam) aufzuwärmen. Was das Latein betrifft, so geht der Chor seiner Lobredner ja durch die ganze Neuzeit, beginnend mit Petrarca über Melanchthon bis in die Gegenwart ... Wobei freilich festzustellen ist - und das weist auf eine weitere Schwierigkeit, aber auch eine Chance für mich-, dass die Jubeltöne in den vergangenen zwei Jahrhunderten merklich gedämpfter, verhaltener geworden sind. Wer würde es heute noch wagen, mit dem großen Renaissancehumanisten Lorenzo Valla auszurufen, dass die lateinische Sprache ein Numinoses sei, das von sämtlichen Nationen verehrt werde "wie ein Gott, der vom Himmel herabgesandt ist" (quasi Deum quendam a Coelo demissum). Sehen wir uns die neueren Lobredner des Lateins näher an, so machen wir dieselbe Erfahrung wie wiederum Isokrates, der, als er das Lob der schönen Helena seines Lehrers Gorgias genauer in Augenschein nahm, feststellen musste, dass Gorgias überhaupt keine Lobrede (enkómion), sondern eine Verteidigung (apología) geschrieben habe, ohne es zu merken. Wie Gorgias mit Helena geht es uns mit dem Latein: Statt seine Herrlichkeit ins Licht zu setzen, verteidigen wir es gegen den Zeitgeist, der es als "nutzlose" und "tote" Sprache denunziert.

Nun, diese Angriffe auf das Lateinische, die ihm sein Lebensrecht, vor allem im heutigen Bildungswesen, bestreiten, mögen zwar banausisch sein - und sind es auch! -, sie sind aber nicht unbegründet. Solange Latein noch die praktizierte Universalsprache der gebildeten Welt war, wie zur Blütezeit des Humanismus, brauchte es keine Verteidigung. Erst als es im Laufe des 17. Jahrhunderts allmählich seine Bedeutung als die führende Sprache der Poesie verlor, als es dann im 18. Jahrhundert aufhörte, die verbindliche Sprache der Wissenschaft zu sein - zu mächtig war damals der Nationalismus von Volk und Volkssprache - da verlor es gewissermaßen seinen 'Sitz im Leben' und seine unbestrittene Existenzberechtigung. Wenn, wie um 1800, nur noch gut fünf Prozent aller wissenschaftlichen Bücher lateinisch sind, stellt sich in der Tat die Frage, ob man diese Sprache noch lernen solle, und so werden aus den frohen Enkomiasten des Lateinischen leicht verbissene Apologeten. Damals erst, an der Wende zum neuzehnten Jahrhundert, entsteht die beliebte, uns allen wohlvertraute, für das humanistische Gymnasium geradezu unentbehrlich gewordene Theorie der "formalen Bildung", wonach wir Latein lernen, weniger, um es selbst zu können, als vor allem, um daran unseren Geist zu schulen, Kategorien der Sprache und des Verstandes, ja vielleicht sogar das logische Denken zu lernen. Etwa das bekannte Büchlein des  Bochumer Fachdidaktikers Karl Wilhelm Weeber ("Mit dem Latein am Ende?") basiert ganz auf diesem Konzept eines, wie man schon formuliert hat, "Trimmpfad des Geistes". Ein schlüpfriger Pfad! Eine gefährliche Lehre, wie mir scheint, nicht nur, weil es schwierig ist, diese formale Schulung speziell durch den Lateinunterricht wirklich nachzuweisen - ein berühmter Kritiker des humanistischen Gymnasiums spottete vor fünfundzwanzig Jahren über solche "exklusiven Transferbehauptungen" (und sogar unter den alten Römern war man der Ansicht, dass formale Bildung am besten durch Geometrie stattfinde) -, sondern vor allem, weil bei einem einseitig auf Geistesschulung angelegten Lateinunterricht, wie er in der Tat vielfach praktiziert wird - sein Kernstück ist das Konstruieren, heute genannt: "methodische Satzerschließungsstrategie", mit "Suche das Prädikat" usw. -, weil bei einem solchen einseitig formalbildenden Unterricht das eigentliche, auf der Gewöhnung an die Sprache beruhende Lateinlernen fast notwendig zu kurz kommt und damit selbstverständlich auch die Freude am Latein, die ja vor allem auch aus der Beherrschung der Sprache resultieren sollte ...


Auch aus diesem Grunde möchte ich den heute gängigen Weg der Apologetik in dieser meiner Lobrede nicht beschreiten, ja überhaupt, im gut humanistischen Sinn, das Latein weniger verteidigen als preisen, damit der Mund dessen übergehe, wes das Herz voll ist (ut ex abundantia cordis os loquatur ...). Freilich, bei der Einteilung dieser meiner Lobrede will ich doch ex negativo die heutigen Vorwürfe gegen das Latein zugrundelegen. Ich halte mich also nicht etwa an ein antikes Lobschema, wonach ich wohl zunächst die Heimat des Lateinischen, also die Landschaft Latium, zu loben hätte, dann seine Erfinder und Benutzer, von Romulus bis zum heutigen Benedikt XVI. Ich halte mich vielmehr, an eben die Punkte, in denen die Herrlichkeit des Lateinischen (Latinitatis decus ac dignitas) heute vor allem ins Licht gesetzt werden muss: Weil man sagt, dass das Lateinische tot sei, will ich erstens beweisen, dass es nicht nur lebendig, sondern die lebenskräftigste aller Sprachen ist (lingua uiuacissima). Weil das Lateinische als hart und trocken beschimpft wird, zeige ich zweitens, dass es die schönste Sprache ist (lingua uenustissima); und aus diesem sowie aus vielem anderem folgt schließlich, dass das Lateinische nicht, wie behauptet, nutzlos, sondern in höchstem Maße nützlich ist (linga utilissima). Demonstrare igitur pro uirili parte conabor sermonem Latinum ceteris omnibus esse et uiuaciorem et uenustiorem et utiliorem ... audite!

Zum ersten: Wie kann ich es wagen, dem Latein eine besondere Lebendigkeit und Lebenskraft zuzusprechen? Sehr einfach: weil es die Sprache ist, die es fertiggebracht hat, ihren eigenen Tod dauerhaft zu überleben. Was meinen wir denn damit, wenn wir sagen: Latein sei tot? Und wenn es tot ist, was auch ich nicht bestreite, wann und woran ist es dann überhaupt gestorben? Wenige stellen diese Fragen, und fast niemand scheint die Antwort zu wissen. Wir müssen dazu weit in der Geschichte zurückgehen. Was überhaupt ist Latein? Es ist, wie schon der Name sagt, die Sprache, zunächst noch nicht Roms, sondern der mittelitalischen kleinen Landschaft Latium. Als der Urvater Roms, der aus Vergil bekannte Aeneas, nach der Zerstörung Troias nach Latium kam, um dort Lavinium, die Großmutterstadt Roms zu gründen, kann er noch kein Latein gesprochen haben. sondern eher, jedenfalls nach der heutigen Sprachengeographie zu urteilen, eine Art Türkisch, eben die Sprache des kleinasiatischen Troia (ich erwähne das, um den Humanisten Mut zu machen, sich für die volle Mitgliedschaft der Türkei in der EU einzusetzen; auch wenn Aeneas natürlich kein Muselmann war, hatte man doch auch schon gegen ihn beträchtliche Vorbehalte wegen seiner scheinbar liederlichen Herkunft; ich nenne nur die Stichwörter Verweichlichung und Bauchtanz). Wer also hat Aeneas sein Latein beigebracht? Ich vermute: die Faune, die latinischen, in Latiums Wäldern ansässigen Götter Fauni, die dort seit Menschengedenken mit ihren Nymphen hausten und den Latinern in altlateinischen Versen, den sogenannten Saturniern, die Zukunft verkündeten.

Weltkarriere macht ihre Sprache allerdings noch nicht durch Aeneas, auch noch nicht durch Romulus, den Gründer Roms und größten Römer vor Kaiser Augustus, wohl aber durch den Aufstieg Roms. Als Rom nämlich Italien erobert, vom 4. Jahrhundert bis zum Bundesgenossenkrieg, der am Anfang des ersten Jahrhunderts v.Chr.allen Italikern das römische Bürgerrecht verschafft, breitet auch Latein sich aus: Es verdrängt die anderen Sprachen, Faliskisch, Messapisch, Oskisch usw.; nur das Etruskische leistet partiell Widerstand, und alte Griechenstädte in Süditalien, wie Neapel, Tarent, behalten auf lange Zeit ihr Griechisch. Aber obschon man am Ende der Republik, also in der Mitte des ersten vorchristlichen Jahrhunderts, sogar schon in Westsizilien und dem südlichen Sardinien, Roms ältesten Provinzen, Latein spricht, ist noch in dieser Zeit natürlich Griechisch die führende Weltsprache. Als Cicero im Jahr 62 v. Chr. sein zu Hause ruhmreiches Konsulat auch international  verherrlichen möchte, will er einen griechischen Dichter, Archias, dafür gewinnen, wie er sagt: propterea quod Graeca leguntur in omnibus fere gentibus, Latina suis finibus exiguis sane continentur, „darum weil man Griechisches bei allen Völkern liest, das Lateinische in seinen eigenen, doch recht engen Grenzen eingeschlossen bleibt“... Vierzig Jahre später sieht die Lage immerhin schon etwas anders aus. Wenn sich der große Dichter Horaz in seiner (i.J. 23 v. Chr. herausgebenen) Sammlung lyrischer Oden seine zukünftige Verwandlung in einen über alle Länder fliegenden Schwan ausmalt (um so den dereinst weltweiten Ruhm seiner Lyrik zu verbildlichen), heißt es: er werde fliegen vom Bosporus bis Spanien, von der Rhone bis Dakien d.h. Rumänien, von Afrika bis zu den Hyperboreern (unter denen wir uns je nach Belieben Schweden oder Finnen denken können). Das war, so kühn es zu seiner Zeit geklungen haben muss, die zum Teil die echte und wahre Prophezeihung eines uates, „Dichterpropheten“, wie Horaz sich stolz nannte: Er ahnte voraus, dass er gelesen, vielleicht sogar gesungen würde von Byzanz bis nach Gallien und Spanien, von Britannien bis Afrika - in der Tat überall dort, wo später (noch nicht zur Zeit des Horaz selber) in lateinischen Grammatikschulen die römischen Klassiker traktiert wurden. Obwohl die gebildeten Römer selber lange Zeit zweisprachig blieben (also Griechisch neben Latein sprachen), eroberte Latein in der Kaiserzeit schließlich fast alle Provinzen des imperium Romanum: Nicht nur romanische Sprachen wie Französisch und Spanisch, bezeugen ihre Mutter; lateinische Lehnwörter hat bekanntlich sogar dass Germanische, wie unser Wort „Kaiser“, das offenbar zu einer Zeit übernommen wurde, wo man noch nicht „Zäsar“, sondern „Kaisar“ aussprach. Nur die östliche Reichshälfte blieb im Kern griechisch, aber auch dort unter den „römischen Kaisern“, wie sie sich immer nannten, war Latein die offizielle Amtssprache. Im leibhaftigen Konstantinopel lehrt (im sechsten Jahrhundert n.Chr.) der für ein Jahrtausend bedeutendste lateinische  Grammatiker, Priscian; dort wird unter Kaiser Justinian das lateinische Corpus Iuris redigiert; dort wird ein Feldzug des Kaisers vom Hofdichter Corippus in lateinischen  Versen besungen.


Schon dies weist darauf: Der Welterfolg des Lateinischen beruhte nicht nur auf der Gewalt der römischen Waffen, sondern auch auf der geistigen Leistung der Römer. Sie zeigt sich im römischen Recht, das immer an die lateinische Sprache gebunden blieb; sie zeigt sich aber genau so an der sonstigen literarischen Produktivität. Die Römer waren als einziges antikes Volk befähigt (und willens), die literarischen Formen der kulturell überlegenen Griechen in eigener Sprache nachzubilden, eine dem Griechischen vergleichbare Literatur zu schaffen. Dies beginnt mit dem genialen Großvater der lateinischen Literatur, dem Zensor Appius Claudius Caecus, der im Jahr 280 v.Chr. eine Senatsrede gegen den Frieden mit Pyrrhus veröffentlicht, eine Kriegsrede offenbar in Art der Philippiken des Demosthenes (die er sicherlich gekannt hat). Sein Nachfolger, der üblicherweise als der Begründer der lateinischen Literatur gilt, war selber ein romanisierter Grieche, der Freigelassene Livius Andronicus  aus Tarent. Er führte im Jahr 240 ein lateinisches Drama (ob Komödie oder Tragödie, wissen wir nicht) nach griechischer Vorlage offenbar im Staatsauftrag auf. Und diesem Gründungsereignis folgte eine Serie von Dramen (Plautus, Terenz usw.), die anderthalb Jahrhunderte nicht abriss und die eine ständig wachsende Fülle weiterer literarischer Werke in den verschiedensten Gattungen nach sich zog.

Aber obwohl die Römer diesen Vorgang so ansahen, als seien sie selber dem kulturell überlegenen Griechenland zum Opfer gefallen, nach der berühmten Formulierung des Horaz: Graecia capta ferum uictorem cepit et artes / intulit agresti Latio ... („Das eroberte Griechenland eroberte selber seinen wilden Bezwinger und brachte seine Künste nach Latium“), trotz dieser höchst bescheidenen Selbsteinschätzung galt doch im wesentlichen bereits für das erste Jahrhundert v. Chr.: Rom hatte mit Griechenland literarisch nicht nur gleichgezogen, sondern es sogar überflügelt. Den Meisterwerken vor allem von Cicero, dem größten Schriftsteller seines Jahrhunderts, aber auch von den Prosaikern Sallust und Livius, den Dichtern Lukrez, Catull, Horaz, Ovid, und ganz besonders Vergil, dem sogleich als Nationaldichter Verehrten, hatte die griechische Welt damals nichts Ebenbürtiges mehr entgegenzusetzen. Und die römischen Schriftsteller selbst, besonders die Dichter, haben das Gefühl bleibende, klassische Werke zu schaffen; sie glauben seit der Augusteerzeit an eine förmliche Unsterblichkeit ihres Werks und damit ihrer selbst. Am berühmtesten ist der Ausspruch des schon erwähnten Lyrikers Horaz, der am Ende seiner ersten Odensammlung von dem „Denkmal dauernder als Erz“ (monumentum aere perennius), das er sich errichtet habe, spricht und sich selber verheißt: non omnis  moriar („ich werde nicht ganz sterben“). Was allerdings geknüpft bleibt an die Unvergänglichkeit des „ewigen Roms“: Man werde von seiner Leistung reden, dum Capitolium / scandet cum tacita uirgine pontifex („solange aufs Capitol mit der schweigenden Jungfrau [der Vestalin] der Pontifex steigen wird“), d.h. solange der die Dauer Roms verbürgende römische Staatskult fortbesteht. Mit ähnlicher Einschränkung (ohne dass er freilich selber sie als Einschränkung sähe) verheißt Vergil den Helden seiner Aeneis ewigen Ruhm: dum domus Aeneae Capitoli immobile saxum / accolet imperiumque pater Romanus habebit („solange das Haus des Aeneas den unerschütterlichen Felsen des Capitols bewohnen und der Römer sein Reich haben wird“). Die Wirklichkeit hat hier einmal die Wünsche und Prophezeiungen der Dichter überboten: Das römische Reich ist zusammengebrochen, in Rom ist längst ein anderer Pontifex maximus am Werk, neuerdings sogar ein höchst lateinmächtiger  – aber Horaz und Vergil werden noch immer, zum Teil sogar in deutschen Klassenzimmern, gelesen.

Dieses Gefühl der Unsterblichkeit bei den römischen Dichtern, das Gefühl der eigenen Klassizität, fällt nun eigenartigerweise – und damit komme ich eigentlich auf den ersten Punkt, den Hauptpunkt meines Vortrags -  zusammen mit dem Tod des Lateinischen. Im linguistischen Sinn ist ja eine Sprache vor allem dann tot, wenn sie aufgehört hat sich fortzuentwickeln; und dieser Entwicklungsstop fällt nun beim Lateinischen eben in die Epoche bereits des Augustus, also etwa in die Zeit um Christi Geburt. (Merksatz: Christus nascitur, Latina lingua moritur.) In den anderthalb Jahrhunderten von Plautus (um 200 v.Chr.) bis Cicero konstatieren wir, besonders in Satzbau (Syntax) und Formenlehre (Morphologie), eine fühlbare Sprachentwicklung. Vergleichen wir dagegen einen Brief Ciceros mit einem etwa des Symmachus (im vierten Jahrhundert n.Chr.), einen Dialog Ciceros mit der berühmten Consolatio philosophiae des Boethius (am Anfang des sechsten Jahrhunderts) oder auch Hexameter Vergils mit solchen des Claudian (der um 400 gedichtet hat), so scheint die Sprache, was zumindest ihren harten Kern angeht, stehengeblieben zu sein. Eine Weiterentwicklung des Lateinischen seit der Augusteerzeit gibt es eigentlich nur noch im Vokabular: Klar, dass etwa die christliche Religion seit dem zweiten Jahrhundert oder der technische Fortschritt in Mittelalter und Neuzeit neue Wörter (Neologismen) nötig machten . Aber wenn etwa die Christen das griechische baptisma (für „Taufe“) lateinisch eingemeinden oder das lateinische sacramentum, ursprünglich der „Fahneneid“ des Soldaten, religiös umfunktionieren oder wenn neuerdings Pater Eichenseer mit seinen Lateinfreunden in Saarbrücken die clusura tractilis für den „Reißverschluss“ kreiert und sich allenthalben für das Internet interrete durchsetzt, so wird die Sprache damit nicht wesentlich verändert; sie bleibt, in ihrem Kern, die Sprache Ciceros.

Aber schon mit den Gesagten halten Sie den Beweis für meine Hauptthese in Händen: Das Latein, so sagte ich ja, ist darum als so besonders lebenskräftig anzusehen (lingua uiuacissima), weil es sogar seinen eigenen Tod überlebt hat, suae morti superstes. Und damit meine ich eben nicht, worauf man sonst zu Recht immer wieder hinweist, dass Latein präsent ist in den Fremdwörten der heutigen Sprachen, in Computer, Server, Elektronik und Internet, auch nicht dass es fortlebt in seinen Töchtern, den romanischen Sprachen, die etwa vom 6. bis 8. Jahrhundert aus dem sogenannten Vulgärlateinischen, der spätlateinischen Umgangssprache, entstanden sind; ich meine damit, dass das Latein selber, das gute, klassische Latein trotz seinem frühzeitigen Tod in lebendigstem Gebrauch geblieben ist, ja dass es sich erst eigentlich nach seinem Tode zu der führenden, lange Zeit unersetzlichen Weltsprache entwickelt hat, die es zumindest bis ins 18. Jahrhundert geblieben ist. Latein war ja nicht nur die Sprache von Theologie und Kirche, nicht nur die Sprache des Rechts (obwohl dort immer seine eigentlichste Domäne gelegen hat), es war die gemeinsame Sprache sämtlicher Wissenschaften, etwa der Physik wie der Philosophie, der Botanik wie der Geschichte und Philologie; ja bis etwa 1700 war Latein auch, was heute fast vergessen ist, die führende Sprache der schönen Literatur, der belles lettres: Nur wenn ein Roman vom Französischen oder Deutschen ins Lateinische übersetzt war, konnte er auf internationales Interesse hoffen; blieb er deutsch oder französisch, blieb er eben damit auch provinziell. Der international berühmteste deutsche Dichter noch im 17. Jahrhundert war ein Lateiner: Jacobus Balde, der sprachmächtige Freund von Bayerns größtem Staatsmann, Kurfürst Maximilian I., wie dieser eine europäische Größe. Aber auch nach diesen größten Zeiten ist Latein, wie man weiß, noch längst nicht völlig gestorben. Noch das zwanzigste Jahrhundert hat bedeutende lateinische Dichter hervorgebracht; sogar auf dem Musiktheater haben nicht nur die mittellateinischen „Carmina Burana“ des humanistischen Bayern Carl Orff triumphiert, sonder auch ein modernes, originallateinisches Werk wie Strawinskis „Oedipus Rex“. Im Internet tummeln sich die internationalen lateinischen Chatclubs (greges Latine loquentium). Und wer erst die große lateinische Ansprache liest, mit der Benedikt XVI. unlängst seine Kardinäle zum Amtsantritt überrascht hat, wird sich um das Weiterleben des Lateins sogar im Vatikan vorläufig keine Sorgen machen. Satis dixi de lingua Latina uiuacissima.

Ich komme, dies war ja mein zweiter Punkt, zur Schönheit des Lateinischen (lingua pulcherrima et uenustissima). Haben Sie keine Angst, dass ich Ihnen jetzt Cicero oder Vergil vortrage und nach jedem Satz oder Vers O! und A! rufe: Tityre, tu patulae recubans sub tegmine fagi ... ("Welche Sprache könnte Verse solcher Süßigkeit hervorbringen!") siluestrem resonare doces Amaryllida siluas ("Das gibt's nur einmal, das gibt's nur auf Latein.") Selbstverständlich lässt sich auch die überragende Schönheit des Lateinischen streng wissenschaftlich und exakt nachweisen. Sie ergibt sich nämlich bereits zwingend aus dem bisher Festgestellten. Woran ist denn seinerzeit das Lateinische gestorben? Ja doch nicht daran, dass, wie bei irgendeiner Indianer- oder Eskimosprache, die native speakers ausgestorben wären oder sich entschlossen hätten, eine andere Sprache zu gebrauchen; vielmehr zeigt schon das bloße Todesdatum des Lateinischen, dass es an nichts anderem als an seiner eigenen Schönheit gestorben sein kann. Nachdem nämlich diejenigen literarischen Werke entstanden waren, die von den Römern selbst als klassisch empfunden wurden (und noch heute dafür gelten) - ich meine natürlich die schon erwähnten Kunstwerke vor allem von Cicero und Vergil (zu denen an zweiter Stelle dann Terenz, Sallust, Horaz und Ovid treten) -, zu eben diesem Zeitpunkt beginnt das Lateinische als Bildungs- und Schriftsprache zu erstarren. Warum? Ich weiß nur eine einzige Antwort auf diese meines Wissens nie klar gestellte Frage: Weil das Erlebnis dieser klassischen Kunstwerke so stark und überwältigend war, dass der sprachsensible und kunstsinnige Römer instinktiv eine Weiterentwicklung seiner, durch die Klassiker gewissermaßen geheiligten, Sprache nicht mehr zulassen wollte. Nach Ciceros Philippiken und Vergils Aeneis war es, als ob der Weltgeist dem Genius der Latinitas zuriefe: "Latein, bleib stehen! consiste, Latinitas! Du kannst nicht mehr schöner werden. Du darfst dich nicht mehr ändern." Und so gilt von der lateinischen Sprache, in bestimmter Weise, was Aristoteles von der Tragödie bei Sophokles gesagt hat, dass sie "zu ihrer eigenen Natur gekommen" war.

 
Freilich, so sicher mir scheint, dass Latein auf diese Weise gestorben ist - ein Sterben in Schönheit und an Schönheit -, so wenig fühle ich mich in der Lage, das Wesen dieser Schönheit, die in Cicero und Vergil offenbar am deutlichsten wurde, wissenschaftlich zu bestimmen; und im Rahmen meiner heutigen Lobrede kann ich nur ganz bescheidene Andeutungen machen. Die Römer selbst, sonst wahrlich ohne Selbstzweifel, waren gerade im Lob ihrer Sprache eher zurückhaltend, ja sprachen wohl gar, allerdings nur im Verhältnis zum Griechischen, von einer gewissen Armut (patrii sermonis egestas), mangelnder Anmut (uenus), Feinheit (subtilitas), Lieblichkeit (iucunditas). Wir empfinden das in der Neuzeit meist anders: Der Italiener Petrarca, der zur neuzeitlichen Lateinbegeisterung mehr beigetragen hat als sonst einer, ließ sich schon als Knabe verzaubern von der lateinischen dulcedo et sonoritas uerborum („Süßigkeit und Wohllaut der Wörter“); und für uns Sprecher eines konsonantenharten Deutschen scheint Latein eine ideale Mitte zu halten zwischen der schieren Vokalseligkeit des Italienischen und der Herbheit unserer eigenen Lautung (wobei Latein freilich dem Italienischen nähersteht). Was die Römer an ihrer Sprache vor allem rühmen, mit Stolz gerade im Hinblick aufs Griechische, ist Kraft und Mächtigkeit, pondus und potentia. Diese spüren wir ausgedrückt ebenso im altcatonischen Rem tene, uerba sequentur wie im neuzeitlichen Roma locuta, causa finita. Das eine, worin sich (wie in diesen Beispielen) die lateinische Kraft zeigt, ist die Knappheit, breuitas, die mit ihrem Verzicht auf das sprachliche Rankenwerk von Artikeln, Pronomina und allerlei Hilfsverben die Sprache prädestiniert für Sinn- und Kraftsprüche wie Sapere aude (was nach Kant heißt: "Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen"), für Monumentalinschriften, Kurzepigramme und vor allem auch Drohungen: Vae uictis! Oder (in der Aposiopese noch schrecklicher): Quos ego! Fast jedes Jahr erscheint ein neues Buch, in dem lateinische Sinn- und Kraftsprüche gebündelt und erläutert werden, unter Titeln wie Nota bene, Urbanum et humanum, Veni vidi vici. Ich zitiere aus einem neuen, sehr bekannten Roman des Holländers Cees Nooteboom: "Nie wird es wieder eine Sprache wie Latein geben, nie mehr werden Präzision und Schönheit und Ausdruck eine solche Einheit bilden. Unsere Sprachen haben allesamt zu viele Wörter, man sehe sich nur die zweisprachigen Ausgaben an, links die wenigen, gemessenen Worte, die gemeißelten Zeilen, rechts die volle Seite, der Verkehrsstau, das Wortgedränge, das unübersichtliche Gebrabbel."


Diese breuitas ist aber, wie angedeutet, nur die eine Eigenschaft, in der sich die Kraft des Lateins darstellt. (Verabsolutiert man sie, kommt man zu einem so einseitigen Urteil, wie dem Heinrich Heines, der sagte, die Sprache der Römer sei "eine Kommandosprache für Feldherrn, eine Dekretalsprache für Administratoren, eine Justizsprache für Wucherer, eine Lapidarsprache für das steinharte Römervolk".) Die andere Wurzel, aus der das Lateinische seine Kraft zieht, ist nämlich das Gegenteil der breuitas, die in der Sprache ebenso angelegte copia, die Wortfülle, ja Abundanz. Sie zeigt sich schon in den ältesten lateinischen Wortdoppelungen, wie sanus ac saluus, laetus libensque, do dico dedico, meist wie hier mit Alliteration (die etwa im Griechischen gar keine Rolle spielt), aber auch ohne diese: sciens uolensque, quaeso precorque, fundi terrae agrique. Vor allem die urtümlich religiöse Sprache ist voll von diesen Pleonasmen, die dem Gedanken ebenso viel an Nachdruck zufügen, wie sie ihm an Bestimmtheit und Eindeutigkeit nehmen. Der unbestrittene Meister dieser copia, Ausdrucksfülle, ist dann natürlich Cicero, den Caesar geradezu als den princeps copiae et inuentor bezeichnet hat. Man muss nur etwa an den berühmten Eingang der ersten Catilinarie denken (Quousque tandem abutere ...), wo in drei Sätzen, mit wachsendem Pathos, dreimal daselbe gesagt wird (ohne dass auch nur ein einziges Wort wiederholt würde) - ein Beispiel, das nebenbei auch zeigt, dass diese copia nicht der Freude am Wort bzw. der Redseligkeit entstammen muss, sondern dass sie einer (bei Cicero zumindest gespielten) seelischen Erregtheit entspringen kann.

Eine dritte und letzte Wurzel der spezifischen Schönheit des Lateinischen, die in der Kraft besteht, ist schließlich die architektonische Spannkraft der Konstruktion. Sie zeigt sich sowohl in der üblichen Endstellung des Verbs (das ganz zum Schluss erst den eigentlichen Aufschluss gibt), als auch in der vor allem von Cicero entwickelten hypotaktischen Satzperiode, besonders in ihrer steigenden Gestalt, wo dem Hauptsatz Nebensätze verschiedenen Grades vorgeschaltet werden, daneben aber auch in der Figur des Hyperbaton, der "Sperrung" des Adjektivs bzw. Attributs von seinem Substantiv: Peliaco quondam prognatae uertice pinus - a b A B. Auch hier entsteht Spannung durch eine Verzögerung der wichtigsten Information; das Griechische kennt dergleichen kaum, es ist hier unangestrengter, lässiger. Man erklärt diese Dinge, besonders die untergeordnete Satzperiode, gerne mit einer Neigung der Römer zur militärischen Subordination, zu klaren Befehls- und Abhängigkeitsverhältnissen; aber die richtigere Erklärung steht wohl bei Horaz, der es als Prinzip einer schönen dichterischen Disposition bezeichnet, wenn der Dichter "immer nur jeweils das sagt, was jeweils schon gesagt werden muss, das meiste aber aufschiebt und für den Moment auslässt", ... ut iam nunc dicat iam nunc debentia dici, / pleraque differat et praesens in tempus omittat. Es ist vielleicht bezeichnend, dass der einzige antike Dichter, der ein Drama geschrieben hat, das fast ganz auf der stofflichen Spannung beruht (wie ein Kriminalroman vom Typ des Whodunit) gerade ein Römer war: Terenz mit seiner Hecyra, einem Meisterwerk, das unseren Bühnen leider unbekannt geblieben ist. Wer darum eine ciceronische Satzperiode in der Weise übersetzt, dass er von dem in Endstellung befindlichen Prädikat (beziehungsweise Verbum) ausgehend, sich das Ganze, von links nach rechts, von rechts nach links, herauf, herab und quer und krumm zusammenkonstruiert - dieser vermeintliche Musterschüler des formalbildenden Lateins versündigt sich an Cicero und dem Genius der eigentlichen Latinitas ebenso sehr, wie ein Leser von Agatha Christie, wenn er zuerst im Schlusskapitel nach der Person des Mörders sucht. Armes Latein!

 
Nirgendwo hat der Rückgang des Lateinschreibens, Lateinsprechens und vor allem Lateinhörens in den letzten zweihundert Jahren (mit ihrer einseitigen Vorherrschaft der formalen Bildung) so fatale Folgen gehabt wie in der zunehmenden Empfindungslosigkeit für die Schönheit des Lateinischen. Während die Werke der älteren Humanisten von Petrarca bis ins 18. Jahrhundert voll sind von Ausdrücken der Bewunderung für die Herrlichkeit der Sprache, so dass man gar glaubte, es gäbe überhaupt keine größere menschliche Leistung als die äußerste Vervollkommnung im lateinischen Ausdruck, finden wir heute selbst bei den engagiertesten Didaktikern und Apologeten des Lateinunterrichts kaum mehr ein Wörtchen über diese Schönheit der Sprache, die sie letztlich doch ihren Tod hat überleben lassen. Und der Lateinunterricht wird dann am Ende wie ein Musikunterricht, bei dem man nicht mehr das richtige Singen und Hören, sondern nur noch das stumme Notenlesen lernt. Arme Musik! Misera musica! Armes Latein!

Ich bin damit längst zu meinem dritten Punkt gekommen, der utilitas, Nützlichkeit, des Lateinischen. Zu ihm will ich mich besonders kurz fassen, und das meiste einfach weglassen. Ich weiß, dass Latein das Erlernen der romanischen Sprachen und des Englischen erleichtert; ich weiß, dass es die Fremdwortbeherrschung steigert, wenn man erkennt, dass der Mikroprozessor z. T. von procedere und der Computer von computare kommt - aber von all diesem herrlichen Nutzen schweige ich ebenso wie von der mittlerweile genugsam geschmähten formalen Bildung, durch die man es ja doch immerhin lernt (was in der Tat nicht unnütz ist), ein konsekutives Verhältnis von einem finalen zu unterscheiden, wodurch klar wird, dass sich katholische Ehepaare seit je der körperlichen Liebe befleißigten,  u m  Nachkommen zu erzeugen (ut liberos gignerent – unter Beachtung der consecutio temporum), wogegen dies bei Protestanten und Ungläubigen vielfach als bloße Folge, mit „so dass“, hingenommen wurde (ita ut liberos genuerint, mit absoluter Tempusgebung) – an welcher Stelle ich mir die Bemerkung nicht versagen kann, dass die alten Römer hier schon gut wie römisch katholisch waren, indem sie für den Geschlechtsverkehr unter Vermählten den schönen Euphemismus liberis operam dare („sich um Kinder bemühen“) gebrauchten ... Auch diese Vorzüge des Lateinischen sind so bekannt und evident, dass man nicht mehr viel dazu sagen muss: Ein jüngst in der „Zeit“ erschienener Artikel hat beleuchtet, in welchen Nöten z. Zt. die norddeutschen Universitätsgermanisten sind, weil inzwischen den meisten ihrer Studenten die Grammatik- und Denkschulung durch das Lateinische fehlt (Pisa lässt grüßen). Und natürlich schreibe ich es auch gerne dem Latein auf Rechnung, dass vor ein, zwei Jahren bei Günter Jauch, dem überzeugten Humanisten, ein als großer Lateiner bekannter Historiker der erste Millionär geworden ist. Wer kann da noch zweifeln! Vielleicht verdankt auch unser Ministerpräsident seine Fähigkeit, auch aus Niederlagen immer wieder gestählt hervorzugehen, der Tatsache, dass er in seiner Klosterschule nicht nur die Durchhaltetugenden von Cäsars Soldaten in Gallien gelernt hat, sondern auch selber um eben des Lateins willen eine Klasse repetieren durfte: festina lente („Eile mit Weile“), das Lieblingswort von Kaiser Augustus.

Der wahrste Nutzen des Lateinischen aber und wohl auch der geheime Grund, warum immer wieder, zum Glück ja nicht nur in Bayern, Latein gelernt wird, liegt, meine ich, nicht in dieser Denkschulung, die uns etwa auch im Zeitalter der industriellen und jetzt digitalen Revolution dazu befähigt, effizienter unsere Brathendl zu verpacken und diverse Software zu programmieren und um deretwillen, wie man mit Freuden hört, gerade auch Vertreter der Wirtschaft des öfteren nach dem Lateiner mit seinen beliebten Sekundärtugenden, Sorgfalt, Sitzfleisch und so weiter, verlangen - den wahrsten Nutzen des Lateinischen hat Ovid genannt, als er in Bezug auf seine Dichtung im Exil feststellte: ... magis utile nil est / artibus his, quae nil utilitatis habent („Nichts ist nützlicher als diese Künste, die keinen Nutzen haben...“). Wenn wir heute Latein treiben, ohne es in der Regel zur internationalen Kommunikation zu verwenden, sind wir um so mehr auf die schiere Schönheit des Lateinischen verwiesen, eine Schönheit, die ihren Nutzen vor allem auch in sich selber hat. In einer Welt, in der mit dem sogenannten Nützlichkeitsstreben, unter dem größtenteils nur das Geld- und Gewinnstreben zu verstehen ist, die schiere Hässlichkeit überall ihre unbestrittenen Triumphe feiert, in einer solchen Welt von Hässlichkeit und Nützlichkeit kann nichts wichtiger und in Wahrheit nützlicher sein, als in uns die Kräfte des Schönheitsstrebens zu stärken. Die Römer können uns, was manchen überraschen mag, gerade hier ein Vorbild sein: Sie haben ja nicht nur ein Weltreich erobert, sie haben auch die schönsten Platzanlagen und proportioniertesten Villen geschaffen; sie haben sich das unpraktischste und zugleich ästhetisch schönste Kleidungsstück der Welt, die Toga, zum Nationalgewand gemacht; sie haben schließlich auch, wie Cicero in seinem 'Orator', der Bibel römischer Ästhetik, bezeugt, wohlklingende Satzklauseln beklatscht und sogar im Theater bei einem Versehen in der Aussprache der Silbenquantität gepfiffen. Cicero selber, der große, bisweilen überragende Politiker, hat es sich in der erregten Zeit vor Cäsars Ermordung nicht nehmen lassen, eben im 'Orator' die Gesetze des römischen Prosarhythmus zu erforschen - in einer Gründlichkeit, wie es vor ihm kein anderer, übrigens auch kein Grieche, versucht hat. Es gibt kein Latein, es darf kein Latein geben, ohne dass wir uns von dieser Freude an Rhythmus und Sprachschönheit anstecken lassen. Und den Bildungspolitikern, die heute den Wert der Schul- und Universitätsbildung ausschließlich, ich sage: ausschließlich, danach bemessen, was sie zur Steigerung von technisch nutzbarem Wissen und damit zur Konkurrenzfähigkeit Deutschlands auf dem Weltmarkt leistet, "um", wie man gerne sagt, "im Zeitalter der Globalisierung nicht abgehängt zu werden" (d.h., um unsererseits andere Nationen wirtschaftlich abzuhängen), diesen Politikern müssen wir entgegenhalten, nicht nur, meine ich, dass gerade das Latein, wie der schon zitierte Fachdidaktiker Weeber formuliert, "Schlüsselqualifikationen für künftige Führungskräfte in Wirtschaft, Technik und Wissenschaft liefert", sondern - wenn schon nicht, dass man nicht Gott und dem Mammon dienen soll (was ja sowieso niemand tut, alle dienen nur dem Mammon) - dann doch wenigstens, dass der Mensch nicht nur animal oeconomicum ist, sondern z. B. bis zu einem Drittel seines Lebens mit Freizeit als animal otiosum verbringt, so dass sein Leben um so befriedigender sein wird, je mehr er die Freuden des Geistes und der Schönheit kennt. Denn so gewiss Geld nicht glücklich macht, so gewiss machen Geist und Schönheit glücklich. Aber offenbar sind wir halt, nach Meinung dieser Bildungsexperten, wie schon Bismarck wusste, "nicht auf der Welt, um glücklich zu sein, sondern unsere Pflicht zu tun", d. h. heute: mit aller Anstrengung das Wirtschaftswachstum zu fördern (dies wagen ja mittlerweile nicht einmal mehr die deutschen Grünen zu bestreiten, zumal seit ihr einst abgespeckter Chef wieder mollig geworden ist und seine Gegnerin Merkel mit einem Soufflé vergleicht, in das der Souverän demnächst hineinpieksen werde, ein Symbol künftigen Negativwachstums).


Ein allerletztes zur utilitas des Lateinischen. Wir fordern mit Recht die Kenntnis moderner Fremdsprachen, besonders des Englischen, um uns über die Grenzen unseres Landes hinaus übernational verständigen zu können. Denken wir doch auch daran, dass Latein dasselbe in Bezug auf die Grenzen der Zeit leistet: Eben weil es tot und damit zeitlos ist, können wir mit den Lateinern aller Zeiten mühelos kommunizieren: Das Latein etwa Melanchthons zur Zeit der Reformation ist ja seinem Wesen nach kein anderes als das von Alcuin im Jahrhundert Karls des Großen, von Augustin in der Spätantike oder von Benedikt XVI.. Käme Cicero heute in unser Colloquium Latinum an der Universität München (seit fast 25 Jahren jeden Montag von 14 bis 15 Uhr), würde er zwar wohl über manche der dort gemachten Äußerungen den Kopf schütteln, er hätte aber keine eigentlichen Verständigungsprobleme; käme dagegen unser eigener Landsmann, der Römerfeind und Deutschlandretter Hermann der Cherusker, dann könnten wir uns ihm nicht mitteilen: So weit hat sich das Deutsche seit seinen Tagen fortentwickelt (wir haben ja schon Schwierigkeiten mit Walther von der Vogelweide, mit Luther, ja bisweilen mit Gryphius).
Darum ist die Beschäftigung mit Latein, vor allem das Lateinschreiben, auch im Hinblick auf unsere eigene Zukunft wichtig. Der Tag wird unweigerlich kommen, wo selbst die Werke von Goethe und Schiller so museal sein werden, wie heute in diversen Sprachen Edda, Beowulf und Nibelungenlied (es sei denn, ein Genius der Germanitas lässt bald auch das herrliche Deutsch einfrieren, wozu aber im Augenblick wohl kein Anlass ist). Lateinischen Werken kann dies nicht geschehen. Als Jan Novák, der große Lateinkomponist und Lateindichter, mit dem ich die letzten beiden Jahre seines Lebens noch befreundet sein durfte, einmal gefragt wurde, warum er als Musiker sich immer mit dem toten Latein befasse, gab er zur Antwort: o bone, nil est. hoc fit tantum immortalitatis causa („Mein Guter, nichts Besonderes: Das mache ich nur um der Unsterblichkeit willen“). Auch darum ist es ein Jammer, dass Englisch heute als internationale Wissenschaftssprache an die Stelle des Lateinischen nachgerückt ist: die sterbliche Sprache an die Stelle der unsterblichen (im übrigen, bei aller Liebe zu Shakespeare und Jane Austen, ohne Verdienst und Würdigkeit).


So besteht m. E. auch eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass der wohl fanatischste Lateinenthusiast seines Jahrhunderts, der Jesuit Melchior Inchofer, wenigstens zum Teil Recht hatte, als er 1634 die Vermutung wagte, dass sogar Jesus sich mitunter des herrlichen Lateins bedient habe und dass jedenfalls die Seligen im Himmel nur noch Latein reden würden (beatos in coelo Latine locuturos). Das erste ist zwar so gut wie sicher falsch: Jesus muss mit dem Hauptmann von Kapernaum oder mit Pontius Pilatus in der damaligen Allerweltssprache Griechisch gesprochen haben; die zweite Ansicht aber scheint doch zu erwägen. Jedenfalls fällt auf, dass der liebe Gott selbst, nach der Geschichte der Heiligen Schrift und den Vätern zu urteilen, zuerst Hebräisch, dann Griechisch, dann Latein gelernt hat, um, wie es scheint, bei dieser Sprache endlich stehen zu bleiben. Eine schönere, meinte er wohl, werde es nicht mehr geben. Außerdem dürfte es auch schwerfallen, sich im himmlischen Jerusalem auf irgend eine andere Sprache zu einigen; überall wären ja sonst die native speakers ihren Mitbrüdern überlegen: im Englisch die Oxforder, im Französisch die Pariser, im heiligen Hebräisch die heutigen Kinder Israel ... Nur Latein scheint hier eine gerechte und wahrhaft demokratische Lösung zu bieten: Latein können wir alle nicht.