Carl Orff und die Antike
»ER WAR DA VÖLLIG BRUTAL«
Jörg Handstein im Gespräch mit Wilfried Stroh, „Valahfridus“,
Professor
für Klassische Philologie in München
Herr Prof. Stroh, die lateinische Sprache befindet sich leit langem
auf
dem Rückzug, scheint aber gerade heute wieder aufzuleben:
Neuerdings
gibt es sogar lateinische Chat-Rooms. Warum lassen sich immer noch
Menschen
von dieser oft totgesagten Sprache faszinieren?
Genau das ist das Unerklärliche, was ich den Zauber des
Lateinischen
nenne: dass man es nicht totkriegen kann. Die ganze Bewegung des
„lebendigen
Lateins“ begann, als die Sprache gegen Ende des 19. Jahrhunderts auch
an
der Universität als internationales Kommunikationsmittel
endgültig
ausstarb. Zum Beispiel gründete – noch vor dem Papst – der heute
als
Vorkämpfer der Schwulen-Bewegung berühmte Jurist Karl
Heinrich
Ulrichs die erste europäische Lateinzeitschrift. Das hat sich dann
ausgebreitet.
Man erinnert sich daran, wie wunderbar es war, als, fast zwei
Jahrausende
lang, diese gemeinsame Sprache da war.
Neben Ihrer Tätigkeit an der Universität engagieren Sie
sich
auch ziemlich unakademisch für das gesprochene und gesungene
Latein,
etwa kürzlich mit Auftritten als Faun. Was bewegt Sie dazu?
Ich möchte damit für das Fach Latein werben und zugleich eine
Reform
des gymnasialen Lateinunterrichts anregen. Wir haben zur Zeit
jedenfalls
in Bayern so viel Lateinschüler wie vielleicht noch nie, doch es
ist
schade, wenn diese Schüler vielfach nur rein zerebral gefordert
werden:
Sie werden zum analytischen Denken angeleitet, können Sätze
konstruieren,
haben aber kein instinktmäßiges Gefühl für die
Sprache,
sind nicht in ihr zu Hause. Ich meine, ja ich weiß aus eigener
Unterrichtspraxis,
dass man Latein wie jede andere Fremdsprache lernen soll, das
heißt
vor allem auch durch Hören und Sprechen. Nach der offiziellen
Didaktik
muss es als „tote“ Sprache anders gelehrt werden, aber das führt
leicht
dazu, dass die Leute keine Freude daran haben.
Wenn ich jetzt theoretisch das Lateinsprechen im Unterricht fordere,
dann
bricht vielfach das Entsetzen aus: „Das geht doch nicht, das ist
Unsinn,
der verrückte Stroh, usw.“ (lacht). Wenn ich es aber praktisch
vorführe,
im akademischen Unterricht und vor allem auch, sozusagen unter
Lebenseinsatz,
auf der öffentlichen Bühne, dann kann ich unmittelbar ein
Beispiel
geben, was geht und wie es geht. Im übrigen meine ich auch, dass
Latein
eine der schönsten Sprachen überhaupt ist – regina linguarum!
-,
und dass es ein Genuss ist, lateinisch zu formulieren.
Damit wären wir auch schon bei Carl Orff, ...
...dessen Lieblingsfach in der Schule ja Latein war: das einzige Fach,
das
er überhaupt mochte!
Wie schätzen Sie Orffs Beitrag zur "Latinitas viva" ein?
Davon kann man nur in größten Superlativen sprechen. Mit den
Carmina
Burana, die auf bis dahin der Öffentlichkeit fast unbekannten
lateinischen
Texten beruhten, hat er das erfolgreichste Musiktheater des 20.
Jahrhunderts
geschaffen. Den Beitrag, den er da für den Humanismus geleistet
hat,
kann man gar nicht hoch genug einschätzen.
Dann die Catulli Carmina: Sie sind die mit Abstand erfolgreichste
Vertonung
eines antiken Textes, die es überhaupt je gegeben hat (seit die
antike
Musik verloren gegangen ist). Und welcher Musiker hatte den Mut, selber
lateinisch
zu schreiben? Mit der „Praelusio“ zu seinem Catull ist Orff eine
eigenständige
lateinische Bühnenszene gelungen. Das ist doch alles
großartig!
Wesentlich für Orffs Musiksprache sind u. a. seine
charakteristischen
Rhythmen, die er auch bei Catulls metrisch sehr kunstvollen Versen
verwendet.
Wie empfinden Sie als Spezialist für lateinische Metrik diese Art
der
Vertonung?
Jetzt werden mir alle Orff-Freunde den Kopf abreißen: Ich finde
es
natürlich genial und hinreißend, wie Orff das vertont hat –
aber
mit der antiken Metrik hat es nichts zu tun. Er hat den Texten einen
Rhythmus
übergestülpt, der Catull ganz fremd ist. Orff sagte, das
berühmte
Epigramm „Odi et amo“ habe ihn angesprungen wie „vorgeformte Musik“.
Aber
das war seine Musik, nicht die von Catull! (deklamiert staccato) Qua-re
id
fa-ci-am, da da da – das Mechanische, Pulsierende, Rücksichtslose
in
diesen Triolen hat keine Entsprechung in Catulls wiegendem Pentameter.
Orffs Musik ist großartig, aber leider hat er nie versucht, die
eigentliche
Schönheit der Catullischen Verse nachzuempfinden: (rezitiert) „et
quōd
vidēs perīsse, pērditūm dūcas.“ Dieser wunderbare Umbruch, dieses
Hinken
im letzten Versfuß (ducas), in dem der ganze widerborstige Reiz
des
Metrums liegt – darauf hörte er nicht! Später beim
„Prometheus“
hat er ja dann Spezialisten, wie meinen eigenen Lehrer Wolfgang
Schadewaldt,
um Rat gefragt. Aber auch das hat keinerlei Einfluss auf ihn gehabt. Er
hat
der Musik der Verse immer die Musik seiner Seele, seinen Rhythmus, sein
Empfinden
aufgepresst. Er war da völlig brutal.
„Nahezu alle Gedichte Catulls sind Spiegelungen eigener Erlebnisse“
meinte
Orff und entsprach damit dem Catull-Verständnis des 19.
Jahrhunderts.
Folgt er hier eher naiv der Tradition?
Im 19. Jahrhundert hat man vor allem versucht, die Gedichte in eine
rekonstruierte
Biographie einzuordnen: „Aha, da hat er gerade Ärger mit Lesbia,
und
da gibt er sich mit dem und dem ab, das muss also in Verona sein usw.“
Man
schob die Gedichte hin und her und versuchte daraus einen „Lebensroman“
zu
konstruieren.
Dass Orff in seinem Verständnis etwas naiver war, als man es heute
sein
möchte, mag schon sein. Aber in der Reihenfolge der Gedichte folgt
er
keineswegs dem Catullroman des 19. Jahrhunderts, was durchaus
nahegelegen
hätt, also: das erste Liebeswerben mit Carmen 51, dann die
Spatzen-Gedichte,
dann das Liebesglück mit „Vivamus“, die Untreue und so weiter. Das
hat
er gerade nicht gemacht. Die Geschichte verläuft mehr in
Schüben:
Jeder Akt führt erneut in die Verzweiflung, die mit „Odi et amo“
aber
auch schon den Beginn beherrscht. Wie ein Emblem für das Ganze
stellt
er dieses im üblichen „Roman“ erst später motivierte Gedicht
an
den Anfang. Das ist schon ein genialischer Wurf und etwas ganz Eigenes.
Wie sieht denn die heutige Forschung Dichtung und Wahrheit Catulls?
Der „Catull-Roman“ ist out, mit Recht. Die Literaturwissenschaft geht
heute
allgemein davon aus, dass in Gedichten der Autor nicht unmittelbar
spricht,
sondern ein „lyrisches Ich“ auftreten lässt, das sich
äußert.
Das bringt nun manche Gelehrte auf die Idee, Catulls Liebesgedichte
hätten
als rein literarisches Spiel überhaupt nichts mit seinem Leben zu
tun
– was ich für abwegig halte. Für die Annahme, Catull
ließe
eine beliebig fiktive Person agieren, über die er sich dann etwa
gemeinsam
mit dem Leser lustig mache, - wie es extreme Deutungen heute behaupten
–
gibt es keinen vernünftigen Grund; und man verschleiert mit
solchen
Annahmen leicht die objektive Tatsache, dass Catull der erste
Römer
ist, der als rückhaltlos Verliebter in eigenem Namen spricht. Und
die
Art, wie er seine eigene Liebe, nicht nur die Lesbialiebe darstellt,
ist
der literarischen Tradition gegenüber höchst originell.
Im übrigen: ob sich das nun jemand ausgedacht hat, der die Liebe
nur
aus der Zeitung kennt, oder ob er es wirklich erlebt hat – für die
Vertonung
ist das im Grunde egal. Die Leidenschaft, die aus Catulls Versen
spricht
und die Orff auf seine Weise wiedergibt, ist davon völlig
unabhängig.
Orff meinte, im Rahmenspiel der „Catulli Carmina“ herrsche ein
„antikes
Lebensgefühl von panischer Direktheit“.
Das ist die Antike, wie man sie seit der Renaissance und besonders dem
18.
Jahrhundert gerne sieht: ein Sinnenparadies, wo alles erlaubt war. Man
sah
dort, wie etwa Goethe, die Möglichkeit, sich von den Hemmungen der
eigenen
prüden Welt zu befreien. In Wirklichkeit stand das römische
Sexualleben
unter sehr strengen Regeln. Dass junge Mädchen, die zur
anständigen
Gesellschaft gehörten, den Burschen solche Sachen zugesungen
hätten,
wie sie bei Orff hier vorkommen: undenkbar!
Die „panische Direktheit“ passt aber ganz gut: Pan ist der geile
griechische
Bocksgott, und von dessen unmittelbar naiver Lüsternheit
drückt
sich in dieser „Praelusio“ schon wirklich etwas aus.
Orff vermeidet den üblichen Gegensatz von sinnlicher und
geistiger
bzw. göttlicher Liebe. Vielmehr führt bei ihm die
körperliche
Liebe oft geradewegs in eine sakrale Dimension. Inwieweit entspricht
das
antikem Denken?
Bei uns in der jüdischen Tradition steht das Sexuelle, auch wenn
es
nicht abgelehnt wird, sozusagen außerhalb des religiösen
Bereichs.
Die monotheistische Religion musste sich ja ständig gegen die
alten
Fruchtbarkeitskulte absetzen; und dort war nun einmal die
religiöse
Verherrlichung des Sexualität das Dominierende. Im Christentum
wirkt
diese Abgrenzung noch nach. Orff erfasst hier etwas ganz Richtiges. Ein
wesentlicher
Unterschied der heidnischen zur christlichen Kultur ist diese
religiöse
Bedeutung der Sexualität, die in der Antike unter göttlichem
Schutz
steht: Venus bzw. Aphrodite hat einen Anspruch auf den Menschen und
stiftet
mit die Ehe.
Der "Trionfo di Afrodite" schildert eine Hochzeitsfeier, die
ziemlich
stringent auf die physische Vereinigung des Paares zuläuft. Darf
man
sich eine antike Hochzeit tatsächlich so vorstellen?
Das Hauptstück des „Trionfo“ ist die von Catull offenbar für
einen
Freund geschriebene Hochzeitskantate Carmen 61. Die Forschung hat
nachgewiesen,
dass das hier beschriebene Geschehen im wesentlichen authentisch ist:
der
Abschluss eines römischen Hochzeitsrituals. In dieser sogenannten
„deductio“
wird die Braut herausgerufen, mit Fackeln und Späßen ins
neue
Haus geleitet, wo der „lectus genialis“, das Hochzeitsbett, wartet.
Das ist natürlich nicht die ganze Hochzeit mit ihren vor allem
auch
religiösen Zerimonien, aber die Kantate wurde möglicherweise
während
des betreffenden Teils der Feier tatsächlich aufgeführt.
Catull
kannte und verwertete ja die berühmten Epithalamien, also
Hochzeitslieder
von Sappho; und vielleicht sollte es eine römische Hochzeit
sozusagen
nach sapphischer Art werden, mit Musik und allem drum und dran, wie es
sonst
in Griechenland üblich war. Und das endet dann natürlich,
hier
wie dort, schwungvoll im Bett.
Da fügen sich ja die Fragmente Sapphos, die Orff den
Brautleuten
in den Mund legt, ganz gut ein.
Weil’s nichts anderes gab! Orff meinte selber, Catull habe ihm
„wiederum
den Weg zu Sappho“ gewiesen. Sicherlich hätte er am liebsten ein
gesamtes
Sappho-Hochzeitslied komponiert, aber das war nicht da. So hat er sich
das
Passende selbst aus den Fragmenten zusammengesucht, wobei er freilich
das
meiste umdeuten musste. Aber wie! Ingeniös!
Die „Carmina Burana“ sind für den Durchschnittslateiner noch
relativ
leicht nachzuvollziehen. Bei Catull wird's schon schwieriger und jetzt
fordert
Orff auch noch Kenntnisse in Altgriechisch. Muss der Hörer da
mithalten
können?
Überhaupt nicht. Die Melodie der griechischen Sprache
erschließt
sich von selbst, zumal bei Lyrik. Ich kann mich noch an eine Lesung
russischer
Lyrik erinnern, die ich als 20-jähriger erlebte: Wir saßen
da
und lauschten völlig verzückt. Also: Eine schöne Sprache
ist
an sich etwas Berauschendes. Der Orff hätte es auf Anhieb auch
nicht
verstanden, was er da komponiert hat. (lacht)