Radiobeitrag von Wolfgang Seibel, ORF (mit Interview) zu:

Latein ist tot, es lebe Latein! Kleine Geschichte einer großen Sprache. List Verlag


„De lingua Latina colenda et civitate Latina fundanda“, „Über die Pflege der lateinischen Sprache und die Gründung eines lateinischen Staates“ - so hieß eine Schrift, die 1817, zwei Jahre nach dem Wiener Kongreß, Miguel Maria Olmo veröffentlichte. Darin ging es um die Idee, im Herzen Europas einen Staat zu gründen, in dem nur Lateinisch gesprochen wird. Die Bevölkerung sollte international sein, mit mindestens zehn Bürgern aus jedem Land. Die Philologen fanden wenig Gefallen an an diesem Vorschlag und mokierten sich über Olmo, den spanischen Priester und Hobbylateiner: Latein, so ihr Einwand, habe allein der Gelehrsamkeit zu dienen. Andere faszinierte die Idee, darunter gekrönte Häupter wie Frankreichs Ludwig XVIII. Unternommen aber wurde dann doch nichts.
Das Beispiel zeigt: Immer dann, wenn Latein ganz aus der Mode gekommen zu sein schien, wie Anfang des 19. Jahrhunderts, als es als Sprache der Wissenschaft ausgedient hatte, traten rührige Erneuerer mit ihren Wiederbelebungsversuchen auf den Plan. Es zeigt aber auch: Die Gralshüter des Lateinischen, die Buchgelehrten der Alma Mater, waren nicht immer seine fruchtbarsten Bewahrer.
Doch warum überhaupt Latein - heute im 21. Jahrhundert? Wem nützt es - und was leistet es? „Latein ist seit zweitausend Jahren ‚tot‘ und wurde dennoch zu allen Zeiten wie eine lebendige Sprache gepflegt“, schreibt ein Münchner Altphilologe in seinem neuen Buch, das nichts Geringeres versucht als die „einzigartige Erfolgskarriere der lateinischen Sprache“ nachzuzeichnen, die - Zitat - „Schicksale dieser von mir heiß geliebten Sprache, die man auch die Königin der Sprachen nennt, darzustellen, und zwar von den ersten Ursprüngen bis zu unserer heutigen Gegenwart“.

Die Idee meines Buches ist, für das Lateinische nicht in der Weise zu werben, wie das sonst immer geschieht - indem man all die Dinge aufzählt, die das Lateinische ohne Zweifel einem bringt. Darauf kam es nicht so sehr an. Wenn man sich die Frage vorlegt, soll ich eine Sprache lernen oder nicht, dann ist es günstig, man weiß etwas darüber. Da mache ich im normalen Gespräch die Erfahrung, daß selbst Schüler, die Latein lernen, sehr wenig davon wissen, was Latein ist und was es war. Dem wollte ich etwas nachhelfen ...

Nachhilfeunterricht in Geschichte und Literatur des Lateinischen, das ist das Ziel von Wilfried Stroh, und was der emeritierte Lateinprofessor auf den gut vierhundert Seiten seines Buches mit dem Titel „Latein ist tot, es lebe Latein! Kleine Geschichte einer großen Sprache“ leistet, ist Nachhilfeunterricht von seiner besten Art: abwechslungsreich, eloquent und nie akademisch-gespreizt, mit sehr persönlichen Einschätzungen und ironischen Untertönen. Auch wenn ihm nicht sein Hauptaugenmerk gilt, den profanen Nutzen des Lateinischen will auch Stroh nicht gänzlich unerwähnt lassen.

Also daß man sich in der modernen Wissenschafts- und Technik-Terminologie bequem zurecht findet. Daß man die romanischen Sprachen inklusive des Halbromanischen Englisch leichter lernt. Daß man ein grammatisches Gerüst bekommt, das einem mit jeder Beschäftigung mit Sprache hilft. Daß das Lateinische eine gewisse Denkschulung mit sich bringt, nicht dadurch, daß es besonders logisch wäre, sondern dadurch, daß es so unpräzise ist, daß es einen viel stärker zum Aufmerken, zum Nachdenken nötigt. Diese Dinge sind natürlich vorhanden, und das Allerwichtigste ist der Zugang zur großen abendländischen Lateintradition. Tausend Jahre lang, von Karl dem Großen bis ins Zeitalter der Aufklärung, war Latein die Zweitsprache, die jeder Gebildete ausnahmslos zu seiner Muttersprache lernen mußte und in der er sich nicht nur international, sondern über die Zeiten hinweg verständigt hat.

Strohs Buch spannt den Bogen von den angeblich Latein sprechenden Faunen in Latium um 1200 vor Christus bis hin zum ehemaligen Bayerischen Ministerpräsidenten  Strauß, der sich für den größten Lateiner seines Landes hielt, vom älteren Cato und dessen Buch „De agri cultura“, dem ältesten römischen Prosabuch, bis hin zu Carl Orff und dessen Erfolgskomposition „Carmina Burana“. „Vielleicht nie hat sich der Genius einer Sprache so in einem Einzelnen manifestiert“, schreibt er über einen Mann, der als Staatsmann, Anwalt, Redner, Philosoph und Schriftsteller Furore machte: über Cicero. Seine Leistung, seine an Wirkung und Verständlichkeit orientierte Rhetorik, sei entscheidend dafür gewesen, „daß Latein Weltsprache werden konnte“. Doch schon vier Jahrzehnte nach Ciceros Tod, zur Zeit um Christi Geburt, erlebt Latein seinen ersten Exitus - „zugleich mit seiner globalen Expansion“.

Das kommt daher, weil dieser Tod des Lateinischen nicht daher rührt, daß die Lebenskräfte des Lateinischen erschlafft wären, sondern im Gegenteil daher, daß das Lateinische plötzlich und fast unvorhersehbar Kunstwerke hervorgebracht hat, die alles an damaliger internationaler Sprachkunst, und die war v.a. griechisch, in den Schatten gestellt hat. Diese Werke wurden sofort als klassisch, als überzeitlich gültig empfunden. Und so hat man sich instinktiv darauf geeinigt, die Sprache in diesem Zustand zu belassen, damit man diese Werke immer wieder lesen könnte und nachahmen könnte... Eine ganz singuläre Erscheinung. Und damit wird das Lateinische von einer lebendigen zu einer unsterblichen Sprache.

Latein ist mehr als einmal gestorben - und mehr als einmal wiederauferstanden. In den Wirrnissen der Völkerwanderung, als der lateinische Sprachunterricht einschlief und die romanischen Sprachen sich entwickelten, erlebte Latein seinen zweiten Untergang - und wenig später seine zweite Wiederbelebung dank Karl dem Großen, der die Wiedereinführung des Lateinunterrichts verfügte und damit erst die Poesie des lateinischen Mittelalters ermöglichte. Gegen Ende des Mittelalters dann der dritte Tod, Latein verkümmerte zur scholastischen Wissenschaftssprache - und die erneute Wiederauferstehung dank der Humanisten der Renaissance.

Es ist etwas Unwägbares - ich nenne das den Zauber des Lateinischen -, das Menschen immer wieder gefesselt hat. Am Frappantesten ist es im 19. Jahrhundert, wo das Lateinische völlig aus der Mode gekommen war, dadurch daß erst die Dichter und dann alle Wissenschaften zu den Nationalsprachen übergegangen waren im Laufe des 18. Jahrhunderts... Und nun wird im 19. Jahrhundert wieder Latein betrieben mit einer Intensität und Begeisterung, wie das kaum je vorher der Fall war. Es kommen Meister der lateinischen Sprache, und jeder muß lateinische Stilübungen machen... Erst als Ende des 19. Jahrhunderts eine neue, bedenkliche Nationalismuswelle kommt, schon der vorgehende Tod des Lateinischen war ja durch den Nationalismus bedingt, die uns dann in den Ersten Weltkrieg hereinführt, wird das Lateinische nochmal gekillt. Und in der Wiederholungsbewegung von diesem "Kill" stecken wir jetzt gerade mittendrin. Wie das endet, wissen wir natürlich nicht.

Doch nicht nur das Auf und Ab einer Sprache schildert Strohs Buch. Es ist auch und vor allem eine Hommage an die großen Gelehrten und Dichter des Lateinischen: an Catull, Vergil und Ovid, an Dante und Petrarca, an Erasmus, Melanchthon und Luther. Aber auch Karl Marx wird gewürdigt, der über den großen Dichter Lukrez promovierte, oder der protestantische Oberschulkommissar Niethammer, der den Begriff des Humanismus prägte, der schwäbische Verseschmied Josef Eberle oder der tschechische Komponist und Lateiner Jan Novak, beides Protagonisten des 20. Jahrhunderts. Und last not least Strohs persönlicher Favorit: der Jesuitendichter Jacob Balde, Verfasser zehnstündiger Dramen, lyrischer Dichtungen in horazischen Maßen, Preislieder auf die Magerkeit und Satiren gegen den Nikotinmißbrauch - natürlich allesamt in lateinischer Sprache.

Jacobus Balde bekannt zu machen, ist mir wirklich eine Herzensangelegenheit. Das war ein jesuitischer Dichter aus dem 17. Jahrhundert, der ein Werk geschrieben hat, das man an Originalität und Kreativität nur mit dem von Goethe vergleichen darf... Mit Balde beschäftige ich mich schon seit 20 Jahren oder länger und versuche, ihn allmählich wieder ins allgemeine Bewußtsein zurückzubringen: ein Mann, der in seinem Jahrhundert der berühmteste Dichter Deutschlands war.

Wilfried, auch genannt „Valahfridus“, Stroh ist Lateiner mit Leib und Seele. Von ihm, der auch selbst mal eine Seneca-Tragödie inszeniert, der Münchner Stadtführungen in lateinisch gibt, gelegentlich in Toga gewandet auftritt oder Talkshows auf Latein organisiert, Vorsitzender des Vereins „Ludis Latinis“ zur Förderung des lebendigen Gebrauchs der lateinischen Sprache im Sprechen, Schreiben, Singen, Tanzen und Theaterspielen, von ihm darf man eine nüchterne Einschätzung, wozu Latein gut ist und ob es eine Zukunft hat, nicht erwarten. Stroh ist parteiisch. Und das ist gut so. Die Stärke seiner „Kurzen Geschichte einer großen Sprache“ sind Strohs Begeisterungsfähigkeit und Temperament, seine Fähigkeit der farbigen, lebendigen Schilderung. Katzenjammer über ein Nischendasein des Lateinischen wird man bei Stroh nicht finden. Zumal der Philologe von der Renaissance dieser Sprache überzeugt ist - und dafür gute Gründe nennt.

Sich auf Latein auszudrücken, ist ein großes Vergnügen. Jeder, der es kann, genießt es. Und er kann sich natürlich damit international verständigen. Aber es ist nicht nur dieses Internationale, sondern auch Überzeitliche. Ich kann mit Latein kommunizieren über die Jahrhunderte hinweg, weil es immer dieselbe Sprache ist. Und ich kann natürlich auch die Hoffnung haben, daß lateinische Dinge von mir in der Zukunft noch einen Rezipienten finden.

Die Römerzeit erfreut sich steigender Beliebtheit. Die Anmeldungen an humanistischen Gymnasien nehmen wieder zu. Neue „echtlateinische“ Romane kommen auf den Markt, lateinische comics und Bestseller-Übersetzungen ins Lateinische, wie „Winnie ille Pu“ oder „Harrius Potter“. Im Internet machen sich lateinische Chat-Rooms, „greges garrulorum“, breit, und die Finnen sympathisieren mit dem Gedanken, Latein - nach Englisch - zur zweiten Amtssprache der EU zu machen. Keine Frage: Mit dem „toten“ Latein können Latein-Fans gut leben, es zeigt sich erstaunlich zeitresistent. Vielleicht auch dank der Dienste von Wilfried Stroh. Um Jacob Balde will er sich kümmern und um den verehrten Jan Novak. Nur eins steht vorläufig noch nicht auf der Agenda: die Gründung einer Lateinrepublik nach dem Vorbild des Miguel Maria Olmo.


Beitrag: Wolfgang Seibel - ORF, "Kontext" / Redaktion: Wolfgang Ritschl