Jan Novák: Passer Catulli

für neun Instrumente und Bass (1962)
Texte: Catull carm. 2, 3 (Interpunktion und Textgestaltung hier und im folgenden Gedicht genau, d.h. unter Beseitigung der Druckfehler, nach der in Nováks Partitur)
Übersetzungen: Wilfried Stroh

An den Beginn eines Gedichtzyklus über die Geschichte seiner Liebe zu Lesbia hat Catull, Roms erster großer Lyriker, zwei vorwiegend heitere Gedichte in sog. Phalaeceen über das bescheidene Haustier der Geliebten, einen veritablen Spatzen, gestellt. Das erste, offenbar am Anfang der Liebe zu denkende Gedicht schildert, wie Lesbia recht innig und fast anzüglich mit dem Vogel schäkert. Der Dichter, statt (wie zu erwarten) sich selbst an die Stelle dieses Liebhabersubstituts zu wünschen, deutet Lesbias Spiel als ein seelisches Abreagieren der Verliebten (was man ihm kaum völlig glauben soll) und meint, höchst überraschend, auch selber einen so kathartischen Spielgesellen nötig zu haben. Im zweiten Gedicht, wo durch den Tod des Spatzen den Liebhaber Catull sozusagen die Bahn frei gemacht ist, lässt sich dieser von Freude gar nichts anmerken, sondern beklagt mit geflissentlicher und sichtlich übertriebener Hingabe den gar so bejammernswerten Tod des Tiers, um dessentwillen er zunächst besonders dem Orcus die bittersten Vorwürfe macht - bis am Schluss dann auch noch der tote Spatz selber eins abkriegt: Wie durfte er es wagen, der Liebsten Äuglein zu röten! Die Ironie des Gedichts, hier durch den Kontext noch gesteigert, ist an sich traditionell: Schon die griechische Dichtung kannte solche leicht humoristischen Totenklagen (Epikedien) für Tiere.

Nováks "musikalisches Spiel" ist in seiner Weise, wie zwei Jahre später die "Ioci vernales", wieder ein kleines Gegenstück zu Carl Orff, dem1943 mit seinen "Catulli Carmina" ein zweiter fast ebenso durchschlagender lateinischer Welterfolg wie mit den "Carmina Burana" gelungen war. Wo Orff, durchaus der üblichen Auslegung folgend, einen bei aller Laszivität im Kern romantisch-sentimentalen Catull, der an seiner Liebe zerbricht, auf die Bühne bringt, kostet Novák vor allem die hintergründige Komik der von ihm ausgewählten zwei Texte aus. Schon 1962 spricht der Herausgeber der Partitur, Frantisek Hrabal, in einem z.T. etwas kryptischen, aber suggestiven Latein von der festivitas, dem "Humor" Nováks, der, sonst schon ein "gemeinsamer Nenner" (denominator communis) aller seiner Werke, hier geradezu eine "Vogelperspektive" (aspectus superior) auf die Wirklichkeit eröffne, durch welche man "in tiefere und menschlichere Gefilde" (ad regiones profundiores et humaniores) dringen könne. Wie dem auch sei, unterstützt wird dabei jedenfalls Nováks (Catull kongeniale) Ironie durch die hier wohl zuerst von ihm in einer Lateinkomposition angewandte, dissonanzenträchtige Zwölftontechnik. (Die Besetzung gerade durch Nonett ermöglicht es, wenn Violine, Viola und Cello je Doppelgriffe ausführen, alle zwölf Töne zugleich zu produzieren: so, wie man sieht, ständig sofort im ersten Teil der Einleitung.)

Dass Novák mehr als der in dieser Hinsicht ganz gewalttätige Orff, dem die mittelalterlichen rhythmi entschieden mehr gelegen hatten, um die Erfassung des besonders wohlklingenden, -klingelnden Metrums bemüht ist, versteht sich von selbst. Während das erste Gedicht lange und kurze Silben fast durchgängig im schlichten Schema von 2:1 verwirklicht (was, bei Vier-Vierteltakt, im jeweils zweiten Teil des Verses eine anmutige synkopische Verwerfung gibt), sucht Novák in der expressiven Totenklage des folgenden Poems nach lebhafteren Varianten, bei denen Längen ebenso überlängt wie Kürzen weiter verknappt werden. Übrigens wurde auch die Gesangspartie des "Passer" dem stimmgewaltigen Vetter Richard, dem das Werk ausdrücklich gewidmet ist, auf den Leib geschrieben (nach einer vorausgehenden Rundfunkaufführung war die konzertante Uraufführung am 8.März 1964, auch diese unter der Leitung von Jiri Hanousek); eine früher auf Schallplatte (Supraphon) vorhandene Einspielung mit ihm würde eine Neuauflage verdienen.

W. Stroh

 

Passer Catulli: parvus ludus musicus de vita et morte passeris super carmina duo Catulli celeberrima novem instrumentis et voce gravi modulandus
 
 
Catulls Spatz: ein kleines musikalisches Spiel von Leben und Tod eines Spatzen über zwei hochberühmte Gedichte des Catull für neun Instrumente und Bass
 
 
Catullus, carmina 2  

Passer deliciae meae puellae      
quicum ludere, quem in sinu tenere
cui primum digitum dare adpetenti
et acris solet incitare morsus
cum desiderio meo nitenti
carum nescioquid libet jocari
et solaciolum sui doloris ...
Credo tum gravis acquiescat ardor
tecum ludere sicut ipsa possem
et tristis animi levare curas.
 
 

Spatz, du Liebling meines Mädchens,

mit dem sie zu spielen, den sie im Schoß zu halten pflegt,
dem sie immer die Fingerspitze gibt, wenn er danach stößt,
und ihn zu scharfen Bissen reizt,
wenn es nämlich meiner strahlenden Sehnsuchtsschönsten 
beliebt, etwas Liebes zu scherzen
und was ein Tröstchen sein könnte in ihrem Schmerz ...
Ich glaube, dann beruhigt sich wohl ihre schwere Glut.
Könnte ich doch mit dir spielen wie sie selber
und mir so das traurige Weh meines Herzens erleichtern!
 
 
Catullus, carmina 3  

Lugete o veneres cupidinesque
et quantum est hominum venustiorum!
Passer mortuus est meae puellae,
passer deliciae meae puellae
quem plus illa oculis suis amabat
nam mellitus erat suamque norat
ipsam tam bene quam puella matrem
nec sese a gremio illius movebat
sed circum siliens modo huc modo illuc 
ad solam dominam usque pipiabat ...
Qui nunc it per iter tenebricosum
illuc unde negant redire quemquam.
At vobis male sit malae tenebrae
Orci quae omnia bella devoratis
tam bellum mihi passerem abstulistis.
O factum male o miselle passer
tua nunc opera meae puellae
flendo turgiduli rubent ocelli.

Trauert, o ihr Venusse  und Cupidos

und so viel es an venusmäßigen Menschen gibt!
Der Spatz meines Mädchens ist gestorben,
der Spatz, der Liebling meines Mädchens, 
den sie mehr als ihre Augen liebte!
Denn er war honigsüß und kannte seine
Herrin so gut wie das Mädchen die Mutter
und bewegte sich nicht von ihrem Schoß,
sondern herum hüpfend, bald nach hier bald nach dort,
piepste er immer nur zur Gebieterin ...
Jetzt aber geht er auf dem finsterdunkeln Weg
dahin, woher, wie sie sagen, keiner mehr zurückkehrt.
Ach sei verflucht, du böse Finsternis
des Orcus, die du alles Schöne verschlingst,
mir einen so schönen Spatzen fortgenommen hast!
O wie schade! O du elendes Spätzlein!
Durch dein Tun sind jetzt meines Mägdleins
Äuglein vom Weinen geschwollen und rötlich!

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