Wilfried Stroh

Lebendiges Latein

In: Der Neue Pauly, Rezeptions- und Wissenschaftsgeschichte, Bd. 15, Stuttgart / Weimar 2001, Sp. 92-99

A.  Begriff des lebendigen Latein
Latein, seit etwa 2000 Jahren in linguistischer Hinsicht gestorben, d.h. ohne eigentliche Entwicklung jedenfalls in Morphologie und Syntax, hört dennoch erst gegen Ende des 17. Jhdts. auf, führende Sprache der europäischen Literatur zu sein (19.I 471 f., 607); seit dieser Zeit wird es, wenn auch nicht unwidersprochen, gelegentlich als „tot“ bezeichnet (30.199, 28. 272). Obwohl es im Laufe des 18. Jahrhunderts auch seinen Status als internationale Sprache der Diplomatie, des Tourismus (3) und weithin auch der Wissenschaft (15.II 258 f., 16.51-53, 30.110 ff.) einbüßt – eine Folge des neuzeitlichen Nationalismus -, wird es im Lateinunterricht des neuhumanistischen Gymnasiums, den man damals erst durch die bis heute herrschende Theorie der „formalen Bildung“ (19.II 84 ff.; 210 ff.), d. h. als „gymnastique mentale“ (30.223 ff.), rechtfertigt, zunächst weiterhin aktiv gesprochen und geschrieben (17.94 ff., 173 ff.), bis hin zu Versübungen (6.335-353). In Preußen wird etwa erst mit der Schulreform von 1890/92 der lateinische Aufsatz abgeschafft (17.199; vgl. für Frankreich 30.167). Seitdem geht auch im Sprachunterricht das Übersetzen ins Lateinische sukzessive zurück; selbst die „Stilübungen“ an den deutschen Universitäten behaupten sich (seit etwa 1970) nicht unangefochten. Die Fähigkeit des Latine loqui et scribere gilt seit dem ersten Weltkrieg wohl nirgendwo mehr als um ihrer selbst willen angestrebtes Lernziel (9.56 ff.). Schließlich fällt in jüngster Zeit auch in der katholischen Kirche das praktizierte Latein einem „aggiornamento“ zum Opfer; bekanntlich verdrängen seit der entsprechenden Constitutio des 2. Vaticanum (1963) die Nationalsprachen in der Messe das Lateinische (15.I 43 f., 30.89-96, Lit. bei 9.66). Wo nun, gegen diesen Zug der allgemeinen Entwicklung, seit Ende des 19. Jahrhunderts, auch durch Lateiner außerhalb von Schule, Universität und Kirche, die Sprache Ciceros und Vergils  praktisch geübt und kultiviert, ja als (oft internationales) Kommunikationsmittel genutzt und dabei besonders auch gesprochen wird, bezeichnet man dies (mit einer vielleicht zuerst 1924 von dem Lateinsprechen fordernden Pädagogen Georg Rosenthal [21], vgl. 9.53 ff., gebrauchten Fügung) gerne als „lebendiges Latein“ (seit dem Kongress von Avignon 1956 häufig auch als „latin vivant“, daneben „living Latin“ und bes. Latinitas viva). Grundsätzlich kann dabei zwar zwischen traditionell überkommenen Erscheinungsformen, wie etwa lateinischen Ehrenurkunden, und reformerischen Neuansätzen, wie lateinischen Rundfunknachrichten, unterschieden werden – danach ist im Folgenden versuchsweise gegliedert - ; doch entziehen sich die einzelnen Phänomene und Personen naturgemäß oft der eindeutigen Zuordnung. Gemeinsam ist allen Bestrebungen die Faszination durch eine, eben weil sie tot ist, unsterbliche Sprache: Sie ermöglicht es, wie global über die Räume, so diachron über die Zeiten hinweg zu kommunizieren. Je deutlicher dies gefühlt wird, um so stärker muss auch der sprachlich-stilistische Anspruch sein.

B.      Traditionellere Formen
1. Kirche
Leo XIII. (1878-1903), auch als Dichter hervorgetreten, war wohl der letzte voll sprachmächtige Lateiner unter den Päpsten (Proben bei 1.7-25). Die stets in Latein, dem „imperialis sermo“ (Pius XII.), abgefassten Papstenzykliken, ein Teil der Acta Apostolicae Sedis, bieten aber noch fast bis zum Tod des Vatikanlateiners und päpstlichen Ghostwriters Kardinal Antonio Bacci (1971) eine stilistisch genussreiche Lektüre; seitdem verflacht das sich den Fügungen der modernen Sprachen anpassende Latein, obwohl Paul VI. 1964 ein Institutum Altioris Latinitatis eingerichtet hat (30.97, 156). Baccis Nachfolger, Abt Carl Egger, als Didaktiker weniger glücklich, machte sich als Herausgeber der Zeitschrift Latinitas und verschiedener Lexica (vgl. unten C.3/4) verdient. Die Proteste gegen den Verlust der lateinischen Messe, nicht nur bei dem bekannten Schismatiker Lefebvre (vgl. etwa 14.55 ff.), blieben ohne große Resonanz; doch sind zwei der einflussreichsten praktizierenden Neulateiner, Eichenseer (s. unten C.2/3) und Foster (26), Ordensmitglieder.

2.  Wissenschaft - Universität
Latein als Wissenschaftssprache ist auch im 19. Jhdt. noch nicht völlig ausgestorben (16.53 f.): Etwa der Mathematiker Gauß schreibt Latein und noch ein Pionier der modernen Soziologie, Émile Durkheim, in seiner Doktordissertation von 1892 (15.II 313); noch im Jahr  1979  erscheinen zwei fachwissenschaftliche Aufsätze zur Mathematik in Latein (15.II 327). Bis in die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg werden im Bereich der Theologie, immerhin bis zum Ende des ersten Weltkriegs in dem der Klassischen Philologie lateinische Dissertationen verfasst (mit Ausläufern bis in neuere Zeit, etwa einer Diss. des bekannten Gräzisten Rudolf Kassel, Würzburg 1954; vgl. 15.II 268); bes. osteuropäische philologische Zeitschriften publizieren gerne lateinsprachige Artikel. International gebräuchlich bleiben lateinische Ehrendoktordiplome, oft nicht ohne stilistischen Anspruch (8); die Universitäten Oxford und Cambridge würdigen ihre Ehrendoktoren alljährlich in brillant witzigen, vom jeweiligen lateinischen Orator vorgetragenen Ansprachen (die veröffentlicht und auch in Buchform gesammelt werden). Die praefationes zu griechischen und lateinischen Textausgaben und Fragmentsammlungen wissenschaftlichen Anspruchs sind in der Regel auch heute lateinisch abgefasst (Ausnahme jetzt: der Oxford-Sophokles von H. Lloyd-Jones u.N. G. Wilson, 1990); gegen Latein in epigraphischen Publikationen: R. Merkelbach, ZPE 122, 1998, 294 f.), gelegentlich auch Kommentare (wie, bes. adrett stilisiert, W. Bühler, Zenobii Athoi proverbia, 1987 ff.), vor allem in den Niederlanden; mehrsprachig sind die Praemonenda (1990) zum ThlL (1900 ff.), der sonst Latein nur durch Latein erklärt. (Wünschenswert wären einfache schulpraktische Lexika dieser Art.) - Als Unterrichtssprache diente Latein an österreichischen Universitäten noch bis in die 60erjahre für philologische Seminare; heute sind auch lateinische Vorlesungen im akademischen Bereich (wie etwa an der Universität Szeged seit 1993, durch deutsche Gastdozenten) eine Rarität (zu Colloquia Latina s. unten); selbst auf Kongressen neulateinischer Philologen dominieren die Nationalsprachen fast völlig. Immerhin erschien 1999 wieder eine wissenschaftlich seriöse lateinische Festschrift (Vivida loquela, für K. Sallmann). Und möglich bleibt, dass sich zumindest die internationale Klassische Philologie in Zukunft wieder auf ihr natürliches Verständigungsmittel besinnt, um ohne lächerlichen Nationalismus der bes. für die Geisteswissenschaften bedenklichen Vorherrschaft des Englischen zu wehren.

3. Romane – Musik
Die bedeutenden Leistungen origineller lateinischer Sprachkunst auch noch im 19. und 20. Jahrhundert (15, 5, einiges bei 4) müssen hier übergangen werden, da sie üblicherweise zur „Neulateinischen Literatur“ (s. dort) rechnen. Geringeren Rangs sind die seit dem merkwürdigen Welterfolg von Winnie ille Pu („Winnie the Pooh“, übers. von A. Lenard, 1960) vielfach gedeihenden, mehr oder minder gelungenen Lateinübersetzungen nationalsprachiger Romane, Märchen, Novellen usw., die immerhin an den Erfolg des lateinischen Robinson (von Ph. J. Lieberkühn) im 18. Jahrhundert anschließen können. Durchaus witzig sind die lateinischen Asterixversionen des Rubricastellanus, seit 1976 (vgl. im übrigen zu der überreichen Produktion auf diesem Gebiet den Artikel „Comics); überragend die Kalevala Latina von T. Pekkanen (zuerst 1986), die, wie die meisten Lateinübersetzungen des 15.-18. Jhs., dazu bestimmt ist, das Originalwerk international zu verbreiten. Nicht ohne literarischen Anspruch sind auch die originallateinischen Textvorlagen zu Strawinkys Oper Oedipus Rex (1927) von J. Cocteau / J. Daniélou (Textproben bei 2.22-26; vgl. 24.401 f.) und zur sensationell erfolgreichen Kantate Flamma flamma von Nicholas Lens (1994) nach Textvorlage von H. Portocarero (Ignis perennis, gedr. 1995). Carl Orff versuchte sich etwa im Vorspiel seiner Catulli carmina (1943) selbst als lateinischer Poet (2.27-30). Jan Novák (1921-1984), fruchtbarster Lateinkomponist seit der Renaissance überhaupt (29), hat neben vielen eigenen Gedichten auch solche von Neulateinern wie J. Eberle, H. C. Schnur u. a. wirkungsvoll vertont

C.       Neuansätze
1.  Schule: Sprechmethode
Auch wenn Latine loqui nicht mehr Lernziel ist, setzt sich – nach der Pioniertat Rosenthals (oben A) - seit den 60er Jahren bes. in Deutschland zunehmend wieder die Einsicht durch, dass es töricht wäre, um einer einseitigen grammatikalischen Geistesschulung willen auf das bis ins 19. Jhdt. gepflegte, sprachdidaktisch so förderliche Sprechen im Lateinunterricht zu verzichten (einflussreich war, neben dem Kongress von Avignon [unten C.5], bes. ein Appell Hartmut von Hentig (13.306); vgl. zum Grundsätzlichen W. Stroh in 27.8-14 und bes. 9; einschränkend und wohl überkritisch H.- J. Glücklich in 27.16 ff.; Lit. bei 18.127-129, 12.144-146): Ein Lateinunterricht, in dem man nicht mehr Latein, sondern nur noch am Latein verschiedenes andere lernt, hätte sicherlich seinen Sinn verfehlt. So sind heute in Deutschland viele lateinische Fachdidaktiker, nicht nur wegen der Motivation, Anhänger des Lateinsprechens in der Schule; in Italien verfolgt dieselben Ziele bes. L. Miraglia (etwa mit seinem didaktischen Kongress Docere, Neapel 1998); zu Großbritannien vgl. Art. „Altsprachlicher Unterricht“. Schulpraktische Hilfen geben bes. A. Fritsch und U.Wagner, die z. Zt. die von K. Sallmann (1990) mitbegründete Officina Latina auf den Kongressen des Deutschen Altphilologenverbands betreuen (10);  weniger an klassischer Sprache orientiert sind die einschlägigen Handreichungen von S. Albert (wie Cottidianum Vocabularium Scholare, 1992). Eine ideale Grundlage für einen auf dem Sprechen basierenden Sprachunterricht bietet der Däne H. H. Ørberg in dem sorgfältig durchdachten, nur in Latein abgefassten, Lehrwerk Lingua Latina per se illustrata (Kopenhagen 1980 ff.), das leider noch allzu wenig erprobt wurde (vgl. 27.84 f.).

2. Colloquia Latina, lateinische Sprechzirkel und Lateinvereine
Vor allem der Befähigung zu einem natürlichen Sprachunterricht am Gymnasium, daneben der Reaktivierung des Latein als Gelehrtensprache (gelegentlich sogar der poetischen Stilübung [M. v. Albrecht, Scripta Latina, 1989, 227 ff.]), dienen die heute bes. an manchen Universitäten veranstalteten Colloquia Latina, die in den 50er Jahren offenbar zuerst vom Tübinger Gräzisten Hildebrecht Hommel eingerichtet wurden. (Überblick auf dem Stand von 1994 in 27.97, vgl. Stroh in 27.53-55).Vielfach bilden sich an Universitäten auch aus studentischer Initiative lateinische Sprechzirkel (zuletzt etwa in Oxford und Warschau); andere lateinische „Stammtische“ und dgl. (wie neuerdings in Wien) entstehen unabhängig von den Bildungsinstitutionen. Getragen werden vergleichbare Unternehmungen, wie bes. auch förmliche Lateinsprechkurse in Europa (Seminaria Latinitatis vivae, vgl. 7) und den USA, oft von Lateinvereinen wie der (mit einer universitären Arbeitsstelle für Neulatein verbundenen) Societas Latina in Saarbrücken (unter Führung des für das Lateinsprechen als Lexikograph, Buch- und Tonkassetteneditor bes. tätigen Pater C. Eichenseer, vgl. 9.68 f.) und der ebenfalls sehr aktiven L.V.P.A. Latinitati Vivae Provehendae Associatio e. V.  in Werne (http://pagina.de/lvpa/ ). In Spanien hat sich neuerdings ein Circulus Latinus Matritensis gebildet (http://www.servicom.es/latine/circulus.htm), in Amerika ein Septentrionale Americanum Latinitatis Vivae Institutum (SALVI: http://www.latin.org); in Deutschland ist besonders bekannt der Verein Europäische Lateinwochen e. V., der sich auch um römische Kochkunst bemüht (R. Maier in 27.60-64). Das Internet ermöglicht nun bequemen Gedankenaustausch, auch in den entstehenden Latin Chat-Clubs.

3. Lateinzeitschriften,
Die erste europäische Lateinzeitschrift im Sinne des lebendigen Latein hieß mit beschwingtem Namen Alaudae (1889-1895), in Gänze verfasst von dem Juristen und Dichter Karl Heinrich Ulrichs, der als Vorkämpfer auch der modernen „Schwulen“-Bewegung bekannter geworden ist. Ihr folgten, neben vielen anderen (detaillierter Überblick über das ganze Gebiet bei 22,vgl. die Ergänzungen von Sacré in 27.72-75), die spanische Palaestra Latina (1930-1976) und die vom gleichnamigen Verein getragene Münchener Societas Latina (1932-1955), deren Nachfolgerin seit 1965, Vox Latina (seit 1975 hg. von C. Eichenseer), die z. Zt. verbreitetste, an Gegenständen und aktuellen Informationen reichste Zeitschrift ihrer Art ist. Wie bei ihr ist der stilistische Anspruch eher bescheiden bei der vom Brüsseler Radiologen Guy Licoppe seit 1984 herausgegebenen Melissa (die regelmäßig durch gewichtige neolatinistische Beiträge Dirk Sacrés bereichert wird); sprachlich gehobener und stärker philologisch ausgerichtet ist die Vatikanzeitschrift Latinitas (seit 1953), zu deren Vorgängerinnen die von Leo XIII. inspirierte Vox Urbis (1898-1913) gehört. Nur im Internet zugänglich ist der von Terence Tunberg gestaltete gehaltvolle Retiarius (http://www.uky.edu/ArtsSciences/Classics/retiarius/). Dazu kommen kleinere für Schüler bestimmte Blätter wie Tiro und Rumor varius sowie der über ein Mitteilungsblatt hinausgehende L.V.P.A.e nuntius des erwähnten Vereins (oben B.2). Es fehlt die graphisch wie literarisch wirklich ansprechende Lateinillustrierte.

4. Konversationshandbücher, Lexika
Als unübertroffene Konversationshilfe wurde zu Recht immer wieder aufgelegt und z. T. bearbeitet das Büchlein von G. Capellanus, Sprechen Sie lateinisch? (zuerst 1890),  dessen Witz und sprachliche Qualität von keinem Nachfolgewerk erreicht wurde (vgl. 9.49-51, 27.83 f.). Weniger inspiriert, aber verdienstvoll ist jetzt etwa das systematischer angelegte Hilfsbuch von J. C. Traupman, Conversational Latin for Oral Proficiency, 1996; der Erfolg von horriblen Beiträgen, wie etwa eines H. Beard, Latin for all Occasions - Latina Lingua Occasionibus Omnibus [!], 1990 usw., zeigt, dass hier, auch im angelsächsischen Sprachbereich, ein Markt vorhanden ist, den Kenner und Könner erobern sollten. Nicht völlig befriedigend scheinen auch die modernen, zum lebendigen Lateingebrauch bestimmten Lexica (vgl. 27.76-81), unter denen jetzt das vom Vatikanlateiner C. Egger oben  herausgegebene Lexicon recentis Latinitatis, 1992/97 (dt.: Neues Lateinlexikon, 1998) hervorragt (vgl. auch sein nützliches Lexicon nominum locorum, 1977 u .a. m.); hier wie etwa in dem auch das Wissenschaftslatein der vergangenen Jahrhunderte aufarbeitenden Lexicon auxiliare (³1991) von dem Saarbrückener Ch. Helfer wird oft, vor allem im Bereich abstrakteren Denkens, bequemen Neubildungen vor echt lateinisch konzipierten Wendungen der Vorzug gegeben.

5. Lateinkongresse und –festivals
Der 1956 von Jean Capelle inspirierte und einberufene 1. Internationale Kongress für lebendiges Latein in Avignon (20) brachte, dank Zeitungsberichten, das Vorhandensein zeitgenössischer lateinischer Eloquenz – rund die Hälfte der Kongressbeiträge war lateinisch – auch einem breiteren Publikum zum Bewusstsein; er endete mit gemeinsamen Empfehlungen zur Vereinheitlichung der Aussprache (die sich auf Grundlage der sog. pronuntiatio restituta mittlerweile weltweit durchgesetzt hat) und zur Erneuerung des Sprachunterrichts. Die nachfolgenden vier Kongresse (von Lyon 1959 bis Pau 1975) ließen, vor allem nach der französischen Bildungsreform von 1968, den ursprünglichen Schwung allmählich etwas erlahmen. Er wurde erneuert durch die mittlerweile neun wahrhaft internationalen und lateinischen Conventus der römischen (nicht vatikanischen) Academia Latinitati fovendae (von Rom 1966 bis Jyväskylä 1997, letztere ausführlich dokumentiert in einem lateinsprachigen, auch als Videokassette verbreiteten Film der Finnish Broadcasting Company: Vinculum amicitiae), die auch unregelmäßig lateinische Commentarii herausgibt (Sacré in 27.74). Etwas andere Wege ging der erwähnte (s. oben B.3) tschechische Humanist und Komponist Jan Novák mit seinen 1972 in Rovereto veranstalteten, lateinischer Poesie, Musik und Drama gewidmeten Feriae Latinae; sie wurden fortgesetzt durch die von Novák mitbegründeten internationalen Musik- und Lateinfestspiele LVDI LATINI, die von 1983 (Ellwangen) bis 1993 (München) viermal in süddeutschen Städten stattgefunden haben, und die davon abgeleiteten Scholae Frisingenses (von 1988-1990 auf dem Freisinger Domberg), die stärker wissenschaftlichen Zuschnitt hatten (vgl. 9.70-72 , 28.278 ff., 25). Davon mitangeregt fanden an deutschen Gymnasien in den vergangenen Jahren verschiedentlich Ludi bzw. Dies Latini oder Römerfeste statt, die auch mit gesprochenem und gesungenem Latein für das umkämpfte Schulfach warben. Bereichert wurden solche Festivitäten (wie ähnliche Veranstaltungen in Museen, archäologischen Parks usw.) oft von dem die lateinische Sprache vielfach einbeziehenden Militärhistoriker Marcus Junkelmann, dessen publikumswirksame Unternehmungen zur „experimentellen Archäologie“ im römischen Bereich (vgl. etwa 11) eine gewisse Analogie zu denen der Latinitas viva haben, so dass sie auch ihrerseits bes. vom Münchner Lateinverein Sodalitas LVDIS LATINIS faciundis e. V. (28) gefördert werden (http://www.klassphil.uni-muenchen.de/~stroh/sodalitas.html).

D. Ausblick
Wenn der finnische Rundfunk seit gut zehn Jahren allwöchentlich in recht unciceronischem, modernistischem Latein aktuelle Nachrichten, ausstrahlt (T. Pekkanen / R. Pitkäranta: Nuntii Latini, 5 Bde., 1992-1999), die auch im Internet gelesen und gehört werden können (www.yle.fi./fbc/latini), ist die Öffentlichkeit mit Wohlwollen interessiert, amüsiert oder gar entzückt; dagegen ist der durch die Schule lateinischer Stilübungen gegangene philologische Fachmann oft eher betreten angesichts einer Sache, die ihm teils dilettantisch, teils marktschreierisch scheint – und dies gilt für viele Unternehmungen des „lebendigen Latein“. Sie sollten ihm aber eher Ansporn sein, noch Besseres, Sinnvolleres zu leisten, die eigene sprachliche Kompetenz nicht verkümmern zu lassen, sondern sie wie die Humanisten früherer Jahrhunderte im Sinne einer Latinitas perennis zur Kommunikation mit Mit- und Nachwelt zu verwenden. So kann er, falls er das überhaupt will, am wirkungsvollsten der Ansicht widersprechen, die jetzt Françoise Waquet in ihrer am Ende geradezu nachrufartigen Geschichte des neuzeitlichen Latein (30), darzulegen versucht hat: dass die schon so oft gestorbene Sprache für die Welt längst ihre Schuldigkeit getan habe und endgültig ins Reservat der Spezialwissenschaften abtreten solle. Viderint grammatici!
 
 
 

F. Anders (Hg.): Lebendiges Neulatein, (1933) ²1955

J.  Borucki (Hg.): Latein im 20. Jahrhundert, 1974

P.Burke: Heu domine, adsunt Turcae! Abriß einer Sozialgeschichte des postmittelalterlichen Lateins, in: Verf., Küchenlatein (zuerst engl. 1987), 1989, 31-59

G. Cesbron / L. Richer (Hg.): La réception du latin du XIXe siècle à nos jours, Angers 1996

I. Eberle (Hg.): Viva Camena: Latina huius aetatis carmina, 1961

F. A. Eckstein: Lateinischer und griechischer Unterricht, 1887

C. Eichenseer: Lateinsprechkurse: Werden und Wirkung, Gymnasium 86, 1979, 383-394

A. Fitzek (Hg.): Latein in unserer Zeit: Europäische Kulturgeschichte im Spiegel von Ehrenurkunden, 1990

A. Fritsch: Lateinsprechen im Unterricht, 1990

10  Ders. / U. Wagner: Latein auch sprechen! Impulse aus der Officina Latina, in: F. Maier (Hg.), Latein auf neuen Wegen, 1999, 87-105

11  J. Garbsch: Vorwort zu: M. Junkelmann, Die Reiter Roms, Teil II, 1991, 9-10

12  D. Gerstmann: Bibliographie: Lateinunterricht, Bd.2, 1997

13  H. von Hentig: Platonisches Lehren, Bd. 1, 1966

14  W. Hoeres: Der Aufstand gegen die Ewigkeit, 1984

15  J. Ijsewijn: Companion to Neo-Latin Studies (zuerst 1977), Part I, ²1990; Part II (J. I. with D. Sacré), ²1998

16  Ders. / D. Sacré: The Ultimate Efforts to Save Latin as the Means of International Communication, History of European Ideas 16, 1993, 51-66

17  M. Landfester: Humanismus und Gesellschaft im 19. Jahrhundert, 1988

18  A. Müller / M. Schauer: Clavis Didactica Latina, 1994

19 F. Paulsen: Geschichte des gelehrten Unterrichts [...], Bd. I, ³1919, Bd. II, ³1921

20  Premier Congrès International pour le Latin Vivant, Avignon 1956 (Sammelband mit den Kongressbeiträgen)

21  G. Rosenthal: Lebendiges Latein!, 1924

22  D. Sacré: Le Latin vivant: les périodiques latins, Les Études Classiques 56, 1988, 91-104

23 Ders. u. a.: Instrumentum Bibliographicum, mit Rubrik „Latinitas novissima“, in: Humanistica Lovaniensia,
seit 1981

24  W. Schubert: Die lateinische Sprache in der Musik des 20.Jahrhunderts am Beispiel von Luigi Dallapiccolas „Canti di Prigionia“, International Journal of Musicology 2, 1993, 397-423

25  J. Skow: Call this a Dead Language?, Time 20. 5. 1985

26  A. Stille: Latin Fanatic: A Profile of Father Reginald Foster, The American Scholar, Autumn 1994, 497-526

27  W. Stroh (Hg.): Latein sprechen, AU 37, H.5, 1994 (mit kommentierter Bibliographie)

28  Ders.: O Latinitas! Erfahrungen mit lebendigem Latein und ein Rückblick auf zehn Jahre Sodalitas, Gymnasium 104, 1997, 271-290

29  Ders.: Jan Novák: moderner Komponist antiker Texte [mit Werkverzeichnis], Atti dell Accademia Roveretana degli Agiati, a. 249 (1999), ser. VII, vol. IX, A, S. 33-61; ständig aktualisiert in: http://www.klassphil.uni-muenchen.de/~stroh/j_novak.htm

30  F. Waquet: Le latin ou l’empire d‘un signe: XVIe-XXe siècle, 1998