A. Begriff des lebendigen Latein
Latein, seit etwa 2000 Jahren in linguistischer Hinsicht gestorben,
d.h. ohne eigentliche Entwicklung jedenfalls in Morphologie und Syntax,
hört dennoch erst gegen Ende des 17. Jhdts. auf, führende
Sprache
der europäischen Literatur zu sein (19.I 471 f., 607); seit
dieser Zeit wird es, wenn auch nicht unwidersprochen, gelegentlich als
„tot“ bezeichnet (30.199, 28. 272). Obwohl es im Laufe
des
18. Jahrhunderts auch seinen Status als internationale Sprache der
Diplomatie,
des Tourismus (3) und weithin auch der Wissenschaft (15.II
258 f., 16.51-53, 30.110 ff.) einbüßt – eine
Folge
des neuzeitlichen Nationalismus -, wird es im Lateinunterricht des
neuhumanistischen
Gymnasiums, den man damals erst durch die bis heute herrschende Theorie
der „formalen Bildung“ (19.II 84 ff.; 210 ff.), d. h. als
„gymnastique
mentale“ (30.223 ff.), rechtfertigt, zunächst weiterhin
aktiv
gesprochen und geschrieben (17.94 ff., 173 ff.), bis hin zu
Versübungen
(6.335-353). In Preußen wird etwa erst mit der Schulreform
von 1890/92 der lateinische Aufsatz abgeschafft (17.199; vgl.
für
Frankreich 30.167). Seitdem geht auch im Sprachunterricht das
Übersetzen
ins Lateinische sukzessive zurück; selbst die „Stilübungen“
an
den deutschen Universitäten behaupten sich (seit etwa 1970) nicht
unangefochten. Die Fähigkeit des Latine loqui et scribere
gilt
seit dem ersten Weltkrieg wohl nirgendwo mehr als um ihrer selbst
willen
angestrebtes Lernziel (9.56 ff.). Schließlich fällt
in
jüngster Zeit auch in der katholischen Kirche das praktizierte
Latein
einem „aggiornamento“ zum Opfer; bekanntlich verdrängen seit der
entsprechenden
Constitutio
des 2. Vaticanum (1963) die Nationalsprachen in der Messe das
Lateinische
(15.I 43 f., 30.89-96, Lit. bei 9.66). Wo nun,
gegen
diesen Zug der allgemeinen Entwicklung, seit Ende des 19. Jahrhunderts,
auch durch Lateiner außerhalb von Schule, Universität und
Kirche,
die Sprache Ciceros und Vergils praktisch geübt und
kultiviert,
ja als (oft internationales) Kommunikationsmittel genutzt und dabei
besonders
auch gesprochen wird, bezeichnet man dies (mit einer vielleicht zuerst
1924 von dem Lateinsprechen fordernden Pädagogen Georg Rosenthal [21],
vgl. 9.53 ff., gebrauchten Fügung) gerne als „lebendiges
Latein“
(seit dem Kongress von Avignon 1956 häufig auch als „latin
vivant“,
daneben „living Latin“ und bes. Latinitas viva).
Grundsätzlich
kann dabei zwar zwischen traditionell überkommenen
Erscheinungsformen,
wie etwa lateinischen Ehrenurkunden, und reformerischen
Neuansätzen,
wie lateinischen Rundfunknachrichten, unterschieden werden – danach ist
im Folgenden versuchsweise gegliedert - ; doch entziehen sich die
einzelnen
Phänomene und Personen naturgemäß oft der eindeutigen
Zuordnung.
Gemeinsam ist allen Bestrebungen die Faszination durch eine, eben weil
sie tot ist, unsterbliche Sprache: Sie ermöglicht es, wie global
über
die Räume, so diachron über die Zeiten hinweg zu
kommunizieren.
Je deutlicher dies gefühlt wird, um so stärker muss auch der
sprachlich-stilistische Anspruch sein.
B. Traditionellere Formen
1. Kirche
Leo XIII. (1878-1903), auch als Dichter hervorgetreten, war wohl der
letzte voll sprachmächtige Lateiner unter den Päpsten (Proben
bei 1.7-25). Die stets in Latein, dem „imperialis sermo“
(Pius XII.), abgefassten Papstenzykliken, ein Teil der Acta
Apostolicae
Sedis, bieten aber noch fast bis zum Tod des Vatikanlateiners und
päpstlichen
Ghostwriters Kardinal Antonio Bacci (1971) eine stilistisch
genussreiche
Lektüre; seitdem verflacht das sich den Fügungen der modernen
Sprachen anpassende Latein, obwohl Paul VI. 1964 ein Institutum
Altioris
Latinitatis eingerichtet hat (30.97, 156). Baccis
Nachfolger,
Abt Carl Egger, als Didaktiker weniger glücklich, machte sich als
Herausgeber der Zeitschrift Latinitas und verschiedener Lexica
(vgl.
unten C.3/4) verdient. Die Proteste gegen den Verlust der lateinischen
Messe, nicht nur bei dem bekannten Schismatiker Lefebvre (vgl. etwa 14.55
ff.), blieben ohne große Resonanz; doch sind zwei der
einflussreichsten
praktizierenden Neulateiner, Eichenseer (s. unten C.2/3) und Foster (26),
Ordensmitglieder.
2. Wissenschaft - Universität
Latein als Wissenschaftssprache ist auch im 19. Jhdt. noch nicht
völlig
ausgestorben (16.53 f.): Etwa der Mathematiker Gauß
schreibt
Latein und noch ein Pionier der modernen Soziologie, Émile
Durkheim,
in seiner Doktordissertation von 1892 (15.II 313); noch im
Jahr
1979 erscheinen zwei fachwissenschaftliche Aufsätze zur
Mathematik
in Latein (15.II 327). Bis in die Zeit nach dem zweiten
Weltkrieg
werden im Bereich der Theologie, immerhin bis zum Ende des ersten
Weltkriegs
in dem der Klassischen Philologie lateinische Dissertationen verfasst
(mit
Ausläufern bis in neuere Zeit, etwa einer Diss. des bekannten
Gräzisten
Rudolf Kassel, Würzburg 1954; vgl. 15.II 268); bes.
osteuropäische
philologische Zeitschriften publizieren gerne lateinsprachige Artikel.
International gebräuchlich bleiben lateinische Ehrendoktordiplome,
oft nicht ohne stilistischen Anspruch (8); die
Universitäten
Oxford und Cambridge würdigen ihre Ehrendoktoren alljährlich
in brillant witzigen, vom jeweiligen lateinischen Orator vorgetragenen
Ansprachen (die veröffentlicht und auch in Buchform gesammelt
werden).
Die praefationes zu griechischen und lateinischen Textausgaben
und
Fragmentsammlungen wissenschaftlichen Anspruchs sind in der Regel auch
heute lateinisch abgefasst (Ausnahme jetzt: der Oxford-Sophokles von H.
Lloyd-Jones u.N. G. Wilson, 1990); gegen Latein in epigraphischen
Publikationen:
R. Merkelbach, ZPE 122, 1998, 294 f.), gelegentlich auch Kommentare
(wie,
bes. adrett stilisiert, W. Bühler, Zenobii Athoi proverbia, 1987
ff.),
vor allem in den Niederlanden; mehrsprachig sind die Praemonenda
(1990) zum ThlL (1900 ff.), der sonst Latein nur durch Latein
erklärt.
(Wünschenswert wären einfache schulpraktische Lexika dieser
Art.)
- Als Unterrichtssprache diente Latein an österreichischen
Universitäten
noch bis in die 60erjahre für philologische Seminare; heute sind
auch
lateinische Vorlesungen im akademischen Bereich (wie etwa an der
Universität
Szeged seit 1993, durch deutsche Gastdozenten) eine Rarität (zu Colloquia
Latina s. unten); selbst auf Kongressen neulateinischer Philologen
dominieren die Nationalsprachen fast völlig. Immerhin erschien
1999
wieder eine wissenschaftlich seriöse lateinische Festschrift (Vivida
loquela, für K. Sallmann). Und möglich bleibt, dass sich
zumindest die internationale Klassische Philologie in Zukunft wieder
auf
ihr natürliches Verständigungsmittel besinnt, um ohne
lächerlichen
Nationalismus der bes. für die Geisteswissenschaften bedenklichen
Vorherrschaft des Englischen zu wehren.
3. Romane – Musik
Die bedeutenden Leistungen origineller lateinischer Sprachkunst auch
noch im 19. und 20. Jahrhundert (15, 5, einiges bei 4)
müssen
hier übergangen werden, da sie üblicherweise zur
„Neulateinischen
Literatur“ (s. dort) rechnen. Geringeren Rangs sind die seit dem
merkwürdigen
Welterfolg von Winnie ille Pu („Winnie the Pooh“, übers.
von
A. Lenard, 1960) vielfach gedeihenden, mehr oder minder gelungenen
Lateinübersetzungen
nationalsprachiger Romane, Märchen, Novellen usw., die immerhin an
den Erfolg des lateinischen Robinson (von Ph. J. Lieberkühn) im
18.
Jahrhundert anschließen können. Durchaus witzig sind die
lateinischen
Asterixversionen des Rubricastellanus, seit 1976 (vgl. im übrigen
zu der überreichen Produktion auf diesem Gebiet den Artikel
„Comics);
überragend die Kalevala Latina von T. Pekkanen (zuerst
1986),
die, wie die meisten Lateinübersetzungen des 15.-18. Jhs., dazu
bestimmt
ist, das Originalwerk international zu verbreiten. Nicht ohne
literarischen
Anspruch sind auch die originallateinischen Textvorlagen zu Strawinkys
Oper Oedipus Rex (1927) von J. Cocteau / J. Daniélou
(Textproben
bei 2.22-26; vgl. 24.401 f.) und zur sensationell
erfolgreichen
Kantate Flamma flamma von Nicholas Lens (1994) nach Textvorlage
von H. Portocarero (Ignis perennis, gedr. 1995). Carl Orff
versuchte
sich etwa im Vorspiel seiner Catulli carmina (1943) selbst als
lateinischer
Poet (2.27-30). Jan Novák (1921-1984), fruchtbarster
Lateinkomponist
seit der Renaissance überhaupt (29), hat neben vielen
eigenen
Gedichten auch solche von Neulateinern wie J. Eberle, H. C. Schnur u.
a.
wirkungsvoll vertont
C. Neuansätze
1. Schule: Sprechmethode
Auch wenn Latine loqui nicht mehr Lernziel ist, setzt sich –
nach der Pioniertat Rosenthals (oben A) - seit den 60er Jahren bes. in
Deutschland zunehmend wieder die Einsicht durch, dass es töricht
wäre,
um einer einseitigen grammatikalischen Geistesschulung willen auf das
bis
ins 19. Jhdt. gepflegte, sprachdidaktisch so förderliche Sprechen
im Lateinunterricht zu verzichten (einflussreich war, neben dem
Kongress
von Avignon [unten C.5], bes. ein Appell Hartmut von Hentig (13.306);
vgl. zum Grundsätzlichen W. Stroh in 27.8-14 und bes. 9;
einschränkend und wohl überkritisch H.- J. Glücklich in
27.16
ff.; Lit. bei 18.127-129, 12.144-146): Ein
Lateinunterricht,
in dem man nicht mehr Latein, sondern nur noch am Latein
verschiedenes
andere lernt, hätte sicherlich seinen Sinn verfehlt. So sind heute
in Deutschland viele lateinische Fachdidaktiker, nicht nur wegen der
Motivation,
Anhänger des Lateinsprechens in der Schule; in Italien verfolgt
dieselben
Ziele bes. L. Miraglia (etwa mit seinem didaktischen Kongress Docere,
Neapel 1998); zu Großbritannien vgl. Art. „Altsprachlicher
Unterricht“.
Schulpraktische Hilfen geben bes. A. Fritsch und U.Wagner, die z. Zt.
die
von K. Sallmann (1990) mitbegründete
Officina Latina auf den
Kongressen des Deutschen Altphilologenverbands betreuen (10);
weniger an klassischer Sprache orientiert sind die einschlägigen
Handreichungen
von S. Albert (wie Cottidianum Vocabularium Scholare, 1992).
Eine
ideale Grundlage für einen auf dem Sprechen basierenden
Sprachunterricht
bietet der Däne H. H. Ørberg in dem sorgfältig
durchdachten,
nur in Latein abgefassten, Lehrwerk Lingua Latina per se illustrata
(Kopenhagen
1980 ff.), das leider noch allzu wenig erprobt wurde (vgl.
27.84
f.).
2. Colloquia Latina, lateinische Sprechzirkel und Lateinvereine
Vor allem der Befähigung zu einem natürlichen
Sprachunterricht
am Gymnasium, daneben der Reaktivierung des Latein als Gelehrtensprache
(gelegentlich sogar der poetischen Stilübung [M. v. Albrecht, Scripta
Latina, 1989, 227 ff.]), dienen die heute bes. an manchen
Universitäten
veranstalteten
Colloquia Latina, die in den 50er Jahren offenbar
zuerst vom Tübinger Gräzisten Hildebrecht Hommel eingerichtet
wurden. (Überblick auf dem Stand von 1994 in 27.97, vgl.
Stroh
in 27.53-55).Vielfach bilden sich an Universitäten auch
aus
studentischer Initiative lateinische Sprechzirkel (zuletzt etwa in
Oxford
und Warschau); andere lateinische „Stammtische“ und dgl. (wie
neuerdings
in Wien) entstehen unabhängig von den Bildungsinstitutionen.
Getragen
werden vergleichbare Unternehmungen, wie bes. auch förmliche
Lateinsprechkurse
in Europa (Seminaria Latinitatis vivae, vgl. 7) und den
USA,
oft von Lateinvereinen wie der (mit einer universitären
Arbeitsstelle
für Neulatein verbundenen) Societas Latina in
Saarbrücken
(unter Führung des für das Lateinsprechen als Lexikograph,
Buch-
und Tonkassetteneditor bes. tätigen Pater C. Eichenseer, vgl. 9.68
f.) und der ebenfalls sehr aktiven L.V.P.A. Latinitati Vivae
Provehendae
Associatio e. V. in Werne (http://pagina.de/lvpa/
).
In Spanien hat sich neuerdings ein Circulus Latinus Matritensis
gebildet (http://www.servicom.es/latine/circulus.htm),
in Amerika ein Septentrionale Americanum Latinitatis Vivae
Institutum
(SALVI: http://www.latin.org);
in
Deutschland ist besonders bekannt der Verein Europäische
Lateinwochen
e. V., der sich auch um römische Kochkunst bemüht (R. Maier
in
27.60-64).
Das Internet ermöglicht nun bequemen Gedankenaustausch, auch in
den
entstehenden Latin Chat-Clubs.
3. Lateinzeitschriften,
Die erste europäische Lateinzeitschrift im Sinne des lebendigen
Latein hieß mit beschwingtem Namen Alaudae (1889-1895),
in
Gänze verfasst von dem Juristen und Dichter Karl Heinrich Ulrichs,
der als Vorkämpfer auch der modernen „Schwulen“-Bewegung bekannter
geworden ist. Ihr folgten, neben vielen anderen (detaillierter
Überblick
über das ganze Gebiet bei 22,vgl. die Ergänzungen von
Sacré in 27.72-75), die spanische Palaestra Latina
(1930-1976) und die vom gleichnamigen Verein getragene Münchener Societas
Latina (1932-1955), deren Nachfolgerin seit 1965, Vox Latina
(seit 1975 hg. von C. Eichenseer), die z. Zt. verbreitetste, an
Gegenständen
und aktuellen Informationen reichste Zeitschrift ihrer Art ist. Wie bei
ihr ist der stilistische Anspruch eher bescheiden bei der vom
Brüsseler
Radiologen Guy Licoppe seit 1984 herausgegebenen Melissa (die
regelmäßig
durch gewichtige neolatinistische Beiträge Dirk Sacrés
bereichert
wird); sprachlich gehobener und stärker philologisch ausgerichtet
ist die Vatikanzeitschrift Latinitas (seit 1953), zu deren
Vorgängerinnen
die von Leo XIII. inspirierte Vox Urbis (1898-1913)
gehört.
Nur im Internet zugänglich ist der von Terence Tunberg gestaltete
gehaltvolle Retiarius (http://www.uky.edu/ArtsSciences/Classics/retiarius/).
Dazu kommen kleinere für Schüler bestimmte Blätter wie
Tiro und Rumor varius sowie der über ein
Mitteilungsblatt
hinausgehende L.V.P.A.e nuntius des erwähnten Vereins
(oben
B.2). Es fehlt die graphisch wie literarisch wirklich
ansprechende
Lateinillustrierte.
4. Konversationshandbücher, Lexika
Als unübertroffene Konversationshilfe wurde zu Recht immer wieder
aufgelegt und z. T. bearbeitet das Büchlein von G. Capellanus, Sprechen
Sie lateinisch? (zuerst 1890), dessen Witz und sprachliche
Qualität
von keinem Nachfolgewerk erreicht wurde (vgl. 9.49-51, 27.83
f.). Weniger inspiriert, aber verdienstvoll ist jetzt etwa das
systematischer
angelegte Hilfsbuch von J. C. Traupman, Conversational Latin for
Oral
Proficiency, 1996; der Erfolg von horriblen Beiträgen, wie
etwa
eines H. Beard, Latin for all Occasions - Latina Lingua
Occasionibus
Omnibus [!], 1990 usw., zeigt, dass hier, auch im
angelsächsischen
Sprachbereich, ein Markt vorhanden ist, den Kenner und Könner
erobern
sollten. Nicht völlig befriedigend scheinen auch die modernen, zum
lebendigen Lateingebrauch bestimmten Lexica (vgl. 27.76-81),
unter
denen jetzt das vom Vatikanlateiner C. Egger oben herausgegebene
Lexicon
recentis Latinitatis, 1992/97 (dt.: Neues Lateinlexikon, 1998)
hervorragt
(vgl. auch sein nützliches Lexicon nominum locorum, 1977 u
.a. m.); hier wie etwa in dem auch das Wissenschaftslatein der
vergangenen
Jahrhunderte aufarbeitenden Lexicon auxiliare (³1991) von
dem
Saarbrückener Ch. Helfer wird oft, vor allem im Bereich
abstrakteren
Denkens, bequemen Neubildungen vor echt lateinisch konzipierten
Wendungen
der Vorzug gegeben.
5. Lateinkongresse und –festivals
Der 1956 von Jean Capelle inspirierte und einberufene 1. Internationale
Kongress für lebendiges Latein in Avignon (20) brachte,
dank
Zeitungsberichten, das Vorhandensein zeitgenössischer lateinischer
Eloquenz – rund die Hälfte der Kongressbeiträge war
lateinisch
– auch einem breiteren Publikum zum Bewusstsein; er endete mit
gemeinsamen
Empfehlungen zur Vereinheitlichung der Aussprache (die sich auf
Grundlage
der sog. pronuntiatio restituta mittlerweile weltweit
durchgesetzt
hat) und zur Erneuerung des Sprachunterrichts. Die nachfolgenden vier
Kongresse
(von Lyon 1959 bis Pau 1975) ließen, vor allem nach der
französischen
Bildungsreform von 1968, den ursprünglichen Schwung
allmählich
etwas erlahmen. Er wurde erneuert durch die mittlerweile neun wahrhaft
internationalen und lateinischen Conventus der römischen
(nicht
vatikanischen) Academia Latinitati fovendae (von Rom 1966 bis
Jyväskylä
1997, letztere ausführlich dokumentiert in einem lateinsprachigen,
auch als Videokassette verbreiteten Film der Finnish Broadcasting
Company:
Vinculum
amicitiae), die auch unregelmäßig lateinische
Commentarii
herausgibt (Sacré in 27.74). Etwas andere Wege ging der
erwähnte
(s. oben B.3) tschechische Humanist und Komponist Jan Novák mit
seinen 1972 in Rovereto veranstalteten, lateinischer Poesie, Musik und
Drama gewidmeten Feriae Latinae; sie wurden fortgesetzt durch
die
von Novák mitbegründeten internationalen Musik- und
Lateinfestspiele
LVDI
LATINI, die von 1983 (Ellwangen) bis 1993 (München) viermal in
süddeutschen Städten stattgefunden haben, und die davon
abgeleiteten
Scholae
Frisingenses (von 1988-1990 auf dem Freisinger Domberg), die
stärker
wissenschaftlichen Zuschnitt hatten (vgl. 9.70-72 , 28.278
ff., 25). Davon mitangeregt fanden an deutschen Gymnasien in
den
vergangenen Jahren verschiedentlich
Ludi bzw. Dies Latini oder
Römerfeste statt, die auch mit gesprochenem und gesungenem Latein
für das umkämpfte Schulfach warben. Bereichert wurden solche
Festivitäten (wie ähnliche Veranstaltungen in Museen,
archäologischen
Parks usw.) oft von dem die lateinische Sprache vielfach einbeziehenden
Militärhistoriker Marcus Junkelmann, dessen publikumswirksame
Unternehmungen
zur „experimentellen Archäologie“ im römischen Bereich (vgl.
etwa 11) eine gewisse Analogie zu denen der Latinitas viva
haben, so dass sie auch ihrerseits bes. vom Münchner Lateinverein
Sodalitas
LVDIS LATINIS faciundis e. V. (28) gefördert werden
(http://www.klassphil.uni-muenchen.de/~stroh/sodalitas.html).
D. Ausblick
Wenn der finnische Rundfunk seit gut zehn Jahren allwöchentlich
in recht unciceronischem, modernistischem Latein aktuelle Nachrichten,
ausstrahlt (T. Pekkanen / R. Pitkäranta: Nuntii Latini, 5 Bde.,
1992-1999),
die auch im Internet gelesen und gehört werden können (www.yle.fi./fbc/latini),
ist die Öffentlichkeit mit Wohlwollen interessiert, amüsiert
oder gar entzückt; dagegen ist der durch die Schule lateinischer
Stilübungen
gegangene philologische Fachmann oft eher betreten angesichts einer
Sache,
die ihm teils dilettantisch, teils marktschreierisch scheint – und dies
gilt für viele Unternehmungen des „lebendigen Latein“. Sie sollten
ihm aber eher Ansporn sein, noch Besseres, Sinnvolleres zu leisten, die
eigene sprachliche Kompetenz nicht verkümmern zu lassen, sondern
sie
wie die Humanisten früherer Jahrhunderte im Sinne einer Latinitas
perennis zur Kommunikation mit Mit- und Nachwelt zu verwenden. So
kann
er, falls er das überhaupt will, am wirkungsvollsten der Ansicht
widersprechen,
die jetzt Françoise Waquet in ihrer am Ende geradezu
nachrufartigen
Geschichte des neuzeitlichen Latein (30), darzulegen versucht
hat:
dass die schon so oft gestorbene Sprache für die Welt längst
ihre Schuldigkeit getan habe und endgültig ins Reservat der
Spezialwissenschaften
abtreten solle. Viderint grammatici!
1 F. Anders (Hg.): Lebendiges Neulatein, (1933) ²1955
2 J. Borucki (Hg.): Latein im 20. Jahrhundert, 1974
3 P.Burke: Heu domine, adsunt Turcae! Abriß einer Sozialgeschichte des postmittelalterlichen Lateins, in: Verf., Küchenlatein (zuerst engl. 1987), 1989, 31-59
4 G. Cesbron / L. Richer (Hg.): La réception du latin du XIXe siècle à nos jours, Angers 1996
5 I. Eberle (Hg.): Viva Camena: Latina huius aetatis carmina, 1961
6 F. A. Eckstein: Lateinischer und griechischer Unterricht, 1887
7 C. Eichenseer: Lateinsprechkurse: Werden und Wirkung, Gymnasium 86, 1979, 383-394
8 A. Fitzek (Hg.): Latein in unserer Zeit: Europäische Kulturgeschichte im Spiegel von Ehrenurkunden, 1990
9 A. Fritsch: Lateinsprechen im Unterricht, 1990
10 Ders. / U. Wagner: Latein auch sprechen! Impulse aus der Officina Latina, in: F. Maier (Hg.), Latein auf neuen Wegen, 1999, 87-105
11 J. Garbsch: Vorwort zu: M. Junkelmann, Die Reiter Roms, Teil II, 1991, 9-10
12 D. Gerstmann: Bibliographie: Lateinunterricht, Bd.2, 1997
13 H. von Hentig: Platonisches Lehren, Bd. 1, 1966
14 W. Hoeres: Der Aufstand gegen die Ewigkeit, 1984
15 J. Ijsewijn: Companion to Neo-Latin Studies (zuerst 1977), Part I, ²1990; Part II (J. I. with D. Sacré), ²1998
16 Ders. / D. Sacré: The Ultimate Efforts to Save Latin as the Means of International Communication, History of European Ideas 16, 1993, 51-66
17 M. Landfester: Humanismus und Gesellschaft im 19. Jahrhundert, 1988
18 A. Müller / M. Schauer: Clavis Didactica Latina, 1994
19 F. Paulsen: Geschichte des gelehrten Unterrichts [...], Bd. I, ³1919, Bd. II, ³1921
20 Premier Congrès International pour le Latin Vivant, Avignon 1956 (Sammelband mit den Kongressbeiträgen)
21 G. Rosenthal: Lebendiges Latein!, 1924
22 D. Sacré: Le Latin vivant: les périodiques latins, Les Études Classiques 56, 1988, 91-104
23 Ders. u. a.: Instrumentum Bibliographicum, mit Rubrik
„Latinitas
novissima“, in: Humanistica Lovaniensia,
seit 1981
24 W. Schubert: Die lateinische Sprache in der Musik des 20.Jahrhunderts am Beispiel von Luigi Dallapiccolas „Canti di Prigionia“, International Journal of Musicology 2, 1993, 397-423
25 J. Skow: Call this a Dead Language?, Time 20. 5. 1985
26 A. Stille: Latin Fanatic: A Profile of Father Reginald Foster, The American Scholar, Autumn 1994, 497-526
27 W. Stroh (Hg.): Latein sprechen, AU 37, H.5, 1994 (mit kommentierter Bibliographie)
28 Ders.: O Latinitas! Erfahrungen mit lebendigem Latein und ein Rückblick auf zehn Jahre Sodalitas, Gymnasium 104, 1997, 271-290
29 Ders.: Jan Novák: moderner Komponist antiker Texte [mit Werkverzeichnis], Atti dell Accademia Roveretana degli Agiati, a. 249 (1999), ser. VII, vol. IX, A, S. 33-61; ständig aktualisiert in: http://www.klassphil.uni-muenchen.de/~stroh/j_novak.htm
30 F. Waquet: Le latin ou l’empire d‘un signe:
XVIe-XXe
siècle, 1998