Wilfried Stroh

Jacobus Balde in Neuburg

Festvortag zum 125-jährigen Jubiläum der Neuburger Studiengenossenschaft e.V.
17. Juli 2010


Salvete, cives Neoburgenses!

Vor knapp dreieinhalb Jahrhunderten, an einem Herbsttag des Jahres 1654, herrschte Aufregung in Neuburg. Man erwartete die Ankunft eines bekannten Mannes: des Jesuitenpaters Jacobus Balde, der hier nach dem Willen seines Ordens seine künftigen Jahre – es wurden die letzten seines Lebens – verbringen sollte.
Die Anreise des Mannes, der aus Amberg kam, muss einem kleinen Triumphzug geglichen haben. In Nürnberg veranstaltete der Magistrat Balde zu Ehren einen Empfang; dasselbe geschah vom akademischen Senat der Universität Altdorf.  Die vornehmsten Bürger und Gelehrten baten ihn hier wie dort um die Ehre eines Autogramms bzw. Autographs. In Nürnberg ergatterten einige Baldeverehrer unter den Ratsherren sogar die Schreibfeder des Mannes und zankten erbittert, wem sie gehören solle. Und auch in Neuburg war man sich der Prominenz des neuen Mitbürgers bewusst: Der niederländische Maler Joachim Sandrart, der im nahen Stockau wohnte, hatte ihnen berichtet, in seiner Heimat sei der Ruhm dieses Mannes so groß, dass, falls er einmal dort hinkäme, sie „alle begierig wären, ihn wie ein Wundertier des Geistes zu besichtigen, ja sogar für seinen Anblick Geld zu bezahlen.“
Warum machte man so viel Aufhebens um einen kleinen Jesuitenpater? Nun, dieser Jacobus Balde war immerhin in seinem Jahrhundert der europaweit, d.h. weltweit berühmteste Dichter Deutschlands. Das ist heute fast niemand mehr bewusst. Wenn wir einen gebildeten Mitbürger nach Dichtern des Barockzeitalters fragen, so wird ihm, wenn überhaupt jemand, dann vielleicht Grimmelshausen einfallen mit seinem Simplizissimus, und, falls er evangelisch ist, Paul Gerhardt, vielleicht auch Andreas Gryphius. Kaum jemand käme auf Balde. 
Fragt man umgekehrt nach diesem Jacobus Balde, so haben nur wenige (außerhalb Neuburgs) den Namen gehört. Es gibt zwar in München ein von der Neuburger Studiengenossenschaft betreutes Baldehaus und einen Baldeplatz, es gibt dort am Baldeplatz sogar eine Balde-Apotheke. Aber in ihr hat bestenfalls der Inhaber noch eine vage Vorstellung von der Bedeutung seines Namenspatrons, seine Angestellten jedenfalls haben diese nicht – wie ich mich durch telefonischen Anruf überzeugt habe.
Wie kommt es zu dieser verblüffenden Diskrepanz zwischen Baldes einstiger Berühmtheit und seiner heutigen Vergessenheit. Steht uns etwa der literarische Barock, die Poesie des 17. Jahrhunderts, überhaupt zu ferne? Aber Grimmelshausen lesen wir doch gern, und Paul Gerhardts Choräle singen wir mit Vergnügen. Oder hätte er uns als schwarzer Jesuit nichts mehr zu sagen? Auch das kann der Grund nicht sein, denn z.B. ein beinharter Protestant wie der Superintendent Johann Gottfried Herder hat für Balde regelrecht geschwärmt und ihn den evangelischen Landsleuten als „Dichter Deutschlands für alle Zeiten“ ans Herz gelegt.
Was sind dann die Gründe, warum Balde einst so berühmt war und warum er jetzt fast vergessen ist? Nun, Sie ahnen es längst: Beides hat denselben Grund, und er liegt in der Sprache. Balde schrieb Latein, also diejenige Sprache, die im 17. Jahrhundert noch unbestritten Weltsprache Nummer eins war und die von allen Gebildeten nicht nur verstanden, sondern auch praktiziert wurde. Denken Sie daran: Noch die Verträge des Westfälischen Friedens sind lateinisch abgefasst worden. Bayerns Kurfürst Maximilian I., Baldes langjähriger Landesherr, nahm wie sein Gegenspieler Gustav Adolf mühelos an Disputationen in lateinischer Sprache teil. Noch in diesem Jahrhundert war die Welt lateinisch, ein riesiges Publikum für Jacobus Balde.
Mit dem Niedergang des Lateinischen im 18. Jahrhundert musste also auch Baldes Stern sinken, zumal er ja nicht nur Latein, sondern ein vertracktes, mit den Wassern der Latinität aller Arten und Zeiten gewaschenes Latein schrieb. Da mochte auch ein Goethe mit seinem großen weltliterarischen Horizont von ihm schwärmen als einem Dichter der sich an Wohlgeschmack nur mit der Ananas vergleichen lasse – ich kann keine Ananas essen ohne an Balde zu denken -, weder solche Bekenntnisse noch Herders Bemühungen konnten Balde vor dem Vergessen retten. In München gab es im 19. Jahrhundert immerhin noch einen Baldeverein, hier in Neuburg eine Baldemedaille für strebsame Schüler – aber sogar dieses Neuburger Gymnasium hat sich ja als Namenspatron statt Balde Descartes erwählt, den Vater des modernen Rationalismus, nicht den Sohn des alten Spiritualismus.
Allerdings ist Balde heute wieder wenigstens ein Favorit der Philologie geworden. Seit dem 300. Todestag 1968 mehren sich die wissenschaftlichen Untersuchungen zu ihm. Mancherorts finden fast schon regelmäßig Symposien zu Balde statt. In München veranstalte ich seit 30 Jahren kontinuierlich, auch über die Emeritierung hinaus, Lehrveranstaltungen zu ihm; ich ediere Münchner Baldestudien und lasse eine Balde-Website betreuen, wie sie vielleicht kein anderer Neulateiner hat (www.lrz.de/~stroh/main7.html). Auch in Neuburg bestand lange ein Arbeitskreis zu Balde. Er sollte wiederbelebt werden.
Neuburg aber ist erst die dritte der Städte, die in Baldes Leben zentral gewesen sind. Vorangegangen sind, wenn wir von Baldes Geburtsstadt, Ensisheim im Elsass, absehen: Ingolstadt und München. An der Universität Ingolstadt hat Balde studiert: zuerst Philosophie und Jura, dann, nach einem spektakulären Bekehrungserlebnis, das ihn zu den Jesuiten brachte, natürlich Theologie. In Ingolstadt war er dann auch, an Gymnasium und Universität, Professor für Rhetorik. Von hier aus gewann er 1636 seinen ersten Ruhm mit einem lateinisch-deutschen Mischgedicht De vanitate mundi (Von der Eitelkeit der Welt). Daneben empfahl ihn ein witziges Hochzeitspoem für Kurfürst Maximilian eben diesem großen Staatsmann: So holte man 1637 Balde in die Residenzstadt München – das zweite Zentrum seines Lebens.
Dort stieg er vom Gymnasiallehrer rasch auf zu Maximilians Hofprediger und schließlich zum Hofhistoriographen, als welcher er den 30-jährigen Krieg behandeln sollte. Das ging nicht gut. Der eigenwillige Balde wollte sich den Vorstellungen seines Dienstherrn nicht immer fügen; und überhaupt trieb es ihn in einem förmlichen Schaffensrausch zur Lyrik. Im Jahr 1643 erschien von ihm ein Corpus lyrischer Gedichte von einer Größe und Vielgestaltigkeit, wie man es in lateinischer Sprache noch nie gesehen hatte. Balde konnte bald zufrieden feststellen: „Die Welt klatschte mir Beifall“ (Orbis applausit). Weniger begeistert war der Kurfürst, der sich, als er sah, dass sein Hofhistoriograph zur Zeit des Westfälischen Friedens noch immer mit den Misthaufen des Prager Fenstersturzes befasst war, einen anderen, willigeren Historiker suchte. Nun zog sich Balde 1648 für eine Zeit ganz ins Jesuitenkolleg zurück.
Erst 1650 mutet ihm sein Orden wieder eine strapaziösere Tätigkeit zu. Er wird Prediger zunächst in Landshut, dann in Amberg. Seine Schaffenskraft scheint ungebrochen. Nachdem er bisher vor allem in Epos und Lyrik erfolgreich gewesen war, macht er sich nun zunächst an die so ganz römische Gattung der Satire: Medicinae gloria, „Ruhm der Medizin“, hieß das erste satirische Werk – ein ironischer Titel, denn Balde ging es vor allem darum, alle Arten abwegiger Medizin und Scharlatanerie an den Pranger zu stellen. Kühner war ein zweites Unternehmen. Streng nach den Regeln der Antike schrieb Balde eine riesige alttestamentliche Tragödie über den Jephtestoff. Es war ein Drama ganz auf das Wort gestellt, ohne äußerliche Bühneneffekte. Während aber diese herrliche Tragödie vom Publikum eher zurückhaltend aufgenommen wurde – sie ist bis heute unaufgeführt geblieben –  wurden Baldes Satiren sofort mit Begeisterung gelesen. So warf er sich nun, beflügelt vom Erfolg, ganz auf das Satirenschreiben.
Und das bringt uns wieder nach Neuburg. Denn Neuburg, wohin Balde nun i.J. 1654 kam ist zunächst vor allem einmal die Stadt seiner Satirendichtung, somit der Gattung, der Balde nach der Lyrik seinen größten Ruhm verdankt. Schon Baldes erste Neuburger Satire ist ein Triumph des Witzes und gerade heute von erstaunlicher Aktualität: Contra abusum tabaci, „Gegen den Missbrauch des Tabaks“ ist sie überschrieben, und sie leistet in dieser Hinsicht kaum weniger als jedes bayerische Nichtraucherschutzgesetz. Man höre gleich zu Beginn:

Merke als erstes dir dies: Wer dem schändlichen Knaster ergeben,
wird von allen geflohn gleichwie der lepröse Garelli.
Dieses Geschlecht von Mensch und von Vieh erschnuppert man ja schon
drei Kilometer voraus. Denn stinkender rülpsen den Knoblauch
keine Knechte vom Land. Und auch nicht sieben Kadaver
riechen mit solchem Geruch. Da duftet der Bock ja noch süßer,
führt er zur Weide die Schar seiner hundert stinkenden Weiber.

Die Hässlichkeit, Widerlichkeit des Rauchens ist das Thema des ersten großen Teils des Gedichts, indem vor allem auch die Raucherclubs mit ihren Initiationsriten und Schmauchwettkämpfen und überhaupt die höllengleichen Raucherhöhlen gegeißelt werden. Dann zeigt Balde in einem zweiten Teil die Gefährlichkeit des Rauchens, das die Menschen krank und die Beutel leer macht. Besondere Empörung dabei trifft die rauchenden Frauen. Man stelle sich nur vor: Raucherinnen gibt es, die soeben entbunden haben (von schwarzen, im Mutterleib geräucherten Babys, versteht sich) und die schon als Wöchnerinnen sofort wieder zur Pipe greifen: Da wird denn um die Wette gezuzelt, die Mutter am Röhrchen, das Kleine am Busen ...
Ist diese Satire als Ganzes ernst gemeint in dem Sinn, dass Balde in der Tat das Rauchen für ein so abscheuliches Laster gehalten hätte? Unmöglich. Wir wissen aus manchen Selbstzeugnissen, dass Balde selbst Raucher war. Ja, er wurde deswegen sogar einmal vom römischen Jesuitengeneral, also der höchsten Autorität des Ordens, gemaßregelt. In einem Brief vom November 1655 schreibt dieser an Balde:

Euer Ehren (Reverentia Vestra) werden sich dann keinen Tadel zuziehen, wenn Sie sich bezüglich des Tabaks an das halten, was wir vorgeschrieben [...] haben: nämlich diesen nur mit Genehmigung des Provinzials [also des Vorgesetzten] und nach ärztlicher Vorschrift einzunehmen, und zwar allein im Schlafzimmer bzw. wenn sonst niemand zugegen ist. [Man beachte den Nichtraucherschutz.] Das scheinen Euer Ehren bisher nicht beachtet zu haben. Ich zweifle nicht, dass Sie es in Zukunft beachten werden.
 
Also war Baldes Tabakleidenschaft so groß, dass er sich zeitweilig nicht einmal an die einschlägigen Gebote seines Ordens gehalten hat. So sind denn die neueren Baldeforscher mehrheitlich der Auffassung: Balde habe seine Satire geschrieben nicht um sich über die Raucher, sondern um sich über die militanten Nichtraucher lustig zu machen. Und darum sei alles in seinem Gedicht so maßlos übertrieben. Preisfrage: Ist dies ein Gedicht für oder gegen das Rauchen?
Wer so fragt, übersieht wohl einen wichtigen Punkt. Balde ist seit seiner ersten Tätigkeit als Gymnasiallehrer vor allem einmal Rhetoriker, Lehrer der Rhetorik – die oberste Klasse der Jesuitenschule hieß ja so: „Rhetorik“. Für den Rhetoriker aber kommt es weniger darauf an, eine eigene Überzeugung zu vertreten als vielmehr, jeden eingenommenen Standpunkt mit  Gewandtheit zu verfechten. Eben dies hat Balde getan. Nichts, was sich nur irgendwie gegen das Rauchen sagen lässt, hat er ausgelassen, vielmehr es mit sämtlichen Mitteln satirischer Redekunst ausgeschmückt – ohne sich dabei das private Pfeiflein nehmen zu lassen.
Das Spielerische, fast Unverbindliche von Baldes Neuburger Satiren zeigt sich noch deutlicher in einem anderen Gedicht, ebenfalls zu einem immer noch aktuellen Thema: Antagathyrsus sive Apologia pinguium (Verteidigung der Fettleibigen). Wie kommt Balde dazu? Man muss wissen, dass er selbst spindeldürr war. Um diese seine im Rubenszeitalter verspottete Magerkeit zur Geltung zu bringen, verfasste Balde seinen Agathyrsus, ein Lob der Dünnen, die beim Jüngsten Gericht dank Federgewicht mit Leichtigkeit zum Himmel aufsteigen. Das machte Furore. Unter Baldes Anleitung wurde in München ein Magerkeitsverein (Congregatio Macilentorum) gegründet, der von seinen Mitgliedern strenge Diät verlangte – von wegen „Fat is beautiful“! Dieser Triumph der Dünnen soll nun aber laut Balde die umfangreiche Partei der Dicken schwer verstimmt haben; und so traten deren Häupter an Balde selbst heran, um ihn zu einer Gegendarstellung zu bewegen. So schrieb er also sein Lob der Übergewichtigen, wobei er aber, nach eigenem Bekunden, auch viele fast alberne Argumente anführte: vom horror vacui der Physik bis zum Schmerbauch Martin Luthers, der der Kirche weniger geschadet habe als die Dürre des Asketen Calvin! Ein Spiel des Geistes eben.
Und das gilt weithin für alle Satiren, die Balde am Ende seines Lebens in Neuburg verfasst hat. Wie die Fettleibigkeit so verherrlicht er in einer anderen, etwas ernsthafteren Satire das ungepflegte Aussehen (Encomium torvitatis); wieder in einer anderen verklärt er die Leiden der Gichtbrüchigen (Solatium podagricorum), in dem er das Podagra, die Gicht, als zärtliche Gattin preist, die ihrem geliebten Ehemann nicht vom Leibe weichen will. Mehr von Herzen kommt es Balde, wenn er ein andermal gegen astrologischen Aberglauben u.ä. zu Felde zieht (De eclipsi solari, Über die Sonnenfinsternis).
Aber, so fragen wir, wo bleibt bei alle dem die katholische Religion? Hat denn nicht die Dichtung des Jesuitenordens vor allem der propaganda fides, der Ausbreitung des Glaubens, zu dienen? Auf Baldes Dichtung lässt sich diese (in der Tat jesuitische) Formel nur sehr zum Teil anwenden. Polemisch im Sinne der Gegenreformation ist sie fast nie, religiös nur etwa zur Hälfte. Hier in Neuburg hat er eine Schrift verfasst „Über die Poesie“, De studio poetico, in der er seine Gedanken über die Aufgabe des Poeten zusammengefasst hat, die höchst eigenwillige Summe eines Dichterlebens. Es geht darin vor allem um zwei Dinge: die Verpflichtung des Dichters zur Neuheit (novitas), d.h. zur Originalität, und die damit in Spannung stehende Bindung des Dichters an die vorbildlichen Autoren.Von der Bindung an eine religiöse Wahrheit wird nichts gesagt.
Dennoch ist Balde natürlich kein heidnischer Dichter, auch in Neuburg nicht. Schon in den Gedichten, die er für den Hof des frommen Pfalzgrafen, vor allem zur Geburt von dessen Kindern zu schreiben hat, findet seine Frömmigkeit oft einen schönen, meist heiteren Ausdruck. Aber sein religiöses Hauptwerk ist die „Siegreiche Urania“, Urania victrix, ein poetischer Briefroman über die Seele des Christenmenschen. Urania, die himmlische Jungfrau, ist die Seele selbst, nach uranos, dem Himmel, genannt, weil sie dereinst für den Himmel bestimmt ist. Um sie werben nun fünf Freier, die die Schöne zur Frau begehren. Wer wohl? Es sind die fünf Sinne (sensus), Gesicht, Gehör, Geschmack, Geruch, Tastsinn, die der Seele vorgaukeln wollen, dass bei ihnen jeweils das wahre Glück zu finden sei. Und so schreiben sie, einer nach dem anderen, ihre elegisch werbenden Briefe. Aber Urania, eingedenk ihrer höheren Bestimmung, entsagt der Sinnlichkeit um ihres himmlischen Bräutigams willen: Brief um Brief, fünfzehnmal, weist sie ihre Freier zurück.
Hat Sie, liebe Zuhörer, diese Inhaltsangabe für Baldes Werk begeistert? Ich glaube kaum. Das Ganze scheint, so zusammengefasst, eine eher blutlose allegorische Konstruktion. Aber Sie ahnen ja nicht, was Balde daraus macht! Die christliche Seele gestaltet er zu einem kapriziösen, schnippischen Fräulein; die einfache Fabel baut er aus zum großen Weltgedicht, in dem die fünf sensus den ganzen Kosmos menschlicher Kultur erschließen. Diese Fünf treten auch nicht allein auf. Sie haben Trabanten neben sich, die ebenfalls Urania mit Versen zu betören suchen. Für den Gesichtssinn, Visus, schreibt etwa ein Maler namens Symphorianus, der zum Ruhme seiner Kunst von großen Genies wie Rubens schwärmt, aus dessen Haupt so viele wunderbare Gestalten entsprungen seien, dass er sich damit sogar das Vermögen eines Perserkönigs verdient habe! Aber bei Urania hat auch er kein Glück.
Relativ mehr Erfolg hat da schon der Musiker Pamphilus Sarga, der als Trabant des Gehörsinns auftritt und sich auf den allerfrömmsten König David als Harfenisten berufen kann: Seinen Tönen kann selbst Urania kaum widerstehen. Nicht einmal Gambara, der Dichter, der sich als nächster meldet, kommt so gut weg wie dieser Musicus  – ganz zu schweigen von so bedenklich riechenden Gestalten wie dem Apotheker Sassafras oder dem Koch Rumpoldus, die neben anderen für Geruch und Geschmack zuständig sind. Die Reihe der Verführer beschließt, als Gefolgsmann des grapschenden Tastsinns, Tactus, ein Militär aus Afrika, Caspar Aruncus Venantius, der unverblümt seinen Sexappeal ausspielt und unsere Urania gar zu außerehelichen Schäkerstündchen verlocken möchte – der stärkste Sturmbock der Sinnlichkeit. Aber auch über ihn triumphiert sie.
Mit diesem herrlichen Gedichtzyklus krönt Balde sein religiöses Werk (und wird sogar vom Papst dafür mit einer Goldmedaille ausgezeichnet) – er beschließt damit noch nicht sein Lebenswerk. Neben die Urania victrix stellt er einen kleinen, ebenfalls allegorischen Prosaroman, den „Feldzug der Dichter“, Expeditio polemico-poetica, in dem die neulateinischen Dichter zusammen mit den altrömischen einen Feldzug gegen die Burg der Unwissenheit, Ignorantia, führen. Was soll das? Es geht um nichts anderes als um eine Deutung des Renaissancehumanismus, also der geistigen Bewegung, mit der die Neuzeit beginnt, indem gegen „mittelalterlich“ dunkle Unwissenheit das humane Licht antiker Weisheit und Rhetorik gesetzt wird. Das Erbe dieser Bewegung der Renaissance verwalteten auch die Jesuiten mit ihrer so ganz auf der Antike fußenden Schulbildung. Ihr huldigt Balde, indem er zeigt, wie die neuzeitlichen Humanisten unter Führung Petrarcas nicht in der Lage sind, die Burg der Unwissenheit zu stürmen, bevor sie nicht die alten Dichter zu Hilfe rufen. So hat sich Balde am Ende seines Lebens noch einmal zum großen Vermächtnis auch der heidnischen Antike bekannt.
Und kommen nun auch wir zum Ende. Die Neuburger Jesuitenchronik erzählt: „In seinen letzten zwei Jahren zog er sich weitgehend vom Gespräch mit Menschen zurück und führte Unterredungen mit Gott [...]. Dann erlöste ihn ein überaus leichter Tod, wobei er bis zum letzten Atemzug bei Bewusstsein war.“ Die Chronik sagt an dieser Stelle nichts von Maria, der Balde, schon in jungen Jahren seine Sterbestunde anvertraut hatte, in einem (ausnahmsweise) deutschen Gedicht. Dort bat er die Gottesmutter, ihm dereinst an Stelle der drei antiken Parzen den Lebensfaden abzuschneiden:

Wann bey dem Beth die Kertzen brinnt /
    Die Augen nimmer wachen /
Vom Leib der kalte Todtschwaiß rinnt /
    Die Bainer jetzt schon krachen:
Dein schöne Hand / dein milte Hand
    O Junckfraw außerkohren;
Schneid oder halt / gleich wies dir gfalt /
    Sonst ist es alls verlohren.

An die Ewigkeit seines Dichterruhms wollte Balde im Angesicht des Todes nie denken. „Keine Nachwelt soll mein Bildnis schauen“, wünscht er sich einmal, und „ich will ganz begraben werden“, tumulerque totus.
Diesem Verzicht auf Ruhm hat Baldes Nachwelt leider fast voll entsprochen. Wir wissen heute die Stelle nicht mehr, an der Balde in der Hofkirche beigesetzt wurde; und die bescheidene Gedenktafel dort ist kein Ersatz für das Denkmal, dass dieser größte Neuburger längst verdient hätte. Es sollte ihm auch nicht aus seinem Körper errichtet werden. Denn das hat er sich ja verbeten. Wohl aber könnten die Gestalten seiner Werke ein würdiges Monument abgeben. Hier, in Neuburg, wäre zu denken entweder an den Kreuzzug der Dichter, die, vielleicht mit Balde als Infanterist, die Burg der Ignoranz erstürmen – ein solches Denkmal müsste vor dem Gymnasium stehen – oder, noch schöner, an jene Freier aus der Urania victrix, die alle Verlockungen von Kunst und Technik vor ihrer ersehnten Braut ausbreiten. Damit würde nicht nur der einst weltberühmte Balde geehrt, sondern auch Neuburg wäre um eine welteinmalige Sehenswürdigkeit reicher geworden.

[Der Vortrag wurde für den Druck um etwa ein Drittel gekürzt.]