Wer im Januar des Jahres 1628 die schulöffentliche 'Declamatio' der Poetenklasse am Münchener Jesuitengymnasium besuchte, der konnte, auch für die Verhältnisse dieser Schule, die als Wilhelmsgymnasium noch heute ein Bollwerk klassischer und musischer Bildung in Bayern ist, Erstaunliches erleben: Die zwölf nobelsten Dichter des alten Rom traten auf, oder, wie man blumig ankündigte, die "heiligsten Zungen von Latium wurden wieder zum Reden gebracht", um gewissermaßen in Amtsnachfolge der Heiligen Drei Könige, deren Fest man vor kurzem gefeiert hatte, ein "Königreich der Dichter" (Regnum Poetarum) auszurufen und dabei, jeweils im eigenen Stylus, eine Probe ihres nach anderthalb Jahrtausenden lateinischer Grabesruh wieder auferstandenenTalents zu geben. Und nicht etwa mit den abgegriffenen Themen des Altertums befaßten sich diese Poeten: Stoff lieferte die nagelneue Weltgeschichte, sprich: der Dreißigjährige Krieg, der, damals zehn Jahre alt, noch bellum Bohemicum genannt wurde. Und so sang denn, von einer Art Showmaster, genannt Orator, auf die Bühne gerufen, der Lyriker Horaz (Nr. 1) eine begeisterte alcäische Preisode auf Kaiser Ferdinand II., mit dem er im Himmelswagen über das besiegte Prag und die vor dem caesarischen Numen zitternde Welt fuhr. Lucrez (Nr. 2), in altertümlich rauhen Hexametern, erläuterte im Hinblick auf den 1618 Unheil weissagenden Kometen die Naturgeschichte dieser Himmelserscheinung (und gab ihr eine höchst unlucrezische Bedeutung). Als ein erstes Opfer des schrecklichen Kometen erschien dann der große katholische General Tampierius (Dampierre), dessen empörenden Tod bei der Belagerung Preßburgs (1620) - seine Leiche wurde von den aufsässigen Ungarn in Stücke gerissen - der pathetische Lucan (Nr. 3) mit geschliffenen Sentenzen zu würdigen hatte. Das Blut dieses Feldherrn gelte es nun zu sühnen, meinte Lucan (mit Zustimmung des Orator), und das geschah auch: noch nicht durch die entscheidende Schlacht am Weißen Berge (die Pugna Pragensis), die als Höhepunkt auf das Ende der Darbietung (Nr. 12) aufgespart wurde, sondern vorläufig einmal durch die (dieser Schlacht eigentlich folgende) Vertreibung des Winterkönigs (rex hyemalis) Friedrich von der Pfalz. Ein kläglicher Heroiden- bzw. höchst unheroischer Heroenbrief, natürlich von Ovid (Nr. 4) dargeboten, führte ihn vor, wie er seiner schönen Frau Elisabeth, die ihn nebst Glücksstern zu verlassen gedachte, elegisch im vollen Sinne nachjammert. Martial (Nr. 5), der schon bisher zu den Gedichten seiner Kollegen kurze epigrammatische Resumés beigesteuert hatte, gab dann, stets witziger Opportunist, dem halbtoten Löwen noch vollends einen Fußtritt, indem er Friedrichs böse Lage in Hinkjamben durchhechelte, vor Kalauern nicht zurückschreckend, und zwar so schlimmen, daß sie alsbald seinen Konkurrenten in Sachen des poetischen Humors, den Komödiendichter Plautus, auf den Plan riefen: In einer (in undefinierbaren Jamben, wenn nicht Trochäen, verfaßten) Scena A. Plauti (Nr.6), einer für den Stil des Dramatikers bezeichnenden Schimpfszene, sprachen sich die beiden wahrlich wesensverschiedenen Autoren wechselseitig den Rang eines Dichters ab. Genug der hier deplazierten poetischen Eifersüchtelei! Catull (Nr. 7), zum Thema zurücklenkend, verhöhnte noch einmal und noch schärfer in gefiederten "reinen" Jamben den gestürzten König. Und dann wurde mit dem Tragiker Seneca (Nr. 8) die Darbietung wieder vollends ernst, indem dieser das Schicksal auch der Friderici asseclae, der mit Friedrich verbündeten böhmischen Rebellen, darstellte: Zunächst in den jambischen Trimetern eines Botenberichts, dann in einem zunehmend freirhythmischen Chorlied, behandelte er die berühmte "Pragerische Exekution", bei der man die siebenundzwanzig Häupter des böhmischen Aufstands in einem vierstündigen Blutbad öffentlich hingerichtet hatte. Nach diesen jambischen Dichtern (Nr. 5-8), die der Urfunktion ihres Metrums gemäß vor allem mit den Feinden der katholischen Liga abzurechnen hatten, erhielten dann im letzten Drittel noch einmal die hexametrischen Epiker das Wort, um auch positiv die Helden des böhmischen Kriegs zu feiern. Der gezierte Statius (Nr. 9) verherrlichte, Lucans Thematik wiederaufnehmend, als weiteres "Futter" für den "grausamen Kometen" den heroischen Tod des Feldherrn Bucquoius (Bucquoy). Ebenso durfte der geistreiche Claudian (Nr. 10), "Redner und Dichter zugleich", den größten Helden, Maximilians General Tillius (Tilly), preisen. Und während nun zu erwarten war, daß endlich auch Herzog bzw. Kurfürst Maximilian von Bayern selber, der Sieger vom Weißen Berg, gewürdigt werde, kündigte der Orator zwar an, daß Vergil als rex poetarum diese herrlichste aller Aufgaben übernehmen solle, aber zuvor durfte plötzlich noch - denn dieses "Königreich der Dichter" lebt auch von der Überraschung - der Satiriker Juvenal (Nr. 11) eine gallige Philippica gegen die eigentlichen Kriegshetzer, die calvinistischen Prediger, loswerden. Dann erst, wie verheißen, krönte Vergil (Nr. 12) das Werk, dessen zwölf Teile ganz nebenbei ja auch der Zahl seiner Aeneisbücher entsprachen.
Wer war der Vater dieses gewaltigen, mehrstündigen Poetenspektakels (mit vollem Titel: Declamatio seu Regnum Poëtarum), das wir Lateiner mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Neid - denn wer von uns heute würde sich das noch zutrauen? - in einer Handschrift der Bayerischen Staatsbibliothek München (clm 27271.III, f. 86r - 111v) lesen können? Die Handschrift sagt es nicht direkt, aber aus angrenzenden Texten und manch anderen Zeugnissen ist klar und seit je bekannt: Kein Geringerer als Jacobus Balde, der später der wohl berühmteste Dichter Deutschlands in seinem Jahrhundert werden sollte,(1) hat hier als eben erst vierundzwanzigjähriger Jesuit und Gymnasiallehrer ein frühes Probestück seines Talents gegeben (wobei er sicherlich selbst als Orator auftrat, sonst aber seine Schüler vortragen ließ): Wie in Vorahnung seines vielgestaltigen, kaum auszuschöpfenden lateinischen Lebenswerks, das ihn durch fast alle bekannten Gattungen und einige von ihm selbst erst erfundene führen sollte - und das nach Originalität und Schöpferkraft, wenn wir in Deutschland bleiben, vielleicht überhaupt nur noch mit dem Werk Goethes verglichen werden kann -, hat er hier einen ersten, naturgemäß noch vielfach unausgereiften Versuch gemacht, eine Vielzahl der verschiedensten Ausdrucksmöglichkeiten lateinischer Dichtung zu erproben(2) und sie keck auf die Begebenheiten der eigenen Zeit anzuwenden. Klar, daß er das Werk in der vorliegenden Gestalt noch nicht herausgeben wollte - solche Arbeiten, wie ja auch die Dramen des berühmten Jesuitentheaters, blieben fast immer schulintern -, aber er scheint doch auch in späteren Jahren noch eine Edition, die natürlich mit einer Neubearbeitung hätte verbunden sein müssen, nicht für unmöglich gehalten zu haben.(3)
Umso mehr nimmt es zunächst wunder, daß eine solche Ausgabe des in der Baldeforschung spätestens seit 1868 - d. h. seit der Biographie von Georg Westermayer - bekannten Werks(4) bis heute noch nie wirklich in Angriff genommen wurde. Die Schöpfer der 1729 erschienenen, ursprünglich von dem damals schon verstorbenen Bühnenspezialisten Franz Lang S. J. inspirierten, "Gesamtausgabe" (Opera poetica omnia) hatten nur die im engeren Sinn epischen Stücke (also Nr. 3, 9, 10, 12) und den elegischen Heroidenbrief (Nr. 4) in ihr achtbändiges Corpus, auf "Epica" und "Elegiaca" verteilt, aufgenommen,(5) ohne von dem Ganzen irgend eine Vorstellung zu vermitteln. Zwei von eben diesen Stücken sind dann auch in neuerer Zeit noch einmal herausgegeben worden: der 'Ovidius' (Nr. 4) von Hermann Wiegand und Wolfgang Schibel (mit einer verdienstvollen deutschen Übersetzung);(6) der 'Claudianus' (Nr. 10) in einer kritischen, auch Struktur und Geschichte der ganzen Münchener Handschrift vielfach aufhellenden Bearbeitung von Peter Lebrecht Schmidt.(7) Warum diese Einseitigkeit? Wer sich mit den übrigen Stücken der nicht vom Autor selbst stammenden Handschrift beschäftigt, ahnt bald den Grund. Während nämlich jene bekannteren Texte, die als epische und elegische dem vorzugsweise in der Schule geübten metrischen Repertoire entsprachen, in der optisch gefälligen Handschrift trotz mancher Versehen einigermaßen zuverlässig wiedergegeben scheinen, ist dies bei den übrigen, minder schulüblichen, nicht ebenso der Fall. Obwohl man heute annehmen möchte, daß die Handschrift schon auf Baldes Münchener Zeit - er blieb dort nur noch bis Oktober 1628 - zurückgeht(8) und daß ihr Text aus seinem eigenem Handexemplar abgeschrieben wurde, ist sie in diesen Abschnitten, beginnend mit dem ‚Horatius' (Nr. 1) und sich steigernd bis zu dem streckenweise ganz unverständlichen ‚Iuvenalis' (Nr. 11), voll von oft krassen Fehlern, die zeigen, daß hier ein recht sorgloser und unsensibler Schreiber (wenn nicht eine Reihe von solchen) am Werk gewesen sein muß - allein die uneinheitliche Orthographie, besonders in Bezug auf u und v, weist auf eine gewisse Leichtfertigkeit -, vielleicht aber auch, daß Baldes Exemplar gerade in diesen schwierigeren, von ihm möglicherweise öfter retraktierten und durchkorrigierten Partien in einem schlechten, d. h. gelegentlich uneindeutigen oder mißverständlichen Zustand gewesen sein dürfte. Daß es sich, wie Peter L. Schmidt (nur für seinen 'Claudianus' einigermaßen plausibel) annimmt, um eine insgesamt, trotz zugebener Fehler, letztlich doch "autorisierte" Abschrift handelt, scheint mir auszuschließen.
In dem 'Seneca' (Nr. 8) jedenfalls, dessen in jambischen Trimetern (dem Normalmaß der griechischen und senecanischen Tragödie) verfaßten Botenbericht wir, als Vorübung zu einer editio princeps des ganzen Werks, kritisch behandeln wollen,(9) finden sich schon auf den ersten Blick grobe prosodische Schnitzer, die wir Balde, der uns seit 1628 auch aus gedruckten Werken bekannt ist, nicht zutrauen können (so wenn in V. 46 petit, in V. 79 trahit mit jeweils langer erster Silbe gemessen wird); evident zusammenhängende Verse wie 52 und 54, 53 und 55 sind durch Versumstellung zerissen; auf einen siebenfüßigen Vers folgt wegen falscher Zeilentrennung ein fünffüßiger (V. 41, 42); das Metrum indiziert einen Wortausfall (V. 68 per si quid gratia et pietas vales [sic]) ; die Interpunktion zerstört klare syntaktische Einheiten (wie V. 96, 97); neben falschem Genus (V. 81 udas ...dentes) findet sich einmal sogar eine 'vox nihili' (V. 60 patus) und eine nichtexistente Deklinationsform (V. 17 cuspite) - während im allgemeinen allerdings die Regel gilt, daß alles, auch wenn es keinen Sinn hat (wie V. 62 tempore optauit preces), doch äußerlich ungefähr wie Latein aussieht. Manches läßt sich aus dem Sprachgebrauch des Tragikers Seneca, wenn nicht gar aus dessen unmittelbar für Balde vorbildlichen Versen, verbessern (wie der unmetrische Schluß von V. 88 parata iam parata vltio est, wo natürlich nach Med. 25 parta iam parta vltio est zu lesen ist). Doch ist Balde durchaus nicht sklavisch seinem Seneca gefolgt; und leider hat er sich auch oft den Spaß gemacht, den Sinn der Vorlage unter weitgehender Beibehaltung der Wörter stark zu verändern - wie etwa gerade an der zitierten Stelle, wo Senecas Medea meint, sie habe die erst geplante Rache (in Gestalt ihrer Kinder) schon "geboren", Balde dagegen, die Rache sei "vollzogen" -, so daß sich die von ihm beabsichtigte Pointe, wenn der Text nicht sicher ist, manchmal kaum erraten läßt.
Sicherlich wird man sich über einiges auch streiten können; und mancher dürfte nicht grundlos meinen, man solle von einem jungen Neulateiner nicht gleich allzu viel an Korrektheit oder gar Brillanz des Ausdrucks erwarten. Wenn man etwa in V. 9 liest Horrore quatior et cor attremit metus, so scheint zwar die Emendation metu (nach dem Gebrauch des Verbs attremere bei Statius, vgl. unten z. St.), nahezuliegen; aber zwei Verse des 'Virgilius' (f. 110
[= Opera 3, 285], V. 33 f. ... Armorum sonitus; qui syluas protinus omnes / Attremuit, Pragam'que sacro terrore repleuit) beweisen, daß Balde das Verb im Sinne von "in Zittern versetzen" auch transitiv gebrauchen konnte und somit an unserer Stelle metus Subjekt ist (die Handschrift also recht hat). Umgekehrt darf man aber auch nicht überkonservativ sein. Wenn sofort in V. 2 Quascunque terra vidit pænas Colchica der vierte Versfuß ein Spondeus (wie im jambischen Senar möglich) statt eines Jambus (wie im Trimeter nötig) ist,(10) so könnte man zunächst annehmen, daß sich Balde diese Lizenz, die sich auch an zwei anderen Stelle zu finden scheint (V. 76 Morere et nefandum ad umbras mitte spiritum, V. 89 Ablatanunquam leges sceptra asserunt) und die bei sonstigen Jesuitendramatikern durchaus nicht unüblich ist,(11) lässigerweise gestattet habe. Sieht man andererseits aber, daß an allen drei Stellen das Metrum durch einfache Wortumstellung (vidit terra; mitte ad umbras; sceptra leges, vgl. aber auch unten z. St.) geheilt werden kann, ja daß diese Umstellung an einer Stelle (V. 89) auch schon aus prosodischem Grund (Hiat!) unabdingbar ist, und sieht man weiterhin, daß in V. 2 durch die Umstellung der ohnehin erkennbare Anklang an einen Senecavers noch deutlicher wird (Sen. Med. 44 quodcumque uidit Phasis aut Pontus nefas), dann kann an der Verbe sserung zu Quascunque vidit terra pænas Colchica kein vernünftiger Zweifel mehr sein: Offenbar war es Baldes Bestreben, sich in der Metrik so streng als ihm möglich(12) an die Regeln der antiken Tragödie, d. h. des in der Barockzeit für mustergültig gehaltenen Tragikers Seneca zu binden.
Dies gilt auch für die Wahl und Behandlung des Stoffs. Hinrichtungen, ja sogar Massenhinrichtungen leibhaftig auf die Bühne zu bringen, war im Jesuitentheater gängige Praxis - im 'Mauritius' von Baldes Lehrer Jacob Keller S. J. scheint die Enthauptung von gleich neun Personen hintereinander in Szene gesetzt worden zu sein(13) -, und, wie schon das moderne Beispiel von Francis Poulencs Oper 'Les dialogues des Carmélites' zeigt, macht dergleichen auch im heutigen Theater noch guten Effekt, muß jedenfalls nicht lächerlich wirken. Die Gesetze der antiken Tragödie aber, eingeschärft durch Horazens 'Ars poetica' (182 ff.), verboten dem Dramatiker solche blutrünstigen Spektakel, so daß auch Seneca(14) - mit der einen, allerdings gewichtigen, Ausnahme des Kindermords der Medea(15) - dergleichen stets in den Botenbericht verbannt: Im einschlägigen Vorbild, der auf zwei Hinrichtungen hin zentrierten Tragödie 'Troas' (heute 'Troades' genannt(16)), wird im letzten Akt von einem (sonst gestaltlosen) nuntius die im ganzen Drama vorbereitete, nun aber eben erst erfolgte Exekution der beiden Kinder Astyanax und Polyxena mit all ihren schrecklichen Details berichtet (V. 1068-1164). Seinem Beispiel(17) folgt hier Balde - obschon der Bericht aus entfernterer Erinnerung stammt (V. 1 Cædem reuoluit animus, vgl. V. 10(18)) und also eher am Anfang als am Ende einer Tragödie zu denken wäre -, wenn er die Massenhinrichtung auf dem Prager Marktplatz von einem nuncius (sic)(19) erzählen läßt. Er präludiert damit zugleich auch seinem späteren dramatischen Hauptwerk, dem 'Jephthe', den er 1637 in Ingolstadt aufgeführt und 1654, zum Riesendrama 'Jephthias' erweitert, herausgegeben hat: Auch in ihm geht es ja um eine Art Hinrichtung, die zunächst empörende Opferung von Jephtes Tochter durch ihren eigenen Vater; und auch dort hat Balde dieses vor dem letzten Akt stattfindende Ereignis hinterszenisch stattfinden(20) und in - diesmal sogar drei, sich steigernden - Botenberichten erzählen lassen. Mehr als wohl irgend ein anderes Jesuitendrama der Zeit (jedenfalls in Deutschland) stellt ja diese 'Jephtias' mit ihren fünf Akten und gliedernden metrischen Chorliedern einen Versuch dar, nach den Vorgaben der antiken, senecanischen Tragödie, bis hin zur Dreischauspielerregel, ein christliches bzw. alttestamentarisches Drama anzulegen.(21) Unser "Seneca in Prag" ist gerade auch in dieser Hinsicht, wie in der Stoffwahl, eine Vorübung zu jenem späteren, betont klassizistischen Meisterwerk.
Den Schwierigkeiten des Texts entsprechend muß es im folgenden Kommentar vor allem um sprachliche Probleme, um die Textherstellung und, damit verbunden, die Eigenart von Baldes Senecanachahmung gehen.(22) Die sachliche Erklärung wird dahinter vorläufig noch etwas zurücktreten, womit aber keineswegs gesagt sein soll, daß Baldes tragisches Exercitium - er schreibt ausdrücklich in der Vorrede: ... exercitationis causa rem propositam esse (f. 86r) - für ihn oder seine Schüler nicht auch von größtem stofflichen Interesse gewesen wäre. Die am 21. Juni auf Geheiß von Kaiser Ferdinand II. erfolgte Hinrichtung der Prager Rebellen, wie man sie nennt, d. h. die zur Einschüchterung bestimmte, mit kalkulierter Grausamkeit durchgeführte öffentliche Ermordung der besten Männer Böhmens(23) war ein Ereignis, das, wie kaum eine andere Hinrichtung der Neuzeit, die Gemüter in ganz Europa aufgewühlt hat - mehr als (angeblich) hundert Flugblätter geben von dieser Wirkung Kunde - und durch das einer stolzen Nation auf Jahrhunderte - fast möchte man sagen, bis zum Prager Frühling von 1968 - der Wille zur politischen Selbstbehauptung gelähmt wurde. Die Einleitung von Baldes narratio gibt noch dem Entsetzen über die Schrecklichkeit Ausdruck (V. 9 Horrore quatior ...); und auch wenn der Jesuit(24) Balde im Folgenden, der katholisch-kaiserlichen Wertung folgend, seinen Boten mit einer gewissen Verachtung und Hohn von den Rebellen (V. 28 perfidam ... luem usw.) sprechen läßt,(25) gestaltet er die Hinrichtung doch, wie wir sehen werden, nicht nur zu einem Akt notwendig strenger Gerechtigkeit,(26) sondern vor allem einmal zu einer Manifestation von Haß, Wut und einer alle Schrecknisse des antiken Mythos überbietenden Grausamkeit (bes. V. 52-55).
Interessant für eine Gesamtbeurteilung wäre es natürlich, Baldes Quellen näher zu kennen, um seine Fassung mit den ihm vorliegenden zeitgenössischen Darstellungen zu vergleichen. Ich habe dazu noch keine genaueren Studien gemacht, sondern mich vorläufig zur (bescheidenen) sachlichen Erklärung vor allem an neuere Geschichtswerke gehalten, von denen mir Friedel Picks Monographie über Jessenius,(27) das berühmteste Hinrichtungsopfer, am wertvollsten war. Sehr hilfreich war aber auch der Einblick in die einschlägigen Flugschriften dersoweit ich sehe, offenbar noch kaum benutzten"Sammlung Häberlin" in der Thurn und Taxisschen Hofbibliothek zu Regensburg.(28) Immerhin kann ich so wenigstens einen Hinweis auf eine Originalquelle geben. Es gibt ein starkes Indiz dafür, daß Balde vertraut war mit dem heute wohl bekanntesten Flugblatt, das auf zwei umfang- und inhaltsreichen Seiten die "Eigentliche Abbildung des Process der Pragerischen Execution [...]"(29) in acht Bildern, einem Zentralbild und sieben umrahmenden, sowie einen diese Illustrationen erläuternden ausführlichen Bericht (aus vorsichtig protestantischer Sicht,(30) ohne eigentliche Polemik) gibt. Balde spricht nämlich in V. 32 von Slicken (oder Slichen) Comes als dem zuerst Enthaupteten, womit Graf Schlick gemeint ist. Wie kam er zu der offenbar falschen Form des Namens? In dem genannten Flugblatt heißt es: "Auß dem Herren Stand [...]Ist Herrn Graf Joachim-Andreas Schlicken [...] das Haupt abgehawen": Offensichtlich hat Balde, mit der Prosopographie der böhmischen Rebellion wenig vertraut, die Endung von "Schlicken" nicht als Dativform erkannt (was ja auch gar nicht nahelag). Ein weiterer Hinweis gerade auf dieses Flugblatt - denn die Dativform "Schlicken" findet sich auch sonst wenigstens gelegentlich - gibt Baldes unrichtige Behauptung, der berühmte Chirurg Dr. Jessenius sei Orator olim Ferdinandi Cæsaris (V. 59) gewesen - höchst wahrscheinlich inspiriert aus der mißverständlichen Angabe eben dieses Flugblatts, wonach es sich bei ihm um einen "Käyserlichen" Orator (was sich aber nicht auf Ferdinand bezog) gehandelt habe (vgl. unten z. St.). Damit steht wohl so gut wie fest, daß Balde dieses (oder allenfalls ein sehr ähnliches) Flugblatt als Quelle verwendet hat (ich werde es im Kommentar als Prager Execution bzw. Prag. Ex. regelmäßig zitieren); und nebenbei hat sich ergeben, daß kein Anlaß besteht, bei Balde - auch wenn die Verwendung weiteren Materials unzweifelhaft ist - , an tiefgründigere historische Forschungen zu denken. Dennoch mag eine genauere Quellenuntersuchung noch manche Dunkelheit im Text aufklären können (ich denke besonders an V. 44, 60, 70 f.).
Ich gebe, um dem Leser das eigene Urteil über den Textzustand zu erleichtern, zunächst eine genaue Transkription der Handschrift (fol. 100r - 101v), bei der nur aus Gründen heutiger Typographie die Differenzierung der S-Formen vernachlässigt wird und die zur Ankündigung des enklitischen -que (meist auf dem die vorhergehende Silbe schließenden Buchstaben) gesetzten Akzentzeichen durch das Trennungszeichen ' vor que ersetzt sind(31) (also V.27 Odium'que [eigentlich Akzent auf dem m], im Gegensatz etwa zu V. 2 Quascunque, wo das -que nicht enklitisch ist). Genau wiedergegeben sind auch die Gravis-Akzente auf adverbialen Formen (und konjunktionalem cùm), soweit diese mit nichtadverbialen, flektierten Formen verwechselt werden könnten (V. 18 mutuò, V. 25 altùm, was ohne Akzent falsch verstanden würde); die lässige Inkonsequenz des Schreibers gerade in solchen Punkten (V. 4 latum statt latùm) wie ja auch der u/v-Schreibung soll erst bei einer Edition des kritisch gereinigten Textes ausgeglichen werden. Die Klammer markiert Abkürzungen; die Versnumerierung ist hinzugefügt.
Cædem reuoluit animus et cædem asperam
Quascunq(ue) terra vidit pænas Colchica,
Quas nulla vidit, nulla sensit: seu Padus
Stagnante latum quà tumescit alueo,
Seu quà per orbem Pharius amnis
gurgite
5
Emergit et ripâ fluit septemplice.
Ignota narro, dira sacra immania,
Quæ Praga medio sole supplicia tulit
Horrore quatior et cor attremit metus,
Quoties ad ista mente deuoluor
mala.
10
Aderat supremus sanguini reo dies,
Fatale cunctis pegma stabat in foro
Freménsque circa circum ahena copia
Latè reducto submouebat ordine
Plebis tumultum: ceu sub umbra
Caspia
15
Panthera cum citata per siluam furit
Vallatur omni cuspite adsitum nemus,
Premunt'que sese mutuò uenabula
Vt turba pictæ sepiantur belluæ.
O dura fata! et sortis instabilem
rota(m)!
20
Tam sæuiens quàm læta pariter enecat
Cùm parcit et cùm Numen aduersum monet [aut mouet]
Aequa licet esse uoluerit, non æqua erit.
Contaminatæ mortis adstant victimæ,
Silent, et altùm uulnus occultant
suum.
25
Multis tamen retentus erumpit dolor,
Odium'que mixtum lachrymis uultu micat.
Abolere certus perfidam ferro luem
Lictor moratur, et lacertos consulit.
Adeo'q(ue) primùm qua remisit
curia
30
Locum subire visus est Slicken [aut Slichen]Comes.
Mæroris ore signa pallidi gerens
Tandem'q(ue) funus, ut cruentaret solum
Excepit ensem: sed prius
truncauerat
35
Securis acta inauspicata(m) dexteram
Super hunc labantem et alterum super alteru(m),
Wenzelium cognominem de Budossa
Porrexit uno tremula sica vulnera
Ruente tabo: leuia memoraui
nimis,
40
Exurge, totum dissipa quod est nefas.
Secuta strages est priore sæuior, cadunt
Nocentes, nullus est ueniæ locus,
Cælo tametsi supplices tendant manus
Proprius'q(ue) Iudicis ora et affatus
petant.
45
Sibi periturus omnis exequias gemit
Et sponte iugulum petit iratus sibi.
Quidquid licet rogare, quidquid non licet,
Rogant et optant, quodque in extremis solet,
Siccata uultuum stetit crudelitas.
Periêre lacrymæ, perijt ingens
impetus
50
Manes'que acerbo flebiles questu carent.
Cunctaris anime? quod cruentum est eloqui,
Loquere quod audax pontus horrebit quoq(ue).
Pectus'q(ue) mites specimen affectus capit?
Quod Phasis et referta bustis
Thracia.
55
Iam capulus altùm singulis mersus fuit
Minas adæquans cædibus, cædes minis:
Cùm trahitur ecce per forum Iessenius
Orator olim Ferdinandi Cæsaris
Arbitria sub quo regij fuerat
patus,
60
Nunc inter ipsa factus arma proditor
Turbarat vrbem, tempore optauit preces
Rigat ora fletu, tot(us) in uultu est dolor.
Si nil queat sperare, desperet nihil.
Testaris astra? non iuuant: per
Cæsarem?
65
Non Cæsar esset amplius si viueres:
Per iura? quæ tu nempe violasti sacra:
Per si quid gratia et pietas vales?
Habebis istam gratiam ut reus cadas.
Per has reliquias et per hoc pignus:
vtinam
70
Et hæ reliquiæ et hoc foret tumulo datum
Pignus quod offers. Pende colla vel man(us),
Linguam uel ipsam, lingua quod fecit nefas,
Luat; tibi ipse factus es nocens, tuo
Adscribe sceleri, si loqui ia(m)
desinas.
75
Morere et nefandum ad umbras mitte spiritu(m)
Minora meritis pateris, ut feras diu.
Quod sæpe fieri debuit, fiat semel
Mox conflagrante lingua(m) trahit forcipe
Dedit illa fremitus ad suprema murmura 80
Largu(m) per udas sanguinem dentes vomens
Vocis'q(ue) malis lubricum ferit aëra
Deinde totus in necem discerpitur
Fit pæna fortis funus insertum sibi
Immersa truncis membra fumant.
Interim
85
Mugire cornu et intonare tympana,
Furere furores, vox'que varia subsequi
Pereant rebelles: parata iam parata vltio est.
Ablata nunquam leges sceptra asserunt,
Quisquámne summo deprehens(us)
cacumine 90
Non mox ruina tumuit? ô fallax bonum!
Imperia tristes rapta successus habent.
Regni interest punire quos damno viros
Credit futuros nulla consilia manent
Occulta, quæ palam negares,
diceres
95
Meditatus altiora si fieri potest.
Statim rues, si non potest, adhuc ruas.
Im folgenden Kommentar werden Senecas Tragödien der
Bequemlichkeit halber (vor allem in Bezug auf die Verszählung) in
der Regel nach der heute maßgeblichen Ausgabe von Otto Zwierlein
(Oxford 1986) zitiert; doch habe ich die erst seit Gronovius (1662)
bekannten und seitdem von den meisten Editoren bevorzugten Lesarten der
sogenannten E-Überlieferung gegenüber der Balde einzig
bekannten A-Überlieferung, wo nötig, unterdrückt. Noten
älterer Erklärer, die aber zum Verständnis Baldes nicht
viel ergaben, erschloß ich mir aus der (zu V.4) zitierten Ausgabe
von Schröder. Welche Ausgabe Balde selbst vorzugsweise benutzte
(Delrius 1593/4?), bleibt noch zu untersuchen.
1 Z .T. wörtlich nach Sen. Oed.
764
curas reuoluit animus et repetit metus (Monolog des Oedipus;
auch
dort wird eine Szene eingeleitet); vgl. auch Sen. Ag. 164 reuoluit
animus
uirginis thalamos meae ... (Clytaemnestra über die Opferung
Iphigenies)
und Med. 466 reuoluat animus igneos tauri halitus (Medea zu
Jason).
- Die Art der (auch heute in Stilübungen gelehrten) pointierten
Wortwiederholung Caedem ... et caedem asperam scheint nicht
senecanisch, sondern ciceronisch zu sein; vgl. etwa Cic. Sull. 18 ueniebat
... ad me et saepe ueniebat Autronius
(vgl. auch Sull. 64 und die bei A. Weische, Ciceros Nachahmung der
attischen
Redner, Heidelberg 1972, 38 notierten Stellen aus Verr. II); Seneca
formuliert
dieses "und zwar" anders in Phoen. 645 poenas et quidem soluet
graues
(wonach man versucht sein könnte, an unserer Stelle zu
konjizieren
et quidem asperam). - Bei caedem asperam hält sich
Balde
an die (tendenzielle) Regel Senecas, daß ein dreisilbiges Wort am
Trimeterende
durch Synaloiphe mit dem vorhergehenden verbunden werden sollte (Belege
bei
O. Zwierlein, Prolegomena zu einer kritischen Ausgabe der
Tragödien
Senecas, Wiesbaden 1983, 225 ff.); er läßt aber sonst
dreisilbige
(wie auch viersilbige) Versschlüsse uneingeschränkt zu (V. 2 Colchica,
V. 4 alueo usw.), während Seneca bis auf die
erwähnten
Fälle fast nur zweisilbige Schlüsse hat.
2 vidit terra statt terra
vidit: aus metrischen Gründen notwendige Umstellung (s. oben
S. ). Vgl. Sen. Med. 44 quodcumque uidit Phasis aut Pontus nefas,
/ uidebit Isthmos ... (Medea im Monolog). terra Colchica
spielt auf die
Grausamkeit der Kolcher an (Sen. Tro. 1104 quis Colchus hoc, quis
sedis
incertae Scytha / commisit?, vgl. auch Sen. Phaed. 906 f.),
besonders
natürlich auf Medea, die z. B. bei der Flucht aus Kolchis ihren
eigenen
Bruder zerstückelt hat (was bei Balde später noch nachklingt,
vgl.
zu V. 84).
3 Baldes Bote will offenbar
ausdrücken, daß die Schrecklichkeit der Ereignisse alles
weltweit Bekannte übertreffe. Nach Quascunque vidit ...
Colchica, wäre (analog zu Sen. Med. 44, s.o. zu V. 2; vgl.
auch Tro. 1057 f.) sinngemäß zu erwarten: vidit Praga;
überraschenderweise wird aber, der Relativsatz steigernd mit Quas
nulla vidit fortgesetzt; durch den parenthetischen Einschub seu
Padus ... septemplice gerät die Konstruktion dann
allmählich aus dem Bewußtsein und Ignota narro (V.
7)
schließt mit leichtem Anakoluth an. Nach der Interpunktion der
Handschrift
(kein Punkt nach Vers 1, Punkt nach V. 6) wäre allerdings V. 2 Quascunque
eher mit dem Vorhergehenden zu verbinden; dies macht aber, wenn man
nicht
etwa nach V. 1 eine Lücke ansetzen will, die Konstruktion noch
schwieriger; und auch das Vorbild Sen. Med. 44 (s.o.) spricht dagegen.
Entschieden einfacher zu verstehen ist der Text, wenn man in V. 3 Has
statt Quas liest.
3b - 7 Als ein Fluß, an dem
besondere Grausamkeiten stattzufinden pflegen, wäre der kolchische
Phasis zu erwarten, der aber durch terra Colchica
gewissermaßen schon verbraucht ist. Balde schiebt statt dessen
zwei an sich etwas weniger 'belastete' Flüsse ein, die aber
ebenfalls einen zumindest versteckten Bezug zu
den Prager Ereignissen haben und bei denen er (recht senecanisch)
geographische Gelehrsamkeit zeigen kann. Der Padus (Po),
bekannt vor allem durch die Katastrophe des abgestürzten Phaethon
(Ov. met. 2, 319 ff., vgl. zur Verbindung von Po und Phaethon Polyb. 2,
16, 13 u. a.), der auch "zu
hoch" (vgl. unten V. 96 f.!) hinausgewollt hatte, ist ein Fluß,
der
'stagnierend' besonders stark anschwillt (Plin. nat. 3, 119 ... nec
alius
amnium tam breui spatio maioris incrementi est. urguetur quippe aquarum
mole
...); der Nil (V. 5), bei dem man sicher an den für seine
besonders
grausamen Hinrichtungen berüchtigten König Busiris denken
soll
(Sen. Herc.f. 483 f., Tro. 1106 f.: bes. öhnliche Stelle), bildet
mit
seinen Mündungen das bekannte Delta (das auch schon Plinius a. O.
121
mit der Pomündung vergleicht, mehr bei H. Philipp, RE XVIII 2
[1942]
2198); vgl. im übrigen zu V. 5.
4 latùm (so, nicht latum,
wie die Handschrift) ist als Adverb mit tumescit zu verbinden;
mit stagnante alueo ergibt sich so die schöne Wortstellung
ABCBA, die dem ruhend schwellenden Fluß ganz angemessen ist. - tumescit
alueo: Balde hält sich hier und sonst (V. 8, 9?, 11, 12, 13,
14, 21 usw.) nicht an Senecas Regel, daß der 5. Versfuß
spondeisch oder anapästisch sein sollte - so schon festgestellt
bei Hieronymus
Avantius, De Carmine Jambico Trimetro (zuerst 1517, oft nachgedruckt;
mir
zugänglich in: L. Annaei Senecae Tragoediae, rec. Joannes Casparus
Schröderus, Delphis 1728) -, aber die regelrechten
Versausgänge sind auch bei ihm die relativ häufigeren.
5 Pharius amnis heißt der
Nil, wie Pharius (nach der Insel Pharos vor Alexandrien) seit
Tibull und Ovid für "ägyptisch" gesagt wird. per orbem kann
bedeuten, "verstreut auf der Welt" (wie per urbes,
"überall in den Städten"), was übertrieben, aber nicht
völlig sinnlos ist, da der Nil, dessen Quellen unbekannt sind
(Plin. nat. 5, 51, vgl. Baldes eigene Elegie "Nilus", in: Opera 5, 323
f.) öfter unterirdisch fließen soll (Plin. a.O. 52 conditque
se ... conditur rursus) und dann wieder "auftaucht" (a.O. erumpit)
bzw. quellengleich emporschießt (a.O. prosilit ).
Gemeint ist auf jeden Fall "der Nil in seinem ganzen (unterbrochenen)
Verlauf bis zur Deltamündung".
6 ripâ ... septemplice:
Das
viersilbige Wort am Versende (vgl. noch V. 8, 18, 50, 58, 83) bildet
malerisch
die Größe des (nach den sieben ostia celeberrima,
vgl.
Plin. nat. 5, 64) siebenteiligen Deltas ab. Bizarr ist der Vers
dadurch,
daß Wortende weder nach dem fünften Element (Penthemimeres)
noch
nach dem siebten Element (Hephthemimeres) vorhanden ist; so nur noch,
vom
Eigennamen erzwungen, in Vers 37 Wenzelium cognominem de Budosa
und
(kühner) in den Versen 49 (?) und 95. Zur Interpunktion s. oben zu
V.
2.
7 Solche Häufungen von
Ausdrücken der Schrecklichkeit finden sich gerne bei Seneca, vgl.
besonders (aus dem schon oben nachgeahmten Monolog) Med. 45-47 effera
ignota horrida, /
tremenda caelo pariter ac terris mala / mens intus agitat;
ähnlich
395 magnum aliquid instat, efferum immane impium; außerdem
Tro. 1056 dura fata, saeua miseranda horrida; Herc.Oet.
296
f.; Phaedr. 1221. Befremdend in der Reihe ist sacra, das, wenn
richtig,
die (schon in den 12 Tafeln zu findende) Bedeutung von "verflucht"
(Verg.
Aen. 3, 57 auri sacra fames, Plaut. Poen. 89 f.
homini ...
sacerrumo) haben müßte (denn sacra etwa als
"Opfer"
verstehen zu wollen, wäre vor allem aus stilistischen Gründen
abwegig).
Aber auch diese paßt hier nicht wirklich, und so ist mit aller
Wahrscheinlichkeit
sæua (wie oben Tro. 1006) zu lesen.
8 Da nach heutiger Kenntnis in Senecas
Trimeter das aufgelöste longum, außer am Versanfang, nicht
durch die Schlußsilben eines mehrsilbigen Wortes gebildet wird,
wäre supplicia bei ihm an dieser Versstelle (außer
mit Synaloiphe wie Phoen. 539 supplicia exigens)
unmöglich; doch erkannte z. B. noch Avantius (s. oben zu V. 4)
Versschlüsse an wie Herc.f. 976 arma pestifera [neue
Ausgaben: pestiferi] mouent.
9 Vgl. Sen. Oed. 206 horrore quatior ... (mit Parallelen im Kommentar von
K. Töchterle, Heidelberg 1994 z.
St.);. attremere ist eine Spezialbildung des (Balde
wohlbekannten) Statius (Theb. 3, 309 ...cui [sc. Ioui]...
terras caelumque fretumque / attremere oranti ... uidi; vgl. 8,
81); analog etwa zu adclamare: "jemandem 'zuzittern'".
Sonderbarerweise unterlegt Balde dem Verb offenbar hier wie im
'Virgilius' (s. oben S. ) den Sinn von "zum Zittern bringen". Nach Med.
926 cor pepulit horror, membra torpescunt gelu / pectusque
tremuit ("begann zu zittern", vgl. auch das Perfekt in Sen. Oed.
659
... artus gelidus inuasit tremor) liegt es nahe, bei Balde attremuit
zu lesen (was bei Seneca aus metrischen Gründen, s. oben zu V. 4,
sogar notwendig wäre). - Malerisch ist die Häufung der r-
und t-Laute im Vers.
10 deuoluor (bei Seneca nur in
Prosa, und in dieser Bedeutung offenbar unklassisch) nimmt, die (auch
in der Handschrift optisch abgesetzte) Einleitungspartie abrundend, die
Metapher des ersten
Verses (reuoluit) wieder auf. - Zu dem Entsetzen des Boten vor
der
eigenen Erzählung ist zu vergleichen Sen. Herc.f. 650 f., Phaedr.
991-995,
Ag. 416-418, Thy. 623 ff.
11 Vgl. Sen. Tro. 374 supremusque
dies solibus obstitit (vom Todestag).- Den Vers mit zwei jambischen
Wörtern (reo dies) zu schließen (so auch V. 69, 74,
97), wäre
sogar im freieren Senar des Plautus unmöglich, von Senecas
Trimeter
zu schweigen (vgl. oben zu V.4).- reus für die "schuldige"
Person,
meist mit Genitiv des Vergehens, ist seit Plautus (Cist. 164 reum
eius
facti) sprachüblich; etwas kühn ist die Übertragung
auf
sanguis, das in 'blutiger' Ironie für "Rasse, Sippe" (Oxford
Lat. Dict. s.v. "sanguis" Nr. 9) gesagt wird.
12 pegma (griech. µ) das
Blutgerüst, steht seit Cicero in Prosa für alle Arten von
Gerüsten bzw. hölzernen und behelfsmäßigen Bauten;
von den Dichtern haben das Wort nur Phaedrus und Juvenal, für eine
Tragödie ist es (wie die meisten griechischen Wörter) fast
ein Stilbruch. - Zum Verseingang mit fatale vgl. Sen. Phaedr.
113, Thy. 233, Ag. 627. Mit cunctis sind wohl nicht nur "alle
Delinquenten", sondern in Antithese zu V. 11 (sanguini reo)
"alle Beteiligten" gemeint. Vgl. zu V. 23.
13-15 Die Beschreibung des
Publikumverhaltens vor der Hinrichtung erinnert entfernt an Sen. Tro.
1075 ff. (1077 plebis ... turba) und 1125 ff., ohne daß
man von eigentlicher Nachahmung sprechen könnte. - circum circa
bzw. circumcirca (Serv. GL IV 442 ... ut pro una parte
orationis habeantur) ist die seit
Plautus einzig übliche Form (Elsperger, ThlL III 1124); circa
circum
dürfte eher Verschreibung als Versehen des Autors sein. - ahena
copia bezeichnet offenbar mit ungewöhnlicher Metonymie eine
bewaffnete
("erzene") Truppe, die die Menge zurückdrängt. fremere heißt
bei Seneca jedes unartikulierte Geräusch, vom Vogelgezwitscher bis
zum
Löwengebrüll und Meeresbrausen (vgl. bei Balde V. 80); hier
scheint
der für die Hinrichtung bezeugte Lärm der Trommeln gemeint
sein
(vgl. zu V.85).
14 Das Imperfekt submouebat bezeichnet nicht den Erfolg, sondern das fortdauernde Bemühen. reducto ordine scheint ein quasi modaler Ablativ, der im Grunde das Ergebnis des Bemühens vorwegnimmt. Leichter wäre (was Jürgen Leonhardt mündlich vorschlägt): Lato reductum summouebat ordine / plebis tumultum; aber das Überlieferte ist wohl noch exquisiter.
15-19 Gelegentliche quasi-epische
Gleichnisse, in denen besonders auch wilde Tiere erscheinen, sind
durchaus charakteristisch für Senecas Botenberichte (etwa Tro.
1093 ff.; 1140 ff.; Phaedr. 1072 ff.; Oed. 919 ff.; Thy. 732 ff.).
Statt der banalen wütenden Löwen (Töchterle [wie zu V.
9] zu Oed. a.O.), Tigern (Sen. Med. 863 ff. ut tigris orba natis /
cursu furente lustrat / Gangeticum nemus) und Ebern (M. Janka im
Kommentar, Heidelberg 1997, zu Ov. ars 2, 373 f.) bietet Balde hier den
ungewöhnlicheren Leoparden bzw. Panther (im Gleichnis immerhin
schon bei Hom. Il. 21, 573-578 und Lucan. 6, 182-183, wo ein pardus
die summa uenabula seiner Jäger überspringt -
hiervon scheint Balde angeregt), dessen Wüten offenbar mit dem des
tumultus plebis (dessen Gefährlichkeit andeutend)
verglichen werden soll; dabei entsprechen vor allem die Waffen der zum
Schutz eingesetzten Militärtruppe dem die Bestie
einschließenden Kordon von Jagdspießen: Nach Abbildung und
Kommentar des Flugblatts (Prag. Ex.[ s. oben S. ]) waren
außer dem Ring von Bewaffneten, die unmittelbar das
Blutgerüst umgaben, auf dem Marktplatz noch weitere Gruppen von
Reitern und Infanterie - sie wurden übrigens von Wallenstein
befehligt -, die das Volk in größerem Abstand fernhielten.
- Mit umbra Caspia ist der Schatten des Walds am Kaspischen
Meer gemeint; dort ist sonst die bevorzugte Heimat der Tiger (Stat.
Theb. 10, 288 und. Thes. ling. lat., Onomasticon II 231, 28 f.);
vgl. aber bes. Stat. Theb. 8, 572 Hyrcana leo Caspius umbra
(auch im
Gleichnis). sub ist zu verstehen wie in sub ualle, sub
pectore ("tief im Schatten").
16 citatus ist eine
Lieblingsvokabel Senecas (Herc.Oet. 1238 citatam ... feram);
per siluam furit nach Sen. Oed. 919 qualis per arua Libycus
insanit leo...
17 Das anschauliche uallatur
ist t. t. für den Palisadenbau am römischen Lager; omni
cuspide (die Form cuspite ist einVersehen) hieße,
daß der Wald "mit jeder Art von Spießen" (oder "allen
Spießen") umschanzt wird,
was keinen Sinn gibt; ohne Zweifel also: omne nemus.- Unter adsitum
nemus müßte entweder der "dabeiliegende" (Ihm, ThlL II
902
f.: nur zwei Belege) oder gar der mit Weinlaub umrankte (Bannier, ThlL
II
863, 38 ff.) Wald zu verstehen sein; beides ist hier unpassend. So
dürfte
in dem Wort ein Epitheton für cuspide stecken. Jürgen
Leonhardt
schlägt mündlich vor: cuspide adsidua; vgl.
dazu
Ausdrücke wie Iuv. 6, 248 adsiduis rudibus ("durch
ständige Hiebe mit dem Rapier").
19 Wenn der Text (Vt turba
pictæ sepiantur [= sæpiantur] belluæ)
in
Ordnung sein sollte, müßte turba (aus metrischem
Grund
mit kurzem a) als Apposition zu pictæ
beluæ
aufzufassen sein, wie vielleicht in dem exquisiten, aber nicht
unumstrittenen
Properzvers 1, 19, 13 illic formosae ueniant chorus heroinae (vgl.
P. Fedeli im Komm. [Florenz 1980] S. 448 z.St.); aber die Voranstellung
des
beiwortfreien turba wäre unerträglich. Den
üblichen
Typus bietet Ov. ars 2, 281 sunt tamen et doctae, rarissima turba,
puellae
(ähnlich am. 2, 2, 30 [vgl. J. C. McKeown im Komm., Leeds
1998,
z.St.]; 2, 9, 53 usw.), kühner: Ov. epist. 1, 88 turba, ruunt
in
me, luxuriosa, proci: Danach könnte man turba picta versuchen,
wobei aber immer noch die Wortstellung stören würde. Gegen
alles
bisher Vorgeschlagene spricht, daß dabei unter turba eine
Menge
von Panthern zu verstehen wäre, was zwar dem tumultus plebis entspräche,
nicht aber dem (doch schwerlich kollektiv auffaßbaren) Singular
in
Vers 16 sowie dem epischen Gleichnisstil (wo wilde Tiere
regelmäßig
im echten Singular erscheinen). Von Sinn und Sprache her wirklich
befriedigend
ist nur (mit Wortumstellung): Vt picta turbâ sepiaturbellua:
Hier steht dem einen Panther eine Schar von Jägern gegenüber.
20-23 Nach Sen. Med. 431-434 (Monolog
des Jason) O dura fata (= Sen. Tro. 1056: Beginn des
Botenberichts) semper et sortem asperam, / cum saeuit et cum parcit
ex aequo malam! / remedia quotiens inuenit nobis deus / periculis
peiora .... Damit meint Jason, daß in seinem Leben mit Medea
die Rettungen aus einer Gefahr nur immer neues und
größeres Unheil nach sich ziehen. Bei Balde scheint der
Gedanke nicht ebenso passend und klar.
20 Das überlieferte sortis
paßt an sich gut zu fata (vgl. oben Sen. Med. 431 fata
... et sortem und etwa Verg. Aen. 10, 501 fati sortisque
futurae), weniger dagegen, wegen seines Bildcharakters (Los in der
Urne), zu instabilem rotam, wo ja ganz offenbar das Rad bzw.
die Kugel der Fortuna (in Rom üblich seit Pacuv. 366 f. Ribb.)
vorschwebt. (Fortuna rotat steht auch mit der entsprechenden
Abbildung auf dem Titelkupfer zu Baldes 'Poema de vanitate mundi',
1638, s. Rudolf Berger [Hg.], Jacob Balde: Deutsche Dichtungen,
Amsterdam / Maarssen 1983, Anhang, vor S. 1; das Motiv findet sich
ähnlich auch schon in dem 1628 ausgestellten Emblemzyklus 'De Dei
et mundi amore', der dem 'Regnum Poetarum' in der Handschrift
vorausgeht.) So könnte man daran
denken, trotz der Senecaparallele (vgl. auch epist. 15, 11 sors
uoluit),
nach Tib. 1, 5, 70 (uersatur celeri fors leuis orbe rotae) zu
lesen:
fortis (bzw. Fortis) instabilem rotam; vgl.
auch Sen.
Phaedr. 1123 f. quanti casus humana rotant! / minor in paruis
fortuna
furit und Phoen. 632 et spes et metus fors caeca uersat.
Vgl.
sonst zum Ausdruck Sen. Herc.Oet. 1068 non stabilis rota.
21-22 Der Gedanke von Sen. Med. 432
(s.o. zu V. 20-23) wird nicht sehr geschickt in zwei Verse (unter
Aufnahme der
Stichwörter saeuire und parcere) entfaltet;
offenbar soll
Vers 22 (der sich wohl ohne Verlust auch streichen ließe) den
vorhergehenden
erläutern, so daß Schicksal (sors bzw. fors)
und
Gott (Numen) zusammenzufallen scheinen. Zum Ausdruck vgl. Sen.
Tro.
28 testor deorum numen aduersum mihi.- Das überlieferte monet
(bzw. mouet) kann nicht richtig sein; bei der (naheliegenden)
Verbesserung
zu manet scheint, den Kriegsumständen entsprechend, Gottes
Ungnade
gewissermaßen als normal vorausgesetzt zu sein.
23 Der Sinn dieses Verses ist nicht
eindeutig, obwohl sein Vorbild evident ist: Sen. Med.199 f. qui
statuit aliquid
parte inaudita altera, / aequum licet statuerit, haud aequus fuit.
Subjekt muß die rota sortis sein: Von ihr scheint gesagt,
daß sie,
auch wenn sie gerecht sein wolle, doch nicht freundlich sein werde (mit
einer
Verschiebung im Sinn von aequus, ähnlich, aber nicht
gleich, wie
bei Seneca) - wobei jedoch besonders die Vergangenheitsform voluerit
statt
des logisch zu erwartenden velit Bedenken erregt. So liegt es
auch
darum nahe, das Verb nicht von velle, sondern in Fortsetzung der
Schicksalsradmetapher
(V. 20) von voluere abzuleiten; vgl. nämlich Sen. epist.
15,
11 quod futuri temporis incerta sors uoluit und bes. Oct.
924-927
regitur fatis mortale genus / nec sibi quidquam spondere potest /
firmum
et stabile, / per quae [quem per Zwierlein] casus
uoluit uarios
/ ... dies und Verg. Aen. 1,22 sic uoluere Parcas). Dann
wäre
Aequa wie im senecanischen Vorbildvers ein Akkusativ; aber esse
könnte natürlich nicht richtig sein, und man
müßte lesen: Aequa licet ecce [bzw. ipsa]
voluerit ..., "Mag es auch - sieh dies Beispiel an [Oxford Lat.
Dict. s. v. ecce Nr. 5]
- gebracht haben, was gerecht ist, so wird es doch nicht freundlich
sein", oder (näher bei Seneca): Aequum licet ea voluerit
... Hier hätte das falsch verstandene voluerit einen
willentlichen Texteingriff durch den Schreiber veranlaßt. Aber
Sicherheit scheint hier nicht zu gewinnen.
24-27 Das in V. 25 überlieferte mortis
... victimæ (vgl. Hor. carm. 2, 3, 24 uictima ... Orci)
ließe zunächst an die Hinrichtungskandidaten denken: contaminatæ
wäre dann in dem bei Cicero häufigen Sinn von
"verbrecherisch"
auf victimæ zu beziehen (vgl. auch Sen. Med. 263 f. nullus
innocuum cruor / contaminauit; Oed. 389), was aber schon aus
stilistischen
Gründen höchst unbefriedigend ist. Vor allem jedoch gilt
dagegen,
daß die Delinquenten, die hier als anwesend bezeichnet
würden
(adstant), zur Hinrichtung nachher offenbar erst einzeln aus dem
Rathaus
geholt werden (V. 30, vgl. z. St.), wie dies nur natürlich und
auch
sonst bezeugt ist. Auch paßt die im Folgenden gegebene
Beschreibung
(V. 25-27: stumme Wut und Tränen) überhaupt nicht zu der
späteren
(V. 43-51: theatralische Äußerungen der Verzweiflung, keine
Tränen).
Viel angemessener ist sie den überlebenden (zwei bzw. drei) Opfern
des
Prager Fenstersturzes, was freilich (neben einer kleinen
Bedeutungserweiterung
von victima, wie in unserem Wort "Kriegsopfer"usw.,
vgl. Balde
selbst in 'Lucanus' V. 43 [f. 91r = Opera 3, 277] victima ferri)
die
Änderung von zwei Buchstaben nötig macht, die aber jeweils
eine
besondere Pointe ergibt: contaminatæ sortis (statt
mortis)
- "Opfer eines besudelten Schicksals" - ruft mit preziöser
Formulierung
in Erinnerung, daß ein Kehrichthaufen als Ursache der Rettung
(beim
Sturz aus 15 Metern Höhe) galt; Mutis (statt des
nichtssagenden
Multis), in konzessiver Bedeutung mit tamen (wie Verg.
ecl.
1, 27 libertas, quae sera tamen respexit inertem usw.) -
"obschon
sie stumm sind" -, nimmt das Silent von V. 25
nachdrücklich auf.
Balde scheint dann freilich einem naheliegenden Irrtum erlegen zu sein:
Die
beiden 'defenestrierten' kaiserlichen Statthalter waren zwar
ursprünglich als Richter für den Prozeß vorgesehen; sie
sollen dann aber doch erst nach Vollstreckung des Urteils in ihre
böhmische Heimat zurückgekehrt sein (Gindely, Geschichte [wie
Anm. 27] IV 58).
25 Vgl. zur Formulierung Sen. Herc.Oet.
1250 quid me uulnere occulto petis? (Hercules zu dem in seinem
Inneren
wütenden Schmerz).
26-27 Die Beschreibung erinnert (mehr
inhaltlich als der Formulierung nach) an Sen. Phaedr. 362-364
(über Phaedras Liebeswahn) inclusus quoque / quamuis tegatur,
proditur uultu furor; / erumpit oculis ignis ...
26 Nach Sen. Oed. 924 mersus alte [V.
25 altùm] magnus exundat dolor.
27 Zu micat vgl. Sen. de ira 1,
1, 4 flagrant ac micant oculi (vom Zorn); sonst vgl. die
Beschreibung der Zorneswut in Med. 387 f. flammata facies, ... /
... oculos uberi fletu rigat, / renidet ... Der
Formulierung kommt am nächsten ein von Seneca in epist. 115, 14
übersetztes griechisches Tragikerzitat: tam dulce siquid
ueneris in uultu micat ...
28 Nach Sen. Med. 183 f. abolere
propere pessimam ferro luem / equidem parabam ... (Creo
über die
Tötung Medeas)
29 Lictor: Höher
stilisiert,
an Stelle des zu erwartenden carnifex, der in Rom, jedenfalls
zu historischer Zeit, an Stelle des beilbewehrten Lictor für
Hinrichtungen zuständig war (Kübler, "Lictor", RE XIII 1
[1926], 507 ff., dort 513 mit Verweis auf Mommsen und einschlägige
Stellen bei Cicero und Livius, die Balde bekannt sein können). Im
übrigen verdankt Balde die exquisite Formulierung nicht Seneca,
sondern Stat. Theb. 6, 708 f. fortesque lacertos / consulit (vgl.
auch Ausdrücke wie Quint. inst. 10, 2, 19 consulat suas uires).
30 Das vom Tragiker Seneca eher
gemiedene (nur rhetorisch fragendes adeone? in Med. 122,
Herc.Oet. 1609), adeo bzw. adeoque ist hier sinnlos.
Einen passenden Sinn ergibt Aditum'que vgl. Ausdrücke wie
Stat. Ach. 2, 89 f. pandere ... / uirtutis aditus, Val. Fl. 1,
595 aditus et claustra refringit, Verc. Aen. 2, 494 rumpunt
aditus. remittere kann auch so viel wie "erlauben"
bedeuten, s. Oxford Lat. Dict. s.v. Nr. 12 (bei Seneca: Herc.Oet. 900,
Oct. 583). Daß die Verurteilten aus dem Rathaus kamen ist
bezeugt: Die "erhöchte Bühn oder Theatrum [...] zu
vollziehung der Execution" war "zu allernächst am
Rahthauß, daß man zu einer Thür herauß darauff
gehen
können / gefertiget und auffgerichtet [...]. So hat man auff dem
Gang
/ der auß dem Rahthauß auff die Bühne gangen / die
Verurtheilten
[...] durch die drey Präger Städt-Richter / zur Wahlstatt
begläytet"
(Prag. Ex. [s. oben S. ).
31 Zu locum subire vgl. Sen.
Tro.
509 f. sanctas ... sedes ... / aude subire. Slicken (oder Slichen
?) Comes ist Graf Joachim-Andreas Schlick. Baldes leicht
latinisierende Namensform beruht offenbar auf einem
Mißverständnis (s. oben
S. ).
32 Nach Sen. Med. 385 f. talis
recursat huc et huc motu effero / furoris ore signa lymphati gerens.
Auch darum empfiehlt es sich (wie aus Gründen des Sinns), nicht,
wie in der Handschrift, nach V. 31 zu interpungieren, sondern das
Partizip gerens mit Slicken Comes zu verbinden. Das
Epitheton pallidus scheint eher zur Furcht als zur Trauer zu
passen, aber vgl. immerhin Sen. Tro. 239 f.
cuius ob luctum parens / pallente maestum protulit uultu diem
(von
Aurora) und Verg. Aen. 4, 644 pallida mortu futura (von Dido).
Nach
den zeitgenössischen Flugschriften hääte sich Schlick
allerdings
„Herrisch und hertzhafftig erzeiget" (Sammlung Häberlin [wie Anm.
28]
C17/32b, A IVv, vgl.C17/37, S. 4).
33 Wenn funus richtig
überliefert wäre, müßte es "Leichnam" heißen
(Vollmer, ThlL VI
1, 1605, 36 ff., wie etwa Sen. Thy. 890 f. implebo patrem / funere
suorum), aber das wäre unsinnig, wenn man es, wie in der
Handschrift (Komma
nach funus), mit dem Vorausgehenden verbindet - bei
Beibehaltung der
Interpunktion wäre fractus oder dgl. statt funus
zu lesen
-, es wäre nichtssagend, wenn man es zum Folgenden zieht. Zu lesen
ist
darum höchstwahrscheinlich (unter Tilgung des Kommas) fusus,
was genau zum folgenden Verbum paßt; vgl. zu blutigem fundere
(Robbert, ThlL VI 1, 1569, 71 f.: "plerumque i.q. necare") Ov. met. 13,
256
cum multo sanguine fudi; epist. 3, 49 fusum tellure cruenta;
bes. auch Sen Herc.f. 895 f. ultrice dextra fusus aduerso
Lycos
/ terram cecidit ore ...
34 excepit ist für die
Enthauptung passender als etwa recepit (Sen. Tro. 49 cum
recepisset [sc. ferrum], vom in die Kehle gestochenen
Priamus); vgl. auch Ag. 232
ferrumque ... pectore aduerso excipe ( was aber anders gemeint
ist).
- Das in Senecas Tragödien nicht verwandte truncare (aber
vgl.
zu V. 35!) begegnet häufig später bei den lateinischen
Epikern.
35 inauspicatam: Die sonst
seltene, in Poesie ganz unübliche Vokabel ("mit bösem Omen
verwünscht") findet sich zweimal in Senecas Ödipus: 723
inauspicata de
boue und bes.1021 f. (wo auch der Kontext Balde angeregt hat): per
has reliquias corporis trunci precor, / per inauspicatum sanguinis
pignus
mei ... - Im übrigen steigert Balde hier die Schrecklichkeit:
Nach
dem zeitgenössischen Bericht (Prager Ex., s. oben S. )
wurde
zuerst "das Haupt abgehawen / vnnd hernach die rechte Hand
(welche
deß Grafen Diener auf ein Stöcklein gelegt) abgeschlagen".
36-38 In der überlieferten Reihenfolge ist V. 36 unverständlich, da sich labantem sinngemäß schon auf Wenzelium in V. 37 beziehen muß - wegen super hunc kann damit ja keinesfalls die abgehauene Hand des Grafen Schlick gemeint sein -, dann aber das eingeschobene alterum super alterum ("einen nach dem andern", in Prosa üblich: alius super alium, s. Oxf. Lat. Dict. s. v. "super" 6b) sinnlos wird. Der Sinn wird schlagend klar, wenn man V. 36 nach V. 38 (eventuell auch nach V. 37) stellt: "Den Wenzel v. B. streckte mit (nur) einer Verwundung [vulnere statt vulnera ist unumgänglich; vnovulnere bezieht sich natürlich darauf, daß Schlick doppelt 'verwundet' wurde] das Schwert nieder, so daß er über diesen fiel [zur Vokabel s. unten], und (dann) einen nach dem anderen."- Das eigentümliche labantem, das (mit seiner üblichen Bedeutung "straucheln, wanken") hier nicht so recht zu passen scheint, verdankt sich wohl einer ungenauen Reminiszenz an den Vorbildvers Manil. 1, 886 (über die Pest in Athen) ... alter in alterius labens cum fata ruebant, "als alle übereinander, der eine über die Leiche (fata) des anderen, sinkend hinstürzten" (wonach man versucht sein könnte, bei Balde labentem zu vermuten, was aber durch das Metrum ausgeschlossen ist). Vielleicht wurde Balde diese Stelle vermittelt durch einen Kommentar zu Senecas 'Oedipus' (dort etwa zu V. 63 suae ... circa funus exequiae cadunt), dessen Pestbeschreibung er nachher intensiv verwendet.
37 Wenzelium = Wenzel von
Budowetz (Böhmisch-Budweis), auch sonst als zweiter der
Hingerichteten genannt (und unter ihnen der einzige Reformierte). Budosa
(schwerlich Budossa wegen der Positionslänge)
dürfte von Balde nach dem offenbar üblicheren Buduissa
(s. Graesse / Benedict / Plechl, Orbis latinus, Braunschweig 1972, s.v.
"Budovicium", dort auch andere Namensformen) aus Gründen
des Metrums abgewandelt worden sein. cognominem (von cognominis)
heißt im antiken Latein immer "gleichnamig" (Bannier, ThlL III
1496,
19 ff.); Balde gebraucht es offenbar im Sinn von "das Cognomen
führend".
Der wegen der Eigennamen metrisch unregelmäßige Vers hat
Wortende
nach jedem Doppelfuß.
38 tremula, nicht vor Angst
oder Schwäche „zitternd" (vno vulnere erledigt ja die sica
ihr Werk), sondern entweder wegen der schnell vibrierenden Bewegung
wie in Ov. met. 8, 374 f. uibrata per auras / hastarum tremulo
quatiebant spicula motu (was aber
nicht ganz dasselbe ist) oder (mir wahrscheinlicher) kausativ im Sinne
von
„Zittern erregend" (vgl. Prop. 1, 5, 15 tremulus ... horror,
Cic. Arat.
68 tremulo ... frigore).
39 Ruente tabo: wohl nach Verg.
Aen. 3, 626 membra fluentia tabo (von den Gliedern, die der
Menschenfresser Polyphem verzehrt); vgl. bes. Sen. Herc.Oet. 520 tabem
[A, tabum E] fluentis uulneris (vom vergifteten
Blut des Kentauren Nessus);
das vom Blut ungewöhnliche ruente dürfte absichtliche
Steigerung sein (Plin. nat. 5, 54 [über den Nil, vgl. oben zu V.
5!] nouissimo catarracte ... non fluere ... creditur, sed ruere).
39-40 Nach Sen. Med. 48 f. ... leuia
memoraui nimis:/ haec uirgo feci, grauior exurgat dolor: In
typisch senecanischer Weise (vgl. Herc.f. 75 ff., Ag. 108 ff., Thy. 176
ff.) reizt sich Medea dort selber dazu auf, noch schrecklichere Taten
zu tun. Will sich also Baldes Bote
in ähnlicher Weise zu einer Erzählung von noch
Fürchterlicherem Mut machen (wie ohne Zweifel in V. 52)? So
würde man meinen; aber dann wäre dissipa quod est nefas nicht
richtig, denn weder kann dissipare vom "Enthüllen" in der
Rede, noch nefas von nur "Entsetzlichem" gesagt werden. Wenn
der Text richtig ist, muß sich der Bote hier in einer Apostrophe
(vgl. unten zu V. 65-78) an den Henker wenden und diesen ermuntern:
"Zerhacke, alles was böse ist!"; dissipa dann wie Cic.
leg. Man. 22 (Medeam) praedicant ... fratris sui membra ...
dissipauisse;
mehr bei Hey, ThlL V 1, 1488, 12 ff.; nefas wie etwa in Verg.
Aen.
2, 585 extinxisse nefas metonymisch übertragen auf den homo
nefarius. Dies zeigt, daß der Bote nach anfänglichem
Entsetzen
über die Ereignisse nunmehr selbst von einem wilden Rachezorn
ergriffen
wird.
41-51 Die auf die ersten
Einzelexekutionen - drei Hingerichtete waren aus dem höheren Adel,
dann kamen sieben
Ritter und dreizehn Bürger - folgende Schilderung eines
Massenblutbads
ist vielfach inspiriert aus der Pestschilderung im Eingangsmonolog des
senecanischen 'Oedipus' (bes. V. 52-71), wobei aber die von Balde
eigenwillig nachgebildeten Verse nicht immer zum Verständnis
seiner hier etwas dunklen Verse beitragen: So wie der Text
überliefert ist, scheinen sich in der psychischen Verfassung der
von Balde beschriebenen Todeskandidaten verzweifelter
Überlebenswille und Sterbensssehnsucht zu widersprechen.
41 Die falsche Verstrennung - immerhin
schien ja auch priore sæuior, cadunt einen passablen
Versschluß zu ergeben - zeigt schlaglichtartig die metrische
Sorglosigkeit des Schreibers.
42 Nach Sen. Oed. 263 non erit
ueniae
locus (vgl. etwa auch Oed. 65 nullus est miseris pudor);
Baldes
Feststellung scheint bei einer vorbereiteten Massenhinrichtung weniger
angebracht
(zumal es sogar Begnadigungen in letzter Sekunde gab [vgl. zu V. 44]!);
und
man sieht überhaupt nicht recht, wodurch das jetzige Gemetzel
"wilder"
(V. 41 sæuior) als die vorausgegangenen Enthauptungen
sein soll.
43 Nach Sen. Oed. 71 f. supplices
tendo manus [wörtlich = Herc.f. 1192, Herc. Oet. 1316] / matura
poscens fata. Senecas Ödipus sehnt sich nach dem Tod; dies
kann aber gerade hier (trotz V. 46) wegen des tametsi nicht
gemeint sein.
44 Nach Sen. Med. 187 (Creo über
Medea, die ihn anfassen möchte) minaxque nostros propius
affatus petit. Danach ist zwar die Emendation des sinnlosen Proprius'que
zu Propiùs'que klar; aber unsicher scheint, wer mit Iudex
gemeint ist: Etwa der
höchste Weltenrichter, der zumindest als Crucifix, von vielen der
Delinquenten
verehrt, in der Mitte der Bühne aufgestellt war? Eher scheint an
die
real auf dem Altan des Rathauses anwesenden Richter zu denken zu sein.
Nach
der öfter zitierten Flugschrift (Prag. Ex., s. oben S. 8)
sind
dort "die Käyserliche Richter / vnnd andere fürnehme Herren
gesessen"
(so auch auf der Abbildung); in einer anderen (Sammlung Häberlin
[s.
Anm. 28] C17/36) heißt es z. T. genauer (A IIv): "Neben der
auffgerichten
Binen seind allein die 3. Kay: Richter / vnnd der 3. Praager Stät
Burgermeister
vnnd Raths verwandte gesessen / zu welchem [lies: welchen] auß
disen
Iustificierten allein jre 4. etwas wenigs geredt / welches man
aber
wegen des Tromenschlagers nit vernemmen kenden." (Ein ähnlicher
Bericht
dürfte Balde vorgelegen haben.) Übrigens wurde zwei der
Delinquenten
erst auf der Richtstätte ihre, allerdings schon vorher
beschlossene,
Begnadigung mitgeteilt, so daß durchaus ein Motiv vorhanden
scheinen
konnte, auf die Richter noch einzuwirken.
45 Wenn der Text in Ordnung ist, kann
exequias gemit heißen, daß die Todeskandidaten
über
ihr Todesschicksal seufzen, denn exequiae bezeichnet
metonymisch auch
den Tod selber (P. Schmid, ThlL V 2, 1848, 48-57). Gemeint sein
könnte
aber auch, daß sie "sich (jeweils) selber mit Seufzen die
Begräbnisfeier
veranstalten" (= gemendo exequias faciunt). Beiden Auffassungen
scheint
zu widersprechen V. 50 f. Periêre lacrymæ usw.:
Nach dem
Sinn von V. 46 wäre statt gemit am ehesten petit zum
Ausdruck
der Todessehnsucht zu erwarten (die in V. 46 unpassende Vokabel
könnte
aus V. 45 eingedrungen sein).- Sibi mit periturus zu
verbinden,
scheint zwar durch iratus sibi im folgenden Vers (schöne
Rahmenstellung von sibi!) nahegelegt zu werden, ist aber vom
Sinn
her so gut wie ausgeschlossen.
46 Der Vers könnte (aber muß
nicht) inspiriert sein aus Sen. Phoen. 537-540 (Iocasta zu Polynices) precor
... per irati sibi / genas [= oculos] parentis
[sc. Oedipodis], ... quas ... / ... a se dura supplicia
exigens / hausit. Ähnlich wie dort der masochistische
Ödipus seine Augen attackiert hat, scheinen hier die Delinquenten
sich selber irgendwie "an den Hals" zu gehen. Das
überlieferte petit kann aber schon aus prosodischen
Gründen
nicht richtig sein: praebet für die
Halsentblößung
(Alternative: pandit, vgl. zu V. 72) paßt am besten zu iratus
sibi und stimmt überein mit Sen. Ag. 973 praebeo iugulum
uolens
[so A, iugulum tibi Zwierlein].
47 Nach Sen. Med. 566 f. perge,
nunc aude, incipe, / quidquid potes, Medea, quidquid non potes [potes
... potes A, potest ... potest E, Zwierlein] - mit einer
in der antiken Dichtersprache
üblichen, an die Grenzen des Sinnvollen gehenden polaren
Ausdrucksweise
(U.v. Wilamowitz-Moellendorff im Komm. [2. Aufl. 1895, Ndr. Darmstadt
1959]
zu Eur. Herc. 1106; Parallelen zur Senecastelle bei G. Maurach [zuerst
1966],
in: E. Lefèvre [Hg.], Senecas Tragödien, Darmstadt 1972,
307
Anm. 21a).
48-50 Angeregt durch Sen. Oed. 57-59 quin
ipsa tanti peruicax clades mali [sc. das fortgesetzte Wüten
der
Pest] / siccauit oculos, quodque in extremis solet, / periere
lacrimae
... (mit zahlreichen Parallelen bei Töchterle [wie zu V. 9] z.
St.).
Der höchste Schmerz hat keine Tränen mehr. Das senecanische
Vorbild legt es nahe, V. 50 mit V. 48 zu verbinden, V. 49 also nach V.
50 zu stellen.
49 Der metrisch monströse, durch
Wortende nach dem 3. Fuß zweigeteilte, Vers ließe sich
leicht durch Texteingriff (vultu iam oder vultu tum;
möglich auch vultu cùm, so daß V. 49
Nebensatz zum Folgenden wäre) emendieren. Aber V. 95 ist
ähnlich, so daß doch vielleicht eher eine Ungeschicklichkeit
Baldes (schwerlich eine expressive Absicht) vorliegt. Der Sinn scheint:
"Die Grausamkeit ihrer Blicke erstarrte (stetit wie öfter
bei Seneca, z. B. Thy. 110: "kam zum Stehen") dadurch, daß sie
trocken blieb, d.h. nicht in Tränen zerfloß". Nach
katholischen Berichten sollen die Hingerichteten "verstockt" - was hier
ungefähr paßt - oder "voll mit Wein" (protestantisches
Abendmahl!) gewesen sein (Pick [zitiert zu V. 58] 251).
50 Mit impetus ist wohl, wie
meist bei Seneca (Tro. 1159 irato impetu, Met. 157 furialem
impetum
u. ö.) das Wüten des Zorns gemeint.
51 Nach Sen. Oed. 56 fletuque
acerbo funera et questu carent. Dort hat der Vers freilich nichts
zu tun mit dem erst im Folgenden (Oed. 57 ff. zitiert oben zu V. 48-50)
beschriebenen Versiegen der Tränen: Gemeint ist vielmehr,
daß Ehepartner gemeinsam sterben, also nicht einander beweinen
können. Vielleicht ist bei Balde auch hier (vgl. zu V. 48-50) die
Versfolge konfus.
52 Nach Sen. Oed. 952 cunctaris,
anime? (mit ziemlich anderem Sinn). Hier markiert die (an sich echt
senecanische, vgl. oben zu V. 39-40) Selbstaufreizung den Übergang
zu noch Gräßlicherem, wobei allerdings das in diesem
Zusammenhang etwas ausdruckslos zahme cruentum überrascht.
52/54 Die Versumstellung (V. 54 nach V.
52) ist vom Sinn her evident. Daß in V. 54 mitis statt mites
zu lesen ist, ergibt sich schon aus dem Vorbildvers Sen. Med. 389 omnis
specimen affectus capit (von der emotional schwankenden Medea): pectus
ist also Subjekt, nicht Objekt von capit. Im übrigen
wirkt der Ausdruck recht geziert und weniger natürlich als im
Vorbild.
53, 55 Pontus und Phasis beziehen sich
wieder (vgl. zu V. 2) auf Medea, vgl. nochmals Sen. Med. 44 quodcumque
uidit Phasis
aut Pontus nefas, / uidebit Isthmos (Phasis und Pontus auch
in Med. 211 f.); vgl. auch Med. 102 Phasidis horridi. Bei
Thracia
dürfte nicht nur (wegen der Vielzahl der Gräber) an die
menschenfressenden
Rosse des Diomedes zu denken sein (vgl. Sen. Ag. 842-847, Tro. 1108 f.,
Herc.f. 1169 f., Herc. Oet. 1538-1540, 1789 f.), sondern (wegen der
nachfolgenden
Strafe) vor allem an den Thrakerkönig Tereus, der seiner von ihm
vergewaltigten
Schwägerin Philomele die Zunge herausschneidet und dafür den
eigenen
Sohn Itys, von der Mutter Procne gekocht, zur Mahlzeit erhält (Ov.
Met.
6, 424-674; Anspielung darauf etwa bei Sen. Thy. 56 Thracium ...
nefas,
272-278, Ag. 672- 675, Herc.f. 149 f., Herc.Oet.192 f.; Procne neben
Medea:
Herc.Oet. 949-953).
56 mersus fuit: statt des
sprachüblichen mersus erat, aus nur metrischen
Gründen; der Ausdruck sonst
wie Sen. Ag. 972 f. iugulo ... / mersisse ferrum; Herc.Oet.
992; epist. 70, 26; vgl. Phoen. 174. capulus steht wohl
(obschon zur Enthauptung an sich so wenig passend wie mersus)
mit recht kühner Metonymie für ferrum capulo tenus,
wobei wahrscheinlich Verg. Aen. 2, 553 lateri capulo tenus abdidit
ensem vorschwebt..
57 Die Antimetabole minas caedibus,
caedes minis (vgl. bei Seneca etwa Med. 943 f. ira pietatem
fugat / iramque pietas) ist mehr prächtig als
inhaltsreich.
58 Die Enthauptung des berühmten
schlesischen Chirurgen, Schriftstellers, Diplomaten und Prager
Universitätsrektors D. Johannes Jessenius (Jan Jessenský;
s. zu ihm bes. die ausführliche Monographie von Friedel Pick, Joh.
Jessenius de Magna Jessen, Leipzig 1926 [Studien zur Geschichte der
Medizin, Heft 15] und kürzer H. Röhrich, in: Neue Deutsche
Biographie, Bd. 10, Berlin 1974, 425-426) war die vierundzwanzigste und
letzte; es folgten noch drei Erhängungen (die Balde
übergeht). Diese vier zuletzt Hingerichteten wurden gegenüber
den anderen dadurch diskriminiert, daß sie nicht wie diese "gantz
frey / ledig vnnd vngebunden" (Prag. Ex.) zur Richtstätte
geführt wurden (darum trahitur, vgl. V. 31 locum subire).
59 orator Kaiser Ferdinands II.
im eigentlichen Sinn war Jessenius nie, wohl aber etwa Gesandter
Böhmens (1618 in Ungarn), solange Ferdinand noch König von
Böhmen war
(also vor seiner Absetzung am 19. August 1619); noch 1618, als er in
Wien
zeitweilig inhaftiert war und verhört wurde, bezeichnete sich
Jessenius
als "des römischen Keysers und Churfürsten Medicus [dies
bezieht
sich auf die Jahre 1608-1613], jetzo eines ansehnlichen
Königreiches
Abgesandten" (Pick [wie oben zu V. 58] 214). Da er sich aber schon
damals
gegen die Interessen Ferdinands einsetzte und ihm gerade diese
Gesandtentätigkeit
(sowohl beim Prager Prozeß als auch früher schon beim Wiener
Arrest)
vorgehalten wurde, kann sich Balde, der ihm ja späteren (V. 59 olim,
61 Nunc) Verrat vorwirft, nicht gerade hierauf beziehen. Er
dürfte
(wie oben S. angedeutet) zu seiner mehr als unscharfen Formulierung
dadurch
verführt worden sein, daß in zeitgenössischen Berichten
(wie
der Prager Execution) von Jessenius die Rede war als "einem
fürtrefflichen weitberühmbten Käyserlichen Oratorn"
- so auch in einem von
Lindemann (wie oben Anm.27) 362 zitierten Flugblatt, wogegen in einer
anderen
Schrift (Sammlung Häberlin [wie Anm. 28] C17/33a, dort S. 6)
gesprochen
wird nur von einem "fürtrefflichen weytberümbten Orator"
-, wo aber daran gedacht war, daß sich Jessenius als
panegyrischer Redner
und Publizist mehrfach für Ferdinands Vorgänger, die Kaiser
Rudolf
II. und Matthias (dessen Leibarzt Jessenius zeitweilig war), eingesetzt
hatte
(vgl. sein Schriftenverzeichnis bei Pick 294-305); erst Balde brachte
an
dieser Stelle versehentlich Ferdinand selber herein.
60 Der zunächst wörtlich
gleiche Vorbildvers Sen. Oed. 839 arbitria sub quo regii fuerant
gregis (vom Hirten der königlichen Viehherden) legt zwar die
Verbesserung fuerant statt fuerat zwingend nahe, aber
er gibt keine Hilfe zur Emendation der sinnlosen Vokabel patus (hinter
der sich vielleicht eine Anspielung auf die Leibarzttätigkeit des
Jessenius verbergen könnte).
61 ipsa: weil man gerade inter
arma auf die Treue am meisten angewiesen war.
62 turbarat vrbem: In
Ferdinands II. Festnahmebefehl vom 20. 2. 1621 wurde Jessenius (der
schon einsaß)
zu derjenigen Personengruppe gerechnet, die "in- und außerhalb
des
Landes sich in Kommissionen gebrauchen lassen, auch sonsten die gemein
aufwiegeln helfen" (Pick a. O. [zu V. 58] 242). Vom zweiten, das zu turbarat
vrbem zu passen scheint, ist bei Jessenius sonst nicht die Rede:
Ihm wurde schon
1618 bei seinem Wiener Arrest (vgl. zu V. 59) vorgeworfen, daß er
"ein
großen tumult in gantz Ungarn hatte sollen auff und anrichten",
was
er selbst damals noch als ein "vierschröttig luegen" bzw. "sesquipedale
mendacium" bezeichnete (Pick 212); dazu kam später sein
anstößiges Auftreten beim ungarischen Reichstag im Juli
1620. Vielleicht ist also statt vrbem zu lesen orbem ("alle
Welt", übertreibend wie in V. 5); aber Balde kann natürlich
auch in diesem Punkt schlecht informiert sein. - tempore ["zur
rechten Zeit"] optauit preces scheint sinnlos; zu lesen
dürfte sein tempori aptauit preces ["er hat seine Bitten
den Umständen angeglichen"], nach Sen. Med. 174 f.
parce iam, demens, minis / animosque minue: tempori aptari decet (mit
genau entsprechendem Sinn).
63 Rigat ora fletu: kombiniert
aus Sen. Oed. 978 rigat ora foedus imber (vom Blut) und Oed.
953 imber ... rigat fletu genas (von Tränen); vgl. auch
Med. 388 oculos uberi fletu rigat; Ag. 922. Die Fortsetzung totus
in vultu est dolor stammt wörtlich aus Sen. Med. 446 (bzw.
Ag. 128).
64 Nach dem paradoxen Vers Med. 163 qui
nil potest sperare, desperet nihil. Während dort gemeint ist,
daß der Hoffnungslose den, wie wir sagen, "Mut der Verzweiflung"
haben sollte (mit jussivem Konjunktiv; vgl. auch Verg. Aen. 2, 354 una
salus uictis nullam sperare salutem), ist bei Seneca der Sinn
unklar. Wie überliefert müßte der Vers bedeuten: "Falls
er nichts hoffen könnte ...", bzw. (etwas besser) "Selbst wenn
[Kühner/Stegmann, Satzlehre II 21914, 426 f.] er
nichts hoffen könnte, würde er [soll er?] an nichts
verzweifeln",
was beides im Kontext nicht recht paßt. Höchstwahrscheinlich
ist
statt Si zu lesen Quasi und der ganze Vers, unter
Änderung der Interpunktion, mit dem vorausgehenden zu verbinden:
„Er zeigt seinen ganzen
Schmerz, als hätte er nichts mehr zu hoffen, als würde er
(eben
darum, im Sinne von Senecas Medea!) auch an nichts verzweifeln."
Allenfalls möglich wäre auch zu lesen: Vt nil ... desperat
= "Mag er auch nichts hoffen können, so verzweifelt er doch an
nichts" oder (genauer nach Seneca) Qui nil queat [Modusangleichung]
sperare, desperet nihil.
65-78 Wie es gelegentlich der epische
Erzähler tut (in dieser Ausführlichkeit freilich wohl nur
Lucan, vgl. etwa 7, 29-44; allgemein zum Phänomen: Gregor Maurach,
Enchiridion poeticum, Darmstadt 2. Aufl. 1989, 40-43) wendet sich der
Bote unter lebhafter Vergegenwärtigung des Geschehens in einer
Apostrophe an den Helden seiner Dichtung - bei Seneca kommt relativ
noch am nächsten Thy. 782-788 -, hier, um ihm, als könne er
den Sprecher hören, die Aussichtslosigkeit seiner Bemühung
klarzumachen. Der Zuhörer erfährt so indirekt, was Jessenius
gerade tut bzw. worauf
er sich in trügerischer Hoffnung berufen will. Im übrigen
widerspricht
die Darstellung Baldes den zeitgenössischen Berichten, wonach
Jessenius
"freudig auf das Schafott gegangen" sei (Lippach bei Pick [zitiert zu
V.
58] 249) und die "Hinrichtung [...] mit großer Fülle von
Gläubigkeit"
ertragen habe (Natus bei Pick 251).
65 per Caesarem? zu
ergänzen: obsecras; zur Reihe der mit per eingeleiteten
Glieder vgl.
Sen. Med. 478-482 per spes tuorum liberum ..., / per uicta monstra,
per
manus .../ ... perque praeteritos metus, / per caelum et undas
.../
miserere ... (ähnlich Herc.f. 1246 ff.). Durch die
rhetorischen
Fragen ergibt sich hier die Figur der den Gegner in die Enge treibenden
subiectio
(rhet. Her. 4, 23, 33); vgl. Heinrich Lausberg, Handbuch der
literarischen
Rhetorik, München 1960, Bd. 1, §§ 771-775; Beispiele bei
Richard
Volkmann, Die Rhetorik der Griechen und Römer, Leipzig 2.Aufl.
1885,
493 f.
66 Nach esset, besser als nach ampliùs,
ist zu interpungieren, Jessenius wäre der sichere Tod des Kaisers,
wenn man ihm am Leben ließe.
67 Vgl. zum Ausdruck Sen. Tro. 878 sancta
... iura, Oed. 876 iuris ... sacri. Das höhnend
erwidernde nempe wie (im Dialog) in Sen. Phaedr. 244 aderit
maritus. - nempe Pirithoi comes, ebenso Herc. Oet. 437 at Ioue
creatum. - nempe et
Alcmena satum.
68 per si ... scheint beim
Tragiker Seneca nicht vorzukommen, aber vgl. etwa Verg. Aen. 2, 142 f. per
si
qua est ... / intemerata fides; 12, 56 ; Ov. met. 7, 854 per si
quid
merui de te bene (mehr bei v. Kamptz, ThlL X1, 1158, 33-39), danach
Balde
selbst in 'Ovidius' V. 213 (f. 97r = Opera [wie Anm. 1] 5, 330) ...
per
si quid honestâ / Coniugij tædâ sanctius esse
potest; es ist also in dem metrisch unvollständigen Vers
sicherlich eher ein vokalisch anlautendes trochäisch-spondeisches
Wort nach quid
(am besten umquam) als ein trochäisches nach per
zu ergänzen: gratia in V. 68 und gratiam in V.
69 rücken dann pointiert an dieselbe Versstelle (wie reliquias
und reliquiae in V. 70 und 71).
69 reus gibt keinen guten
Sinn, da die bloße Hinrichtung eines "Schuldigen" auch nicht in
der Ironie als Gnade bezeichnet werden kann. Es könnte vielmehr
daran zu denken sein, daß die letzten drei Hinrichtungen durch
(minder ehrenhaftes) Erhängen stattfanden, wohingegen die
Enthauptung in vielen Fällen "aus sonderer Begnadung" (Pick [wie
zu V. 58] 246, vgl. 247) durch den Kaiser verfügt war; danach
wäre zu lesen entweder vt ferro cadas oder (näher
beim Überlieferten) vt rectus cadas, sc. non pendulus
stranguleris (wobei freilich von der später behaupteten
Vierteilung [s. zu V. 83] hier noch abgesehen wäre).Vielleicht
besteht die Gnade aber, ironisch gesprochen, darin, daß Jessenius
als letzter mit dem Schwert gerichtet wird, also etwa vt summus
cadas oder asyndetisch (ohne vt) extremus
cadas. Auch hier hat man den Verdacht, daß willentlich in
einen
nicht verstandenen Text eingegriffen wurde.
70-72 Was mit den reliquiae und
dem pignus gemeint sein soll, das Jessenius "anbietet" (?), ist
rätselhaft (und bedarf noch näherer historischer Aufhellung).
Beim Tragiker Seneca sind reliquiae meist die auf der
Bühne sichtbaren Überreste eines Menschen (Phaedr.1247,
Herc.Oet. 1756, 1823, 1829; pignus ist das "Unterpfand" etwa
der Treue (Herc.f. 370), häufig das "Kind" (z. B. Med. 1012), so
besonders auch an der Stelle, die Balde hier vorzuschweben scheint:
Oed. 1021 f. per has reliquias corporis trunci [nach
der Blendung] precor, / per inauspicatum sanguinis pignus mei (was
von den älteren Erklärern, und jetzt auch wieder von
Töchterle [wie zu V. 9], zu Recht auf die Kinder bezogen wurde),
und bei Balde selbst in 'Ovidius' 215 (f. 97r = Opera [wie Anm. 1] 5,
331): Per mihi communes tecum, tria pignora, natos .... Nun ist
tatsächlich für den verwitweten Jessenius eine zur Zeit der
Hinrichtung fünfjährige uneheliche Tochter bezeugt (s. Pick
[zu V. 58] 253): Sollte sie gemeint sein? Aber was sind dann die davon
doch, wie es scheint (V. 71 Et ... et...), unterschiedenen reliquiae?
Und sollte der Bote in einer Aufwallung unmenschlicher Grausamkeit auch
gleich dem unschuldigen Töchterlein den
Tod wünschen? Wollte sich Balde hier etwa geradeswegs von ihm
distanzieren (wofür ja auch sonst einiges zu sprechen scheint)? -
Veronika Lukas weist
(mündlich) darauf hin, daß im christlichen Latein
"Reliquien" gerne
als pignus bezeichnet werden (A. Blaise, Dict.
lat.-franç. des
auteurs chrétiens, 1954 s. v. "pignus" 4): Aber wie und in
welchem Sinn könnte sich der Protestant Jessenius auf echte
Reliquien berufen?
70 Auffällig ist die (bei Seneca
so
nicht statthafte) Auflösung im 5. longum sowie das Enjambement an
dieser
Stelle, ferner daß die Handschrift hier einen Doppelpunkt statt
des
sonstigen (doch auch vom Sinn erforderten) Fragezeichens bietet.
72 Sollte Pende richtig sein,
müßte es auch um der Metrik willen von pendere (mit
kurzem e) abgeleitet werden und auf ein durch Konjektur
herzustellendes bzw. in einer Textlücke zu ergänzendes poenas
oder supplicia (Sen. Med. 660;
Oed. 947) zu beziehen sein (Pende colla uel manus ist jedenfalls
sinnlos); weit einfacher läßt sich aber zu Pande ("entblößen",
vgl. Stat. silv. 2, 3, 32 niueos ne panderet artus) verbessern,
auch wenn eine genaue Senecaparallele fehlt (vgl. immerhin Herc.Oet.
1707 f. nube discussa, diem / pande; meist herrscht die
Bedeutung des Auftuns vor): Der Bote denkt zunächst nur an Hand
und Nacken, dann fällt ihm die
Zunge ein.
74 nocens wird bei Seneca fast
als Adjektiv im Sinne von "schuldig" empfunden ; tibi dürfte
also nicht Dativobjekt zu dem darin steckenden Verbalbegriff nocere
sein, sondern ein allgemeinerer dativus commodi (bzw. incommodi): "Zu
deinem Schaden bist du schuldig geworden" (wie Sen. Med. 280 totiens
nocens sum facta, sed numquam mihi [„für meinen Vorteil"];
vgl. auch 490); die Fortsetzung tuo / adscribe sceleri ließe
allerdings eher an einen dat. auctoris denken. - Wie luat ist tuo
in diesem Vers durch Enjambement emphatisch hervorgehoben.
75 Der Modus von desinas (falls
nicht etwa desines zu lesen ist) zeigt wohl, daß sich
der Bote noch nicht sicher ist, ob Jessenius die Zunge auch wirklich
herausgeschnitten
werden soll. Dies wird erst drei Verse später klar.
76 ad umbras mitte muß
aus metrischen Gründen (s. oben S. ) umgestellt werden (mitte
ad vmbras). vmbrae steht metonymisch für die antike
Unterwelt (wie z.B. Herc.Oet. 344 ire ad umbras): Die antiken
Dichter sprechen in Baldes 'Regnum Poetarum' stets von ihrem
heidnischen Standpunkt aus (s. unten S. ), vgl. z. St. 'Virgilius' V.
56 (f. 110v = Opera [wieAnm. 1] 3, 285) ite sub orcum
(ähnlich V. 67), V. 95 (f. 111v = Opera 3, 286) victis'que
immiscuit Vmbris (letzter Vers).
77 Nach. Sen. Med. 465 minora meritis patiar. Der Schluß des Verses scheint bereits inspiriert aus dem im Folgenden nachgeahmten Vers Oed. 948 quod saepe fieri non potest, fiat diu (Oedipus bedauert, nicht öfter sterben zu können, und sucht sich dafür einen langen Tod).- Zum überlieferten feras müßte mortem oder poenam recht gewaltsam in Gedanken ergänzt werden; vorzüglichen Sinn ergibt pereas (mit dem gerade an dieser Stelle [V. 20, 36, 42, 45, 60, 68, 71, 82, 96] beliebten Anapäst).
78 Nach Sen. Oed. 948 (oben zu V. 77), unter ziemlicher Veränderung des Sinns: fiat, durch den Text Senecas einigermaßen geschützt, scheint mit einer gewissen Resignation gesprochen ("Soll denn wenigstens einmal geschehen, was eigentlich öfter hätte geschehen sollen").
79-82 Die von Balde mit senecanischer
Akkuratesse geschilderte Amputation der Zunge sollte Jessenius speziell
wegen seiner
Verfehlungen als Redner und Diplomat bestrafen; erdacht war sie
vielleicht
auch im Hinblick auf die Schändung von Ciceros Zunge nach der
Ermordung
(Dio Cas.. 47, 8). Jessenius empfand diese Art der Bestrafung als
Verhöhnung
seiner ganzen großartigen Rednerkarriere (Pick [wie zu V. 58]
249,
251); besondere Pikanterie erhielt sie - was Balde schwerlich bekannt
sein
konnte - dadurch, daß Jessenius in seiner "Anatomia Pragensis"
von
1620 (dazu Pick [wie zu V. 58] 75 f.) die Artikulation der Laute durch
Zunge
und Mund mit einer offenbar in der bisherigen Anatomie bzw. Phonetik
nicht
ereichten Genauigkeit beschrieben hatte.
79-80 Angeregt durch Ovids grausige
Szene, in der Tereus seiner Schwägerin Philomele (vgl. oben zu V.
53, 55)
die Zunge herausschneidet; vgl. met. 6, 556-558 comprensam forcipe
linguam / abstulit ense fero: radix micat ultima linguae, / ipsa iacet
terraeque
tremens immurmurat atrae.
79 In dem metrisch-prosodisch an zwei
Stellen fehlerhaft überlieferten Vers - die Silbe im siebten
Element (-guam) ist gegen das Metrum lang, die im achten kurz (tra-)
- stört
auch der abrupte Subjektswechsel zu dem seit V. 29 nicht mehr
erwähnten
Henker. Beides wird behoben durch die Verbesserung zu lingua
trahitur,
wobei nur die überlieferte Fortsetzung im nächsten
Vers
Dedit illa (statt etwa Deditque) bedenklich scheinen
könnte;
aber vgl. zu V. 80. - Überraschend ist, daß nach der langen
Apostrophe von V. 65-78 mit Mox zur Erzählung
übergeleitet wird, als wäre diese nie unterbrochen gewesen:
Sollte vor V. 79 etwas ausgefallen sein? Fast noch bedenklicher ist conflagrante,
womit ja wohl die glühende Zange gemeint sein muß, denn
weder ist die sachliche Notwendigkeit ihres
Glühens einzusehen (es sei denn zu beliebiger Erhöhung der
Grausamkeit),
noch hat eigentlich conflagrare diese Bedeutung.
80 Die suprema murmura (was, wie bei Ovid, met. 6, 558 immurmurat [s. oben zu V. 79-80] undeutliche Laute sein müssen) dürften sachlich nicht verschieden sein von den mit fremitus (vgl. zum Ausdruck Sen. Oed. 227 fremitum dedit) bezeichneten unartikulierten Äußerungen (wie ähnlich in Sen. Ag. 713 anhela corda murmure incluso fremunt; vgl. sonst Ag. 902 f. hinc trunco cruor / exundat, illinc ora cum fremitu iacent, vom erschlagenen Agamemnon, und Thy. 729 querulum cucurrit murmure incerto
caput); grammatisch ist ad
suprema murmura zu verbinden mit sanguinem ... vomens
in V. 81: In der Tat ist nämlich bezeugt, Jessenius "habe
noch, nachdem ihm die Zunge herausgeschnitten, obwohl er den Mund voll
Blut hatte, zu Lippach [seinem geistlichen Beistand] gesprochen" (Pick
[wie zu V. 58] 249). Der Erzeuger von fremitus bzw. murmura wäre
dabei nach dem überlieferten Text (illa) nicht, wie bei
Ovid, das abgeschnittene Stück der Zunge, sondern deren
zurückgebliebener Stummel (Ovid V. 557 radix), da ja nur
dieser, nicht jenes, "durch die Zähne Blut speien" könnte.
Läßt sich aber von ihm oder überhaupt von der Zunge
sagen, daß er bzw. sie "mit den Kinnbacken die Luft schlägt"
(V. 82, vgl.
unten z. St.)? Zweifellos nein, und so ist es, wenn nicht nach V. 80
der
Text eine Lücke haben sollte, m. E. trotz der Ovidparallele
nötig, in V. 80 ille zu lesen und Jessenius, der ohnehin
mit Sicherheit in V. 83 Subjekt ist (ohne als solches dort eigens
bezeichnet zu sein), zum gemeinsamen
Subjekt der Verse 80-84 zu machen.- Im übrigen scheint auf jeden
Fall
vor V. 80 mindestens ein Vers ausgefallen sein. Im erhaltenen Text ist
ja
von der eigentlichen Strafe, dem Abschneiden der Zunge (bei Ovid V.
557:
abstulit ense fero, also natürlich nicht forcipe!)
nichts
gesagt: trahitur (dem bei Ovid etwa V. 556 comprensam entspricht)
kann dazu doch nur (wenn man nicht etwa rapitur lesen will)
eine Vorstufe darstellen; und so sind auch im zeitgenössischen
Bericht (Prager Ex.)
beide Teile des Vorgangs genau unterschieden: "[...] hat der
Nachrichter (nachdem
er jhm die Händ gebunden) die Zung mit einem Zänglein
herauß
gezogen / dieselbe abgeschnitten / vnd darauff jhn mit dem Schwert
gerichtet."
Man ergänze also e. g. abscisa ferro tremula quae terrâ
iacet.
Allerdings gibt es auch einen Bericht, wonach, wenn ich recht
verstehe,
ursprünglich nicht an ein Abschneiden, sondern förmliches
Exstirpieren
der Zunge gedacht gewesen wäre (Sammlung Häberlin [wie Anm.
28]
C17/32b, dort A IIIv [ähnlich C17/37, S. 8]): "Dem Jessenio aber
hat
die Zung auß dem Rachen sollen gerissen werden / so aber noch
gelindert
/ vnd wie obgemeldt / erstlich der Kopff vnd hernach die Hand abgehawen
worden"
(vom letztlichen Abschneiden der Zunge war schon vorher die Rede).
Sollte
Balde etwa auch hier (vgl. zu V. 35 und 83) eine ursprünglich nur
geplante,
schärfere Strafe als die wirklich vollzogene hinstellen? Seinem
Wortlaut,
wie überliefert, wäre auch diese Version nicht klar zu
entnehmen.
81 Wieder läßt sich Balde
durch die Blendung des senecanischen Ödipus inspirieren, vgl. Oed.
978 lacerum caput / largum reuulsis sanguinem uenis uomit. Das
in Baldes Zusammenhang weniger passende reuulsis uenis ist,
nicht ganz glücklich, durch pervdos (falsch udas)
dentes ersetzt: Zähne werden ja nicht erst durch Blut
feucht (vielleicht ist aber das Wort noch stärker verderbt).
82 Vocis'que malis ist
sinnlos; das Richtige (Vacuis'que) ergibt sich schlagend aus
Stat. Theb. 2, 680 uacuis ferit aera malis: Während dort
ein Löwe, weil er vom
blutigen Mahl gesättigt ist, "mit leeren (d. h. nicht mehr
von
Speise gefüllten) Kinnbacken in die Luft schlägt" (welche
Bewegung wohl ähnlich vorzustellen ist wie Ov. met. 7, 786 uanos
exercet in aera morsus vom schnappenden Hund [H. M. Mulder im
Komm. zu Stat. Theb. II, Groningen 1954 z. St.]), sind bei Balde die
Kinnbacken, d. h. der Mund, von der Zunge leer; das Schnappen des hier
amputierten Jessenius scheint aber
dasselbe wie beim Löwen des Statius. Balde kam auf diese
sonderbare Parallele
wohl durch schiere Assoziation, denn der folgende Vers (681) bei
Statius
heißt molliaque eiecta delambit uellera lingua (wobei eiecta
lingua natürlich die "herausgestreckte", nicht, wie Balde
offenbar
assoziierte, die herausgerissene Zunge ist). Mit dem Nachweis dieses
Vorbilds
erledigen sich alle anderen an sich denkbaren Möglichkeiten der
Emendation.
Schwierig bleibt nur lubricum: Wenn es richtig ist, meint
Balde, daß
die Luft durch das herausschießende Blut "schlüpfrig" wird;
aber
der Ausdruck ist reichlich kühn, und einfacher ist es, den
blutbeschmierten
Jessenius selbst bzw. sein Gesicht "schlüpfrig" zu nennen, also lubricus
zu lesen.
83 totus bezeichnet den
Gegensatz
sowohl zur eben beschriebenen partiellen Amputation als auch zu den
vorigen
Hinrichtungen: Jessenius wird ja gar nicht eigentlich enthauptet,
sondern
sogleich - in necem zeigt, daß er bis dahin noch
am Leben
ist - in Stücke gehackt (vgl. Sen. Ag. 905): Balde steigert auch
hier
(vgl. zu V. 35) die Schrecklichkeit über die historische Wahrheit
hinaus,
denn es war zwar für Jessenius zunächst die Vierteilung bei
lebendigem
Leibe vorgesehen, die Strafe wurde dann aber gemildert (Pick [wie zu V.
58]
245 f.): "Folgenden Dienstag den 12 (22) Junij [also einen Tag
später]
/ hat man des D. Jessenii todten Cörper vor dem Galgenthor
geviertheilt"
(Prager Ex., s. oben S. ).- Die zwei- (statt drei-) silbige
Messung
von deinde weicht ab von der Prosodie Senecas und aller
klassischen
Dichter, ein kleines Versehen Baldes.
84 Fit pæna (= poena)
fortis ist etwas verdächtig, nicht nur wegen des wenig
schlagenden Sinns (und des unsenecanischen Vers- bzw. Satzanfangs mit Fit,
der sich immerhin seit Vergil oft im Epos findet), sondern vor allem
weil fortis im Sinn des bloß "Starken, Großen"
eher dem Sprachgebrauch der biblischen Vulgata (forte bellum, peccata
fortia: Hey,
ThlL VI 1, 1159, 41 ff.) als dem von Balde intendierten klassischen
Latein
entspricht, wo das Wort auch in weiterer Bedeutung mehr den Sinn von
"wirkungsvoll"
(= ualidus bzw. efficax, Belege bei Hey a. O.19 ff.)
hat. Schlicht unsinnig ist das überlieferte funus insertum
sibi, was nur vage an Sen. Med. 132 funus ingestum patri
(vom zerstückelten Absyrtus) erinnert; das Richtige ergibt sich
aus Sen. Med. 963 f. (wo Medea den zerhackten Leichnam ihres Bruders in
einer Vision sieht: cuius umbra dispersis uenit / incerta membris? ,
d. h. "unklar auf Grund der Zerstückelung der Glieder" (vgl. auch
Med. 47 [ebenfalls über Absyrtus] uagum
/ funus per artus und bes. Ag. 748 f. ... incertos geris, /
Deiphobe, uultus: Auch dessen toter Körper wurde entstellt
[Verg. Aen. 6,
494 ff.], wenn auch nicht zerlegt). Mit funus incertum
könnte
dabei sowohl der (durch Zerteilung verunklärte) Leichnam selbst
als
auch seine 'Bestattung' gemeint sein: Nach dem zeitgenössischen
Bericht
(Prager Ex., s. oben S. ) wurden des Jessenius "Viertheil
daselbsten
bey dem Rabenstein auff die Strassen gesteckt" (nach der beigebenen
Illustration
wurden die vier Teile je für sich auf Pfähle gespießt,
vgl.
zum folgenden Vers). Statt sibi dürfte dann sui zu
lesen
sein; vgl. Sen. Herc.f. 184 f. gens hominum ... / ...
incerta sui
(offenbar: "ihres eigenen Wesens unsicher") und epist. 23, 2 sollicitus
est et incertus sui quem spes aliqua proritat (wo sui jeweils
das incertus fast nur unterstreicht; so auch Stat.Theb. 5, 524,
vgl.
Lactantius Pacidus z. St., und 10, 416 mit der Verbesserung von
Heinsius;
ähnlich certum ... sui in Sen. Ag. 61). Die Verschreibung
von
incertum zu insertum mag die scheinbare Verbesserung sibi
nach sich gezogen haben.
85 fumant offenbar vom
"rauchenden" Blut der auf Pfähle (trunci, vgl. bes. Sen.
Phaedr. 1098, wo
Hippolytus auf einem truncus aufgespießt ist) gesteckten
Körperteile (vgl. Verg. Aen. 8, 106 tepidusque cruor fumabat
ad aras; Stat. Theb. 10, 300 fumat humus, sc. von
Blutbächen; Sil. 1, 419 perfusaeque atra fumabant caede ruinae).
Logischer wäre freilich Immersi trunci
membris, aber die Dichter können ein solches Verhältnis
umkehren
(wie im ThlL [Ehlers] sogar für Ennodius, den Balde freilich kaum
gelesen
hat, nachgewiesen ist [opusc. 1, 65 p. 279, 3 = p. 211 Vogel] ferro
pectora immergite); besonders poetisch wäre (mit sog.
Objektverschiebung)
Immersa truncos membra .- Interim ist
wohl auf
alles vorher Erzählte zu beziehen und nicht so zu verstehen, als
hätten
jetzt eben erst die Horntöne und Trommelwirbel eingesetzt;
zumindest
für die "stäts [!] starck vnnd laut schlagenden Trommeln",
auf
Grund derer "keiner seines eigenen worts hören können" (Prager
Ex. [s. oben S. ], vgl. auch das zu V. 44 zitierte Zeugnis), ist
bezeugt,
daß sie während der ganzen Exekution zu hören waren.
86 mugire wird seit Ennius von
Blasinstrumenten wie tuba (Verg. 8, 526) und tibia gesagt
(Ustrnul, ThlL VIII 1559, 5 f., 27-30; vgl. 1561, 7-12); intonare von
Schlaginstrumenten könnte (naheliegende) Erfindung Baldes sein. cornu
(falls nicht cornua zu lesen ist) steht sicherlich
kollektiv. Der von Balde hier gebrauchte historische Infinitiv, beliebt
bei den Historikern und Vergil, geht in der kaiserzeitlichen Dichtung
zurück, mit Ausnahme besonders der (an Vergil orientierten) Epiker
(S. Contino, L'infinito storico latino, Bologna 1977, 23 ff.; Liste bei
J. J. Schlicher, Classical Philology 10, 1915,
72 f.) und findet sich meines Erinnerns nicht beim Tragiker Seneca
(vgl.
die Literaturangaben bei B. Heßen, Der historische Infinitiv im
Wandel
der Darstellungstechnik Sallusts, Frankfurt/M. u. a. 1983, 18 Anm. 39).
87 Furere furores ist wegen
seiner Inhaltslosigkeit und der wenig senecanischen figura etymologica
etwas sonderbar; vgl. aber immerhin Verg. Aen. 12, 680 hunc, oro,
sine me furere ante
furorem: Wie dort furorem, scheint bei Balde furores
nicht etwa Subjekt, sondern (inneres) Objekt des furere zu
sein; da
furere seit Vergil (z. B. georg. 3, 150 furit mugitibus
aether)
gerne von "wahnsinnigem" Lärm aller Art gebraucht wird,
dürften
hier die vorher genannten lauten Instrumente (oder auch nur die tympana)
das Subjekt darstellen. - vox varia wird man (ähnlich
wie in Verg. Aen. 7, 90 uarias ... uoces) als uox uariorum sc.
hominum zu verstehen haben.
88 Natürlich nur "Pereant
rebelles!" ist der während der gesamten Hinrichtung (vgl. oben
zu V. 85) immer
wieder zu hörende Ruf (übrigens die einzige direkte Rede im
sonst
stummen Botenbericht); das Folgende ist ein diese Rufe (sowie die Serie
der
Exekutionen) abschließender Kommentar des Boten, wörtlich
nach
Sen. Med. 25 parta, iam parta ultio est (zum Text vgl. oben S.
...).
Baldes Darstellung erweckt den Eindruck, als wäre mit dem Ende der
Hinrichtungen
- die Erhängungen werden ja übergangen, vgl. oben zu V.58 -
auch
die mit der Exekution einzig beabsichtigte Rache (vltio) bzw.
Sühne (vgl. bes. V. 74-78) zu Ende gekommen (vgl. auch zu V.
88-97). Er verschweigt die nachfolgenden Terrormaßnahmen, die in
der öffentlichen Ausstellung von zwölf aufgespießten
Köpfen und den vier Teilen des Jessenius bestanden (dazu
instruktiv Johann Joseph Morper, "Die aufgesteckten Köpfe: zur
Prager Exekution vom 21. Juni 1621", Stifter-Jahrbuch 6, 1959,
117-130). Vgl. unten S.
89-97 Der scheinbar das Fazit oder
"Fabula docet" formulierende Schluß scheint sich
überraschenderweise
weniger auf die Prager Rebellen als auf den von ihnen zum König
gekürten Friedrich von der Pfalz zu beziehen; was sich wohl daher
erklärt, daß Balde mit seinem 'Seneca' die gesamte Friedrich
und seine Anhänger betreffende Partie des 'Regnum Poetarum' (Nr.
4-8) abschließen wollte . Der Übergang zur rhetorischen
Frage von V. 89 (s. unten) ist dabei aber auch stilistisch so abrupt,
daß man einen Textausfall nach V. 88 vermuten möchte.Auf
jeden Fall gilt, daß das sentenziöse Ende des Botenberichts
in einem völlig anderen Ton als das Vorhergehende verfaßt
ist.
89 Das überlieferte leges sceptra
asserunt wäre wegen des Spondeus im 4. Fuß metrisch
inkorrekt, wegen des Hiats nach sceptra auch prosodisch
falsch; die Umstellung sceptra leges bringt (wie in den Versen
2 und 76) das Versmaß in Ordnung, noch nicht den Sinn: Was sollte
es denn heißen, daß (entweder) entwendete Szepter keine
Gesetze in Anspruch nehmen - es sei
denn leges wäre soviel wie Legitimität - oder
umgekehrt
Gesetze keine entwendeten Szepter? Einen Sinn ergäbe zwar die
Verbesserung
auferunt ("Die Entwendung der Szepter hebt nicht auch Gesetz
und Recht
auf"); aber dann fehlt der Zusammenhang zum Folgenden. Er ist
hergestellt,
wenn man reges statt leges liest und den Vers wie den
folgenden
als rhetorische Frage faßt: "Nehmen denn Könige nie ihre
Szepter,
wenn man sie ihnen genommen hat, wieder als ihnen zustehend in
Anspruch?"
(asserere wie in Sen. Herc.Oet. 1302 f. non minus caelum
mihi /
asserere potui).
90-91 Vorbild ist (mit etwas anderem
Sinn, denn Baldes Bote spricht ja nicht von Königen
überhaupt, sondern von Usurpatoren) Sen. Oed. 6 quisquamne
regno gaudet? o fallax bonum!
90 cacumine ist wiederum
unmetrisch (auch wenn man etwa deprensus cacumine lesen wollte),
aber
durch culmine leicht zu verbessern (vgl. Sen. Thy. 391 f. stet
quicumque uolet potens / aulae culmine lubrico, 927 ex alto
culmine
lapsum); cacumen kommt beim Tragiker Seneca im
übertragenen
Sinn nicht vor; vgl. aber immerhin Balde, 'Catullus' V. 28 (f. 99r) Superbiente
stabat in cacumine.
91 tumuit ist kaum
möglich: Man müßte verstehen: "Hat sich je einer auf
dem Gipfel der Macht anders als so gebläht, daß er, dort
erfaßt, bald eine ruina war?";
aber dieser dem Überlieferten abgequälte Sinn scheitert wohl
schon
am Sinn von ruina ("Einsturz", nicht "Ruine"). Zu lesen
dürfte
sein: mox ruinam timuit bzw. tremuit; allenfalls auch:
mox
ruinâ tremuit ("zitterte wegen der Möglichkeit eines
baldigen
Sturzes", eine sich bei römischen Dichtern findende,
gräzisierende Verwendung des Adverbs als Adjektiv). Die Verse 90
f. haben dann den Sinn von: Quisquamne (eorum, qui regibus sceptra
abstulerunt) non tremuit uerens, ne mox in summo culmine deprehensus
ruinam pateretur? Schwierig bleibt, daß nur dem
Gedanken, nicht der Formulierung nach, von Usurpatoren die Rede ist und
daß deprehensus grammatisch zu tremuit, nicht
(wie logisch) zu ruinâ gehört.
92 Der Wortstellung und dem Klang nach
entfernt ähnlich ist die Sentenz Sen. Phaedr. 598 honesta
quaedam scelera successus
facit.
93-95 Während der Gedankengang bis
hierhin einigermaßen am Schicksal des Winterkönigs bzw. der
Prager Rebellen, die den legitimen König entthront hatten,
orientiert blieb, geht er nun
ins Allgemeinere: Es liegt im Interesse eines Königs bzw. der
Macht (regni),
auch schon die nur potentiellen (futuros) Rebellen zu bestrafen
(V.
93 -94a); und - Hysteron proteron - deren Pläne pflegen ja auch
nicht
geheim zu bleiben (V. 94b-95).
93 Die Formulierung hier und in den
folgenden Versen ist recht prosaisch, als spräche ein Historiker:
So kommt interest in dieser Bedeutung ("es ist wichtig,
nützlich") beim Tragiker
Seneca (und wohl überhaupt bei klassischen Dichtern, was
natürlich
vor allem prosodische Gründe hat) nicht vor (sonst nur Sen. Thy.
715);
und ähnliches gilt für den finalen Gebrauch des Dativs in damno.
Auch hierin zeigt sich, daß sich die emotionale Erregung des
Boten
beruhigt hat: Er beendet seinen Epilog mit staatsmännisch
sentenziöser
Weisheit, indem er am Schluß sogar den Zuschauer in der zweiten
Person
mahnend anspricht: V. 96 f. (vorbereitet durch das "man" der 2. Person
in
V. 95); vgl. zu dieser Apostrophe im Botenbericht Sen. Herc.f. 745-747.
.
94 consilia metrisch wie supplicia
in V. 8; die Interpunktion nach futuros ist
unumgänglich.
95 quae palam negares, diceres ist
sinnlos, gleichviel ob man es als selbständigen Satz (mit diceres
als Hauptsatz) oder als relativ angeschlossenen Satz (mit
Parallelität von negares und diceres) auffassen
wollte. Einen Sinn ergäbe, was Jürgen Leonhardt
(mündlich) vorschlägt: nefaria diceres, aber
einfacher ist negares dicere: negare mit Infinitiv im
Sinne von "sich weigern, etwas zu tun" ist seit Ovid in der
lateinischen
Dichtersprache üblich (Oxf. Lat. Dict. s. v. Nr. 4); bei Seneca
vgl.
Tro. 903 f. ... quamuis ... flecti neget / magnus dolor ... Dabei
dürfte negares am ehesten ein Potentialis der
Vergangenheit sein
("was man öffentlich nicht hätte sagen wollen"); auch das ist
Prosa-
bzw. Historikerstil (s. zu V. 93), vgl. immerhin Sen. Ag. 486 crederes
(im Botenbericht), Thy. 771 nec facile dicas.
96-97 Die Interpunktion der Handschrift
ist natürlich unsinnig: Die Verse sind zu verbinden im Sinn einer
kondizionalen Antithese wie Sen. Med. 140 si potest, uiuat meus, /
ut fuit, Iason, si minus, uiuat tamen.
96 Vgl. zum Ausdruck Sen. Herc.f. 75 magna meditantem opprime, Med. 537 sana meditari incipe, epist. 102, 28 altius aliquid sublimiusque meditare (mit allerdings anderem Sinn von altius): "Wenn du auf zu Hohes sinnst ...". Wiederum insgesamt recht unpoetisch ist si fieri potest (s. die Belege für posse fieri bei Kuhlmann, ThlL X 2, 135, 57-79 [si fieri potest nachgewiesen für Ter. Hec. 635], vgl. außer diesen immerhin Sen. Oed. 948 quod saepe fieri non potest, oben zitiert zu V. 78).
97 Offenbar meint der Bote, daß
jeder, der zu hoch hinaus will, früher oder später
stürzt, "wenn
möglich, sogleich; wenn nicht, dann in Zukunft" (wobei das erste
als
Prophezeiung, das zweite überraschenderweise als Wunsch formuliert
ist).
adhuc befremdet hier etwas, da es zwar von der Zukunft
gebraucht werden
kann im Sinne eines "noch weiterhin" (Ausfeld, ThlL I 661, 39-54),
nicht
aber eines "später einmal" - wohl eine Lässigkeit Baldes, der
in
seiner allerdings anspruchloser stilisierten Komödie 'Iocus
serius'
sogar adhuc semel in der Bedeutung von "noch einmal" riskiert
(act.1,
sc. 6; s. Jean-Marie Valentin, Euphorion 66, 1972, 426)!
Beim folgenden, kritisch gereinigten Text sind Orthographie und Interpunktion der Handschrift (M = Monacensis) so weit als möglich, selbst um den Preis kleinerer Inkonsequenzen, beibehalten. Stillschweigend wurden nur die Abkürzungen aufgelöst und die Schreibung von u und v nach den in der Handschrift selbst intendierten Prinzipien (u im Wortinnern, v im Anlaut, ohne Rücksicht auf die phonetische Realisierung) vereinheitlicht; bei allen sonstigen Abweichungen, auch denjenigen der Interpunktion und Akzentuierung
(z. B. latùm statt latum,
quod'que statt quodque), die ja grundsätzlich
Bedeutung tragen können, ist die Lesart der Handschrift jeweils im
kritischen
Apparat notiert. Die Eingriffe in das Überlieferte sind auch,
soweit
möglich und sinnvoll (nicht etwa bei Interpunktion und
Wortumstellung),
durch Kursivschreibung im Text deutlich gemacht. Absätze sollen
(wie
schon in der Handschrift nach V. 10) die Struktur verdeutlichen.
Cædem reuoluit animus et cædem asperam.
Quascunque vidit terra pænas Colchica,
Quas nulla vidit, nulla sensit: seu Padus
Stagnante latùm quà tumescit alueo,
Seu quà per orbem Pharius amnis
gurgite
5
Emergit et ripâ fluit septemplice:
Ignota narro, dira sæua immania,
Quæ Praga medio sole supplicia tulit.
Horrore quatior et cor attremit metus,
Quoties ad ista mente deuoluor
mala.
10
Aderat supremus sanguini reo dies,
Fatale cunctis pegma stabat in foro
Fremens'que circumcirca ahena copia
Latè reducto submouebat ordine
Plebis tumultum: ceu sub umbra
Caspia
15
Panthera cum citata per siluam furit,
Vallatur omne cuspide + adsitum + nemus,
Premunt'que sese mutuò uenabula
Vt picta turbâ sepiatur bellua.
O dura fata! et sortis instabilem
rotam!
20
Tam sæuiens quàm læta pariter enecat,
Cùm parcit et cùm Numen aduersum manet.
Aequa licet esse voluerit, non æqua erit.
Contaminatæ sortis adstant victimæ,
Silent, et altùm vulnus occultant
suum.
25
Mutis tamen retentus erumpit dolor,
Odium'que mixtum lachrymis vultu micat.
Abolere certus perfidam ferro luem
Lictor moratur, et lacertos consulit.
Aditum'que primùm quà remisit
curia
30
Locum subire visus est Slicken Comes
Mæroris ore signa pallidi gerens
Tandem'que fusus vt cruentaret solum
Excepit ensem: sed priùs truncauerat
Securis acta inauspicatam
dexteram.
35
Wenzelium cognominem de Budosa
37
Porrexit uno tremula sica vulnere
°
38
Super hunc labantem et alterum super alterum, 36
Ruente tabo: leuia memoraui nimis,
Exurge, totum dissipa quod est
nefas.
40
Secuta strages est priore sæuior,
Cadunt nocentes, nullus est veniæ locus,
Cælo tametsi supplices tendant manus
Propiùs'que Iudicis ora et affatus petant.
Sibi periturus omnis exequias
gemit
45
Et sponte iugulum præbet iratus sibi.
Quidquid licet rogare, quidquid non licet,
Rogant et optant, quod'que in extremis solet,
Siccata vultuum stetit crudelitas.
Periêre lacrymæ, perijt ingens
impetus
50
Manes'que acerbo flebiles questu carent.
Cunctaris anime? quod cruentum est eloqui,
Pectus'que mitis specimen affectus
capit?
54
Loquere quod audax Pontus horrebit
quoque, 53
Quod Phasis et referta bustis
Thracia.
55
Iam capulus altùm singulis mersus fuit
Minas adæquans cædibus, cædes minis:
Cùm trahitur ecce per forum Iessenius
Orator olim Ferdinandi Cæsaris
Arbitria sub quo regij fuerant + patus
+,
60
Nunc inter ipsa factus arma proditor
Turbarat vrbem, tempori aptauit preces,
Rigat ora fletu, totus in vultu est dolor,
Quasi nil queat sperare, desperet nihil.
Testaris astra? non iuuant: per
Cæsarem?
65
Non Cæsar esset, ampliùs si viueres:
Per iura? quæ tu nempe violasti sacra:
Per si quid <unquam> gratia et pietas valet?
Habebis istam gratiam + vt reus + cadas.
Per has reliquias et per hoc pignus?
vtinam 70
Et hæ reliquiæ et hoc foret tumulo datum
Pignus quod offers. Pande colla vel manus,
Linguam vel ipsam, lingua quod fecit nefas,
Luat; tibi ipse factus es nocens, tuo
Adscribe sceleri, si loqui iam
desinas.
75
Morere et nefandum mitte ad vmbras spiritum.
Minora meritis pateris, vt pereas diu.
Quod sæpe fieri debuit, fiat semel.
Mox conflagrante lingua trahitur forcipe
<...>
Dedit ille fremitus ad suprema
murmura
80
Largum per vdos sanguinem dentes vomens
Vacuis'que malis lubricum ferit aëra.
Deinde totus in necem discerpitur,
Fit pæna fortis funus incertum sui.
Immersa truncis membra fumant.
Interim 85
Mugire cornu et intonare tympana,
Furere furores, vox'que varia subsequi
Pereant rebelles: parta iam parta vltio est.
Ablata nunquam sceptra reges asserunt?
Quisquámne summo deprehensus culmine
90
Non mox ruinam tremuit? ô fallax bonum!
Imperia tristes rapta successus habent.
Regni interest punire quos damno viros
Credit futuros. nulla consilia manent
Occulta, quæ palam negares dicere.
95
Meditatus altiora, si fieri potest,
Statim rues, si non potest, adhuc ruas.
1/2 asperam / Quascunque M 2 terra vidit M 3 Quas M , an Has ? 4 latum M
6 septemplice. M 7 dira sacra M 8/9 tulit / Horrore M 9 an attremuit ? 13 circa circum M
16/17 furit / Vallatur M
17 omni cuspite M adsitum M adsiduâ Leonhardt
19 Vt turba pictae sepiantur belluae M 20 an fortis (siue
Fortis ) ? 21/2 enecat / Cùm M 22/3 monet [aut
mouet] / Aequa M 23 an Aequa licet ecce aut
Aequum licet ea ? 24 mortis M 26 Multis M 30
Adeo'q(ue)
primùm qua (an primum ?) 31 Slicken [aut
Slichen]
Comes. M 33 funus, ut M 34 prius M 35/6
dexteram / Super
turbato, ut uidetur, uersuum ordine (possit u. 36 poni etiam post u.
36)
37 Budossa M 38 vulnera M 41/2 sæuior, cadunt /
Nocentes
M praua uersuum distinctione 44 Proprius'q(ue) M 45 an
petit
(e u. 46) pro gemit ? 46 iugulum petit M 49
uersus ualde suspectus: an vultu iam stetit aut vultu
tum stetit aut vultu, cùm stetit ? an u. 49 post u.
50? 54 mites M 53 pontus M quoque. M propter
turbatum uersuum ordinem 60 fuerat patus M , locus nondum
sanatus 62 vrbem M an orbem ? tempore optauit M
62/3 preces / Rigat M 63/4 dolor. / Si nil queat an dolor.
/ Vt nil ... desperat aut dolor. / Qui nil ... desperet
? 66 esset amplius M 68 suppleui e. g., an <vlla>
? vales M 69 vt reus M, an vt ferro aut vt
rectus aut extremus ? 70 pignus: M 72
Pende M 76 ad umbras mitte M 76/7 spiritum / Minora M
77 ut feras diu M 78 semel / Mox M ante u. 79 fortasse
lacuna 79/80 lingua(m) trahit forcipe / Dedit M , lacunam uix
dubiam notaui; supplendum e. g. abscisa ferro tremula quae
terrâ iacet 80 illa M 81 udos M 82 Vocisque
malis M malis lubricus 82/3 aëra / Deinde M 83/4
discerpitur / Fit M 84/5 insertum sibi / Immersa M 88
parata iam parata M post u. 88 lacunam suspiceris 89
leges sceptra asserunt, M 90 deprehensus cacumine M 91
ruina tumuit? M, possis etiam ruinam timuit? aut
ruinâ tremuit? 94 futuros nulla M 95/6 negares, diceres /
Meditatus M nefaria diceres. Leonhardt 96 altiora si
fieri potest. M
An Schlachten, herbes Schlachten, sinnt
mein Geist zurück.
Was je an Pein man vordem sah im
Kolcherland,
was nie gesehn ward, nie erlebt - auch wo
der Po
im Bett sich stauend mächtig in die
Breite schwillt,
wo überall des Pharos Fluß mit
frischem
Schwall
5
emportaucht und in siebenfachen Fluten
strömt -:
Ich künde nie Gehörtes, Grauses,
Schreckliches
von Todesmartern, welche Prag am Mittag
sah.
Mich schüttelt Schauder, Furcht macht
beben mir das Herz,
so oft die Seele sich entsinnt an solches
Weh.
10
Der letzte Tag war schon den Schuldigen
genaht,
bedrohlich allen auf dem Markt stand das
Gerüst.
Im weiten Kreise ringsherum mit lautem
Lärm
drängt eine erzbewehrte Schar des
Volks Tumult
zurück und wehrt ihm. Wie in Kaspien,
wenn voll
Wut
15
ein Panther durch die dunklen Wälder
streicht,
ringsum mit Spießen man im Kreis den
Hain umpfählt,
daß sich die Lanze an die Lanze
pressend wetzt
und der gefleckten Bestie so das Gitter
baut.
O hartes Schicksal, wechselvolles Rad des
Glücks!
20
Es sendet, wütend oder heiter,
gleichen Tod,
ob gnädig uns der Gott ist oder
feindlich bleibt:
Will es auch hold sein, wird es uns doch
niemals hold.
Die Opfer, noch befleckt vom Schicksal,
stehn dabei.
Sie schweigen, bergen tief die Wunde in
der
Brust.
25
Doch drängt auch so noch sich empor
verborgner Schmerz,
und Haß den Tränen beigemischt
blitzt auf im Blick.
Gerüstet, mit dem Schwerte die
perfide
Pest
zu tilgen, wartet noch der Büttel,
prüft den Arm.
Nun tut das Rathaus sich zum ersten Male
auf.
30
Hervor kommt Graf von Schlicken und
betritt
den Ort,
der Trauer bleiche Male im verstörten
Blick.
Damit er endlich mit dem Blut den Boden
färbt,
trifft ihn das Eisen; doch zuvor mit
Beileshieb
wird ihm die unheilvolle Rechte
abgetrennt.
35
Dann Wenzel, der nach Budowetz den Namen
führt,
37
von e i n e m Schlag des grausen Schwertes
hingestreckt, 38
stürzt über diesen, dann die
andern, Fall auf
Fall,
36
mit Strömen Blutes. - Schwach, zu
schwach war mein Bericht:
Erheb' dich und zerhaue alle
Missetat!
40
Nun folgt ein Schlachten, schlimmer
wütend als zuvor.
Die Bösen fallen, keiner Gnade gibt
man Raum,
wenn sich zum Himmel flehentlich die Hand
auch reckt
und sie sich drängen zu des Richters
Wort und Blick.
Ein jeder stöhnt sich seine
Totenfeier
selbst,
45
sich zürnend bietet er die Kehle
selber dar.
Sie bitten, wünschen, was zu bitten
möglich ist,
und was versagt ist. Dann, wie's geht in
höchster Not:
Erstarrt im trocknen Aug ist ihre
Grausamkeit
und ihre Träne samt der großen
Wut
versiegt,
50
daß keine bittre Klage mehr den
Toten klingt.
Mein Herz, du zögerst? Sagst es
nicht, was blutig ist?
Nimmt meine Seele mildere Empfindung an?
Erzähle, was sogar den Pontus
schaudern läßt,
den Phasis und das gräberreiche
Thrakien!
55
Schon war den Männern tief ins Blut
getaucht der Knauf,
der tödlich drohend wie bedrohlich
tötend war:
Sieh! Hergeschleppt wird auf den Markt
Jessenius,
der einst Gesandter war von Kaiser
Ferdinand
und Herrscher auch des königlichen
......
[?]
60
dann aber ein Verräter, der im
Kriegstumult
die Stadt verstörte. Jetzt
heißt's bitten in der Not:
Er läßt die Tränen
fließen, zeigt den ganzen Schmerz,
als wäre nichts zu hoffen, zu
verzweifeln nichts.
Du schwörst bei Sternen? Ganz
umsonst!
Beim Kaiser ? Du? 65
Wenn d u noch länger lebtest,
könnte e r nicht sein.
Beim Recht? Du hast es selbst verletzt,
das heilige.
Bei dem, was jemals Freundespflicht an
Gnade wirkt?
Als Gnade bleibt dir dies nur: daß
du fallend stirbst!
Bei diesen Resten, diesem Pfand? O
lägen
doch
70
nur diese Reste und dies dargebotne Pfand
im Grab! Entblöße deinen Hals
und deine Hand -
die Zunge selber: Sie soll sühnen,
was sie tat,
den Frevel: Dir zum Schaden warst du
böse; dir
Verbrecher, schreib es selber zu, wenn du
verstummst! 75
Stirb! Sende den verruchten Geist ins
Schattenreich!
Du leidest schwächer als verdient,
und stürbst du lang.
Was oft geschehen sollte, werde einmal
doch!
Mit glühend heißer Zange zieht
die Zunge man
< ... >
Es hallt sein Schreien, und zum letzten
Röchellaut
80
speit durch benetzte Zähne er das
Blut im Schwall,
und schnappt mit leeren Kiefern in die
feuchte Luft.
Zum Tode reißt man dann in
Stücke ihm den Leib,
und harte Strafe wird des Leichnams
Ungestalt:
Die Glieder dampfen an den Pfählen.
Unterdes
85
lärmt Hörnerschmettern,
dröhnt der Trommel Donnerton
in wüstem Wüten, und sie rufen
hier und dort:
"Tod den Rebellen!" - Schon, schon siegt
der Rache Werk.
So wahrten denn vertriebne Fürsten
nie ihr Recht?
Muß nicht ein jeder auf dem
höchsten Thron, ertappt, 90
den nahen Absturz fürchten?
Trügerisches Glück!
Ein schlimmes Ende steht bevor dem Raub
der Macht.
Die Männer zu bestrafen, die dem
Thron einmal
Gefahren drohn, ist Königs Pflicht:
Es bleibt kein Plan
verborgen, wenn du ihn auch
öffentlich
verschwörst. 95
Geht allzu hoch dein Trachten, folgt,
wenn's möglich ist,
sofort der Absturz; und wenn nicht, so
folg' er bald!
Wie der Kommentar gezeigt hat, finden sich in diesem Erstling von Baldes dramatischer Muse - auch wenn man den schlechten Zustand des Texts, in den wir eher zu selten als zu oft eingegriffen haben(32), in Rechnung setzt -, manche sprachlichen Mängel und vor allem Unklarheiten. Man wird bei aller Bewunderung für den genialen Junglehrer im Münchener Jesuitengymnasium doch bekennen müssen, daß er den rhetorischen Schwung von Senecas brillanten Pointen, besonders auch die Kraft von dessen das Schrecklichste regelmäßig nur andeutenden, nicht aussprechenden Sarkasmen(33) hier jedenfalls noch nicht erreicht hat. Aus Baldes Kopie würde man allenfalls nur ahnen können, warum Seneca in Renaissance und Barock so beliebt war, daß er, wie der Literaturpapst Julius Caesar Scaliger formulierte, als "keinem der Griechen an Erhabenheit (maiestate) unterlegen, dem Euripides an Schliff und Glanz (cultu ... ac nitore) sogar noch überlegen"(34) gegolten hat. Und doch entzücken auch bei Balde manche schon fein gelungenen, echt poetischen Einzelheiten: Frisch und von bestechender Anschaulichkeit ist das Gleichnis vom Panther und seinen Jägern (V. 15-19), psychologisch fein die Beschreibung der Fenstersturzopfer, wenn wir sie richtig identifiziert haben (V. 24-27); bei der Exekution zumindest des Jessenius (V. 79-85) erreicht der Dichter, mit manchem Leihmaterial arbeitend, fast schon die von Seneca angestrebte Grausigkeit(35) - wobei besonders grandios der abrupt vor dem Vers endende Abschluß (V. 85) ist: Immersa truncis membra fumant ... Und geradezu originell ist schließlich die quasi dialogische Form der dieser Hinrichtung vorausgehenden Apostrophe (V. 65-78). Im übrigen hätte sich auch Seneca einer Sentenz wie dem mit leicht ironischem Oxymoron formulierten V. 92 - Imperia tristes rapta successus habent - nicht schämen müssen (die nachfolgenden Gnomen sind dann allerdings wieder etwas flauer).
Erstaunen erregt, wie präsent für Balde, der in seinem 'Regnum Poetarum' doch ein gewaltiges Corpus von Poesie zu verarbeiten hatte, Sprache und Stil des Tragikers Seneca ist. Sämtliche überlieferten Tragödien (einschließlich der umstrittenen, 'Octavia und 'Hercules Oetaeus') klingen in den Formulierungen an; kaum gibt es etwas, das - wenn man einmal von Baldes größerer metrischer Freiheit absieht (s. zu V. 1, 4, 6, 8, 49, 70, 83, 95) - gar nicht bei Seneca stehen könnte. Und doch sind es, wie unser Kommentar nebenbei ergeben hat, nur gerade zwei Tragödien, aus denen Balde Verse oder Versstücke imitiert bzw. retuschierend übernommen und in neuen Zusammenhang einmontiert hat: nicht etwa die 'Troas', die sich doch, sollte man meinen, mit ihren Hinrichtungsreporten angeboten hätte, sondern 'Medea' und 'Oedipus'. Alle Stellen, an denen Seneca so zitiert wird, daß ein guter Kenner des Tragikers ihn heraushören kann oder muß, sind, vom ersten Vers an, aus diesen beiden Stücken genommen. Sollte Balde etwa gerade sie für besonders vollkommen gehalten haben? Nicht eigentlich (mag auch die 'Medea' bis heute mit Recht Bewunderung erregen(36)): Nach einer dem 'Regnum Poetarum' in der Handschrift vorausgeschickten Sammlung von Phantasiebildnissen römischer Dichter,(37) in der auch der Tragiker Seneca, von allerlei Bühnenfiguren umgeben, erscheint, dürfte Balde vor allem dessen 'Thyestes' als ein vorbildliches, alles Tragische ausschöpfendes Drama angesehen haben.(38) Später (1654) in seiner Vorrede zur 'Jephtias' hat er überraschenderweise eine besondere Vorliebe für die sonst minder geschätzte 'Thebais' (heute fälschlich 'Phoenissae' genannt) bezeugt.(39) So dürften sich wohl in der eigenartigen Wahl gerade von 'Medea' und 'Oedipus' weniger seine persönlichen Präferenzen als vielmehr die Schwerpunkte des von ihm zu absolvierenden Lehrplans niedergeschlagen haben. Man darf doch mit Grund vermuten,(40) daß Balde eben diese zwei Stücke mit seiner Poetenklasse behandelt hat - sie vertraten ja zwei Grundtypen der Tragödie(41) und repräsentierten überdies mit ihren berühmten Titeln in lateinischer Nachbildung jeweils ein, wenn nicht das Meisterwerk von Euripides und Sophokles(42) -: Nun packte er möglichst viele der seinen Schülern aus diesen Dramen bekannten Verse in die Darstellung seines aktuellen Stoffs ein.
Vielleicht kann man in der Auswertung des Imitationsbefunds noch ein Stückchen weitergehen. Wenn man die offenkundig imitierten Stellen ins Auge faßt, fällt auf, daß beide Dramen nicht völlig gleichmäßig und sozusagen flächendeckend benutzt sind:
Sen. Med.: 25 44 48 140 f. 175 183 187
199 f. 280 386 389 431 f. 446 465 567
Balde: 88 2 39 96 f. 62 28 44 23 74 32 54
20-22 63 77 47
Sen. Oed.: 6 56-59 71 206 263 764 839 924
948 952 953 978 1021 f.
Balde: 90 f. 48-51 43 9 43 1 60 26 78 52
63 81 20
Balde beschränkt sich nicht nur auf die in Trimetern geschriebenen Sprechpartien - die Nichtberücksichtigung der Chorlieder verstand sich ja fast von selbst -, er läßt von beiden Vorbilddramen jeweils eine große, zusammenhängende Partie außer Acht: Von der 'Medea' bleiben die Akte IV und V (V. 670-1027), also gut ein Drittel des Stücks, ohne Entsprechungen; bezüglich des 'Oedipus' gilt dasselbe vom zweiten Teil von Akt II und dem ganzen Akt III (V. 288-708), wiederum mehr als einem Drittel. Zufall oder Ergebnis einer Auswahl? Im fünften Akt der 'Medea' fiel die spektakuläre Ermordung der Kinder, wie schon erwähnt, unter das Verdikt des an den klassischen Griechen orientierten Horaz (in der 'Ars poetica', s. oben S. ); dort erschien auch der phantastische Drachenwagen, der Medea schließlich durch die Lüfte entreißt. Der vierte Akt enthielt ähnlich Bedenkliches: die ebenso optisch wirkungsvolle wie rational anstößige und künstlerisch gewagte Zauberszene, in der Medea, sich selber verwundend und ihr Blut allerlei Höllensäften beimengend, das Brautkleid ihrer Rivalin Creusa mit Hilfe der Göttin Hecate zum tödlichen Flammenhemd verhext. So wenig diese beiden auf großen Bühneneffekt berechneten Schau- und Schauderszenen in dem (uns und Balde bekannten) Theater der Griechen einen Platz hätten - bei Euripides erledigt Medea Mord und Chemie hinterszenisch, der Drachenwagen erscheint allerdings auch bei ihm, als optischer Schlußeffekt -, so wenig haben auch die einschlägigen 'Oedipus'-Partien ein Pendant bei den (von Horaz, ars 268 f. zum Dauerstudium empfohlenen) exemplaria Graeca: In der zweiten Hälfte des zweiten Aktes findet auf der Bühne die Opferschlachtung von zwei veritablen Rindern mit anschließender Eingeweideschau und allerlei phantastischen Mirakeln statt;(43) im dritten Akt erzählt Creo von einer gruseligen Totenbeschwörung, bei der der ermordete Laios auf die Oberwelt zitiert und zur Aussage über seinen Mörder genötigt wird - ein Stück aus dem Bereich mythologischer Fabelei, die in der (meist auf rationale Plausibilität hin angelegten) Tragödie relativ selten, wenn auch nicht ganz ausgeschlossen, ist.(44) So dürfte es recht wahrscheinlich sein, daß Balde - eher doch vielleicht er selbst als schon der ihm vorgegebene Lehrplan - aus ästhetischen wie rationalen, vor allem aber sicherlich auch aus christlich-religiösen Gründen diese Auswüchse heidnischen Aberglaubens bei Seneca (Zauberei, Eingeweideschau, Totenorakel(45)) wie dessen, wie er gelernt hatte, bühnenwidrige Greulichkeiten (Kindermord und Rindsschlachtung) mit seinen Schülern nicht behandelt hatte und daß er sie darum sinnvollerweise im 'Regnum poetarum' auch nicht imitieren konnte. Denn das Wiedererkennen des Gelesenen war ja offenbar beabsichtigt.
Im übrigen aber kam es Balde dabei auf die Herstellung tiefgründiger intertextueller Bezüge, wie leicht zu sehen, überhaupt nicht an: Weder sollte der ums Staatswohl besorgte Kaiser Ferdinand als neuer korinthischer Creo noch etwa Dr. Jessenius als zeitgenössischer Ödipus mitsamt den entsprechenden Komplexen erscheinen: Die Anspielungen auf die Selbstblendung des Ödipus bleiben im rein äußerlich Verbalen; ihr Zweck ist erreicht, wenn sie erkannt werden und wenn man die Kunst genießt, mit der Balde sie einem neuen Zusammenhang eingepaßt hat. Denn auf keinen Fall war es sprachliche Verlegenheit, wenn Balde sich hier mit den fremd schillernden Federn des kaiserzeitlichen Tragikers schmückte: Sein Botenbericht wäre im Gegenteil vielerorts klarer und wirkungsvoller ausgefallen, hätte er sich nicht bemüht, möglichst viel aus nur gerade zwei Tragödien in ihm unterzubringen: Gerade die Partien, in denen er Seneca am intensivsten nachdichtet (V. 20-23, 48-51), sind die dunkelsten des Botenberichts, was kaum nur am Zufall der Überlieferung liegen kann. Ein völliger Cento allerdings ist Baldes tragisches Exercitium auch dort nicht geworden: Kein einziger ganzer Vers, allenfalls Versteile wurden unverändert übernommen; und das am eigentlichsten Senecanische liegt überhaupt nicht in den Wörtern, sondern, wie schon die Vorrede des 'Regnum poetarum' sagt, im Stylus und der eigentümlichen Harmonia.(46) Hier jedenfalls war Balde, mit den gemachten Einschränkungen, insgesamt erfolgreich.
Wirkliche Bewunderung verdient die
Ökonomie des Ganzen. Die Flugschriften zum 21. Juni 1621 gaben in
der Regel, nach
einer Einleitung über Prozeß, Urteil und Vorbereitungen zur
Exekution, eine nach Ständen ("Herren, Ritter, Bürger") und
Todesarten (größtenteils bloße Enthauptung)
gegliederte Liste der siebenundzwanzig Hingerichteten (mit einigen
speziellen Bemerkungen zu Prominenten): Dies kunstvoll zu
versifizieren, hätte zwar für den Katalog eines - immer ja
auch auf Stoffvermittlung hin angelegten - Epos gepaßt, nicht
aber für eine, wie der Orator sagt, res tragica,
die alles, nur nicht langweilig sein darf. Balde
läßt bis auf drei herausragende Persönlichkeiten alle
Namen (die ihm, wie gezeigt, ohnehin wenig bedeuteten) fort und
gliedert das Exekutionsgeschehen mit sicherer Hand in zwei fast gleich
große Teile,(47) von denen der
zweite die Bestrafung nur des Jessenius (V. 52-88), der erste die
Enthauptung aller übrigen enthält (V. 11-51). Steht der erste
im Zeichen eines massenhaften, grausamen Blutbades (V. 36/39 et
alterum super alterum / Ruente tabo, 41 strages ... priore
sæuior), so zeigt der zweite am Beispiel des einen, besonders
gräßlich hingerichteten, Hauptverbrechers den Zusammenhang
von Schuld und Sühne (V. 77 Minora meritis pateris, 88 parta
iam parta vltio est). Die durch Binnenprooemium (V. 52-55) deutlich
markierte Zweiteilung läßt das Ganze aber nicht zerfallen,
vielmehr geht von Anfang (V. 11) bis Ende (V. 89) der
Haupterzählung die einheitlich durchgehaltene Linie einer sich
insgesamt steigernden emotionalen Erregung, die an zwei Stellen (V. 39
f., 65 ff.) bis zur Quasipräsenz, ja fast aktiven Teilnahme des
Boten an der Hinrichtung führt. Das folgende äußere
Schema kann von dieser - nicht unmittelbar Seneca nachgebildeten(48) - Kunst nur einen sehr unvollkommenen
Eindruck vermitteln; es gibt aber doch eine Hilfe zur bequemen
Orientierung:
1-10 Einleitung (prooemium)
11-88 Erzählung (narratio)
11-51 1. Teil: Masse der Hinrichtungen
11-29 Hintergrund (das Sichtbare)
30-51 Hinrichtung
30-39a individuell
39b-51 kollektiv (39b-40 Apostrophe an den
Henker)
52-88 2. Teil: Hinrichtung des Jessenius
52-78 Vorspiel
52-55 Überleitung (Binnen-prooemium)
56-64 Auftritt des Jessenius
65-78 Apostrophe an Jessenius (argumentatio)
79-88 Bestrafung bzw. Hinrichtung
79-85a eigentliche Strafe
85b-88 Hintergrund (das Hörbare)
89-97 Epilog (peroratio)
Das Prooemium, das (nach der rhetorischen Topik des attentum facere(49)) die Erwartung von etwas Neuem, Unerhörtem erregt, bekundet horror und metus bei der Erinnerung an die Geschehnisse. Der Bote scheint, gut senecanisch (vgl. zu V.10), sich erst mühsam zu seiner ihm selber widerstrebenden Botschaft durchringen zu müssen.
Der erste Hauptteil der folgenden Erzählung steht zunächst ganz im Zeichen von metus: Nicht nur den schuldigen Verbrechern, "allen" scheint das "Blutgerüst fatal" zu sein (V. 12); auch wenn der Blick von diesem zum Militärkordon und der bedenklich andrängenden Menge geht (V. 13-19), bleibt das Gefühl unheimlicher Gefahr (suggestiv der lautlose Panther!) vorherrschend. Dieses drückende Empfinden von Bedrohtsein im ersten Teil der Hintergrundsschilderung entlädt sich im Protest gegen das Schicksal, das, auch wenn es gerecht walte, unheilvoll sei (V. 20-23). Selbst die unmittelbaren Opfer der Vergehen empfinden weniger Genugtuung als - hier verschiebt sich der Affekt etwas - Haß und Schmerz (V. 24-27); bezeichnend, daß sogar der Henker trotz Rachegrimm überlegend prüft, ob seine Arme der Aufgabe gewachsen sind (V. 28 f.). Damit ist die Schilderung der sichtbaren Szenerie am Ende; den akustischen Hintergrund des Ganzen (angedeutet nur in V. 13 Fremens) hat Balde auf das lärmende Finale seines Berichts aufgespart, wie um an unserer Stelle den Eindruck der Beklommenheit nicht zu stören.
Fast wie erlösend betritt dann das erste Opfer, "Schlicken", die Bühne, um "endlich" (V. 33 Tandem!) vom Schwert zu fallen, nicht nur dies: den Boden "blutig" zu färben (auf Blut ist nun alles abgestimmt). Mit der "vorher" (V. 34) abgehackten Schwurhand steigert Balde die Grausamkeit der Vorgänge über die historische Wahrheit hinaus (s. zu V. 35); als dann Wenzel und weitere, "der eine über den andern" unter "Sturzbächen Bluts" (V. 36 f.) hinsinken, gerät der Bote, gelöst von den seelischen Hemmungen des Eingangs, selber in eine Art Blutrausch, so daß er den Henker zu kraftvollem Zerhacken anspornt (V. 40): Hier ist im ersten Teil des Berichts die größte Präsenz des anfangs nur erinnernden Boten, der nun ja beinahe schon in das Geschehen eingreift, erreicht. Die folgende Szene einer (fast alle Opfer umfassenden) Massenhinrichtung schildert dann, vom sichtbaren Massaker und den äußeren Zeichen der Verzweiflung (V. 41-44) unmerklich zum seelischen Zustand der Betroffenen übergehend, dessen Mischung aus (offenbar schuldbewußter) Todessehnsucht - der Textzustand war hier besonders problematisch - und letzten Versuchen des Flehens (V. 45-48a), bis das Übermaß des Leids schließlich in einen tränen- und gefühllosen Stumpfsinn mündet (V. 48b-51).
Damit ist ein großer Spannungsbogen zu Ende gekommen, vom zurückschreckenden Entsetzen des Boten zu seiner fast sadistischen Rachewut, von der Verzweiflung zur Apathie der Opfer; der Bericht scheint mit diesem expliziten Ende der Affekte ebenfalls an einem gewissen Ende zu sein. Das Folgende zeigt, daß der Bote, der doch schon alle Bedenklichkeit überwunden zu haben schien (V. 40), angesichts der Gräßlichkeit des nun Anstehenden doch wieder Hemmungen hat: Er muß sich erneut in einer (echt senecanischen, vgl. zu V. 39-40) Selbstanspornung dazu aufreizen, das Blutigste und Entsetzlichste zu sagen (die Topik des attentum facere ist in diesem Binnenprooemium [V. 52-55] prinzipiell dieselbe wie am Anfang). Stand am Anfang der ersten Partie metus, so tritt nun im Laufe der zweiten immer entschiedener horror (s. V. 9) in den Vordergrund (V. 53 quod audax Pontus horrebit quoque). Im Gegensatz zum frei auftretenden "Schlicken" wird Jessenius auf die Szene "geschleift" (V. 58): Nur an ihm wird das Vergehen der Rebellion bzw. Treulosigkeit in wenigen (die Urteilsbegründung gewissermaßen resumierenden) Stichworten dargelegt (V. 59-62a); da nur er, inspiriert, wie es scheint, vom 'Mut der Verzweiflung' (vgl. zu V. 64), mit Entschiedenheit gegen sein Schicksal aufbegehrt, sich auf Weinen und Bitten verlegt (V. 62 ff.), ergibt sich die Möglichkeit, ihm die einzelnen Punkte seines Verbrechens (wie in der argumentatio einer Anklagerede) vor Augen zu rücken: Der Bote tut dies in einer zweiten, größeren Apostrophe (V. 65-78), indem er, fast in Form eines Dialogs (vgl. zu V.65: Figur der subiectio), fünf Versuche des Verurteilten, doch noch Gnade zu erlangen, argumentativ vereitelt. Wieder spricht hier der Bote (wie in V. 40), als wäre er unmittelbar anwesend und könnte gehört werden. Wie er oben den Henker zur aktiven Rache ermunterte, so fordert er nun, gewissermaßen hingerissen durch die eigene Anklage, vom Opfer die passive Hingabe: Er befiehlt ihm, Hals und Hand (wie "Schlicken") zu entblößen (V. 71), dann fällt ihm die Zunge als noch sinnigeres Objekt der Strafe ein (V. 72). Man beachte - und zumal das geht weit über Seneca hinaus -, daß hier der Bote nicht mehr über ein sich unabhängig von ihm vollziehendes Geschehen, und sei es auch in Form einer imaginären Simultanreportage, berichtet, daß er vielmehr in der Erregung des Rachezorns aktiv an dem Ereignis teilnimmt und - dies überbietet nun auch den sonst parallelen V. 40 -, als wäre er zugleich Richter und Henker, die Strafe nicht nur als verordnete ausführen läßt, sondern sie selber kreativ allererst erfindet. Mit dem Übergang von der Apostrophe zur Erzählung (V. 79 ff., nach Textausfall vor V. 78?) endet dann (parallel zum ersten Teil) diese extreme Erregung: Die Darstellung der Bestrafung des Jessenius, so sehr sie horror hervorruft - noch einmal wird von Balde die Wirklichkeit übersteigert (vgl. zu V. 83) -, läßt den Boten die Dinge wieder von außen betrachten; erst ganz zu Schluß äußert er sich noch einmal subjektiv kommentierend und den Bericht resumierend (V. 88): parta iam parta vltio est. In der Hinrichtung des Jessenius hat sich deutlicher noch als bei den Enthauptungen des ersten Teils ein Werk gerechter Rache vollzogen. Baldes Bote schweigt von den folgenden Erhängungen, die ihm offenbar zu 'blutlos' waren und nach Jessenius nur noch eine Antiklimax hätten darstellen können; er schweigt vor allem von den nachfolgenden Einschüchterungsmaßnahmen (der aufgespießten Köpfe etc.), weil sie mit eigentlicher vltio nicht mehr viel zu tun hatten (vgl. zu V. 88): Mit dieser letzten der Hinrichtungen scheint alles zu Ende.
Um so auffallender ist, daß das nun folgende Schlußfazit, in dem nach vollzogenem Rachewerk die Emotionen endgültig zur Ruhe kommen (vgl. zu V. 93 und 95), gerade nicht den leitenden Gedanken des zweiten Teils, daß schwerstes Unrecht auch schmerzlichste Strafe verdiene, weiter ausführt oder gar religiös überhöht. Während etwa eines der kaiserlich-katholischen Flugblätter(50) der Zeit das ganze Geschehen unter den naheliegenden Gedanken stellt, "das niemals einige Rebellion von GOTT dem Herren ungestrafft geblieben", und demzufolge am Schluß mahnt, man solle "seiner von GOtt fürgesetzten Obrigkeit gehorsamb sein / zu keiner auffwicklung sich bereden lassen", scheint Baldes Bote hier überhaupt keine göttliche Gerechtigkeit am Werke zu sehen, vielmehr die ganze Niederwerfung der Rebellion für das Ergebnis eines rein profanen, fast machiavellistischen Machtkalküls zu halten: Kein Fürst lasse sich ungestraft seinen Thron nehmen; seine Aufgabe sei es, sogar potentielle Rebellen präventiv zu bestrafen; und wer zu hoch hinaus wolle, habe auf die Dauer keine Erfolgschance. Spricht hier der fromme Jesuit Balde? Ich meine: Hier läßt Balde eher Seneca selber sprechen, den Seneca, in dessen Tragödien eine göttliche Gerechtigkeit oft geradezu negiert scheint(51), und von dem sicher ist, daß er, wenn er nicht schon etwa an der Ermordung von Neros Bruder und möglichem Rivalen Britannicus beteiligt war, dann doch zumindest die spätere Beseitigung der
Kaiserinmutter Agrippina aus Gründen der Staatsräson rechtfertigen mußte.(52) WennBalde auch äußerlich den Standpunkt seiner katholischen Partei einnimmt, gibt doch deutlich zu verstehen - und das tröstet über manches, vor allem die völlige Abwesenheit humanen Mitgefühls(53), hinweg -, daß man ihn mit seinem Boten nicht einfach identifizieren darf.
Wie sehr dieser Botenbericht im Sinne des Programms des 'Regnum Poetarum' als Rollendichtung exercitationis causa, nicht als Äußerung eigenen Empfindens, anzusehen ist, zeigt vor allem die Behandlung oder eher Nichtbehandlung des Religiösen überhaupt. Anfang und Hintergrund des Dreißigjährigen Kriegs bildete ja doch der konfessionelle Gegensatz: Die böhmischen Rebellen fühlten sich in ihrer lutheranischen Religionsausübung durch die kaiserliche Politik beeinträchtigt; dementsprechen wurde ihre Niederwerfung als Triumph der katholischen Sache empfunden. Wenn dies nun auch in der offiziellen Urteilsbegründung keine Rolle spielen durfte und man sogar wenigstens einen Katholiken unter den Siebenundzwanzig hinrichtete (der aber bezeichnenderweise noch bis zum tödlichen Streich mit seiner Begnadigung rechnete), so hätten doch diese politischen Rücksichten, die das kaiserliche Gericht in Prag leiteten, den Münchener Jesuiten Balde nicht daran hindern müssen, seinem katholischen Herzen hier freien Lauf zu lassen. Er aber, weit davon entfernt, klammert den religiösen Gesichtspunkt geradezu gänzlich aus. Während die Flugschriften der Zeit voll sind von Berichten etwa auch über das religiöse Verhalten der Todeskandidaten: ob und wie sie das Abendmahl eingenommen, welchen Bekehrungsversuchen sie widerstanden, wie sie gebeichtet, gesungen und gebetet hätten - der besonders fromme Graf Schlick z. B. soll, wie öfter notiert, mit einem schwarzen Gebetbuch aufs Schafott gestiegen sein; selbst die Gegner stellten fest, es sei "zuuerwunder geweßt", wie alle "fried vnd vnuerzagt [...] mit eifferigem gebett [...] zum Todt gangen"(54)- reduziert Baldes Bote dies alles auf den recht nichtssagenden Vers (43): Cælo tametsi supplices tendant manus. Er erwähnt nicht einmal, daß in der Front des Blutgerüsts ein (sonst überall erwähnter) großer Crucifixus war; vor allem aber macht er auch nicht einen Ansatz dazu, dem Geschehen einen theologischen Sinn zu geben, läßt vielmehr seinen Boten, gut senecanisch, über das böse Schicksal klagen, das tödlich sei (V. 22), ...Cùm parcit et cùm Numen aduersum manet (vgl.z. St.)! Kein nicht vorinformierter Leser könnte ahnen, daß es bei dieser Hinrichtung auch um Sachen der christlichen Religion ging. Und gar die Ansicht daß hier der wahre Glaube über die Häresie gesiegt hätte, stünde fast in geradem Gegensatz zu Baldes Bericht.
Warum redet Balde so? Will er sich etwa gerade als Christ insgeheim von einem Verfahren distanzieren, das, wie seinerzeit ein katholischer Bischof und Historiker formulierte, non Christiano solum homine, sed quantumvis barbaro [...] ob immanem crudelitatem zu verabscheuen(55) war? Dies ist durchaus möglich, zur Erklärung aber nicht nötig. Die Eliminierung des Christlichen war ja schon damit gegeben, daß eben nicht Balde sprach, sondern eine Bote Senecas, des Heiden, der seine Toten nicht in den Himmel oder die Hölle, sondern ad vmbras schickt (vgl. zu V. 76) und der, von Abendmahl und Rechtfertigungslehre zu schweigen, ja noch nicht einmal etwas vom Heiland gehört hat. Offenbar hat sich Balde ein eigenartigesVergnügen daraus gemacht, dieses seine Zeit erschütternde Ereignis, ohne Berücksichtigung der christlichen Religion, einmal ganz vom Standpunkt eines antiken Tragikers aus darzustellen und so die Niederwerfung der böhmischen Rebellion auf das Schema profaner Schuld und Vergeltung zu reduzieren. An anderer Stelle des 'Regnum Poetarum' ist er hierin sogar noch weiter gegangen. Im 'Virgilius' der Schlacht vom Weißen Berge (f. 109r-111r) ist nicht nur der Sprecher naturgemäß ein Polytheist (V. 8 f. si stare Duces et vellere signa / Annuerint Superi), sondern sogar ausgerechnet der fromme Maximilian von Bayern, der doch unter der Parole "Sancta Maria" seine Schlacht gewann, vergißt den Gott der Bibel, wenn er seine Getreuen gut heidnisch anfeuert (V. 25 f.):
Aut nunc aut nunquam victuri in
bella
ruamus,
Cælestûm vis magna iubet.(56)
Nichts könnte klarer zeigen, wie sehr man dem literarischen Unterricht der Jesuiten, dem das Jesuitentheater entstammt, Unrecht tut, wenn man ihn einseitig nur auf das Ziel der fides propaganda festlegt und darüber die schiere Freude an den Formen der antiken Literatur vergißt(57). Balde jedenfalls war schon als junger Lehrer auch ein Ästhet, den kein katholischer Eifer, sondern vor allem sein Vernügen an tragischen Reden und Gegenständen dazu trieb, Seneca einmal auch aus Prag berichten zu lassen und sich selber damit als zukünftigen Dramatiker klassischen Anspruchs auszuweisen.
1. Als Kritiker die von Dietz-Rüdiger Moser begonnene Erforschung Bayerns als literarischer Landschaft in ihrem Existenzrecht bezweifelten und eine besonders ironische Kennerin bekanntgab, sie warte noch immer "mit Spannung auf den bayerischen Paul Gerhardt", entgenete ihr der Editor von 'Literatur in Bayern' lakonisch: "Wie wäre es stattdessen mit Jacob Balde?" (Literatur in Bayern 11, März 1988, Rückseite des Umschlags).- Vgl. zu Balde bes. die Monographie von Georg Westermayer, Jacobus Balde, sein Leben und seine Werke, München 1868, hrsg. von Hans Pörnbacher und Wilfried Stroh, Maarssen 1998 (mit neuem Nachwort und umfassender Bibliographie); den Abriß einer modernen Gesamtdarstellung der Werke geben Wilhelm Kühlmann und Hermann Wiegand im Nachdruck der "Opera poetica omnia" (München 1729), Frankfurt/M. 1990, Bd. 1, 5-36 (mit Lit.). Sonst erschließt man sich die neuere Forschung besonders über die wichtigen Beiträge von Eckart Schäfer, Deutscher Horaz, Wiesbaden 1976, 109-260; Günter Heß, "Fracta Cithara oder Die zerbrochene Laute", in: Walter Haug (Hg.), Formen und Funktionen der Allegorie, Stuttgart 1978, 605-631; Jean-Marie Valentin (Hg.), Jacob Balde und seine Zeit [Sammelband], Bern u. a. 1986; Peter Lebrecht Schmidt, "Bemerkungen zu Biographie und Text im Werk des Jesuiten Jakob Balde", in: Acta Conventus Neo-Latini Hafniensis, Binghamton, N.Y. 1994, 97-119. Das ausführlichste Werkeverzeichnis gibt Gerhard Dünnhaupt, Personalbibliographien zu den Drucken des Barock, 1. Teil, Stuttgart (2. Aufl.) 1990, 378-400.
2. Ein gewisses Vorbild waren die ‚Prolusiones Academicae' des Jesuiten Famianus Strada (Rom 1617); ähnlich bei Balde selbst die nicht genau datierbare ‚Pudicitia vindicata', wo eine Szene aus dem Leben von St. Nicolaus im Stil drei lateinischer Epiker behandelt wird (Opera omnia 3, 305-317, dazu Veronika Lukas, Jacob Baldes ‚Pudicitia vindicata' und ihre antiken Vorbilder, Magisterarbeit München 1992 [zur Veröffentlichung vorgesehen]; auch die in der Münchener Handschrift (f. 112 ff.) enthaltene ‚In Comitem Ernestum Mansfeldium Philippica Poetarum' gehört zu dieser in unserem Jahrhundert erneuerten Art von Literatur bzw. Stilübung (deren Geschichte offenbar noch zu schreiben ist).
3. Er schreibt 1658 (Opera [wie Anm. 1] 3, 319) über seine "jugendlichen Musen": Nihil enim adhuc (!) earum nugarum edidimus in lucem, quibus nugari didicimus.Vgl. bes. Opera 6, 493. (Die Selbstzeugnisse Baldes sind zusammengestellt bei Schmidt [wie Anm. 7] 182.)
4. Westermayer (wie Anm. 1) 34 f. (mit ungenauer Wiedergabe der Nummernfolge), vgl. 253: Nicht zwingend aus Baldes Text ergibt sich, daß die Poeten in "altrömischer Tracht mit characteristischen Abzeichen" (S. 34) aufgetreten wären; falsch ist Westermayers (seitdem übernommene) Zeitangabe: "in der Festzeit von Epiphanie", da in Baldes Vorrede ausdrücklich die Rede ist vom præteritum Epiphaniæ festum, ubi sollenne est Reges et Aulicos creare ...(f. 86r).
5. Opera (wie Anm. 1) 3, 266 [=276, Fehlpaginierung] -286; 5, 325-331.
6. In: W. Kühlmann / H. Wiegand (Hg.), Parnassus Palatinus, Heidelberg 1989, 212-227.
7. "Balde und Claudian: Funktionsgeschichtliche Rezeption und poetische Modernität", in: Valentin (wie Anm. 1) 157-184; zur Handschrift dort 174-177, wonach die z. T. fehlerhaften Angaben bei Hermann Hauke, Katalog der lateinischen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek München IV 5, Wiesbaden 1975, S. 7 zu berichtigen sind.
8. So Schmidt (wie Anm. 7) 176, unter Berufung auf die (f. III, vor der dem 'Regnum Poetarum' vorausgehenden Emblemsammlung, heute genannt 'De Dei et mundi amore' ) gemachte Angabe Poëtae Monacenses Anno MDCXXVIII, jetzt überschrieben mit Poëtae Oeniponti Anno MDCLXXV (nach Angabe schon bei Westermayer [wie Anm. 1] 33 Anm. 1: Die ursprüngliche Jahreszahl ist trotz Rasur noch sicher zu erkennen; dagegen ist Monacenses eine Vermutung Westermayers - richtig Monachii in Entsprechung zum späteren Oeniponti?). Diese Jahreszahl, die sich nur auf die Widmung der Emblemsammlung bezieht (die, wie Balde selbst angibt, kurz vor dem' Regnum Poetarum' entstanden ist [die seit Westermayer übliche Datierung auf Weihnachten ist unsicher]), bezeichnet zwar richtig auch den Zeitpunkt der ursprünglichen Darbietung des 'Regnum', gibt aber nicht unbedingt das Datum der ganzen jetzigen (verschiedene Werke in verschiedenen Händen umfassenden) Handschrift an: "1628" könnte auch in späteren Jahren aus einer ursprünglichen Niederschrift der Vorrede abgeschrieben und dann sogleich oder wiederum später - jedenfalls höchstwahrscheinlich 1675 - überschrieben worden sein; und die Abschrift des 'Regnum poetarum' könnte noch einmal auf einen anderen Zeitpunkt fallen. Aber dies müßte erneut im Rahmen einer Gesamtuntersuchung der in der Handschrift enthaltenen Texte und Bilder sowie einem Vergleich der diversen Hände erörtert werden.
9. Das auf den Botenbericht folgende, sapphisch beginnende, dann aber polymetrische Chorlied (ungenau Schmidt [wie Anm. 7] 157: "in sapphischen Strophen") wirft eigene Probleme auf und soll an anderer Stelle erörtert werden.
10. Dies ist theoretisch bekannt seit Horaz (ars 251 ff.) und den Grammatici Latini; eine für die frühe Neuzeit maßgebliche Darstellung scheint von Hieronymus Avantius zu stammen (s. unten zu V. 4).
11. Die Praxis scheint hier uneinheitlich, sogar im Werk eines einzelnen Dichters. So gestattet sich, um Zufallsbeobachtungen zu nennen, Jacob Bidermann in seinem 'Cenodoxus' (zuerst 1602, gedr. 1666) im dritten und siebten Element allenfalls den Anapäst, nicht den Spondeus (unrichtig gibt Namen und Schema des Versmaßes Rolf Tarot in der kritischen Ausgabe, Tübingen 1963, S. 172), während er im späteren 'Philemon Martyr' (1618, gedr. ebenfalls 1666, zweispr. Ausg v. Max Wehrli, Köln 1960) ganz lässig ist; Jacob Gretser ist freizügig in seinem (jetzt erst von Sonja Fielitz mit Beate Promberger, München 1994, herausgegebenen) 'Timon' (1584), strenger, nicht pedantisch, dagegen im 'Triumphus D. Michaelis' (1597, kommentierte Erstausausgabe angekündigt von Barbara Bauer und Jürgen Leonhardt, Regensburg 1998?), den er höchstwahrscheinlich zusammen mit Matthaeus Rader verfaßt hat. Balde hält sich in der späteren ‚Jephtias' exakt an die klassische Regel des Trimeters; bei den Pseudojamben der Scena A. Plauti im 'Regnum Poetarum', wo Senare zu erwarten wären, ist nur der Schluß jedes 'Verses' jambisch reguliert (ungenau hier Schmidt [wie Anm. 6] 158: "iambischer Septenar"), in seiner Innsbrucker Komödie 'Iocus serius' (1629, transkribiert von J.-M. Valentin, Euphorion 66, 1972, 412-436) verwendet er schiere Prosa. Eine genauere Untersuchung wäre aufschlußreich auch für die intendierte Stilhöhe.
12. Einige Einschränkungen werden sich im Laufe der Kommentierung ergeben; zu wünschen wäre vor allem auch, daß die metrischen Lehrbücher der Zeit aufgearbeitet würden (nicht mehr einschlägig leider: Jürgen Leonhardt, Dimensio syllabarum: Studien zur lateinischen Prosodie und Verslehre von der Spätantike bis zur frühen Renaissance, Göttingen 1989).
13. "Tragoedi von MAVRITIO dem Römischen Kaiser" (1613), s. Elida M. Szarota (Hg.), Das Jesuitendrama im deutschen Sprachgebiet: Eine Periochen-Edition, München 1979-1987, II 2, 1681-1697.
14. Am Bühnencharakter oder gar der Aufführbarkeit, von Senecas Tragödien (die seit dem 15. Jahrhundert gespielt wurden) zu zweifeln, kommt der Barockzeit nicht in den Sinn; vgl. den unten (Anm. 16) zitierten Aufsatz, mit Verweis auf das bekannte Buch von Otto Zwierlein, Die Rezitationsdramen Senecas, Meisenheim/Gl. 1966.
15. Zur hier bestehenden Differenz zwischen Seneca und den von Horaz als mustergültig empfundenen Griechen s. unten S.
16. Zum richtigen Titel 'Troas' vgl. W. Stroh, "Die Aufführung der 'Troas' als philologisches Experiment", in: Orchestra (Festschr. H. Flashar), Stuttgart / Leipzig 1994, 248-263, dort 251 Anm. 23.
17. Senecas insgesamt (den ‚Hercules Oetaeus' miteingerechnet) dreizehn Botenberichte handeln durchweg von Dingen, die auf der Bühne schwer oder gar nicht dazustellen waren: von Ermordung (Troas, wie oben; Ag. 867-909: Agamemnon; Thy. 641-788: Kinder des Thyest [mit Küchenszene]), sonstigem gewaltsamem Tod (Phaedr. 1000-1114a: Hippolytus; Herc.Oet. 1618-1755a: Hercules), Gewalttat (Oed. 915-979: Selbstblendung; Herc.Oet. 775-841: Nessushemd), Totenerscheinung bzw. -beschwörung (Tro. 168-202: Achill; Oed. 530-658: Laius), Unterweltsfahrt (Herc.f. 650-827a), Zauberei (Med. 670-738a), Seesturm (Ag. 421-578) Nur im letzten Beispiel und in Herc.Oet.485-534 (Hercules tötet Nessus) handelt es sich, wie bei Balde um ein etwas weiter zurückliegendes Geschehen; in der Regel haben die berichteten Dinge während der Bühnenhandlung (meist zwischen den Akten, d. h. während des Chorlieds) stattgefunden; die Ermordung Agamemnons wird von der Seherin Cassandra offenbar telepathisch, also synchron, miterlebt. Vermieden ist der Botenbericht im 'Hercules furens', wo der auf der Bühne nur intermittierend sichtbare Titelheld seine Kinder, wie schon Lessing gesehen hat, jeweils hinter der Szene erschlägt bzw.erschießt (V. 987 ff.). Zum Stil vgl. das (nicht immer unproblematische) Kapitel „Botenberichte" in: Wolf-Lüder Liebermann, Studien zu Senecas Tragödien, Meisenheim Gl. 1974, 14-84.
18. Es fällt auf, daß der Bote hier nie Autopsie andeutet; so wäre vorstellbar, daß er sich nur eine ihm aus Erzählungen bekanntgewordene Begebenheit ins Gedächtnis ruft. Vgl.die vorige Anmerkung.
19. So im Vorspruch des Orator ausdrücklich (f. 99v): Tota res tragica est. Senecam aut potius aliquem nuncium apud Senecam hæc omnia referentem audiamus
20. Von Balde ausdrücklich hervorgehoben in lyr. 1, 33, 59-66 (Opera [wie Anm. 1] 1, 41).
21. Dies behandle ich ausführlich in einem Aufsatz "Balde auf der Bühne", demnächst im Jahrbuch für Germanistik. Die 'Jephtias' liest man am bequemsten in den Opera 6, 1-193.
22. Förderlich zum Verständnis des 'Regnum Poetarum' war mir ein im Wintersemester 1988/89 und im Sommersemester 1989 abgehaltenes Balde-Colloquium, an dem u. a. Andreas Heider, Jürgen Leonhardt, Allan A. Lund, Veronika Lukas, Cornelia Manegold, Mechtild Pörnbacher und Helmut Zäh teilgenommen haben. Ich versuche , ihre Beiträge, wo noch möglich, mit Namen kenntlich zu machen.
23. Hellmut Diwald (Wallenstein: eine Biographie, München / Esslingen 1969, 149) spricht vom "Begräbnisritual des alten Böhmen", durch das Böhmen "so etwas wie der Zentralfriedhof Europas" geworden sei.
24. Die Jesuiten waren beim böhmischen Aufstand des Landes verwiesen worden; erst nach der Schlacht am Weißen Berge konnten sie zurückkehren. Nach zeitgenössischen Berichten bemühten sie sich übrigens ebenso heftig wie erfolglos um eine Bekehrung der fast durchweg lutheranischen Delinquenten.
25. Baldes eigener Landesherr, der Jesuitenfreund Maximilian von Bayern, soll, obwohl selbst bei der Hinrichtung nicht anwesend, beim Kaiser auf strenges Vorgehen gegen die Rebellen gedrängt haben (s. D. Albrecht [wie unten Anm. 27] 532).
26. So in der Vorrede angekündigt (f. 99v): Pragæ [...] trucidantur, in medio foro, probrosa morte & palam cruento scilicet Iustitiæ spectaculo.
27. Zitiert unten zu V. 58. Leider nicht zugänglich war mir bisher seine Abhandlung bzw. Edition: Die Prager Exekution im Jahre 1621: Flugblätter und Abbildungen, hrsg. v. F. Pick, Prag 1922 (= Pragensia Bd. 5). An sonstigen älteren Arbeiten schien besonders informativ: Anton Gindely, Geschichte des dreißigjährigen Krieges, Bd. 4, Prag 1880, 59-82; ders., Geschichte der Gegenreformation in Böhmen, Leipzig 1894, 21-35; Margot Lindemann, "Johannes Jessenius und die Prager Exekution von 1621", Jahrb. d. Schles. Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau 6, 1961, 351-368; wegen Aufarbeitung älterer Urteile ist lesenswert D. Franz Dominicus Häberlins Neuere Teutsche Reichs-Geschichte [...], fortgesetzt von Renatus Karl Freyherrn von Senkenberg, Bd. 25, 1621-1628, Halle 1794, 58-66. Die zahlreichen moderneren Gesamtdarstellungen des Dreißigjährigen Kriegs sind speziell zu unserem Thema meist weniger ergiebig (etwa bei Günter Barudio, Der Teutsche Krieg 1618-1648, Frankfurt/M. 1985, 179 werden die Hinrichtungen von Graf Schlick und Jessenius durcheinandergebracht). Vgl. die ausführlichen Angaben bei Dahlmann-Waitz, Quellenkunde der deutschen Geschichte, Bd. 6, 1987, Nr. 279, 1-1038 (Literatur und Quellen); Neueres ist zusammengestellt bei: Dieter Albrecht, Maximilian I. von Bayern 1573-1651, München 1998, 489 Anm. 1.
28. Der Sammler Franz Dominicus Häberlin (1726-1787) ist der als Historiker (s. die vorige Anmerkung) bekannte Staatsrechtsprofessor aus Helmstedt, s. das Vorwort in: Maria Pfeffer, Flugschriften zum Dreißigjährigen Krieg: aus der Häberlin-Sammlung der Thurn- und Taxisschen Hofbibliothek, Frankfurt/M. u. a. 1993. Die den 21. Juni 1621 betreffenden insgesamt elf (z. T. fast textidentischen) Schriften sind eingeordnet unter den Signaturen C17/32 bis C17/39 der chronologisch angelegten Sammlung.
29. Dieses (vor allem in Teilen der Bilder) öfter in der modernen Literatur wiedergegebene Flugblatt (Signatur: C 17/38), das ich auch in einer Photographie verwenden konnte, ist wie meist ohne Datum und Verfasser. Es ist als "Blatt Nr. 9" (stark verkleinert) abgebildet auf S. 138 f. der Arbeit von Pfeffer (s. vorige Anm.); dort S. 35-37 ein Kommentar, S. 140 f. eine Beschreibung mit Hinweis auf frühere Publikationen bzw. Abbildungen (z. B. durch W. Harms); der Bildteil des Flugblatts (der dem anderer Flugblätter z. T. sehr ähnlich ist; vgl.etwa den Einblattdruck Nr. 519, in: Wittelsbach und Bayern II 2, Ausstellungskatalog München 1980) ist auch abgebildet auf Tafel V des Buchs von Pick (wie zu V. 58), der hier einen „gewandten, ortskundigen Künstler" am Werk sieht. Ein anderes Flugblatt mit z. T. sehr ähnlichem Text wird ausführlich zitiert und ausgewertet in der Arbeit von Lindemann (wie oben Anm. 27).
30. Anders Maria Pfeffer (wie Anm. 28), die, weil sie den Schluß des Flugblatts als (S. 36) "eine Danksagung an Gott für die Wiederherstellung der Ordnung" versteht, es "aus dem kaiserlich-katholischen Lager" stammen und "zur Warnung und Abschreckung dienen" lassen will - ein offenkundiges Mißverständnis: Das Flugblatt rühmt am Ende die Standhaftigkeit und christliche Geduld der fast sämtlich "der Evangelischen Religion / Augspurgischer Confession / biß an jhr Ende" treu gebliebenen Hingerichteten und bittet Gott, "daß der edle selige Frieden / in vnserm geliebten Vatterland / bald wider gebracht werden möge / Amen." Übrigens hat man bei den Flugblättern meist den Eindruck, daß sie mehr der Neugier bzw. dem Informationsbedürfnis dienen sollen als gezielter Propaganda.
31. Hier folge ich der Praxis von Peter L. Schmidt in seiner Ausgabe des 'Claudian' (wie oben Anm. 7). ).
32. Von Interpunktion und Akzentuierung ganz abgesehen, mußten wir an mehr als dreißig Stellen das Überlieferte ändern bzw. eine Verderbnis konstatieren. Damit ist der Text trotz Autornähe entschieden korrupter als der von Senecas Tragödien selber, die doch durch eine lange Abschreibetradition gegangen sind.
33. Daß Seneca rhetorisch übertreibe, wie ihm seit 300 Jahren gelegentlich, seit 150 Jahren regelmäßig vorgeworfen wird, ist nur die Hälfte und zwar die uninteressantere Hälfte der Wahrheit; in ihm erreicht die von Ovid in die Dichtung eingeführte, in der Schule damals geübte (Cicero und sogar noch Vergil fast unbekannte) Pointenrhetorik, in der es darum geht, möglichst viel Überraschendes, ja Paradoxes, mit möglichst wenig Worten zu sagen, ihren in Poesie und Prosa unüberbotenen Höhepunkt.
34. Poetices libri septem, Lyon 1561 (ND 1987), 323.
35. Vgl. dazu die Abhandlung von Manfred Fuhrmann, Die Funktion grausiger und ekelhafter Motive in der lateinischen Dichtung, in: H. R. Jauss (Hg.), Die nicht mehr schönen Künste, München 1968, 23-66. Fundamental für das Verständnis des Tragikers Seneca war besonders auch in dieser Hinsicht: Otto Regenbogen, „Schmerz und Tod in den Tragödien Senecas" (zuerst 1930), ND Darmstadt 1963, seinerseits inspiriert durch die geniale Würdigung von Julius L. Klein, Geschichte des griechischen und römischen Drama's, Bd. 2, Leipzig 1874, 351-468. Neueres etwa bei Eckard Lefèvre (Hg.), Senecas Tragödien, Darmstadt 1971; A. J. Boyle (Hg.), Seneca tragicus, Melbourne 1983.
36. Vgl. zuletzt Marion Giebel, Seneca (rowohlts monographien), Reinbek 1997, 92-95 und die Beiträge in "Mythen erzählen: Medea", Der altsprachliche Unterricht 40, H. 4/5, 1997, 51-87.
37. Von diesen köstlichen, z. T. auch humorvollen Federzeichnungen (f. 66-85, vgl. die Inhaltsangabe bei P. L. Schmidt [wie Anm. 7] 176) ist bisher nur durch Eckart Schäfer (s. das Titelbild in seinem in Anm. 1 zitierten Buch) der "Horatius" bekannt geworden (die alte Vettel, die den Horaz am Haar festzuhalten sucht, dürfte dabei aber nicht, wie man seit Schäfer glaubt, eine Höllenfurie, vielmehr die in ihrem Vernichtungsbemühen frustrierte Leichengöttin Libitina sein, vgl. Hor. carm. 3, 30, 6 f. non omnis moriar multaque pars mei / uitabit Libitinam ...). Das ganze Werk, das, auch wenn die Zeichnungen nicht von Balde selbst ausgeführt sein sollten, doch seinen Geist atmet und sicher auf Ideen von ihm zurückgeht, harrt noch immer seines Deuters und Editors.
38. Die dem selbstbewußt entschreitenden, lorbeerbekränzten Seneca nachblickende gekrönte Frauengestalt muß die Tragoedia in Person sein (die man sich im Altertum, wegen der in ihr auftrenden Figuren, als königlich gedacht hat: so Ovid, am. 3, 1, 13); die bei ihr befindlichen drei Kinder, deren eines sie in die Höhe hebt (und von denen nur das mittlere noch zu leben scheint, während das am Boden liegende eindeutig tot ist), dürften am ehesten auf die drei Söhne des Thyest deuten, die von dessen Bruder Atreus ermordet, gekocht bzw. gebraten (man beachte auch das Feuerbecken bei den Kindern) und dem Vater vorgesetzt wurden: Dieses Mahl, die eigentliche cena Thyestea, dürfte im unteren der beiden kleinen, links befindlichen Bildchen dargestellt sein; das obere zeigt eindeutig den Sonnenwagen, der über diese Gräßlichkeit entsetzt seine Bahn zurückwendet (was die bisherigen Zuschreibungen bestätigt). Problematisch bleibt nur die rechts in einer Art Höllenfeuer stehende offenbar männliche Figur. Das Löwenfell, wenn es eines ist, würde auf Hercules weisen (der ja tatsächlich in der Unterwelt war), nicht aber das Bündel von Schlangen in der Hand, das auch sonst auf Zeichnungen der Handschrift vorkommt und zu einer Furie paßt: Könnte es der von der Furie gehetzte (Sen. Thy. 96 f. quid ora terres uerbere et tortos ferox / minaris angues?), selbst quasi als Furie furor verbreitende (Thy. 101 hunc, hunc furorem diuide in totam domum) Schatten des Tantalus sein?
39. Opera (wie Anm. 1) 6, 6: Er rechnet sie zum selben Typ wie seine ‚Jephtias' (s. unten Anm. 41) und sagt sie sei passim neglecta, , sed per superbam ignorantiam.
40. Leider scheint die Geschichte von Seneca tragicus als Schulautor trotz dem neuerlich wieder stärkeren Interesse am Nachleben seiner Dramen noch nicht geschrieben (vgl.den nützlichen, aber auch die neulateinische Dichtung nicht berücksichtigenden Band von Eckard Lefèvre [Hg.], Der Einfluß Senecas auf das europäische Drama, Darmstadt 1978).
41. Sie unterscheidet Balde ausdrücklich in der erwähnten Dedicatio der Jephtias (1654, Opera [wie Anm. 1] 6, 5 f.): Die eine, für die u. a. Medea als ein Beispiel genannt wird (daneben: Phaedra, Clytaemestra) enthalte ferocium feminarum [...] facinora non vulgaria, die andere tyrannorum [...] barbara facta, wofür Oedipus ein Beispiel ist (daneben:'Hercules furens', ‚Hercules Oetaeus'); die Jephtias liege in der Mitte, vgl. Anm. 39.
42. Es ist bezeichnend, daß nur gerade von diesen beiden Werken eine anspruchsvollere neue deutsche Übersetzung (bei Reclam) existiert; vor allem der heute sogar gelegentlich aufgeführte ‚Oedipus' verdankt das meiste seinem Namen.
43. Die genaue Realisierung ist umstritten, vgl. Töchterlein (wie zu V. 9) zu Sen. Oed. 303 und 325 ff. -Vor allem auch aus solchen Greuelszenen hat Otto Zwierlein (m.E. zu Unrecht) auf die Bühnenfremdheit von Senecas "Rezitationsdramen" (s. oben Anm. 14) geschlossen.
44. Immerhin ereignete sich in den ‚Persern' des Aischylos die Beschwörung des toten Dareios sogar auf der Bühne; und eine Geistererscheinung des Polydoros eröffnete die ‚Hekabe' des Euripides.
45. Auch Medeas Kindermord ist hier einschlägig, da jedenfalls der erste Mord von der Täterin als Sühneopfer für frühere Verbrechen erlebt wird.
46. Überschrift: DECLAMATIO seu Regnum Poëtarum In quo Stylus cuius'que Poëtæ ad exemplum veterum conformatur, eius'que diuersitas cum materiæ varietate tum etiam alia atque alia Harmonia explicatur.
47. Da im zweiten Teil mit Textausfällen zu rechnen ist (sicher vor V. 80) könnten die Verszahlen sogar genau entsprechen. Prooemium (10 Verse) und Epilog (9 Verse) sind in der Länge minimal verschieden; auch hier scheint ein Versausfall am Anfang des Epilogs (s. zu V. 88-97) nicht unwahrscheinlich.
48. Immerhin erinnern die zwei steigernd aufeinander folgenden Teile an den ganz auf Steigerung hin angelegten Botenbericht des 'Thyestes' (641-788).
49. Vgl. etwa Lausberg (wie zu V. 65) §§ 269 f.; stärker als in Senecas Botenberichten spürt man bei Balde, der wie einst Seneca auch ein beliebter Redner war, Elemente der Gerichtsrhetorik.
50. Sammlung Häberlin (s. Anm. ) C 17/36: "Extract auß Praag. Wahrhaffte RELATION, welcher gestalt [...] die Böhmische Rebellen [...] hingericht worden" (dies ist allerdings das einzige Flugblatt eindeutig dieser Tendenz in der Sammlung Häberlin).
51. Die von Balde so intensiv benutzte 'Medea' endet mit einem zumindest momentanen atheistischen Glaubensbekenntnis Jasons, welcher der auf dem Drachenwagen nach ihrer Untat entfliegenden Titelheldin nachruft, sie solle durch diese ihre Himmelsfahrt bezeugen, daß es dort, wo sie fährt, keine Götter gebe (Med. 1027 testare nullos esse, qua ueheris, deos). Im ebenfalls benutzten 'Oedipus' sind es die fata, nicht etwa gerechte Götter, die die Welt regieren (bes.V. 980 ff.); und in der 'Phaedra' wird, nicht unglaubwürdig angesichts des Geschehens, die Existenz einer göttlichen Rechtsordnung (jedenfalls für den Bereich des menschlichen Lebens) schlechtweg verneint (V. 972 ff.; vgl. das interessante, aber umstrittene Buch von Joachim Dingel, Seneca und die Dichtung Heidelberg 1974). Im Sinne des Stoikers Senecas sind dies sicherlich keine letzten Wahrheiten, aber es bleiben doch eindrucksvolle und durch die Handlung scheinbar bestätigte Ansichten: In keiner seiner Tragödien (mit einer gewissen Ausnahme des 'Hercules Oetaeus') siegt Recht über Unrecht; in 'Thyestes' und 'Agamemno' triumphie,rt die schiere Bosheit, in der 'Troas' Aberglaube und brutaler Machtwille. Natürlich wäre hier besonders auch zu fragen, wie man zur Zeit Baldes Seneca gelesen hat.
52. Vgl. zuletzt Manfred Fuhrmann, Seneca und Kaiser Nero, Berlin 1997, 250; grundlegend zu allen hier angeschnittenen Problemen: Miriam T. Griffin, Seneca: a philosopher in politics, Oxford 1976. - Eine Gestalt, die explizit die Staatsräson über die Humanität stellt, ist der (nicht völlig unsympathische) Ulixes im dritten Akt der 'Troas', in dem man, mit großen Einschränkungen, auch eine Selbstdarstellung Senecas sehen kann.
53. In manchen der von mir eingesehenen Flugschriften der Sammlung Häberlin wird das hohe Alter der Hingerichteten, ihre "Weisse und Graue heübter"(C17/36, AIIv) als rührend hervorgehoben; eine spricht von den (C17/35, AIIIr) " sehr viel alten Eißgrawen Leut" und meint, es "müste einer ein steinern hertz gehabt haben / der nit erbarmung mit jhne(n) gehabt". Auf Baldes Boten trifft das zu: Auch aus seinem Entsetzen wird nie ein Mitleid.
54. So in der schon zitierten kaiserlich gesonnenen Flugschrift der Sammlung Häberlin (C17/36, AIIv).
55. So der bei Häberlin / Senkenberg (wie oben Anm. 28) Bd. 25, 5 Anm. zitierte Pole Piasecius in seinen ‚Chronica' .
56. Baldes 'Neuheidentum' war von vorneherein dadurch entschärft, daß er vor dem 'Regnum Poetarum' mit seiner Poetenklasse die dezidiert christliche Emblemausstellung - keine "lebenden Bilder", wie seit Westermayer (wie Anm.1) 33 behauptet wird- 'De Dei et mundi amore' veranstaltet hatte.
57. Dies hervorzuheben, ist ein wichtiges Anliegen des Buchs von Barbara Bauer, Jesuitische 'ars rhetorica' im Zeitalter der Glaubenskämpfe, Frankfurt/M. u. a. 1986 (Mikrokosmos Bd. 18).