Jacobus Balde (1604-1668):
ein kurze Würdigung des Dichters zum 400. Geburtstag
von Wilfried Stroh
Wer sich vor etwa 350 Jahren in Europa nach dem berühmtesten
Dichter Deutschlands umgehört hätte, der hätte wohl
nicht die Namen zu hören bekommen, die uns heute die wichtigsten
scheinen: Gryphius, Grimmelshausen, Paul Gerhardt ... Ihrer aller Ruhm
wäre überstrahlt worden von dem eines bayerischen Jesuiten,
der in der damals ja weltweit gepflegten lateinischen Sprache
dichterische Werke schuf, die überall Aufsehen erregten und sogar
von Protestanten bewundert wurden: Jacobus Balde. Erst mit dem
Niedergang der lateinischen Poesie in Deutschland begann auch sein Ruhm
zu verblassen. Doch blieb ihm der Name des „deutschen Horaz“; und
Johann Gottfried Herder, der auch sein bekanntester Übersetzer
wurde, hat ihn als einen „Dichter Deutschlands für alle Zeiten“
seinen Landsleuten ans Herz gelegt.
1604 im elsässischen Ensisheim geboren, kommt Balde als junger
Mann an die Universität Ingolstadt, ins geistige Zentrum des
katholischen Deutschlands, wo er als Jurastudent mit zwanzig Jahren
eine spektakuläre Bekehrung erlebt, die später vielfach von
anderen in Lyrik und Drama ausgestaltet wird. Als in einer Maiennacht
seine einer schönen Bäckerstochter dargebrachte Serenade ohne
Wirkung bleibt, zerschmettert er, von der Nichtigkeit der Welt
urplötzlich durchdrungen, seine Laute mit dem Vers: „Sei’s des
Liedes genug: Sprenge das Saitenspiel!“ (cantatum satis est: frangito
barbiton) – und wird alsbald Jesuit. Wegen seiner poetischen und
rhetorischen Fähigkeiten macht er dann als Gymnasiallehrer, vor
und nach dem Theologiestudium (1630-1632), rasche Ordenskarriere in
München, Innsbruck und Ingolstadt (wo er zugleich auch Mitglied
der Universität ist).
Schon seine frühesten dichterischen Versuche führen ihn durch
den ganzen Kosmos der antiken Dichtungsgattungen, denen er sich
sämtlich gewachsen fühlt: In einem fürs Münchner
Gymnasium verfassten Jugendwerk (von 1628) werden Episoden des damals
schon zehn Jahre andauernden
Dreißigjährigen Krieg im Stil und Versmaß von
zwölf
verschiedenen altrömischen Dichtern (Vergil, Horaz, Ovid usw.)
besungen,
wobei Balde die Ereignisse von einem unkatholischen, ja
antik-heidnischen
Standpunkt aus wahrnimmt: So beruft sich etwa Kurfürst Maximilian,
der
in der Schlacht am Weißen Berg ja in Wirklichkeit mit der Parole
„Maria“
gesiegt hatte, bei Balde auf den Willen der „Götter“ (superi).
Ersten deutschlandweiten Ruhm bringen dann nicht die nach dem Willen
des Ordens verfassten offiziellen Auftragsgedichte im klassischen Stil,
auch nicht verschiedene aus Prosa und Vers auf eigene Faust gemischte
Formexperimente, sondern ein eher volkstümliches,
lateinisch-deutsches, in deutscher Sprache sogar singbares Lied „De
vanitate mundi“ (1636), in dem die „Eitelkeit der Welt“, ein Modethema
der Zeit, in hundert Strophen originell und mit viel
Humor vom Standpunkt eines christlichen Platonismus aus durchgehechelt
wird.
Dichterisch noch bedeutender ist, auch wenn dieses Werk weniger
populär wurde, Baldes urkomische Fassung des pseudohomerischen
„Froschmäusekriegs“ (Batrachomyomachia), der in vielfacher Weise
den großen Krieg, der Bayern an den Rand seiner Existenz bringt,
im Kleinen wiederspiegelt. Von der Not des Kriegs spricht auch die von
Balde verfasste, 1970 zur Einweihung der U-Bahn wiederhergestellte,
Inschrift auf der Münchner Mariensäule, deren Einweihung er
1638 mit einer gewaltigen Ode begleitet.
Schon 1637 war er ja auf Betreiben von Kurfürst Maximilian, dem
überragenden katholischen Staatsmann der Zeit, wieder nach
München geholt worden, wo er bald das Amt des Hofpredigers und
(leider) auch Hofhistoriographen zu versehen hatte: Maximilian
erwartete eine in seinem Sinn geschriebene bayerische
Geschichte, ein Projekt, an dem schon andere gescheitert waren und das
den
wahrheitsliebenden und höchst reizbaren Literaten Balde in manche
Konflikte
brachte. Dieser allerhöchste Auftrag musste ihm umso lästiger
sein,
als in den ersten Münchner Jahren sein speziell dichterisches
Talent
zur mächtigsten Entfaltung drängte. 1643 erscheint in
München
ein lyrisches Großcorpus, wie es die Welt in lateinischer Sprache
noch
nicht gesehen hatte: In vier Büchern „Lyrica“, einem Buch „Epodi“
und
sieben (später auf neun erweiterten) Büchern „Sylvae“
(„Wäldern“)
stellte er in den Maßen und Formen des Klassikers Horaz die
Empfindungen
und Probleme seines aufgewühlten Zeitalters so umfassend und
vollendet
dar, dass ihm von nun an der Beifall auch aller Gebildeten in Europa
sicher
war.
Von den Themenbereichen, die Horaz einst berührt hatte – Politik,
Freundschaft, Religion, Literatur, Lebensweisheit und Geselligkeit –
fehlt naturgemäß nur die Erotik, die aber wunderbar
aufgehoben und sublimiert
ist in Baldes Marienlyrik, die immer als ein Höhepunkt seines
Schaffens
angesehen wurde. Von der demütigsten Verehrung bis zu einer fast
schäkernden
Vertraulichkeit geht hier die Skala der Töne, die besonders auch
in
deutscher Sprache (in dem schon 1638 gedichteten „Ehrenpreiß“)
sehr
innig werden können. So z.B. wenn er, der erst
Vierunddreißigjährige, sich der Gottesmutter für seine
dermaleinst letzte Stunde anempfiehlt und sie darum bittet, ihm, an
Stelle der heidnischen Parzen, persönlich den Lebensfaden
abzuschneiden:
Wann nun geschwächt seind all fünf Sinn,
Die umbstehend Rott wird sagen:
Jetzt hat ers gar, jetzt ist er hin,
Man merkt kein Puls mehr schlagen:
Dein schöne Hand, Dein milde Hand,
O Mutter meines Lebens,
Schneid oder halt, gleich wies dir gfallt,
Sonst ist es alls vergebens.
Die als derb empfundene Intensität solcher Verse, die man sich in
bayerischem, vielleicht auch noch alemannischem Tonfall gesprochen zu
denken hat und die sich jedenfalls der damals von Norddeutschland
ausgehenden Regulierung der deutschen Dichtersprache nicht fügte,
ging schon seinen Ordensoberen entschieden zu weit; und so gilt Balde
bis heute meist als schlechter deutscher Dichter, wohl kaum zu Recht.
Nach München gehört auch der zunächst (1638) nur
lateinisch, dann lateinisch-deutsch bearbeitete „Agathyrsus“, ein
paradoxes Loblied auf die Magerkeit, die in Zeiten der Hungersnot
minder beliebt war und, wie
bekanntlich schon der von Balde bewunderte Rubens zeigt, auch nicht
unbedingt
als schön empfunden wurde. Sie war von Hause ein Ideal des
christlich-platonischen
Asketen, der um der Ausrichtung auf Gott und Jenseits willen den
Sinnenfreuden
abschwört. Balde aber, ein Bußprediger im Narrenkostüm,
tut
lustigerweise so, als komme es nur auf dieses Nebenergebnis der Askese,
eben
auf die Magerkeit, an; und so lässt er etwa bei seiner Darstellung
des
Jüngsten Gerichts Gott seine Entscheidung über Gut und
Böse,
Himmel und Hölle nach dem schieren Körpergewicht treffen:
Hinab mit dir, speckfeiste Rott,
Der Schmaus nit länger währet,
Welche den Bauch als ihren Gott
Mit Knobloch hie verehret.
Back dich, du Sack, mit Sack und Back
Hinab in d’ ander Kuchen!
Die selig Schar, die dürr vor war,
Jetzt Gottes Speis versuchen.
Balde übersteigert den grotesken Humor dieses
Schlankheitsfanatismus noch, wenn er schließlich als Spiel seiner
Phantasie einen förmlichen, nach dem Vorbild der Jesuiten
organisierten religiösen Magerkeitsorden stiftet – die dessen
Statuten enthaltende Handschrift wurde erst kürzlich von Helmut
Zäh in der Münchner Staatsbibliothek entdeckt –, einen
Mönchsorden, der im Gegensatz zu allen bisherigen nicht der Sorge
um die Seele, sondern nur der lebenslangen Körperpflege,
d.h. eben der (angeblich durch den Sündenfall
beeinträchtigten) Magerkeit gewidmet sein soll. Da es
ausschließlich nur um diese geht, darf und soll in diesem Orden
von den Berufenen und der Gnade der Dürrheit Teilhaftigen sogar
hemmungslos, ja wettbewerbsmäßig gefuttert werden –
sofern nur eben keine Gewichtzunahme eintritt. Welch utopisches
Paradies
auch für Vollschlanke von heute! Unzweifelhaft real war dagegen
ein
aus Begeisterung für Baldes „Agathyrsus“ entstandener
Münchner
„Club der Mageren“ (Congregatio Macilentorum), der, vielleicht analog
zu
modernen Karnevalsgesellschaften, als eine Art Fastenverein offenbar
asketische
Ziele verfolgte und dessen Vorsitzender der dünne Dichter selbst
mehrere
Jahre lang war (als Mitglieder werden nobelste Münchner genannt).
Hier
sollen, nach den freilich grotesk übersteigerten Zeugnissen in
Baldes
Lyrik, Abmagerungskuren mit schaurigen Diäten (aus Hummerschalen
etc.)
veranstaltet worden sein – fast zwei Jahrhunderte vor dem molligen
Lord
Byron, der sich, natürlich ohne Balde zu kennen, als erster wieder
(mit
Essigwasser) auf die Idealmaße eines romantischen Dichters
herunterhungerte.
Rücksichtnahme auf seine angeschlagene Gesundheit nötigt
Balde, einige Zeit, nachdem der große Krieg endlich zum ersehnten
Ende gekommen ist, seine Münchner Ämter aufzugeben. Aber auch
als Prediger in Landshut und Amberg (1650-1654) bleibt er
unermüdlich schöpferisch. Nach dem lyrischen Jahrzehnt
fesselt ihn nun zunächst die satirische Dichtung, die er für
besonders schwierig und nur dem reiferen Dichter für
zugänglich hält. In „Ruhm der Heilkunst“ (Medicinae gloria)
von 1651 rechnet er im Geiste des giftigen Spötters Juvenal
höchst erfolgreich mit allerlei Humbug der zeitgenössischen
Medizin und Quacksalberei ab. Noch berühmter wird, vor allem dank
einer kongenialen deutschen Bearbeitung durch Sigmund von Birken,
Baldes satirisches Hohnlied auf das Tabakrauchen, „Die Truckene
Trunckenheit“ (Satyra contra abusum tabaci ). Trotz ihrem burlesken
Humor sollte diese Satire keineswegs als rein ironisch interpretiert
werden, und die Gesundheitsminister der EU könnten sie für
ihre Aufklärungsarbeit durchaus mit Gewinn verwenden.
Dann aber wendet sich Balde vor allem dem Schauspiel zu, das von den
Jesuiten ja immer besonders gepflegt wurde. In Neubearbeitung eines
schon früher aufgeführten Dramas schafft er nun die
monumentale Tragödie „Jephtias“ (1654), das Drama des
jüdischen Heerführers Jephte, der aus Gehorsam gegen Gott die
eigene Tochter opfern muss, ein Stück, durch das er, gegen den
herrschenden Zeitgeschmack, das deutsche Jesuitentheater mit seinen oft
vordergründigen Bühnenspektakeln durch Rückbesinnung auf
die Grundsätze der klassisch antiken Ästhetik zu reformieren
sucht. Ohne großen Erfolg: Das herrliche, wohl alle Barockdramen
Deutschlands übertreffende Werk, zu dessen Chorpartien sogar Noten
existieren, ist in dieser Fassung bis heute noch nicht
uraufgeführt worden. Es würde allerdings, ungekürzt,
fast zehn Stunden dauern.
In seiner letzten Lebensperiode, in der Balde am Hof des Pfalzgrafen in
Neuburg an der Donau als Prediger und Beichtvater wirkt (1654-1668),
rundet er, wenn wir von vielen anderen Dichtungen absehen, sein
Lebenswerk, in
dem er bis dahin schon fast alle Formen antiker Poesie belebt und um
neue
Erfindungen vermehrt hatte, durch einen im Stil des elegischen Ovid
verfassten
erotischen Briefroman „Urania victrix“ („Siegreiche Urania“) ab. Dessen
erster Teil, der der einzige bleiben sollte, wurde 1664 herausgegeben
und
alsbald vom Papst persönlich mit einer Goldmedaille ausgezeichnet.
Urania ist die für den Himmel (griech.: uranós) bestimmte
menschliche
Seele, die sich – ein Lebensthema Baldes – den Verführungen der
Sinnlichkeit zu entziehen sucht. Dies wird, in Form der Allegorie, so
dargestellt, dass sich die fünf Sinne persönlich als Freier
um die von ihnen zur Braut erkorene Urania in Versbriefen bewerben,
wobei sie jeweils von Adlaten unterstützt werden, der Gesichtsinn
(Visus) etwa von einem Maler, der Gehörsinn (Auditus) von einem
Musiker usw. So kommen alle möglichen Künste und
Wissenschaften ins Spiel; und es entsteht ein buntes Panorama der
damaligen Welt, als zeitgemäßer Verkörperung jener
„Welt“, die Christus überwunden hat. Er und kein anderer ist ja
der himmlische Bräutigam, um dessentwillen Urania ihre
aufdringlichen Freier, oft schnippisch und mit viel Humor und
Schalkhaftigkeit, zurückschmettert, wobei sie sich besonders
entschieden gegen den allzu handgreiflich werdenden Tastsinn (tactus)
zur Wehr setzt: Er verkörpert in der Gestalt eines Soldaten die
Verführungskraft ungestümer Sexualität, und so wird er
von Urania, seinem Opfer, als der Teufel persönlich demaskiert.
Baldes Sprache geht hier in ihrer Unzimperlichkeit an die Grenzen
dessen, was in Jesuitendichtung möglich war. Was die Sache angeht,
so bekennt sich der für Erotik so empfängliche Dichter erneut
zu dem nie bereuten Entschluss jener Ingolstädter Maiennacht. Er
soll sich, sagt die alte Chronik von Neuburg, in seiner letzten
Lebenszeit fast nur noch mit der Meditation seines Wegs zum Jenseits
beschäftigt haben.
In einer Ode hat Balde einmal den demütig christlichen Wunsch
geäußert, „ganz begraben zu sein“ (tumulerque totus), d.h.
auch nicht im Nachruhm fortzuleben – ein Wunsch, der nicht nur im
deutlichen Gegensatz zu seinem Vorbild Horaz steht, sondern dem auch
andere Äußerungen, vor allem in seiner poetologischen
Hauptschrift „Über das dichterische Bemühen“ (De studio
poetico), widersprechen. Aus ihr, der mit Abstand originellsten
Barockpoetik wohl nicht nur Deutschlands, geht hervor, wie hoch die
Ansprüche sind, die Balde an sein Schaffen stellte, und wie sehr
er, indem er ihnen entsprach, glaubte, Bleibendes geleistet zu haben:
als poeta (d.h. „Macher“) gleichsam ein zweiter Gott, der aus dem
Schatzhause des Hirns, wie jener aus dem Nichts, eine neue Welt
erschafft. Die Bewunderung für diese Leistungen Baldes und der
Genuss an seinen Werken ist nicht völlig an die
Übereinstimmung mit seiner katholischen Vorstellungswelt gebunden.
Sie zeigen eine tiefe, die Grenzen der Weltanschauungen
übersteigende Einsicht in alles Menschliche; vor allem aber sind
sie, auch schon der schieren Quantität nach, Erzeugnis einer fast
unglaublichen, immer eigenständigen Kreativität, die in der
deutschen Literatur wohl nur noch bei Goethe ihr Vergleichbares findet.
Hier steht Ernst neben Spaß, Christliches neben Heidnischem,
Überkommenes neben Unerhörtem, Welt- und Sinnenfeindschaft
neben einer fast übermütigen Freude an Spiel und Form,
Rhythmus und Wohllaut.
Baldes Grab in der Neuburger Hofkirche ist unbekannt, und so weit
scheint denn also sein Wunsch nach dem „Ganz begraben zu sein“
endgültig in Erfüllung gegangen. Den Freunden der Literatur
und der Latinität aber bleibt aufgegeben, ihn, wie schon Herder
wollte, aus seinem so bedauerlichen „lateinischen Grab“ aufzuerwecken
und als einen der ganz Großen, einen der geistreichsten
Männer seines Jahrhunderts wieder zu uns sprechen zu lassen –
nicht nur als Mahner gegen Korpulenz und Nikotin.