Wilfried Stroh
Jephtes Tochter bei Bidermann und Balde
Mit Edition und deutscher Nachdichtung von Jacob Bidermann,
Heroidum epistulae 2,1*
Zwei Dichtern, deren Werke bis heute zur Weltliteratur gehören,
hat Bayerns Gesellschaft Jesu im siebzehnten Jahrhundert die
Möglichkeit poetischen Schaffens gegeben: dem Schwaben Jacob
Bidermann und dem Elsässer Jacob Balde. Beider Leben
verläuft, im Abstand einer Generation – Bidermann ist 1578, Balde
1604 geboren -, auf eine weite Strecke fast aufs Jahr genau parallel,
in der von ihrem Orden gewiesenen Bahn.(1)
Sie absolvieren, beide in Ingolstadt, zunächst das
Philosophiestudium; dann wirken sie einige Jahre als Gymnasiallehrer,
was ihnen jeweils die
erste Gelegenheit gibt, sich als Dichter hervorzutun: Der
24-jährige
Bidermann führt (1602) in Augsburg seinen ‚Cenodoxus‘ auf; im
selben
Alter veröffentlicht Balde (1628) im Auftrag und Namen der
Münchner
Jesuiten seinen ‚Panegyricus equestris‘, ein anspruchsvolles
Preisgedicht
auf einen Augsburger Fugger. Es folgt bei beiden,
wiederum in Ingolstadt, das Theologiestudium, darauf eine erneute
Tätigkeit
am Gymnasium. Dann erst gehen sie verschiedene Wege. Bidermann, der
wissenschaftlich
Interessiertere von beiden,(2) wird mit
37 Jahren Professor für
Philosophie und Theologie in Dillingen; den 34-jährigen Literaten
Balde
zieht Kurfürst Maximilian I. nach München an seinen Hof,
zuerst
als Hofprediger, dann als erhofften bayerischen Historiographen.
Bidermann
beschließt 1639 sein Leben als Ordenszensor in Rom, Balde 1668
als
Hofprediger des Pfalzgrafen Philipp Wilhelm in Neuburg an der Donau.
Beide
veröffentlichen bis zum Schluss ihres Lebens literarische, vor
allem
poetische Werke.(3)
Wenn wir beide zur Weltliteratur rechnen, so kennt
die Welt doch von ihnen heute nur je einen Teil des Werks: Bidermann
ist
so gut wie ausschließlich als Dramatiker bekannt;(4)
Balde rühmt man, seit ihn Johann Gottfried Herder zumindest
für das protestantische Deutschland wieder entdeckt hat, fast nur
für seine Lyrik, wegen der er ja als „deutscher Horaz“, Germaniae
Horatius,
gilt.(5) Diese einseitige
Wertschätzung
ist ungerecht: Balde hat im Laufe seines Lebens mit einer geradezu
absichtlich
wirkenden Gründlichkeit fast sämtliche poetischen Gattungen
um
höchst originelle Werke bereichert; und auch Bidermanns Ruhm
beruhte
zu Lebzeiten nicht so sehr auf den Dramen (die ja erst postum gedruckt
wurden)
als auf anderen, publizierten Gedichten. Einer seiner
zeitgenössischen
Zensoren sagt von ihm: Poemata R.P. Bidermanni [...] recudi
merentur.
Nam in Elegiis Ovidium, sed castum, in epigrammatis Martialem, sed
pium,
in Herodiade Virgilium, sed Christianum agnoscere et imitari licet.
(
„Die Gedichte Bidermanns [...] verdienen es, wiedergedruckt zu werden;
denn
man kann in seinen Elegien einen Ovid, aber einen keuschen, in seinen
Epigrammen
einen Martial, aber einen frommen, in seiner ‚Herodias‘ einen Virgil,
aber
einen christlichen, anerkennen und nachahmen.“)(6)
Heute soll uns also eine Elegie des „keuschen Ovid“
beschäftigen, ein Heroidenbrief, den Bidermann der aus dem Buch
der Richter bekannten Tochter des Jephte in den Mund bzw. in die Feder
gelegt hat, zunächst vor allem darum, weil dies einer der wenigen
Stoffe in Bidermanns Werk ist, den auch Balde ausführlich (in
einer Tragödie, ‚Jephtias’) behandelt hat,(7)
so dass hier einmal ein direkter Vergleich möglich ist (dabei wird
natürlich, unserem Jubiläum entsprechend, Bidermanns der
Forschung noch unbekanntes Gedicht im Vordergrund stehen).
Zunächst wenige Bemerkungen zu der Gattung des Heroiden- bzw.
Heldinnenbriefs. Der römische Elegiker Ovid hatte in seinen
‚Heroides‘ fünfzehn Frauen meist der griechischen Mythologie
Briefe an ihre größtenteils entlaufenen oder sonstwie
abhanden gekommenen Liebhaber oder Ehemänner schreiben lassen(8)
und damit eine neue Gattung kreiert, der vor allem in Renaissance und
Barock, wie Heinrich Dörrie in einem bekannten Buch dokumentiert
hat,(9) ein überwältigender
Erfolg beschieden war: Alle Welt schrieb fiktive Versbriefe, erst in
Latein, dann auch in neueren Sprachen; und sogar christliche Dichter
versuchten, sich dieser Form für ihre Inhalte zu bedienen. Von den
letzteren, soweit sie vor Bidermann geschrieben haben, sind hier vor
allem
zwei Namen zu nennen, die für ihn wichtig gewesen sein
müssen. Der
berühmte Protestant Eobanus Hessus veröffentlichte 1514, noch
vor
der Reformation, seine ‚Heroides Christianae‘ in drei Büchern,
Briefe heiliger Frauen, die er 1532 aus mittlerweile lutheranischem
Geist zu bearbeiten versuchte;(10) dann
erschienen 1574 die ‚Sacrae Heroides‘ des katholischen
Niederländers Andreas Alenus, wiederum in drei Büchern, wobei
das erste seine Stoffe aus dem Alten Testament, das
zweite aus dem Neuen Testament, das dritte aus der Kirchengeschichte
nahm.(11)
Bidermann variierte die traditionelle Form, indem er zunächst,
Antwerpen
1630,(12) ‚Heroum epistulae‘, also Briefe
von
Männern (meist der kirchlichen, aber auch der profanen Geschichte)
publizierte;(13)
ihnen folgten acht Jahre später, Rom 1638, unsere
‚Heroidum
epistulae‘, deren Verfasserinnen z.T. recht überraschend
gewählt
sind.(14) Im ersten Buch, das Frauen der
ersten
beiden Bücher Mosis zu Wort kommen lässt, schreibt
zunächst
Urmutter Eva drei Briefe an Abel, an Kain und an die Menschheit;(15)
dann berichtet Noahs Frau Tyrea von der Sintflut, die erythraeische
Sibylle
gibt eine rückwärts gerichtete Prophezeiung über den
Turmbau
zu Babel,(16) und Maria, die Schwester
des
Moses, erzählt vom Durchzug durchs Rote Meer. Im zweiten Buch
folgen
Frauen der historischen Bibelbücher, nunmehr echte, aktive
„Heldinnen“:
die sogleich zu behandelnde Jephtis, Tochter des Jephte, zweimal
Candace,
die Königin von Saba,(17) Judith,
Esther
und die Mutter der Makkabäer(18) (es
fällt
auf, dass fast alle diese Frauen typologische Beziehungen auf Maria
oder
Christus haben; diese scheinen hier aber vernachlässigt zu werden(19)).
Im dritten Buch würde man nun Frauen des Neuen Testaments
erwarten,
aber diese Stoffe verschmäht Bidermann, wie er im Vorwort
andeutet,
als schon zu abgegriffen;(20) er
lässt
statt dessen (in diesmal nur vier Briefen) die allegorische Gestalt der
Ecclesia
militans in Korrespondenz treten mit der Ecclesia triumphans
und
der Ecclesia purgans, was aufschlussreiche Kommentare zur
Kirchengeschichte,
von den antiken Christenverfolgungen (1. Brief) über die
Ketzergeschichte
(Arius bis Calvin: 2. Brief) bis zu den res nouissimae (Himmelsfreuden
und
Fegefeuerqualen: Briefe 3 und 4) ergibt. Das Ganze ist also eine Art
Heilsgeschichte
aus weiblicher (freilich nicht feministischer) Sicht, vom Anfang der
Welt
bis fast zur Gegenwart; das dahinter steckende theologische Programm,
soweit
es ein solches überhaupt gibt, bedürfte noch genauerer
Erhellung.(21)
Wir behandeln den Brief der Jephtis jetzt als ein für sich
stehendes
Kunstwerk mit eigener Aussage.
Der zugrundeliegende Stoff, ist, wie gesagt, dem
Buch ‚Iudices‘, 11. Kapitel, entnommen, ein Sujet, das sich,
ähnlich wie die Form des Heroidenbriefs, in Renaissance und Barock
großer Beliebtheit erfreute, bis hin zu Händels noch heute
oft aufgeführtem Oratorium ‚Jephte‘.(22)
Ich gebe den Inhalt kurz mit den Worten von Bidermanns argumentum,
nebst einigen Ergänzungen, wieder.
Dabei folge ich, wie bei der Edition der Epistel selbst, dem
Erstdruck, Rom 1638,(23) der, in Deutschland sonst
nicht erreichbar,(24) mir durch Fotografien aus
einem Exemplar der Bibliothek der Fondazione Ugo da Como in Lonato
zugänglich war.(25) Er gibt einen
offenbar vom Autor selbst betreuten, fast druckfehlerfreien Text.(26)
Ohne Überlieferungswert sind dagegen, jedenfalls nach Her. 2,1 zu
urteilen – ich habe andere Briefe nicht kollationieren können -,
die in Deutschland öfter vorhandenen postumen Dillinger Ausgaben
von 1642(27) und 1664 (28). Der
Text von 1642 ist ein, bis auf minimale Korrekturen der Interpunktion,
fehlerhafter Nachdruck der Erstausgabe;(29) auf
diesem wiederum basiert die Ausgabe von 1664, in der immerhin einige
leichter erkennbare Fehler, wie es scheint, konjektural (also ohne
Rückgriff
auf die Erstausgabe) richtiggestellt sind.(30)
Erst in der um eine (etwas ungelenke, aber nicht verdienstlose)
deutsche
Übersetzung angereicherten Neuausgabe von Bidermanns „Guldenen
Heldenschreiben“
durch den Ordensbruder Georg Franz Friebel, 1704 (deren lateinischer,
z.T.
auch deutscher Text im 2. Band der „Bayerischen Bibliothek“ von Hans
Pörnbacher abgedruckt ist(31)), findet man wieder
die Erstausgabe von 1638 berücksichtigt;(32)
eigenen Überlieferungswert hat auch dieser Druck nicht. Ich folge
also der Erstausgabe – bis auf wenige, stets vermerkte Abweichungen -
genau,(33) bis hinein in gewisse scheinbare oder
wirkliche Inkonsequenzen der Orthographie, Interpunktion und
Akzentsetzung.(34) Wer hier, wie noch heute meist
üblich, mit Rücksicht auf die moderne Schreibgewohnheit
ändert, läuft Gefahr, einen Teil der vom Autor gegebenen
Informationen zu zerstören, und jedenfalls, wenn er keine Angaben
zum Original macht, dem Leser die
Möglichkeit eigenen Urteilens zu nehmen.(35)
IEPHTIDA puellam, generis domusque spem vnicam, insciens pater, si de
hoste triumpharet, Aris(36)
deuouerat.
Id votum illa, cùm reduci & triumphanti, infeliciter obuia,
serò comperisset; bimestrem à patre victore moram
flagitauit, qua, priùs quàm Aris admoueretur, ferales has
nuptias deploraret. Impetrauit. Rem omnem ea nutrici suæ,
cùm triduum adhuc vitæ restaret, per hasce litteras
enarrat.(37) Lib. Iudicum cap.
11. Serarius ibid. Sal. ann. mundi 2850.(38)
„Das Mädchen Jephtis (Tochter des Jephte(39))
war die einzige Hoffnung seines Geschlechts und Hauses. Sie hatte der
Vater, ohne es zu ahnen, den Altären gelobt, für den Fall,
dass er über den Feind [gemeint: die Ammoniter] triumphieren
würde. [Die Bibel sagt es genauer: Jephte hatte für den Fall
seines Siegs gelobt, das Erste, was ihm bei der Rückkehr aus dem
Haus entgegenkäme, Gott als Brandopfer darzubringen.] Als sie ihm
nun unglücklicherweise, wie er triumphierend nach Hause kehrte,
entgegen kam und zu spät von jenem Gelübde
erfuhr, erbat sie von ihrem siegreichen Vater einen Aufschub von zwei
Monaten,
um, bevor sie an den Altar gebracht würde, diese tödliche
Hochzeit
zu beklagen. Dies erwirkte sie. [Wir ergänzen aus der Bibel: Zwei
Monate ist Jephtis mit ihren Freundinnen in den Bergen, um ihr
Klagelied zu singen.] All dies erzählt sie, als sie gerade noch
drei Tage zu leben übrig hat, ihrer Amme im folgenden Brief.“(40)
Darin ist impliziert, was jeder von Bidermanns Lesern aus der Bibel
weiß: Nach Ablauf der zwei Monate tat Jephte, wie er gelobt
hatte; d.h. er schlachtete Gott die eigene, unschuldige Tochter. Ein
empörender Stoff, eine Geschichte, die zum Teil schon die
älteren Bibelerklärer gegen Jephte aufgebracht hatte: Durfte
Jephte ein solches Gelöbnis ausführen? Kann Gott
überhaupt so etwas gewollt haben?(41)
Sehen wir, ob oder wie Bidermann mit dem Problem zurecht kommt!
IEPHTIS immolanda, NVTRICI suæ.
De patris voto, & Sacrificio.
LITTERA, quæ sparsis tibi deformata lituris
Mittitur, est lacrimis pleraque tincta
meis.
Non illam Minio debebam pingere. Rebus
Iste meis aptum se negat esse color.
Parce tuos, NVTRIX, cum legeris, addere fletus:
5
Sat madidam lacrimis fecit ALVMNA suis.
Caussa tamen flendi, quæ sit mihi, iure requiris,
Quanquam ego, si liceat, iure tacere
velim.(42)
Non licet: obstrictam tibi ad omnia ducis alumnam,
Facta, propinato lacte, secunda
parens.
10
Iusserat, armatum Genitor moturus(43) in
hostem,
Ad sua cognatam signa coire tribum.
Audita cöiere tuba: patris arma parati
Sanguine quisque suo, quisque iuuare
manu.
At pater, hostiles cuneo maiore phalanges
15
Dum videt, & socios non videt esse
pares;
Arte, ait, vtendum est, cælúmque in vota vocandum:
Firmius hoc omni milite robur erit.
Si domitum ferro manus hæc mea fuderit hostem,
Barbaráque imposito presserit
arma iugo,
20
Victima sollennes mihi prima trahetur ad aras,
Obuia quæ patrias prima erit
ante fores.
Sic ego te solem, sic vos ego sidera testor:
Stat, rata postposita soluere vota
mora.
Dixit: & illatis ijt agmina in hostica signis,
25
Qualis in imbellem fæta(44)
leæna gregem.
Arma viríque viris armísque premuntur: & hæret
Assidua clades clade, cruore
cruor.
Mille petita gemunt Hebræo corpora ferro,
Saucia mortifero vulnere mille
cadunt.
30
Mille alios formido fugat. mille, auia cursu
Vel iuga, vel cæci tramitis
antra, petunt.
Denique fusa manus toto vanescere campo,
Victorique hostes cedere præda
suo.
Fama volat, vicisse patrem: fixisque trophæis
35
Ad sua felicem tecta referre pedem.
Quid facerem, voti iam dudum ignara paterni?
Non reduci plausum, non ego prima,
darem!
Prima dabo certè. Iubet hoc pater. Obuia plaudam;
Et reduci proles oscula pura feram.(45)
40
Nec mora; bis denæ (legio mihi chara) puellæ
Instaurant geminos, me præeunte,
choros.
Pars quatiunt læto resonantia tympana pulsu,
Pars agitant tremula tinnula sistra
manu.
At mihi festa caput crinémque corona premebat,
45
Implebántque meos munera verna
sinus.
His ego venturo genitori floribus omnes
Prodiga certabam sternere nata
vias.
Iamque adeò gressu numeris modulantibus apto
Prodierat nostra tota chorea
domo,
50
Eminus, ecce, patrem! Viso patris ore, videbar
Exoriente(46)
nouum sole videre iubar,
Cristatus fulgebat apex; galeamque comantem
Cælato rutilus cinxerat ære
calybs.
Argentóque nitens lorica rigebat, & auro:
55
Et capulus gladij totus iaspis erat.
Ponè secuta patrem legio, victricibus armis
Nobilis, hostiles plena trahebat opes.
Omnia plaudebant, festæque sonantia pompæ
Vndique, non solitò(47)
murmure signa dabant. 60
Tunc ego (quis natæ vitio daret improbus?) vltro
In patris amplexus prima puella ruo.
Prima, sed è socijs vtinam postrema fuissem!
Nunc perij obsequio præcipitata
meo.
Nam mutata simul vidi pallescere patris
65
Ora; simul tracto membra rigere gelu:
Et, mea, quæ calidis tuleram patri oscula labris,
In patrijs sensi frigida facta genis.
Attoniti siluere chori, choreǽque: suúsque
Destituit plausus tympana, sistra
suus.
70
Obstupui; timidéque gradu, velut icta, represso,
Me miseram! exclamo; quod pater
Omen habes!
Lumina nunc primo video tua turbida fletu;
Nunquam aliàs(48)
lacrimis visa madere tuis.
Quicquid id est, capiti noceat cuicunque: reuersum
75
Omina dum parcant tangere læua
patrem.
Sic ego. Sed genitor, ter promere verba parabat;
Ter nequijt refugo promere verba sono.
Denique suspirans; quid patrem, ait, inscia perdis?
Interit occursu spes mea résque
tuo.(49)
80
Nam quid agam? Voui. Sunt conscia sidera(50)
testes,
Non ego, fac cupiam, fallere vota queam.
Dixerat. Inde, licet victo remearit ab hoste,
Mæstior, ac victus si remeasset,
erat.
Tum mihi vox (nec enim sum ferrea) faucibus hæsit,
85
Frigidáque hiberno membra
stetere gelu.
Quǽque patris fuerint tam tristia vota, reuoluo:
Et soluenda quibus sint ea vota sacris.
Non aliter tremui, quam si pendente bipenni
Iam iam structa meum finderet ara
caput.
90
Circumfusa, patrem, cælúmque solúmque(51)
diémque,
Méque mihi, & socium
sustulit vmbra chorum.
Verùm vbi, quos animos inopinus ademerat horror,
Non multo sensi pòst redijsse
mihi.
Parce metu, dixi: quæ victima quæritur aris,
95
Est ea non dubijs mi manifesta notis.
Nempe ea, quæ patrio prior exijt obuia tecto,
Ense decet patrio victima prima cadat.
Prima cadam: mora nulla. Tamen, si parua precanti,
Non potis es natæ parua negare
pater,
100
Hoc moritura precor. Sine(52)
plenæ Cornua Lunæ
Antè suas peragant bis repetita
vices.
Hic mihi bis denæ sunt, turba simillima, nymphæ,
Moribus, & chara virginitate pares;
Hoc comitante globo desertos squallida montes
105
Visam ego & in riguis vallibus
hospes ero:
Donec mæsta breues oculis vndantibus annos,
Et properata rudi carmine fata fleam.
Ipsa meæ fiam Libitinæ præfica: lessúmque(53)
Ante meos tumulos viua vidénsque
canam.
110
Et dabit ipsa mihi (quamuis sint sidera testes
Scilicet) hanc facilis mi dabit Ara
moram.
Annuit illacrimans precibus pater; annuit ara;
Inuidiam auditæ non meruere
preces.
Protinus in montes, socijs comitata, recedo,
115
Et vaga per saltus, quà lubet
ire, feror.
Hic, quid agam, nutrix, nemora inter opaca, requiris?
Aut quibus in studijs triste bimestre
teram?
Carmine lugubri fugitiuæ gaudia vitæ,
Et magnum in lætis rebus INANE,
queror.
120
Hos ego nunc facio miseranda poëtria versus:
Non alios numeros nostra poësis
habet.
Ad numerum Comites, præeo quacunque, sequuntur,
Ínque datos flectunt verba
sonúmque modos.
Audit Idumæum nemus; assuetǽque cauernæ
125
Voce pari auditum reddere carmen amant;
Vt, nisi nota mihi sit garrula vocis imago,
Ipsa putem casus antra dolere meos.
Sæpe feræ arrectis ceruicibus admirantes
Virgineum captant aure,
probántque, melos.
130
Sæpe suos turtur gemitus, & murmura miscet,
Déque mea iniussæ clade
queruntur aues.
Quin etiam planctus imitantur littora nostros,
Vda repercussa cum feriuntur
aqua.
Mutua sic inter lamenta volantibus horis,
135
Præcipitatus obit, sole iubente,
dies.
Nos vigilem trahimus quacunque sub arbore noctem,
Pectora dum serus repat in ægra
sopor.
Heu! quas ille mihi falsa sub imagine formas
Fabricat, vt crebro terreat ora
metu?
140
Quod mihi cunque semel faciet pater omnibus illud
Iam tantò ante mihi noctibus
vmbra facit.
Cernere fumantes videor procul ignibus aras,
Teláque sacrificum nuda leuare
patrem.
Ipsa ego libratæ submitto colla securi,
145
Victima cognata iam ferienda manu.
Mox, velut icta cado: Sed mox erecta, peracti
Vulneris impressam miror abesse notam.
Viuo equidem, exclamo. Nihil à genitore timendum est:
Vt velit esse ferus, non tamen esse
potest.
150
Sollicitæ accurrunt, me vociferante, sodales;
Et pauidæ, clamor quid velit
ille, rogant.
Hic, errantis adhuc nebula circumdata somni,
Erigor; atque vbi sim, vix satis ipsa
scio.
Ex oculis fugit Ara meis; fugit omne verendi
155
Sacrificaturo cum patre pegma loci.
Subductísque alijs, ego victima sola supersum;
Debueram ipsa etiam rapta fuisse mihi.
Ergo iuuat, lacrimas repetito fundere fletu;
Funeráque alterno plangere
nostra choro:
160
Et precium est operæ.(54) Sic
desinet illa timeri,
Iam toties iugulo Sica minata meo.
Quid, quod vita potest inamabilis ipsa videri,
Quæ toties etiam viua perire
potest?
Altera quæratur potius; cui nulla minentur
165
Funera; quae stabiles certa reseruet
opes.
Illa mihi placeat. Quid enim mihi nostra placeret,
Patris vbi ipse mei me iugulabit amor?
I, nunc, & reduci passis occurre lacertis
Nata patri. reduce in patre, NOVERCA
venit. 170
Hinc(55) mihi sæpe meæ
comites suadere laborant,
Vt quacunque fugam coner inire
via,
Ignotósque petam seruata puella penates,
Dum patrios fallam non reditura lares.
Nam tua quos, aiunt, mors est habitura triumphos,(56)
175
Victima sacrifico si patris ense cadas?
Nempe, pater, facies, crudelis vt esse feratur,
Cogatúrque sua barbarus esse
manu.
Barbariem potes hanc, potes hanc auertere famam,
Per maturatam qualibet arte fugam.(57)
180
Si pius est pater, ipse volet: si sæuus, abire
Longius à sæuo te
genitore decet.
Hæc mihi sæpe canunt. Sed sæpe canentibus illis
Vsque nego, pactam fallere velle fidem.
Sponte mea veniam, socijs deducta choreis;
185
Promptior ad primos quam noua Nupta
toros.
Ipsa mea mihi serta manu contexta parabo;
Et spargam salsa colla capútque
mola.
Ipsa coronandas ornabo floribus aras;
Imponámque meis tura Sabæa
focis.
190
Tum, sua ne desint ad flammas pabula, habebit
Vecta parens humeris ligna,
struémque, meis.
Hanc si fortè tuæ mentem reprehendis alumnæ,
Eius ego specimen non tibi prima dedi.
Isacius dedit antè puer: quem fasce grauatum
195
Iusserat ad sacrum tale præire
pater.
Si mihi fas, rebus tenues componere magnis;
Et vetera exemplis sollicitare
nouis,
Da veniam, Abramio pater vt par fiat Iephtes,
Forsitan Isacio par & Iephtis(58)
ero.
200
Scilicet, vt pueris dux ille rudíque iuuentæ
Quælibet ad patris iussa sequenda
fuit:
Sic & virginibus, tenerísque puella puellis,
Non formidandæ dux ego mortis ero.
Forsan ero. Iam nunc aliquæ didicere sodales
205
Mascula de tristi funere verba loqui.
Impauidae iam busta vident: pangúntque(59)
canúntque
Ridiculos, gignit quos Libitina, metus.
Certè vbi fortunam, quæ me pede calcat vtroque,
Rebus in his tantum iuris habere
vident,
210
Vt modò florentem formaque annísque puellam
Ínque domo illustri, &
principe patre satam,(60)
Præcipitem mutata rotet; celeríque ruina
Immeritam è summo trudat ad ima
gradu;
Paullatim renuunt spes affectare caducas,
215
Longáque pro fluxis vota dicare
bonis:
Et genus, & proauos, fumosísque atria ceris,
Quásque domus monstrat,
quásque recondit opes,
Et formæ illecebras, &, nomen inane, fauores,
Vix pluris faciunt, quàm facit
æra puer:
220
Ne tanti facienda quidem. Magis illa mereri
Præmia, quæ nunquam sint
peritura, volunt:
Hæc comites iam sola sibi; hæc mihi sola requiro:
Hæc eadem, ô nutrix, sola
require tibi.
Si mortale tamen tibi vis, vt alumna relinquam
225
Mnemosynon; missum hoc lugubre carmen
habe:
Quod, precor, ipsa legas; & longo more, quotannis
Omnis in Isacia gente puella
canat.
Forsitan, & quanti superet mihi temporis vsus,
Quæris? Habet paucos luna
sequestra dies.
230
Cernis, vt impleri properent duo cornua? Cernis,
Vt tangant metam iam propè,
iámque suam?
Sex noctes septemue fluent, cùm tota coibunt,
Et patiens pleni luminis orbis erit :
Ille dies mihi summus erit; finémque laborum,
235
Tota mihi nequijt quam dare vita, dabit.
Pòst vbi in Elysium penetrabo libera campum,
Abramio viuam tuta recepta sinu.
Atque ibi, quam genitor mortalibus exiget oris,
Matris in amplexus, non abigenda,
ruam.
240
Méque ibi Sara parens, ibi me Rebecca, receptam
Non renuent, neptes inter habere suas.
Quot proauos, patruósque mihi, quot(61)
sanguine iunctos
Isacidas, vno mors dabit vna loco?
I, pater, & sociæ comites hic eripe vitæ;
245
Nil mihi, dum restet tanta ibi turba,
rapis.
Vor der Übersetzung soll eine knappe Disposition den
Überblick erleichtern :
1-6
Prooemium: „Brief von Tränen entstellt“
7-10 Propositio I:
„Erklärung der causa flendi“
11-116 Hauptteil I: Erzählung (Narratio):
„Unglück der Jephtis“
11-34 „Gelöbnis Jephtes“
35-60 „Entschluss zur
Begrüßung“
61-92 „Begegnung und erstes
Entsetzen“
93-116 „Rede der Jephtis:
Todesbereitschaft und Bitte um Aufschub“
117-118 Propositio II: „Darstellung des quid
agam“
119-228 Hauptteil II: Beschreibung
(Ecphrasis): „Trauer der Jephtis“
119-136 „Klage in der Natur“
137-160 „Angsttraum und Klage“
161-192 „Angstüberwindung: freudige
Todesbereitschaft“
193-228 „Tod der Jephtis als Beispiel und Lehre
für andere“
229-246 Peroratio: „Jenseitsgewissheit“
IEPHTIS, zum Opfer bestimmt, an ihre AMME
Über das Gelöbnis ihres Vaters und ihre Opferung
Hässlich entstellt ist der Brief, den ich sende, hat überall
Flecken:
Freilich es haben ihn ja feucht meine
Tränen gemacht.(62)
Nicht mit Zinnober und Rot durft’ ich ihn zeichnen:(63)
Das Unglück,
das ich erdulde, es lässt
fröhliche Farbe nicht zu.
Weine nicht auch noch Du, sobald Du ihn liest, meine Amme;
5
schon mit dem üppigsten Nass netzte
Dein Zögling den Brief.
Du aber fragst mich mit Recht, was Ursach mir gebe zum Weinen –
wahrlich, auch ich hätte Recht,
wenn von der Ursach ich schwieg’!
Aber das darf ich ja nicht, in allem Dir fügsam, Dein Ziehkind;
denn zum Dank für die Milch halt
ich der Mutter Dich gleich.
10
Als mein Vater die Schar seines Stammes(64)
dem Feinde entgegen
führte, berief er zuvor alle
vereint zum Appell.
Und so kamen sie denn auf den Schall der Trompete; ein jeder
schenkte ihm gerne sein Blut, lieh ihm
so gern seinen Arm.(65)
Doch wie der Vater nun sah, dass um so viel stärker des
Heeres
15
Keile beim Feind, so viel schwächer
die Unseren war’n,
sprach er: „Hier braucht man die Kunst, zum Gelöbnis den Himmel zu
rufen; (66)
stärker als jeder Soldat ist ja des
Himmels Gewalt:
‚Wenn denn mein Arm mit dem Schwert die Feinde besiegt und vernichtet,
dass das barbarische Volk willig dem
Joch sich bequemt,
20
dann versprech ich zum heilgen Altar als Opfer zu
schleppen,
was mir zuerst in den Weg kommt vor der
heimischen Tür.
Sonne, bezeuge mir dies, seid ihr auch, Sterne, mir Zeugen:
Ohne Verzug, ich beschwör’s, wird
das Gelübde erfüllt!’“(67)
Sprach’s, und gegen den Feind schon richtet zum Marsch er die
Fahnen, 25
wie eine Löwin in Wut zagende
Schafe bedroht.
Mann gegen Mann und Schlag gegen Schlag, es stießen die Waffen
gegen die Waffen, und Blut wurde vom
Blute getränkt.(68)
Tausende stöhnen da laut, vom hebräischen Eisen getroffen;
unter dem tödlichen Streich sinken
verwundet sie hin.
30
Tausende fliehen davon, vom Schrecken gehetzt; auf den Bergen
suchen sie weglosen Pfad, suchen in
Höhlen sich Schutz.
Endlich sind alle besiegt, wie ausgelöscht von dem Felde;
und dem Sieger verfällt als seine
Beute der Feind.
Kunde vom Sieg schon flattert voran und meldet, der Vater
35
kehre mit glücklichem Fuß,
reich an Trophäen,(69) nach Haus.
Was nur sollte ich tun? Ich wusste ja nichts vom Gelöbnis:
Musst’ ich die erste nicht sein,
klatschen zuerst beim Triumph?
„Ja, ich klatsche dem Vater zuerst, so will er’s; entgegen
lauf’ ich ihm gerne, den Kuss geb’ ich
in Ehren dem Held!“(70)
40
Alsbald bilden zu Rei’n sich zweimal zehne der Mädchen -
meine Legion! - und voran tanz ich dem
doppelten Chor.
Manche entlocken den jubelnden Ton der geschwungenen Pauke,
and’re mit hellerem Klang lassen die
Rasseln(71) erschall’n.
Mir aber drückte ein festlicher Kranz das Haupt und die
Haare,
45
und es füllten mir hold Gaben des
Frühlings den Schoß.
So mit den Blumen beeilte ich mich, für die Heimkehr des Vaters
reich zu bestreuen den Weg, üppig
zu schmücken die Bahn.
Und schon hatte das Haus unser schwärmender Reigen verlassen,
tanzte dahin, zur Musik fügend im
Einklang den Tritt.
50
Da von der Ferne erblickte ich ihn! Als ob eine neue
Sonne erhöbe sich hell, schien mir
des Vaters Gesicht.
Glänzend erstrahlte die Spitze des Helms; aus gehämmertem Erze
wand sich ein rötliches Band rings
um den buschigen Schmuck.
Glänzend von Silber und Gold hell starrte sein Panzer, ein
großer
55
Jaspis verzierte das Schwert, diente als
Griff ihm und Knauf.(72)
Hinter dem Vater das Heer; im Glanze der siegreichen Waffen
schleppt’ es die Schätze des
Feinds, üppige Beute, als Tross.
Überall klatscht man und lärmt. Es brauste dem festlichen
Zuge,
nicht in gewöhnlichem Ton,
mächtig der Menge Getös’.
60
Selber stürz’ ich mich vor – wer wehrte es neidisch der Tochter -:
„Niemand dürfe vor mir schlingen
die Arme um i h n!“
Erste zu sein ist der Wunsch – ach, wär’ ich die letzte gewesen!
Dass ich die Pflicht übereilt’,
wurde mir selbst zum Ruin.
Denn ich sah, wie des Vaters Gesicht sich in Blässe
verkehrte;
65
sah, wie die Glieder zugleich starrende
Kälte durchfuhr.
Ach, mein Kuss, den dem Vater ich gab mit der Glut meiner Lippen,
wurde, ich fühlt’ es sofort, schon
auf der Wange zu Eis.
Gleich wie vom Donner gerührt, so schwiegen nun Chöre und
Reigen;
stumm war der Pauke Gedröhn, stumm
war der Rassel Getös’.
70
Schrecken erfasst mich; ich weiche zurück voll Angst, wie
getroffen:(73)
„Weh mir!“, rufe ich laut, „Vater, was
deutet dein Blick?
Nie doch sah ich zuvor deine Augen von Trauer befeuchtet;
nie hatten Tränen den Blick
früher benetzt und getrübt.
Was dies aber auch sei, das Omen mag dem oder jenem
75
schaden – dem Vater allein werde kein
Leid prophezeit!“
Also rief ich. Es rang dreimal der Vater nach Worten,
dreimal(74) wurde er
stumm, floh von der Lippe der Laut.
Endlich doch seufzt er und spricht: „Du tötest den Vater und ahnst
nicht,
dass die Begegnung mit dir
sämtliche Hoffnung mir raubt.(75)
80
Denn was kann ich noch tun! Ich hab es geschwor’n bei den Sternen.
Woll’ ich schon trügen, ich muss
treu dem Gelöbnis doch sein.“
Sprach’s, und trauriger war der im Sieg heimkehrende Führer
als selbst Feindes Triumph hätte
ihn traurig gemacht.(76)
Mir aber stockte – mein Herz ist nicht hart – die Stimme im
Halse;
85
und es erstarrte mein Leib,
plötzlich vor Kälte vereist.
Dachte daran, welch schrecklichen Schwur wohl der Vater geschworen,(77)
dachte ans Opfer zugleich, das das
Gelöbnis verlangt.
Und so zitterte ich, als hinge das spaltende Beil schon
über dem Haupt und schon
schlachtete mich der Altar.(78)
90
Finsternis hüllte den Geist; sie raubte mir Vater und Himmel,
Erde und Freundinnen mir, raubte das
Licht und mich selbst.
Doch nicht längere Zeit hielt plötzlicher Schreck mich
gefangen,
bald schon kehrte der Mut samt der
Besinnung zurück.
„Fürchte du nichts!“, sprach ich. „Das Opfer, bestimmt dem
Altare,
95
kenn’ ich; die Zeichen sind klar,
zeigen die Wahrheit mir
an.
Welche als erste das Haus des Vaters verließ, ihm entgegen,
sei als die erste geweiht, Opfer des
Vaters zu sein.
Ich will es sein, bald bin ich es auch! Doch wirst eine kleine
Bitte der Tochter du doch, Vater,
erfüllen zuvor.
100
Dieses nur bitt’ ich, dem Tod schon geweiht: Lass zweimal des Mondes
Hörner sich füllen zum Kreis,
dass sie vollenden das Rund!
Siehst bei mir meiner Freundinnen Schar, so lieb mir und ähnlich,
zwanzig an Zahl, so wie ich fühlend
und Jungfern wie ich:
Lass sie zur Seite mir sein, wenn nun in die einsamen,
rauen
105
Berge ich lenke den Fuß,
Tälern und Flüssen ein Gast.
Trauernd bejamm’re ich dort unter Tränen die Kürze der Jahre,
kunstlos klag’ ich ein Lied von dem
beschleunigten Tod,
singe den Trauergesang, für das eig’ne Begräbnis(79)
ein Klagweib;
vor meinem Ende bereits spiel’ ich die
Totenmusik(80)
110
Gnade wird selbst der Altar mir gewähr’n, sind die Sterne auch
Zeugen:
Solchen geringen Verzug wird er gewiss
mir verzeih’n.“(81)
Und so fügte sich denn, unter Tränen, der Vater der Bitte,
fügte sich auch der Altar: Keiner
versagte den Wunsch.
Ich aber eilte sogleich mit den Freundinnen fort ins
Gebirge,
115
streifte durch Wälder und Au’n,
wie es der Sinn mir gebot.
Fragst Du mich, Amme, jedoch, was nun ich in schattigen Hainen
treibe und wie mir die Zeit zwiefachen
Mondes verstreicht:
Traurig erklingt mir das Lied von den flüchtigen Freuden des
Lebens:
Selbst in der Mitte des Glücks
herrsche gewaltig das NICHTS.(82)
120
Kläglich ist immer mein Vers, als Dichterin kann ich nur dieses;
niemals zu anderem Ton will sich
bequemen mein Lied.(83)
So also sing’ ich voran; der Chor in dem nämlichen Takte
stimmt in die Weise mit ein, sucht sich
den passenden Text.(84)
So vernimmt es der Wald von Iduma; es senden die Grotten
125
gern das vernommene Lied gleich mit der
Stimme zurück.
Und wär’ nicht mir bekannt des Echos geschwätziger Nachklang,
glaubt’ ich, die Höhlen sogar
fühlten voll Kummer mein Leid.
Öfter bestaunt auch das wilde Getier unser Singen, gereckten
Halses erhascht es den Ton, freut sich
des Mädchengesangs.
130
Öfter vermengen dem Lied auch Täubchen ihr Stöhnen und
Gurren,
und wie aus eigenem Trieb klagen die
Vögel um mich.
Unserer Trauermusik tönt nach das ertönende Ufer,
schlagen die Wellen zum Strand, schlagen
vom Strand sie zurück.(85)
Ach, so fliegen im Hin und im Wider der Klage die Stunden,
135
bis der Tag sich verzieht, wie ihm die
Sonne befiehlt.
Wachend verliegen wir dann die Nacht unter wechselnden Bäumen,
harrend des Schlafs, der der Brust
endlich erleicht’re den Schmerz.
Wehe, wie bildet er mir viel trügende Formen zur Täuschung!
Ständige Schreckensgestalt
quält mit Entsetzen den Blick.
140
Was mir der Vater dereinst wird tun, es tut mir sein Schatten
jetzt schon in jeglicher Nacht, waltet
zu früh seines Amts.
Und ich erblick’ den Altar mit den weithin qualmenden Flammen,
sehe die Waffe entblößt,
welche der Vater erhebt.
Und schon schwingt er das Beil, ich reiche den Hals zu dem
Streiche; 145
wie das geopferte Tier biet’ ich dem
Schlächter mich dar.
Stürze dann auch, als träf’ mich der Schlag. Doch bald wieder
steh’ ich,
und ich vermisse die Spur jeglicher
Wunde am Leib.
„Also vergönnt er das Leben mir doch! Was fürcht’ ich den
Vater?“,
rufe ich. „Wollt’ er es auch, kann er
doch grausam nicht sein.“(86)
150
Rufe ich so, dann laufen erschreckt meine Freundinnen zu mir,
und sie fragen besorgt, was mich zum
Schreien gebracht.
Ich aber tappe verwirrt noch im hüllenden Nebel des Schlafes;
stehe dann auf und noch kaum weiß
ich den Ort, wo ich bin.
Weit aus dem Auge dann flieht der Altar, das
Schreckensgerüste
155
flieht mit dem Vater zugleich, der mich
zum Opfer erkor.
So ist alles entrückt; nur ich, das Opfer, bin übrig.
Wär doch auch ich nur zugleich
selber entflohen von mir!
Also erneu’re ich gern mit Tränen das traurige Weinen,
gerne im Wechsel des Chors meine
Begräbnismusik.
160
Und es verlohnt auch der Müh’. Bald fürchte ich kaum noch das
Messer,
das ja so oft schon zuvor drohend der
Kehle genaht.
Muss nicht das Leben auch selbst mir minder verlockend erscheinen,
welches dem Tode so leicht, auch in der
Blüte, verfällt?(87)
Suche ein anderes Leben mir gern, das befreit ist vom Tode,
165
das mir den festen Besitz dauernder
Güter verbürgt.
Solch ein Leben sei mein! Wie könnte nur dieses mir lieb sein,
das zu des eigenen Bluts Mörder den
Vater bestimmt?
„Lauf nur, lauf ihm entgegen, dem Vater mit offenen Armen!
Kommt dir der Vater nach Haus, wird er
dir STIEFMUTTER sein!“(88) 170
Öfter bemühen sich wohl die Gespielinnen, mich zu bereden,
dass auf beliebigem Weg Heil ich mir
suche durch Flucht,
dass in der Fremde ein Haus ich gewinne zur rettenden Wohnung
und, die Rückkehr verschwor’n,
täusche den heimischen Herd.(89)
„Glaube nicht,“ sagen sie dann, „dein Tod sei herrlich und
glorreich, 175
wenn dich der Vater erschlägt, wenn
du als Opfer ihm fällst.
Dieses bewirkst du allein, dass dein Vater als gräulich und grausam
gelte der Welt: Dein Tod macht als
Barbar ihn bekannt.
Wehre so schändlichem Ruf und lass zum Barbar ihn nicht werden.
Rette mit schleuniger Flucht dich und
den Vater mit dir!(90)
180
Ist er denn fromm, so will er dies selbst. Doch wäre er furchtbar,
musst du noch schneller entfliehn
furchtbaren Vaters Gewalt.“
So tönt häufig ihr Lied; doch so häufig das Lied sie
auch singen,(91)
sage ich: Nein - denn ich will treulich
bewahren mein Wort.
Selber dorthin will ich zieh’n, von dem Reigen der Mädchen
geleitet, 185
freudiger als eine Braut gerne zur
Hochzeit sich schickt.
Selber auch winde ich mir mit den Händen des Kranzes Geflechte,(92)
streu mir auf Nacken und Haupt selber
das heilige Salz.(93)
Schmücke auch selbst den Altar mit den festlichen Kränzen und
Blumen;
Weihrauch von Saba dem Herd gebe ich,
der mich verzehrt.
190
Dass es der Flamme auch nicht an der nötigen Nahrung gebreche,
trag’ ich auf Schultern das Holz,
schichte es selber zum Stoß.(94)
Willst Du mir’s, Amme, verwehr’n? Missfällt Dir die Absicht des
Ziehkinds?
Hab ich als Erste doch nicht solche
Gesinnung gezeigt!
Isaak tat mir’s zuvor: Es schnürte zum Bündel der
Vater
195
Reisig dem Sohn, und voraus schritt zu
dem Opfer das Kind.(95)
Sei mir’s erlaubt, die bescheidene Tat zu vergleichen der großen,(96)
was uns die Alten vererbt, neu durch
Exempel zu mehr’n.
Dieses verzeih’: Wie Jephte, der Vater, dem Abraham gleiche,
dass ich, Jephtis, dem Sohn Isaak tue es
gleich.
200
Isaak war für die Schar der Knaben, die Jugend, der Führer,
lehrte sie, wie man getreu Vaters
Befehle befolgt.
So auch möchte ich sein, als Mädchen den Mädchen und
Jungfraun
Lehrerin, wie man des Tods Grauen und
Ängste bezwingt.
Und ich werd’ es vielleicht. Schon manche der Freundinnen
lernten,
205
gegen den Schrecken des Tods tapfer in
Worten zu sein.
Gräber entsetzen sie nun nicht mehr; sie dichten und singen,
wie Libitina umsonst grässliche
Ängste uns schafft.
Freilich, erblicken sie mich, die Fortuna nun tritt mit den
Füßen –
herrscht sie ja über die Welt
mächtig an Recht und Gewalt -,
210
mich, die ich früher geblüht in der Frische und
Schönheit der Jugend,
die ich, von hoher Geburt, „Vater“ den
Herrscher genannt,
wie Fortuna mit wirbelndem Rad(97) mich
Schuldlose jählings
von der Höhe des Glücks tief
ins Verderben gestürzt,
da verlernen sie bald, nach vergänglichen Dingen zu
trachten
215
und für flüchtiges Gut
große Gelübde(98) zu tun:
Ahnen und adlig Geblüt(99) und des
Atriums rauchige Masken,(100)
Schätze, im Hause gezeigt,
Schätze, verborgen im Haus,
Reize der Schönheit zumal, der Beliebtheit entbehrliche Freuden,(101)
achten sie kaum, wie ein Kind kupferne
Münzen verschmäht.
220
Jenes verdient ja die Achtung auch nicht: Das Ewige, Echte,
das der Vergänglichkeit trotzt, ist
ihr erhabenes Ziel.(102)
Danach streben allein meine Freundinnen, strebe ich selber:
O meine Amme, auch Du strebe nach diesem
allein!(103)
Suchst Du jedoch zur Erinnerung Dir auch ein irdisches Denkstück,(104)
225
das dir die Tochter vermacht: Nimm
diesen Trauergesang!(105)
Lies ihn, ich bitte Dich, selbst: Dann später nach dauernder Sitte
singe in Isaaks Volk jegliches
Mädchen das Lied.
Fragst Du vielleicht, wie viel mir noch bleibt an Zeit, sie zu
nutzen.
Wenige Tage nur lässt mir der
verbürgende Mond.(106)
230
Sieh, wie die Hörner schon fast zum Kreis sich verbinden; o sieh
doch,
wie sie zum Ende mit Macht streben, zum
Ende und Ziel !
Sechs- oder siebenmal kehrt noch die Nacht, dann sind sie vereinigt, (107)
und der gerundete Mond strahlt in der
Fülle des Lichts:
Jener Tag wird der letzte mir sein und beenden die Mühsal;(108)
235
was mir das Leben ja nie schenkte, das
schenkt mir der Tod.
Hab ich in Freiheit sodann des Elysiums Auen betreten,
leb’ ich in Abrahams Schoß, sicher
und selig beschützt.(109)
Treibt denn der Vater mich fort aus der Sterblichen Fluren – zur Mutter
fliege ich dann in den Arm:(110)
Keiner verjagt mich von ihr.
240
Dort nimmt Sarah, die Mutter des Volks,(111)
mich auf und Rebekka,
freudig gesellen sie mich all ihren
Enk’linnen zu.
Viele der Väter erkenne ich dann, und manch einen Oheim
find’ ich aus Isaaks Blut, alle am Tag
meines Tods!
Nimmst du auch, Vater, mir fort die Genossinnen hier meines
Lebens: 245
Bleibt mir so mächtige Schar
übrig, so raubst du mir nichts.(112)
Der Zeitpunkt des Briefs ist glücklich gewählt. Jephtis
schreibt wenige Tage vor ihrer Opferung (V. 233 f.), als sie, mit ihren
Freundinnen noch immer in den Bergen, dabei ist, die Bilanz ihres
kurzen Lebens zu ziehen. Nicht ebenso gelungen scheint die Wahl der
Adressatin: Ihre Amme (nutrix) soll sie angeblich um briefliche
Auskunft über ihr unglückliches Schicksal gebeten haben (V. 7
„Du fragst mit Recht, was der Grund meines Weinens sei“). Bidermann
macht keinen Versuch zu erklären, wie dieser doch intimsten
Vertrauensperson der Jephtis die Ereignisse der vergangenen Wochen
bisher unbekannt geblieben sein könnten. Aber in diesen Dingen
scheint er auch sonst sorglos: Im Gegensatz zu Ovid, wo das
Briefschreiben der Heroiden jeweils sorgfältig motiviert wird,(113)
ist die Briefform bei Bidermann oft nur ein Vorwand, um bestimmte Dinge
darzustellen.
Insgesamt ist die Epistel, deren Länge Ovids Heroidenbriefe um
einiges übertrifft, recht sinnfällig in zwei fast gleich
große Hauptteile gegliedert, die jeweils durch eine Art propositio
mit Bezugnahme auf
eine Frage der Amme eingeleitet werden. Im ersten Teil (11-116), einer narratio,
erzählt Jephtis die Ereignisse vom Gelöbnis ihres Vaters
bis
zum eigenen ersten Todesentschluss; im zweiten (119-228), einer ecphrasis
bzw. descriptio, beschreibt sie ihr gegenwärtiges
Leben in
den Bergen.
Der Brief beginnt mit dem aus Ovid wohlbekannten Prooemien-Topos der
Tintenflecke, die von den Tränen der Briefschreiberin stammen
sollen.(114) Der Erklärung eben
dieser Tränen soll nun der ganze Brief dienen (was aber, wie wir
sehen werden, nur für dessen ersten Teil gilt).
Die folgende narratio (von V.11 an) nimmt dann ihren Ausgang
von
der Situation vor der Entscheidungsschlacht, wobei Jephtis diese Dinge
von
einem objektiven oder, wie man heute sagt, „auktorialen“
Erzählerstandpunkt
aus referiert - ohne dass Bidermann anzudeuten bemüht ist, woher
sie
das alles wisse oder wissen könne. (Auch diese Nachlässigkeit
scheint für den Dichter charakteristisch; so schildert sogleich im
ersten
Heroidenbrief Eva die Geschichte von der Erschaffung der Welt aus dem
Nichts:
Vorgänge also, die sie eigentlich nur in der Bibel gelesen haben
kann
– wenn sie ihr nicht etwa Gottvater persönlich in einer
Mußestunde
erzählt hat.) Jephte also, Heerführer der Israeliten, sieht,
dass
die Ammoniter zahlenmäßig überlegen sind und
beschließt
seine Zuflucht zu dem fatalen Gelöbnis zu nehmen (dessen
Formulierung
wird uns noch später beschäftigen). Dem Versprechen folgen
Schlacht
und Sieg, dessen Kunde bald auch zu der Tochter dringt. Anschaulich und
in lebhafter Vergegenwärtigung – hier kann Bidermann mit einem
kleinen
Theatermonolog (37-40) stilistisch brillieren - schildert Jephtis ihre
Freude
und den unwiderstehlichen Drang, dem Heldenvater mitsamt ihren
Freundinnen
entgegenzutanzen (37-50). Sie sieht ihn auch schon von ferne,
leuchtend
wie die aufgehende Sonne: Sie muss die erste sein, den Vater zu
begrüßen
(51-64): Ach, er erblasst bei ihrer Umarmung, und er weint – zum ersten
Mal! Verschüchtert fragt sie nach dem Grund (65-76).
Bidermann, versierter Dramatiker, lässt Vater Jephte zunächst
dreimal vergebens nach Worten ringen; erst als die Tochter noch einmal
in ihn dringt, gelingt es ihm, das herauszubringen, was ihm zum Teil
schon
die Heilige Schrift euphemistisch verhüllend in den Mund legt:
„Weh,
du betrügst mich und dich um unsere Hoffnung! Ich habe gelobt, und
muss
mein Gelübde erfüllen“ (77-82). Seine Tochter Jephtis
ergreift
nun, als sie diesen Worten des Vaters nachsinnt, das kalte Entsetzen
und
sie fällt in eine (höchst anschaulich beschriebene) Ohnmacht
(83-92).
Aus dieser wieder erwacht, weiß sie intuitiv –Bidermann
strapaziert
hier die Gläubigkeit des Lesers nicht mehr als schon der biblische
Bericht(115)-, dass sie, Jephtis, weil
sie als erste das Haus verlassen hat, am Altar als erkorenes Opfer
sterben muss (93-98). Und so bittet sie nur noch darum –
Bidermann folgt wieder genau der Bibel – zwei Monate lang mit ihren
Freundinnen
in den Bergen ihren allzu frühen Tod beweinen zu dürfen
(99-112).
Der Vater gestattet ihr, obwohl er einen sofortigen Vollzug des Opfers
versprochen hatte, diesen Aufschub: Jephtis geht ins Gebirge (113-116).
So weit scheint, zumindest bei oberflächlichem Hinsehen, dieser
erste Teil des Briefs nicht viel mehr als eine lebhafte
Veranschaulichung und Ausgestaltung der biblischen Erzählung zu
geben, nicht völlig, aber doch weithin aus der Sicht der
Hauptbetroffenen. Der nun folgende zweite Teil, angeblich ebenfalls auf
eine Nachfrage der Amme geschrieben (117-118), bringt nun
aber im Gegensatz dazu einige Überraschungen, auf die der
Bibelleser
nicht gefasst sein kann. Zunächst beginnt Jephtis, wie erwartet,
mit
der Schilderung ihrer und ihrer Freundinnen Klage, an der auch – ein
Motiv
der Bukolik, das Bidermann sehr gefühl- und wirkungsvoll abwandelt(116)
– die ganze Natur teilnimmt: Die Höhlen klingen wieder vom Echo
des
Trauerchors, sogar Vögel, wilde Tiere und Flüsse hören
staunend
zu, ja stimmen ein, bis zum Kommen der Nacht (119-138). Diese bringt
Jephtis,
wie leicht zu verstehen, Angstträume. Immer wieder glaubt sie, am
Altar den tödlichen Streich zu empfangen. Aber, noch im Traum,
stellt sie immer wieder auch fest, dass sie unverletzt ist und sie
bricht in laute Freudenschreie aus. Die Freundinnen, die diese Rufe
hören, eilen herbei, fragen nach der Bedeutung; jetzt erst kehrt
der noch Traumseligen allmählich das Bewusstsein ihrer Lage
zurück. Das Erlebnis der Wirklichkeit löst nun neue
Klagegesänge aus (139-160).
Nun kommt das Unerwartete. Wie Jephtis plötzlich feststellt, hilft
ihr der Traum, der sich ja öfter wiederholt, ihre Angst zu
überwinden. Mit einem Mal scheint ihr nun auch das Leben selber
nicht mehr so liebenswert (163-170, über diese Partie wird noch zu
sprechen sein). Jephtis beginnt sich in eine förmliche
Todesbegeisterung hineinzusteigern. Wenn ihr die Freundinnen den
menschlich verständlichen Rat geben: sie solle doch zu fremden
Leuten fliehen, da ihre Opferung ja auch den Vater nur in Misskredit
bringen müsste (171-182) – so hört sie nicht zu, sondern
besteht auf der Erfüllung ihres Versprechens: Sie selber will sich
und den Altar kränzen; sie selber will das Holz zum Opferfeuer
tragen (183-192). Isaak, der bereit war, sich von seinem Vater Abraham
opfern zu lassen, soll ihr
Vorbild sein (193-204).
Nun fangen sogar manche ihrer Freundinnen bereits an, die Todesangst
als lächerlich zu verachten und einzusehen, dass man seine
Hoffnung überhaupt nicht auf die nichtigen Güter des Lebens
setzen darf, vielmehr auf „Werte, die nie vergehen werden“. (205-224,
auch über diese wichtige Partie
ist später noch zu sprechen). Erst im Schlussteil des Briefs, der peroratio,
wird klar ausgesprochen, wo diese Werte zu suchen sind. Nachdem Jephtis
ihrer Amme ein selbstverfasstes Klagelied zum ewigen Gebrauch der
Töchter
Israels ans Herz gelegt hat, kommt sie darauf, dass ihr Tod, der ihr
das
„Ende der Mühsal“ bringe, nun schon bald bevorstehe (229-236).
Dann
werde sie sein in Abrahams Schoß, bei so vielen ihrer
Vorväter
(237-244). Während sie bisher im Brief nur immer die Amme
angesprochen
hatte, apostrophiert sie (wie in den direkten Reden des ersten
Briefteils)
in den letzten beiden Versen ihren Vater: „Du kannst mir nichts nehmen,
wofür
ich nicht vielfach entschädigt würde“ (245 f.).
So christlich auch dieses ganze Finale stilisiert ist – der Trost im
Gedanken an die himmlischen Freuden ist ja in der Tat ein zutiefst
christliches Motiv, das im jüdischen Glauben des Alten Testaments,
von der Jephtelegende zu schweigen, noch kaum eine Rolle spielt(117)
-, er darf uns nicht darüber hinwegsehen lassen, dass diese
Epistel
Bidermanns auf weite Strecken ein nicht nur unchristliches, sondern
fast
geradezu irreligiöses Gedicht darstellt. Zunächst fällt
auf,
dass Bidermann die ganze theologische Problematik, die im Zusammenhang
des
Jephtestoffs von Exegeten und Dichtern diskutiert wurde,(118)
ausgeblendet hat. Nicht nur findet sich kein Wort zu dem Problem, ob
Jephte
überhaupt das Recht gehabt habe, ein so fatales Gelöbnis
auszusprechen;
auch nicht einmal die noch viel brennendere Frage, ob er seine Tochter
denn
töten dürfe, ob Gott ein solches Opfer wirklich
wohlgefällig
sein könne, wird erörtert (wenn wir von der kurzen Andeutung
in
den Versen 177-182 absehen, wo die Freundinnen der Jephtis die
„Barbarei“
des seine Tochter opfernden Vaters tadeln; von Jephtis wird dies als
durchsichtiges
Sophisma gar nicht erst zur Kenntnis genommen(119)).
Man muss nur die wichtigste und bekannteste ältere Bearbeitung des
Stoffs, die ‚Jephthes‘-Tragödie des Georgius Buchananus von 1554(120)
vergleichen, um zu sehen, was Bidermann hier weggelassen hat. Dort bei
Buchananus versucht nicht nur Jephtes Frau, sondern sogar ein
leibhaftiger Priester und Theologe in langer Diskussion (4. Akt) den
Titelhelden davon zu überzeugen, dass diese Opferung nicht im
Sinne Gottes sei; ja auch die Tochter widersetzt sich zunächst der
ihr selber widernatürlich scheinenden Tötung und appelliert
an das Mitleid ihres Vaters (Akt 5, 90 ff.). Dieser gibt zwar zu, ein
törichtes, ja, wie er sagt, geradezu verbrecherisches Gelübde
abgelegt zu haben (Akt 5, 104 ff.(121)),
glaubt
sich aber jetzt den Konsequenzen nicht entziehen zu können; und
als
schließlich auch seine Tochter einsieht, dass sie ihr Leben dem
Vaterland,
das ja von Gott eben auf Grund des Gelöbnisses gerettet wurde,(122)
schuldig ist,(123) vollzieht er schweren
Herzens eine Opferung, an deren Rechtmäßigkeit sogar bis
heute die Buchananusphilologen zweifeln(124)
(letzteres jedoch, meine ich, zu Unrecht).(125)
Diese gesamte theologische Problematik hat Bidermann, wie man sieht, in
der Weise ausgeklammert, dass sie dem Leser gar nicht ins Bewusstsein
dringt: Weder Jephte noch seine
Tochter kommen auch nur einen Moment auf die Idee, dass Gott in seiner
Güte
den Tod eines unschuldigen Mädchens gar nicht wollen könnte;
für beide gilt vielmehr als völlig selbstverständlich:
Versprochen
ist versprochen.
Nun könnte man erwarten, dass der christliche Heroidendichter
Bidermann dafür den unbedingten Gehorsam gegenüber Gott –
Gehorsam ist, wie man weiß, die bekannteste, wenn nicht
berüchtigste Jesuitentugend – und die Dankbarkeit für die von
Gott bewirkte wunderbare Rettung Israels vor den
übermächtigen Ammonitern ins Zentrum der Epistel rücken
würde. Aber auch davon kann keine Rede sein. Jephtis stirbt weder
aus Liebe zu Gott noch zu ihrem Vaterland,(126)
sie bringt auch kein stellvertretendes Opfer dar wie die ungleich
rührendere Jephtetochter des Buchananus;(127)
sie stirbt, weil es nun einmal so sein muss, ohne in ihrem Tod einen
tieferen Sinn zu sehen, ja ohne überhaupt an Gott, dem sie doch
geopfert wird, zu denken. Gott selber – und das ist das Unglaublichste
an diesem sonderbaren Gedicht – kommt hier überhaupt nicht vor,
nicht einmal dem Namen nach, in völligem Gegensatz zur Bibel.
Betrachten wir die Einzelheiten!
Wenn Jephte daran geht, beim Anblick der übermächtigen
Ammoniter sein fatales Gelübde auszusprechen, tut er dies nicht
etwa im frommen Gebet „Herr Gott, jetzt kannst nur du noch helfen: Dir
gelobe ich usw.“. Vielmehr sieht er sein Gelöbnis als eine
Art Kunstgriff (ars) an, um sich die Hilfe des „Himmels“, wie es recht
vage heißt, zu sichern (V. 13 Arte, ait, vtendum est,
caelúmque in vota vocandum).(128)
In der Bibel war es dagegen Gott selber, nicht eine Überlegung
Jephtes, der das Gelöbnis auslöste (Iud. 11,29 factus est
ergo super
Iepthae spiritus domini [...]). In der Bibel wird Gott von Jephte
auch
beim Gelübde angerufen, von ihm wird der Sieg erbeten (a.O. 30 votum
vovit Domino dicens „Si tradideris filios Ammon“ etc.) Nichts davon
bei
Bidermann. Sein Jephte redet weder Gott an, noch heißt es, dass
er
auf ihn seine Hoffnung setze; nicht einmal als Empfänger des
Opfers
wird Gott genannt, obwohl er ja eigentlich gemeint sein muss (17-20):
„Wenn
meine Hand den Feind mit dem Eisen hingestreckt hat [...], soll das mir
zuerst
als Opfer vor den heiligen Altar geschleppt werden, was mir zuerst vor
dem
väterlichen Haus entgegenkommt.“ Und sogar in der Schwurformel
wird
der Gottesname gemieden und durch die als Zeugen aufgerufenen Sonne und
Sterne
ersetzt (23).
Dementsprechend ist bei Bidermann, wiederum im Gegensatz zur Bibel,
auch nicht davon die Rede, dass Gott es gewesen ist, der die Ammoniter
geschlagen hat (a.O. 32 quos tradidit Dominus in manus eius);
und sogar in der ganzen großen Szene, wo Jephtis die schreckliche
Wahrheit über das Gelöbnis und ihr Schicksal erfährt,
wird sein Name nicht genannt. Während der Jephte der Bibel ausruft
(a.O. 35): aperui enim os meum ad Dominum et aliud facere non potero,
spricht er bei Bidermann wieder nur von einem bei den Sternen
geleisteten Eid, dem er entsprechen müsse (81 f.): „Denn was soll
ich tun? Ich habe es gelobt. Die Sterne sind meine Mitwisser und Zeugen
(Sunt conscia sidera testes). / Ich könnte, selbst wenn ich
es wünschte, mein Gelöbnis nicht betrügen.“
Entsprechendes gilt für Jephtes Tochter. Während sie nach
Erzählung der Bibel erkennt, dass Gott, weil er Israel den Sieg
geschenkt hat, Anspruch auf Erfüllung des Gelöbnisses hat
(a.O. 36: fac
mihi quodcumque pollicitus es concessa tibi ultione atque victoria),
weiß sie bei Bidermann nichts von Gott, sondern nur unbestimmt,
dass sie als „Opfer für den Altar“ bestimmt sei (95 f.: quæ
victima quæritur aris, / est ea non dubijs mi manifesta notis).
Sogar
als sich Jephtis, entgegen dem Wortlaut des Schwurs, der ja ein
sofortiges
Opfer vorsah, eine Gnadenfrist von zwei Monaten erbittet, ist es nicht
Gott,
der ihr diese Gefälligkeit konzediert, sondern wiederum der
„Altar“,
als ob dieser und nur dieser einen Anspruch auf das Opfer hätte.
Jephtis sagt (111 f.): „[...] Und obwohl freilich die Sterne Zeugen
sind, wird doch auch der Altar mir gnädig diesen Verzug
gewähren (hanc facilis mi dabit Ara moram)“; und dem
entspricht die Reaktion (113): „Unter
Tränen stimmte der Vater den Bitten zu, und stimmte der Altar zu (annuit
ara)“! Diese geradezu künstliche Formulierung(129)
zeigt mit aller Deutlichkeit, wie Bidermann bemüht ist, den Namen
Gottes und mit ihm zugleich sowohl die theologische Problematik als
auch die menschliche Anstößigkeit des Jephtestoffs aus
seiner Heroidenepistel fern
zu halten. Die Peinlichkeit, die auch für Theologen darin lag,
dass
Gott ein solches Opfer zumindest akzeptierte, wird beseitigt oder
scheint
doch entscheidend gemildert, wenn hier nur ein anonymer „Himmel“ mit
seinen
„Sternen“ oder ein unerbittlicher „Altar“ am Werk ist.
Stirbt aber Jephtis nicht aus Gehorsam oder
Dankbarkeit gegen Gott, welchen Sinn hat dann ihr Tod für Dichter
und Leser? Sie stirbt, um es vorwegnehmend zu sagen, als eine
Philosophin, genauer gesagt: als Stoikerin, die grundsätzlich den
Unwert des Lebens erkannt hat und sein Ende mit Gelassenheit hinnehmen
kann, als ‚christliche‘ Stoikerin, insofern sie dabei auch an ein Leben
nach dem Tode denkt. Vor allem zeigt der Brief, wie auch ein junger
Mensch durch philosophische Reflexion die Angst vor
dem Tod überwinden, den eigenen Tod freudig hinnehmen kann (man
kann
zum Vergleich etwa an die Polyxena in den Troiadramen von Euripides und
besonders Seneca denken(130)).
Während sich Jephtis im ersten Teil des Briefs noch als ein
Mädchen gibt, das von der Trauer über sein Schicksal
niedergeworfen ist – die von Tränen verursachten Tintenkleckse
sind dafür ein sozusagen sichtbares Symbol –, schildert der zweite
Teil mit zunehmender Deutlichkeit eine im wesentlichen stoische meditatio
mortis,(131) die am
Schluss zu einer völligen Seelenruhe, ja geradezu Hochstimmung
führt, die, streng logisch betrachtet, in einem nicht
auflösbaren Widerspruch zum Anfang steht. (Es ist ja doch kein
Grund zu sehen, warum die nach dem Zeugnis des Schlussteils schon
längst getröstete Jephtis ihr
Briefpapier mit Tränen wässert.)
Vergegenwärtigen wir uns in nochmaligem, detaillierterem Durchgang
die Etappen dieser heilenden Todesmeditation! Die große chorische
Klage, mit deren Wiedergabe der zweite, beschreibende Teil des Briefs
eröffnet wird (119-136), bleibt als schierer Ausdruck des
Schmerzes im Rahmen dessen, was sonst aus Klageliedern in Tragödie
und Bukolik bekannt ist; sie scheint zunächst noch keine
seelentherapeutische Wirkung zu haben. Wohl aber, wie wir gesehen
haben, der im Nachfolgenden erzählte, öfter wiederkehrende
Traum, in dem Jephtis ihre Schlachtung durch den Vater, wenn auch mit
trügerischem Happy End – sie bleibt ja unverletzt -, voraus erlebt
(137-162). Er scheint zwar zunächst nur Anlass zu erneuten, fast
lustvollen Klagen zu bieten, dann aber erweist er sich, vielleicht im
Verein mit der daraus resultierenden Klage, als eine erste Hilfe zur
Überwindung der Furcht (159-162): „So macht es mir also Freude (iuuat),
mit erneutem Weinen meine Tränen auszugießen und mein
Begräbnis im Wechsel des Chors zu beklagen. Und es ist auch der
Mühe wert (precium est operæ): So wird das Messer,
das meine Kehle schon so oft bedroht hat, aufhören, mir Furcht
einzujagen (desinet [...] timeri).“ Das ist, wenn auch
natürlich ohne Absicht und unwissentlich geübt, schon ein
Stückchen stoischer praemeditatio: Der Stoiker hat sich
ja, um gegen Unglück gewappnet zu sein, alles Widrige, das ihm
widerfahren
könnte, immer wieder meditativ vor Augen zu halten.(132)
Für Jephtis wird diese aus Träumen resultierende Beruhigung
über ihren Tod Anlass zu weiterem Nachdenken über den Unwert
des
irdischen Lebens überhaupt (163-170), wobei ihre Überlegungen
z.T. paradox scheinen: Das jetzige Leben könne darum nicht
verlockend
sein, weil es immer vom Tod bedroht sei, wie sich gerade an ihr zeige,
welcher
der eigene Vater zum Mörder werde. (Durch ihre Opferung entkommt
sie
also einem Leben, in dem eine so schreckliche Opferung möglich
ist!).
Andeutungsweise kommt schon hier der, wie wir festgestellt haben,
christliche
Gedanke an ein glücklicheres Jenseits herein (165 Altera
quæratur
potius sc. vita). Im übrigen ist die vielfältige
Gefährdung
des Lebens, aus der nur der Tod erlöse, ein besonders aus den
Trostschriften des Stoikers Seneca(133)
bekannter Gedanke.
An Stoisches, besonders an Seneca, erinnert aber vor
allem auch die Art und Weise, wie sich Jephtis an ein historisches
Exempel hält:(134) Die mutige
Todesbereitschaft des jungen Isaak ist ja das Muster (194 specimen,
vgl. 198 exemplis), an dem sie sich orientiert (193-200); wie
er als Vorbild des Gehorsams gegen den Vater für die
männliche Jugend Israels zu einer Leitfigur
(dux) geworden sei (201 f.), so hofft sie, durch ihren Tod auch
selber
ein solches Vorbild zu werden – freilich nicht des Gehorsams (was zu
ihr
ja nicht recht passen würde), als vielmehr des Todesmuts (203 f.):
„... so werde ich den Jungfrauen und zarten Mädchen eine
Führerin
darin sein, dass der Tod nicht zu fürchten ist“ (non
formidandæ
dux ego mortis ero). Ähnlich hat, in Senecas Darstellung, der
Stoiker
Cato seinen Freitod als vorbildliches Schauspiel gestaltet;(135)
ähnlich hat Seneca selber, der auch sonst „Vorbild“ (exemplum)
sein wollte,(136) sein eigenes Sterben,
nach dem Vorbild des Sokrates, höchst eindrucksvoll und
theatralisch als
ein Muster für die Nachwelt inszeniert.(137)
Der Tod der Jephtis ist ganz in seinem Geiste und, dürfen wir
vielleicht hinzufügen, im Geiste des aus Seneca inspirierten
Barocktheaters, welches das vorbildliche Sterben, vor allem der
Märtyrer, zu einem seiner Lieblingsthemen gemacht hat.(138)
Aber der Brief wird noch spezieller stoisch: Jephtis
darf, wie sie dem Bekenntnis ihrer Todesbereitschaft sogleich
hinzufügt, noch zu Lebzeiten die Freude erfahren, dass sich andere
an ihr ein Vorbild nehmen: Einige ihrer eigenen Freundinnen, schreibt
sie, begännen schon jetzt (205 Iam nunc), den Tod mit
Verachtung zu behandeln. Und nicht nur ihn! Wenn sie am Beispiel der
von der Fürstentochter zum Opfertier degradierten Jephtis gewahr
werden, wie rasch sich im Leben größtes Glück in
größtes Unglück wandeln kann, dann wird ihnen auch
klar, dass die von der Glücksgöttin Fortuna geschenkten
äußeren Güter – genannt werden Schönheit (211,
219), Adel (212, 217), Reichtum (218) und Ansehen (219) –
überhaupt keinen wahren Wert haben können, dass es sich nicht
lohnt (215 f.), „auf Hinfälliges zu hoffen und für solche
vergänglichen Werte weitreichende Wünsche zu
äußern (spes affectare caducas, / longáque(139)
pro fluxis vota dicare bonis).
Diese große Partie (209-222) enthält, ein großes
Stück weit, die von Seneca so oft behandelte Güterlehre der
Stoa.(140) Alle äußeren
Güter, alle Dinge, über die der Mensch nicht wirklich
verfügen kann, sind letztlich wertlos, Adiaphora, die der Zufall
bzw. Fortuna(141) schenkt und wieder
nimmt: Güter des Körpers, des Reichtums und der
gesellschaftlichen Stellung. Wer auf sie vertraut, liefert sich der
launischen Weltregentin Fortuna
aus; wer aber, dank eigener Vernunft oder durch große Beispiele
gewarnt,
ihnen sein Herz entzieht, hat das wahre Gut gewonnen – aber welches?
Hier
trennen sich nun allerdings entschieden die Wege: Für den
heidnischen Stoiker ist die virtus selber, das eben in der
Verachtung des Äußeren bestehende Leben nach der Natur bzw.
Vernunft, das höchste Gut, welches auch das menschliche Glück
garantiert; für die prächristliche Jüdin Jephtis ist
dieses Glück im irdischen Jammertal nicht zu finden, sie gewinnt
es erst durch den Tod in den Freuden des Jenseits, in Abrahams
Schoß (235-238), wo sie, die vom Vater Getötete, mit ihrer
Mutter wieder vereint wird und die Gesellschaft Sarahs und Rebekkas
genießen darf (239-242). Aber sogar dieses fromme, fast
christliche Finale(142) ist nicht ganz
ohne heidnisch-stoisches Vorbild. In beiden Trostschriften, die Seneca
über den Tod geschrieben hat, wird der Tod nicht nur als Befreier
von den Leiden des Lebens gefeiert(143)
(was ja noch kein Jenseits voraussetzt),(144)
es wird auch ausgemalt, wie die Seele des Verstorbenen, frei von den
Banden des Körpers, im Ätherbereich den Anblick des Kosmos
genießt; und jedenfalls in der ‚Consolatio ad Marciam‘ wird dabei
der Sohn Marcias in die Gemeinschaft der großen Römer, unter
die Scipiones Catonesque,(145)
aufgenommen und von seinem eigenen Großvater, dem berühmten
Cremutius
Cordus, betreut (schon in Ciceros z.T. wohl stoisch inspiriertem Somnium
Scipionis fand sich Ähnliches(146)).
Wie dem aber auch sei, es bleibt dabei, dass Bidermanns Brief ein
zumindest weithin unreligiöses Gedicht ist, ein Gedicht, aus dem
sogar der Name Gottes (der ja überraschenderweise nicht einmal im
himmlischen Paradiesesfinale erscheint) ausgeklammert ist. Die
Entchristlichung(147) geht, wie wir
inzwischen gesehen haben, vielleicht noch ein Stückchen weiter.
Wenn für die als partielle Stoikerin dargestellte Jephtis der Tod
nichts anderes ist als ein nur vermeintliches Übel, das es, wie
alle äußeren Übel und Güter, mit Verachtung zu
strafen gilt, so entspricht dies nicht völlig dem Weltbild der
Bibel, bestimmt nicht dem des Alten Testaments (wenn ich mir als
Nichttheologe solche Feststellungen erlauben darf). Schon unsere
Vater-Unser-Bitte um „das tägliche Brot“, zeigt, dass auch
Christen den äußeren Gütern einen Wert zuerkennen; und
ganz gewiss tut dies Jephte, wenn er in Israels höchster Not Jahwe
um den Sieg anfleht und eben dafür sein fatales Gelübde
ablegt (statt sich, wie ein Stoiker, wenn auch nicht ohne aktives
Handeln, letztlich in den Willen des Schicksals zu fügen(148)).
Weder die Befreiung Israels noch der Tod der Jephtetochter sind im
Sinne der
Bibel stoische Adiaphora; jene bringt höchstes Glück, dieser
tiefstes
Leid, das, wenn überhaupt, nur durch die noch tiefere Dankbarkeit
gegenüber
Gott und die Liebe zum eigenen Volk gerechtfertigt sein kann.
Der Jesuit Bidermann hat, wie wir sahen, diese Sicht nicht
übernommen und seine Jephtis zur stoischen Märtyrerin
gemacht, deren Hauptleistung, ohne Rücksicht auf Gott, in der
Überwindung der Furcht vor einem Tod besteht, der von ihr als ein
bloßer Schicksalsschlag empfunden wird. Er hat damit zwar, wie
ich meine, der Jephtelegende das Herz ausgebrochen, dafür aber
doch ein Gedicht geschaffen, das, vom rührenden Elend seines
Tränenprooemiums bis zur Peroratio mit Tod und Verklärung im
jüdischen Elysium, eine so hinreißende Dynamik entfaltet,
dass man über die logische Unstimmigkeit des Ganzen und einige
künstlerische Schwächen im Einzelnen gerne hinwegsieht.
Meine literarischen und historischen Kenntnisse
reichen nicht dazu aus, dieser sonderbaren Epistel im Ganzen von
Bidermanns Leben und Werk sicher seinen Platz zuzuweisen. Immerhin
fällt auf, dass ihr zumindest partieller Stoizismus, soweit ich
sehe, ohne Parallele in den anderen ‚Heroidum epistulae‘ ist. Was haben
dem Dichter sonst stoische Ideale und Vorstellungen bedeutet? Aus einem
in der Forschung seit über hundert Jahren oft zitierten Brief an
seinen Mentor Matthaeus Rader, geschrieben gegen Ende seines
Theologiestudiums in Ingolstadt (Anfang Mai 1606),(149)
weiß man, dass er bekannte, in früherer Jugend, gegen die
Ratschläge Raders,(150) der Lehre
des berühmten neustoischen
Philosophen und Gelehrten Justus Lipsius angehangen und viel Zeit mit
dessen
Irrtümern vertan zu haben, ja dass er sich deswegen geradezu
schuldig
und von Gott bestraft fühlte:(151) Hei
mei laboris, hei dierum ac noctium, quas olim inter hos errores
malè perdidi. Nihil me, sicut antea iuuat, nil profutura
quaerere.(152) Nihil est in Gente
Batauâ, quod me hodie delectet; quando tam magno mihi prioris
aeui delectamenta constant. Et sentio Pater, hunc mearum aerumnarum
fontem esse, in quibus hodiéque diuinitus luo. Iustus omnino
DEVS.(153) Wobei er sich,
höchst spektakulär, als ein neuer Heliodor – der gegen Gott
frevelnde und von diesem abgestrafte Heide aus dem zweiten
Makkabäerbuch (Kap. 3) – inszenieren und der Öffentlichkeit
vorstellen will: Ero egómet Heliodorus alter, et
testabor omnibus ea, quae sensi etc. Vos si quem habetis
hostem, mittite illuc, et contumaciter Lipsianum esse iubete, et
flagellatum eum recipietis; si tamen euaserit. Nam quas ego iam
inde animo calamitates perpessus fuerim, nouit Dominus DEVS et
ij, quibus de mente mea liquidius constat.(!54)
Wenn diese ehemalige, jetzt bestrafte Lipisiusanhängerschaft,(155)
wie verschiedene Überlegungen plausibel machen, vor allem in
Bidermanns Zeit als Gymnasiallehrer in Augsburg (von Herbst 1600 bis
Herbst 1602) gehört,(156) dann
hätte sie vielleicht nicht allzu lange gedauert. Denn schon im
‚Cenodoxus’, der Anfang Juli 1602 aufgeführt wurde,(157)
sieht man in der Forschung seit langem nicht nur einen deutlichen Bezug
auf das Ideal des Stoikers, sondern zugleich eine gewisse Distanzierung
davon. Der gleißnerische Titelheld, der wegen seiner
pharisäischen Hoffart schließlich zur Hölle fährt,
posiert zumal auf seinem Kranken- und Sterbebett unverkennbar als
stoischer Weiser, und zwar geradezu mit Formulierungen Senecas. Vor
allem Rolf Tarot in der Einleitung seiner kritischen Ausgabe hat dies
detailliert nachgewiesen.(158) Dabei
ergeben sich auch gewisse inhaltliche Parallelen zum Brief der Jephtis.
Nur diese seien hier, weil sie für uns besonders relevant sind,
hervorgehoben. Cenodoxus fordert seine Freunde auf, mit ihm den Tod zu
verachten, ja ihn zu suchen (V. 1376-1379): Vergleichbares will Jephtis
bei ihren Freundinnen erreicht haben (205-208). Wie Senecas Cato
möchte er Gott das Schauspiel eines Mannes liefern, der mit
Schmerz und Tod mannhaft zu ringen weiß (1378-1382)(159):
Jephtis möchte einen für andere beispielhaften Tod sterben
(201-204). Der Tod, behauptet Cenodoxus, könne ihn darum nicht
schrecken, weil er ihn schon immer erwartet
habe (1385): Auch Jephtis ist, wie wir sahen, durch eine Art praemeditatio
gegen Todesschrecken gefeit (161 f.). Cenodoxus betrachtet den Tod
als Erlösung von den Leiden des Lebens, zu denen (paradoxerweise)
die Gefahr des Todes selber gehört (1385-1387): „Ich sterbe? Gut
so. Dann werde ich aufhören krank sein zu können, gefesselt
werden zu können, werde aufhören sterben zu können! (moriar?
bene est. / Ita desinam
aegrotare posse; ita desinam / Posse alligari, posséque mori
desinam.):
Mit ähnlicher, noch spitzfindigerer Pointe hatte Jephtis ein Leben
für lebensunwert erklärt, in dem der Vater zum Mörder
der
Tochter werden kann (167-170).
Sieht man auf solche Übereinstimmungen und betrachtet man, wie
üblich, den ‚Cenodoxus‘ als Dokument der Absage an die neustoische
Verirrung Bidermanns, dann könnte es nahe liegen, den
Jephtis-Brief in eben diese stoische Periode zu setzen(160)
und in der Sterbebettszene des Cenodoxus die Todesbegeisterung der
Jephtis gewissermaßen parodiert zu sehen.(161)
Rein chronologisch
wäre das denkbar. Von seinen 1634 herausgegebenen ‚Heroum
epistulae‘
sagt Bidermann ausdrücklich, dass es sich dabei um schon
früher,
von ihm als adulescens, geschriebene Gedichte handle(162)
(was eine spätere Überarbeitung natürlich nicht
ausschließt); und dasselbe dürfte analog auch von den
‚Heroidum epistulae’ d.J. 1638 gelten.(163)
Da Bidermann in der Zeit seines Ingolstädter Philosophiestudiums
(1597-1600) darüber klagt, dass er nicht recht zur Poesie komme –
für die Zeit des Theologiestudiums (1602-1606) ist Entsprechendes
anzunehmen –, würde man also von hieraus am meisten an die Jahre
in Augsburg (1600-1602) und München (1606-1614) denken, wo von ihm
ja als Gymnasiallehrer das Dichten geradezu professionell gefordert
war. Der Jephtisbrief wäre also das eine, kostbare
Überbleibsel einer mit dem ‚Cenodoxus‘ überwundenen Episode
in Bidermanns Leben. Aber vieles, Entscheidendes, spricht gegen eine
solche Vermutung. Ich nenne drei Punkte.
1. Wenn Rolf Tarot, wie andere,(164)
meint, dass Bidermann im ‚Cenodoxus’ schlechtweg den „Humanismus
stoischer Prägung“ anprangern wolle, so ist dies nicht völlig
richtig: Cenodoxus i
s t ja kein Stoiker, sondern tut nur so, wie er ja auch nicht
reuig ist und doch an einer Stelle den bußfertigen Sünder
mimt (1344-1346), nicht barmherzig ist und doch Almosen spendet (Akt II
6) – ohne dass dadurch etwa christliche Reue oder Mildtätigkeit
herabgesetzt werden sollten! Eher hätte man wohl zu sagen, dass
Bidermann die Gefahren aufzeigt, die
im Ideal des zur Selbstherrlichkeit neigenden stoischen Weisen liegen -
womit
diesem Ideal als solchem noch nicht unbedingt abgesagt sein
müsste. Dazu kommt, dass die Äußerungen des Cenodoxus
zwar vielfach an solche Senecas, aber, wenn ich recht sehe, weniger an
solche gerade des Lipsius, seines angeblichen Verführers,
erinnern. In dessen Büchern ‚De constantia‘ – der einzigen
stoischen Schrift, die Lipsius vor 1602 veröffentlicht hat –
steht, auch trotz dem senecanischen Titel, die Gestalt des heroisch mit
seinem Schicksal ringenden und im Tod bewährten stoischen Weisen,
wie sie in Cenodoxus pervertiert scheint, durchaus nicht im Vordergrund.(165)
So dürfte der ‚Cenodoxus’ kaum speziell auf Lipsius gemünzt
sein.(166)
2. Bidermann selbst behauptet in einer (nicht ganz leicht
verständlichen) Partie des zitierten Briefs an Rader, er habe
kürzlich (1606) Gedichte dieser früheren Zeit, die jemand von
ihm angefordert hatte, eben wegen „Verdachts auf lipsianische Ketzerei (haeresis
Lipsiana)“ verbrannt.(167) Das weist,
auch wenn es theatralisch übertrieben sein sollte – Ovids
Metamorphosenverbrennung(168) liefert
hier ja der Dramenszene sichtbarlich die Vorlage –, immerhin auf eine
entschiedene Distanzierung von solchen Gedichten, die es in der Tat
gegeben haben dürfte. Und sollte eines von ihnen dem wie auch
immer zu denkenden Autodafé entronnen sein – wie hätte
ausgerechnet der Ordenszensor Bidermann von
1638 seine eigene neustoische Jugendsünde nach fast drei
Jahrzehnten passieren lassen? Dies führt uns zum letzten und
entscheidenden Punkt.
3. Fragt man, warum Lipsius, der doch schon 1591 ostentativ in den
Schoß der katholischen Kirche zurückgekehrt war(169)
(und etwa gerade auch von Rader in einem Brief hofiert wurde(170)),
mit seinem christlich stark modifizierten Stoizismus(171)
den Theologen dennoch bedenklich erscheinen konnte,(172)
so liegt, was jedenfalls das Wichtigste angeht, die Anwort auf der
Hand;
der Zensor der ‚Manuductionis ad Stoicam philosophiam libri tres L.
Annaeo
Senecae aliisque scriptoribus illustrandis‘ (1604), ein Lipsius
wohlgesonnener
Kritiker,(173) hat sie klar ausgesprochen:(174)
Tres isti [...] libri, quatenus [!] A. Senecæ
illustrando
facem præferunt, utiliter imprimentur. In cujus tamen
Senecæ
& similiter philosophantium lectione est ita versandum, ut
inconcussâ
interim fide teneantur, quæ de Beatitudine scripta reliquit B.
Augustinus
lib. 19 de Civit. Dei cc. 4 & 25. Soweit sie „der Erhellung
Senecas
und anderer Stoiker voraus eine Fackel anzünden“,(175)
seien diese Bücher nützlich; im übrigen sei bei
ihrer
„und ähnlicher Philosophen Lektüre mit
unerschütterlichem Glauben
festzuhalten, was der Heilige Augustin über die
Glückseligkeit gelehrt hat“. Die zitierten Kapitel von ‚De
civitate Dei‘ enthalten, was zu
erwarten war: die Lehre, dass das summum bonum und damit das
Glück des Menschen im ewigen Leben (vita aeterna) liege(176)
und nicht etwa in der virtus bzw. dem „Naturgemäßen Leben“
der
Stoiker. Eben in dieser Ausklammerung des Jenseitigen,(177)
das bei Lipsius, auch schon in ‚De constantia‘ nur ganz gelegentlich
und
gleichsam pro forma erscheint(178) und
jedenfalls
nicht mit dem summum bonum zusammengebracht wird,(179)
musste der entscheidende Anstoß für ein orthodoxes
Christentum
liegen. Aber gerade hier war ja, wie wir uns erinnern, der
Jephtisbrief,
soweit bei einer Jüdin möglich, orthodoxest katholisch
gewesen:
Der letzte Trost in der Schlusspartie ihres Briefs, kam, auch wenn
sogar
diese z.T. aus Seneca inspiriert war (oben S. ??), aus eben den Freuden
des
Jenseits, nicht eigentlich aus einer constantia, wie Lipsius
sie beschrieben
hatte.(180) So deutlich setzt sich in
diesem
entscheidenden Punkt Bidermann von Lipsius ab, dass man die
Jephtisepistel
geradezu als Dokument seiner Bekehrung von den errores Lipsiani lesen
könnte.
Auf jeden Fall kann sie trotz ihrem evidenten Stoizismus auch nach
dieser
Bekehrung bzw. dem Brief an Rader von 1606 verfasst sein.
Mit dem Gesagten meine ich freilich nicht, dass Bidermann seine
Heroidenepistel geschrieben hätte, um sein Verhältnis zu
Kirche und Stoa klarzustellen oder gar mit Lipsius abzurechnen. Er
stand wie jeder Bearbeiter des Jephtestoffs vor dem Problem, wie er mit
der schrecklichen Tat des Jephte, der Tötung der eigenen Tochter
für einen Gott der Liebe, zurechtkommen könne. Und er
löste es in der radikalst möglichen Weise: indem er Gott
heraushielt, die Opferung zu einem schieren Schicksalsschlag machte. Um
dann Jephtis nicht als willenloses Opfer, sondern als „Heldin“
präsentieren zu können, musste sie gewissermaßen als
Heldentat ihre Todesfurcht überwinden; und die von der Bibel
bezeugten zwei Monate der Klage boten dann sozusagen den zeitlichen
Raum für eine meditatio mortis,
die mit den sich anbietenden stoischen Farben und Gedanken ausgemalt
wurde
– soweit nur möglich im Rahmen der Orthodoxie.(181)
So spiegelt zwar dieser sonderbare Versbrief, ebenso wie in seiner
Weise
der ‚Cenodoxus’, die offenbar intensive Beschäftigung des jungen
Bidermann
mit der Stoa, vor allem mit dem wahrscheinlich durch Lipsius
vermittelten
Seneca, er ist ihr aber wohl nicht eigentlich entsprungen.
Wenigstens noch ein weiteres Beispiel sei gegeben für den
eigenartigen Niederschlag, den diese Auseinandersetzung Bidermanns mit
der Stoa in seinem Frühwerk findet. Das nach dem ‚Cenodoxus‘
nächste erhaltene Stück, ‚Belisarius‘ (aufgeführt 1607),
enthält wiederum dezidiert Stoisches und erinnert in manchem an
den Jephtisbrief. Hier demonstriert der Titelheld,
ein mächtiger Feldherr Kaiser Justinians, der, von diesem
ungerecht
bestraft, zum blinden Bettler absinkt, durch sein Beispiel das Walten
der
Fortuna und die Vergänglichkeit allen Glücks (V. 81-86;
2067-2073),
dem Zuschauer zur Warnung (2070 f.). Soweit entspricht er ein
Stück
weit Jephtis, die ja im selben (gut stoischen) Sinn als Opfer Fortunas
(V.
209 ff.) ein Beispiel für ihre Freundinnen und die weibliche
Nachwelt
sein will. Das Besondere dieser Fortuna von 1607 liegt nun aber, im
Unterschied
zum Jephtisbrief, darin, dass sie nur scheinbar mächtig ist,
in
Wirklichkeit jedoch, wie sie selbst von Anfang an klar macht (66(182);
vgl. 532 f., 2074-2078), im Dienste der Providentia, der
göttlichen Vorsehung,
steht.(183) Auch das ist noch ganz im
Sinne
von Lipsius (und Seneca) gedacht: Für den christlichen wie den
heidnischen
Stoiker kann Fortuna letztlich nur ein vom oberflächlichen Blick
wahrgenommener
Aspekt des (mit der Providentia praktisch identischen) Fatum sein.(184)
Den spezifisch christlichen Akzent setzt auch in diesem Stück der
Schluss,
wo der Titelheld einsehen muss (bzw. von seiner Conscientia
darüber
belehrt wird), dass er, obschon vom Kaiser unschuldig verurteilt,
dennoch
von Fortuna/Providentia zu Recht wegen einer anderen, früher von
ihm
(an Papst Silvester) begangenen Sünde bestraft wird (1864 ff.).(185)
Diese Form schlicht strafender Gerechtigkeit wäre beim heidnischen
Stoiker
Seneca, der keine strafenden Götter kennt (weil ihm die Bosheit
Strafe
genug ist), kaum denkbar. Ausgerechnet sie entspricht aber – was
natürlich
auch ein Zufall sein könnte(186) –
dem
Denken des christlichen Stoikers Lipsius, der in ‚De constantia‘
ausführlich
davon handelt, dass die göttliche Providentia den Bösen oft
erst
spät und unerwartet strafe.(187) Wie
der
Jephtisbrief weit stärker an Seneca als an Lipsius orientiert war,
so
ist also ausgerechnet der (in der Zeit des Briefs an Rader
entstandene!) ‚Belisarius’
mehr lipsianisch als senecanisch. Die beiden Werke könnten
dennoch,
meine ich, etwa zur selben Zeit konzipiert worden sein. Denn wie der
Tod
der Jephtis und der des Cenodoxus nicht in dem Sinne, als wäre
dieser
die Parodie von jenem, aufeinander bezogen werden dürfen, vielmehr
beide
in je ganz eigener Weise eine Variante zum stoisch-spektakulären
Sterben
Senecas darstellen, so lässt sich auch von der in manchem
ähnlichen Bestrafung des Belisarius vorläufig wohl nicht mehr
sagen, als dass sie
in diesen ganzen Zusammenhang der durch Lipsius neu fühlbar
gewordenen Spannung von Stoa und Christentum gehört. Der junge
Bidermann scheint sich ihr jedenfalls mit recht differenziertem
Nachdenken gewidmet zu haben.
Jacobus Balde, auf dessen gewaltige, mehr als 5000 Verse umfassende
Jephtetragödie wir zum Schluss wenigstens noch einen Blick werfen
wollen(188)
(ohne sie allerdings ästhetisch würdigen zu können), hat
seine Grundkonzeption des Stücks aller Wahrscheinlichkeit nach
ohne
Kenntnis Bidermanns entworfen. Als er 1637 den ‚Jephte’ in Ingolstadt
zum
ersten Mal aufführte – wir kennen davon nur den Handlungsabriss
durch
die Periochen(189) – waren ja Bidermanns
‚Heroidum
epistulae’ noch nicht im Druck erschienen. Diese hat er dann aber
sicherlich
eingesehen, als er selber seine einzige Tragödie für den
Druck
von 1654, jetzt unter dem Titel ‚Jephtias’, ausarbeitete.(190)
Wie Bidermann, anders als etwa der streng auf Einheit von Zeit und Ort
bedachte Klassizist Buchananus, hält sich Balde
äußerlich genau an die Handlungsvorgaben der biblischen
Erzählung. Der erste Akt zeigt, wie Jephte zum Führer des
Volks Israel gewählt wird; der zweite bringt die gescheiterten
Verhandlungen mit Ammon und das Gelübde vor der Schlacht (die dann
hinterszenisch während eines Chorlieds und einer Art
telepathischen Reportage durch einen Propheten stattfindet). Im dritten
Akt, Zentrum und Peripetie, kommt es zur fatalen Begegnung von Vater
und Tochter, die hier Menulema heißt - ein an den besten Szenen
des Tragikers
Seneca geschultes Meisterwerk dramatischer Kunst. Der vierte Akt
lässt
Jephte (samt dem Zuschauer) im Traum miterleben, wie sich seine Tochter
mit
den Freundinnen in den Bergen zum Tode rüstet; ihre
Standhaftigkeit, ja Todesbegeisterung gibt auch ihm die Kraft, das
Opfer zu vollziehen. Von diesem berichten schließlich die
Botenberichte des fünften und letzten Akts, in dem am Schluss eine
Urne mit der Asche der Geopferten und verschiedene Reliquien auf die
Bühne gebracht werden.
Wie zu erwarten hat Balde, der der Stoa mit
wechselnder
Sympathie, immer aber auch mit großer Skepsis gegenüberstand,(191)
seine Darstellung fast von all dem für Bidermann so bezeichnenden
Stoizismus
gereinigt,(192) dafür aber wieder
das
Problematische, unnatürlich Scheinende von Jephtes Tat
thematisiert.(193)
In der Christianisierung des Stoffs geht er wohl über alle
sonstigen
poetischen Fassungen des Stoffs hinaus, indem er nicht nur – im
völligen
Gegensatz zu Bidermann – überall das Walten Gottes betont, sondern
sogar
den Opfertod der Jephtetochter als ein letztlich von Gott selber
veranstaltetes
Praeludium zum Opfertod Christi deutet:(194)
Jephte entspricht demnach typologisch Gottvater, seine Tochter dem
Gottessohn
Jesus Christus (so erklärt sich auch ihr Name, Menulema, als ein
Anagramm
von Emmanuel). Balde folgt mit dieser Deutung, die schon seiner
Erstfassung
zugrundelag,(195) theologischen
Autoritäten
des Jesuitenordens, Nicolaus Serrarius (1609) und Jacobus Salianus
(1616),(196) die auch Bidermann in der Inhaltsangabe (argumentum)
seiner Epistel
angeführt hatte, ohne ihnen jedoch einen Einfluss auf seine
Konzeption
zu gönnen (so dass die Vermutung nahe liegt, Bidermann habe diese
Hinweise
erst später, bei der Druckfassung des früher, vor 1609,
konzipierten
Werks, hinzugefügt). Für Balde jedenfalls ergibt sich aus
dieser
Deutung auf den Opfertod Christi unter anderem, dass Menulema, Jephtes
Tohter,
in der zweiten Fassung des Stücks einen Liebhaber bekommt (was
auch
sonst einer damals aufkommenden dramatischen Mode entsprach): Weil man
das
Hohelied Salomonis seit langem auf die Liebe der Kirche oder der
menschlichen
Seele zu Christus deutete und weil Salomo es zu seiner Hochzeit mit
einer
Tochter des ägyptischen Pharao geschrieben haben sollte,(197)
darum heißt nun dieser Liebhaber der Jephtetochter Ariphanasso,
ein
Anagramm für Pharaonissa, „Pharaos Tochter“. So korrespondiert
also
das Mädchen Menulema dem Mann Christus (Emmanuel); der Mann
Ariphanasso,
übrigens in der Tat ein Ägypter, entspricht der liebenden
Seele
bzw. der Pharaotochter (Pharaonissa)!(198)
Trotz solchem allegorischen Quidproquo gelingt Balde ein Drama von
größter psychologischer und auch theatralischer
Lebendigkeit, wobei die beschriebene typologische Deutung dem
Stück nicht nur äußerlich aufgepfropft wird, sondern in
der Weise in die Handlung eingeht, dass die Personen selber an
entscheidenden Punkten der Handlung etwas von der zukünftigen
Bedeutung ihres Tuns und Leidens ahnen. Balde war ein Ekstatiker, ein
Mensch, der zu enthusiastischen Entrückungzuständen neigte,(199)
Zuständen, die sich vielfach in seiner Dichtung gespiegelt finden.
Im Falle der ,Jephtias’ sind es eben solche Enthusiasmen, in denen sich
die typologische Bedeutung des Opfertods manifestiert und die den
Beteiligten
das furchtbare Geschehen nicht nur erträglich, sondern geradezu
sinnvoll
scheinen lassen. Weil es in der Bibel heißt, der Geist des Herrn
sei
beim Gelöbnis über Jephte gekommen – was Bidermann, wie wir
uns
erinnern, eliminiert hatte –, lässt Balde Jephte schon dieses votum
in inspirierter Begeisterung aussprechen (II 7, p. 63 Calidæ
recepto spiritu venæ micant – „Heiß hüpfen die
Adern,
in die der Geist gefahren ist“). Dann erlebt, im vierten Akt, die
Jephtetochter
Menulema am Ende der großen Szene mit ihren Freundinnen eine Art
prophetischer
Verzückung (IV 2, p. 114 Mente concepit Deum – „Gott ist
in ihren
Geist gefahren“), in der sie ahnt, dass ihr Selbstopfer nur das
Vorspiel
eines zukünftigen ist und dabei visionär sogar das
„jungfräuliche
Fleisch“ auf einem Berge hängen sieht (p.114 f.). Auch Jephte in
seinem
letzten Entscheidungsmonolog vor der furchtbaren, notwendigen Tat
spürt
in Begeisterung (IV 4, p. 121 cordis impulsi calor) etwas von
der
geheimnisvollen Zukunftsbedeutung seines Tuns (IV 4, p. 122), was es
ihm
erleichtert, seinen Entschluss später durchzuhalten und, wiederum
nicht
ohne „über ihn kommenden göttlichen Anhauch“ (V 4, p. 142 super
incubantis sensit afflatum Dei), die Tochter zu enthaupten. Und als
letzter
ist es Ariphanasso, Menulemas etwas tapsiger, von Balde nicht ohne
Ironie
gezeichneter Liebhaber, der in der Schluss-Szene des Stücks eine
Ahnung
bekommt von der heilsgeschichtlichen Bedeutung der Ereignisse, in die
er
wegen seiner Verliebtheit geraten ist (V 5, p. 162). So wird es dem
heißblütigen
Ägypter zum Schluss leichter, aller Frauenliebe zu entsagen(200)
und auf ein Wiedersehen mit seiner Menulema zu hoffen – wo?
Natürlich
in Abrahams geräumigem Schoß, dort, wohin schon Bidermann
seine
vom Leben enttäuschte Jephtis hatte fliehen lassen (p. 163):
Nos Sinus Abrami, neptes ac mille nepotes
Complexus, thalami votis feliciùs olim
Reddet: vbi tutò castas miscebimus Vmbras.(201)
Uns wird Abrahams Schoß, der Tausende Enkel
und
tausend
Enklinnen birgt, ein schöneres Glück als
die
Hochzeit bescheren:
Dort vereinen wir einst in Keuschheit selig die
Schatten.
So hat Balde in die endgültige Fassung seines Dramas manches aus
Bidermanns Epistel einfließen lassen. Neben den (an sich
naheliegenden)
gelegentlichen Bezugnahmen auf Isaaks Opferung(202)
ist es besonders die große lyrische Szene, die zweite des vierten
Akts (wo sich Menulema im Kreise ihrer Freundinnen auf den Tod
vorbereitet),
welche Bidermann verschiedene Motive zu verdanken scheint: das
Einstimmen
von Natur, Echo(203) und Vögeln in
die
Totenklage (p. 108):
Audi: palumbes atque turtur adgemunt
Tuo vtique fato. queritur in ramis sedens,
Multásque Aëdon flebileis miscet fides.
Hör, wie die Taube, wie die Turteltaube
stöhnt,
dein Schicksal klagend; jammervoll in Zweigen mischt
die Nachtigall ein tränenreiches Saitenspiel
...-,(204)
die beschwörenden Bitten, mit denen die Freundinnen Menulema von
ihrem Todesentschluss abhalten wollen (bes. p. 114),(205)
schließlich vor allem, wie später bei Ariphanasso, die
Aussicht
auf ein besseres Leben im Jenseits, das als Lehre der jüdischen
Väter
ausgegeben wird, dennoch aber mit antikem Namen „Elysium“ heißt
(p.
111-113).(206)
Aber auch dies ist nur ein Nebenmotiv, nicht etwa eine die
Tragödie krönende Vorstellung; und die Jephtetochter ist bei
Balde eine von Grund auf andere Frau als bei Bidermann: keine
Stoikerin, die Tod und Leben als Adiaphora durchschaut hat, sondern vor
allem eine Liebende, die – im Gegensatz zu wohl allen früheren
Darstellungen – sofort und ohne Zögern zum Tod bereit ist, weil
sie Gott über alles liebt, danach ihren Vater,(207)
nicht zuletzt aber auch ihr Volk,(208)
dem
ja durch ihre Opferung der Schutz Gottes gesichert bleibt. Der erste
Satz,
den sie spricht, als sie von ihrem Vater die furchtbare Wahrheit
erfahren
hat, heißt: „Ist es denn so elend und traurig, für das
Vaterland
zu sterben?“ (p. 92 Adeóne miserum ac triste pro patria mori!);(209)
und in ihrer letzten Szene sagt sie zu den Freundinnen, noch bevor sich
ihr
die Zukunftsbedeutung ihres Tuns ahnungsweise enthüllt (p. 113):
„Ich
gehe, für euch zu sterben“ (Vado pro vobis mori), und noch
vorher
(p. 110): „Ich sterbe, damit ihr lebt“ (Moriamur, vt viuatis).
Vor
allem diese selbstaufopfernde Liebe macht Baldes gefühlvolle(210)
Menulema zum Prototyp Christi,(211) eine
Rolle,
der Bidermanns tapfere Jephtis nicht hätte entsprechen können.
So verschieden, fast diametral verschieden, haben
also diese beiden großen christlichen Dichter denselben
biblischen Stoff ausgelegt. Offenbar hat der Jesuitenorden, dem
Bidermann wie Balde ohne Murren angehört haben, seinen poetischen
Begabungen nicht nur, wie wir eingangs feststellten, reichlich die
Möglichkeit zum Schaffen gegeben, er hat sie, auch bei der
Gestaltung eines religiösen Themas, nicht auf ein
bestimmtes (etwa gar gegenreformatorisches)(212)
Programm festgelegt,(213) ihnen vielmehr
ein
erstaunliches Maß an Freiheit der Deutung gelassen, ein
Stück
der alten und immer notwendigen licentia poetarum.
* Für hilfreiche Hinweise danke ich Günter Hess,
Stefan Römmelt und Bianca (mit Jens Peter) Schröder.
(1) Bequemen Überblick über beider Leben (mit
Literatur) geben die Artikel in Walther Killy (Hrsg.), Bertelsmann
Lexikon: Deutsche Autoren, Bd. 1, Gütersloh / München
1994 ; Franz Günter Sieveke, „Bidermann, Bidermanus, Jakob“, dort
S. 188-191; Wilhelm Kühlmann, „Balde, Jacob“, S.
127-130.
(2) Wenn es in Matthaeus Raders berühmtem Epigramm über
seine Schüler von Bidermann heißt: [...] qui nunc est
alter Aquinas / atque Stagyrites, Tullius atque Maro, so ist mit
Aquinas natürlich nicht, wie hartnäckig behauptet wird (vgl.
etwa Margrit Schuster [Hg.], Jakob Bidermanns ‚Utopia‘, Bd. 1, Bern
u.a. 1984, S.2), Juvenal gemeint, sondern Thomas von Aquin: Bidermann
soll als großer Theologe (Thomas), Philosoph (Aristoteles,
ungenau Schuster a.O.), Redner bzw. Prosaiker (Cicero) und
Dichter (Vergil) erscheinen.
(3) Wobei es sich allerdings im Falle Bidermanns um
Retraktationen früherer Gedichte (die aber noch nicht publiziert
waren) zu handeln scheint (vgl. unten S. ???). Balde bleibt auch im
Alter voll schöpferisch.
(4) So besteht die einzige neuere Monographie (Thomas W. Best, Jacob
Bidermann, Twayne’s World Authors Series 314, 1975) fast
ausschließlich in einer Besprechung der Dramen.
(5) Dazu das bekannte Buch von Eckart Schäfer, Deutscher
Horaz: Conrad Celtis, Georg Fabricius, Paul Melissus, Jacob Balde. Die
Nachwirkung des Horaz in der neulateinischen Dichtung Deutschlands, Wiesbaden
1976, 109-260; vgl. neuerdings bes. Eckard Lefèvre (Hg.), Balde
und Horaz, Tübingen 2002.
(6) So in der Ausgabe der Heroum epistulae, Epigrammata et
Herodias, Antwerpen 1634, zitiert nach Heinrich Dörrie, Der
heroische Brief (s. unten Anm. 9) 390; die Äußerung
dürfte schon aus der (Dörrie unbekannten) Erstausgabe von
1630 stammen.- Auch noch in Bidermanns Würdigung durch Franz Lang
SJ (bei Kropf, 1754; mir vermittelt durch den wichtigen Aufsatz von
Günter Hess, „Spectator - Lector – Actor: Zum Publikum von
Jacob Bidermanns Cenodoxus“, Internationales Archiv für
Sozialgeschichte der deutschen Literatur 1, 1976, 30-106, dort S.
46 Anm. 61) werden die Dramen gar nicht erwähnt, wohl aber sieben
andere Werke.
(7) Veröffentlicht: Amberg 1654 (die Uraufführung der
Erstfassung des Dramas hatte 1637 in Ingolstadt stattgefunden); vgl.
unten
Anm. 190.
(8) Grundlegend zu diesem vielleicht originellsten Werk Ovids:
Howard Jacobson, Ovid’s Heroides, Princeton N.J. 1974.
(9) H. D., Der heroische Brief: Bestandsaufnahme, Geschichte,
Kritik einer humanistisch-barocken Literaturgattung, Berlin 1968.
(10) Dazu Dörrie (wie Anm. 9) 369-374.
(11) Dazu Dörrie (wie Anm. 9) 386-388.
(12) Nachgewiesen von Gerhard Dünnhaupt, Personalbibliographien
zu den Drucken des Barock, 1. Teil, Stuttgart ²1990: Bidermann
Nr. 38.1 (S. 564), danach Rom 1633, München 1634 und Antwerpen
1634 (die früheste Dörrie [wie oben Anm. 9] bekannte
Ausgabe).
(13) Dazu Dörrie (wie Anm. 9) 381-391.
(14) Dazu Dörrie (wie Anm. 9) 392-393: Dort sind die
Überschriften der insgesamt sechzehn Briefe bequem aufgelistet.
(Der volle Titel der Ausgabe unten in Anm. 23).
(15) Die drei Briefe sind chronologisch nach der
„Abfassungszeit“, nicht nach dem Gegenstand geordnet: An Abel schreibt
Eva über die Erschaffung der Welt und den Paradiesesgarten
(Genesis 1-2); im Brief an Kain geht es um den Brudermord (Genesis 4);
der Brief an die Menschheit – formales Vorbild dürften vor allem
die Briefe von Petrarca und Hessus ad posteritatem sein –
behandelt im Rückgriff den Sündenfall (Genesis 2-3) und liest
sich wie ein letztes Vermächtnis der verhängnisvollen
„Ur-Stiefmutter“ (V. 2 prima NOVERCA), die am Ende eine vage
Prophezeiung auf Maria gibt. Sonst folgt Bidermann, wie leicht zu
sehen, der Chronologie der Ereignisse.
(16) Nur dieser Brief einer sozusagen professionellen
„Sängerin“ ist ausdrücklich (wie Ovids Sapphobrief) als
Gedicht (V. 1), ja als lateinisches Gedicht markiert (V. 9); sonst wird
die poetische Form, wie in
der Regel bei Ovid, nicht thematisiert.
(17) Sie schreibt mit feiner Differenzierung: erst an ihr Volk De
opibus Salomonis (eine Art populäres Sightseeing im goldenen
Jerusalem, wo man sie nur ins Allerheiligste des Tempels nicht
einlässt), dann an die Vornehmeren (Optimates) De sapientia
Salomonis, wobei sowohl dessen praktische Klugheit (salomonisches
Urteil!) als auch seine theoretische Weltweisheit (in Physik und
Theologie) gerühmt wird; letztere beeindruckt Candace so stark,
dass sie sogar (wie später Ariphanasso bei Balde,vgl. unten Anm.
198) dem Polytheismus abschwört.
(18) In allen Episteln, mit Ausnahme derjenigen der
Jephtetochter, geht es um die Auseinandersetzung zwischen Juden- und
Heidentum; dabei sind Judith, Esther und die Mutter der Makkabäer
Frauen, die sich heldinnenhaft für ihr eigenes Volk einsetzen. Der
Idee nach könnte dies (durch die Bereitschaft zum Opfertod
für Israel) auch die Jephtetochter sein; doch akzentuiert
Bidermann gerade diesen Aspekt nicht. Man könnte vermuten, dass
das mit den Personen gegebene Programm dieses zweiten Buchs entweder
nicht von Bidermann selbst stammt oder, was die Tochter des Jephte
betrifft, nachträglich von ihm modifiziert wurde. Vgl. aber auch
unten Anm. 181.
(19) Ohne Nachweis behauptet Dörrie (wie oben Anm. 9) 392,
dass Bidermann in den ersten beiden Büchern „den Symbolgehalt, den
man seit Origenes und seit Ambrosius den Erzählungen des AT
zusprach,
recht stark“ herausarbeite; nicht einmal in der Beschreibung des
Durchzugs
durchs Rote Meer (Heroides 1,6) kann ich einen Hinweis auf die bekannte
allegorische, genauer: typologische Bedeutung (Ostern!) finden. Und
Evas
Prophezeiung auf Maria (in 1,3, s. oben Anm. 15), an die Dörrie
vielleicht
denkt, darf ja nicht mit einer solchen typologischen Auslegung
gleichgesetzt
werden.- Aufschlussreich wäre der Vergleich des Judithbriefs
(Heroides
2,4) mit der Behandlung desselben Stoffs durch Balde im Epyllion Juditha
Holofernis triumphatrix (Opera omnia [wie unten Anm. 190] 3,
287-294):
Balde, nicht Bidermann, behandelt Judith als Typus der Gottesmutter.
(20) Principio, nolui materiem mihi sumere, iam aliàs
alibi vulgatam: ac proinde Virginum nostrarum copias, etsi suppetebant,
tamen quod in Epigrammatis iam ante plerásque attigeram,
reducendas
hic non existimaui. [Gemeint sind hier vor allem die in den
Epigrammata, zuerst 1620 (mir zugänglich in 4. Aufl., Dillingen
1692), behandelten heiligen Jungfrauen (Buch I Nr. 57-70: „Parthenia“;
Buch II: neun Chori virginum).] Tum deinde Magdalenæ
lacrymis [Maria Magdalena war unter den Briefschreiberinnen bei
Hessus und Alenus], & Sponsæ Romanæ querelis
[gemeint sind Briefe Petrarcas, in denen sich die Ecclesia Romana
bzw. urbs Roma beim Papst als ihrem Verlobten beklagt, s.
Dörrie (wie Anm. 9) 42, 433-436], & hoc genus alijs
argumentis, per mille poetas, millies decantatis, quid noui nos
adderemus?
(21) Kühn Dörrie (wie oben Anm. 9) 393 über das
Corpus: „Es ist ein in sich geschlossenes Erbauungsbuch, das alle
Lehren des Christentums vorträgt [...]“. Jedenfalls unsere
Interpretation der Jephtisepistel wird dies nicht bestätigen
können.
(22) Elisabeth Frenzel, Stoffe der Weltliteratur,
Stuttgart 81992, 373-376 (mit Lit.); vgl. zuletzt
Führer (wie unten Anm. 188) 121-123.
(23) “IACOBI BIDERMANI è Societate IESV HEROIDVM
EPISTVLÆ. ROMÆ, Formis Petri Antonij Facciotti.
M.DC.XXXIIX. Permissu Superiorum” (der Brief dort auf den Seiten 51-57).
(24) Bei Gerhard Dünnhaupt, Personalbibliographien zu den
Drucken des Barock, Erster Teil, Stuttgart ²1990 ist für
diese Ausgabe (Bidermann Nr. 42.1) nur ein Eintrag in einem Katalog des
Hamburger Antiquariats von 1981 angeführt. Dörrie (wie Anm.
9) 392 kennt
ein Exemplar in Rom (Biblioteca Nazionale); das in Lonato vorhandene
Exemplar hat mir freundlicherweise Wolfgang Schibel,
Universitätsbibliothek
Mannheim, nachgewiesen.
(25) Für prompte und liebenswürdige Hilfe danke ich der
Direktorin der Bibliothek, Frau Roberta Valbusa.
(26) Nur an pingúntque in V. 207 kann ich nicht
glauben (s. unten z. St.); fidera statt sidera (mit
„langem s“!) in V. 81 wird vom das Auge des Lesers quasi von selbst
korrigiert. Auch einige wenige kleinere Unstimmigkeiten der
Interpunktion (wie das Komma statt Punkt nach V. 180 fugam oder
der fehlende Punkt nach V. 80 tuo) könnten auf
Flüchtigkeit beim Korrekturlesen weisen.
(27) Dünnhaupt (wie oben Anm. 24), Bidermann Nr. 42.2 (mit
Bibliotheksnachweisen). Dieser Text ist jetzt auch bequem
zugänglich
im Internet unter den Online-Editionen der von Wolfgang Schibel
begründeten,
vor allem von Wilhelm Kühlmann betreuten Mannheimer CAMENA:
www.uni-mannheim.de/mateo/camautor/bider.html.
(28) Dünnhaupt (wie oben Anm. 24), Bidermann Nr. 42.3 (mit
Bibliotheksnachweisen; ein Exemplar ist in meinem Privatbesitz).
(29) Sinnstörend vor allem V.11 moriturus (statt moturus
1638); 40 teram (statt feram); 52 Ex oriente
(statt Exoriente); 74 alijs (statt aliàs).
Diese Fehler sind in der Ausgabe von 1664 übernommen
worden.- Obwohl solche und andere fehlerhafte Lesarten (vgl. die
folgende Anm. 30) für die Textherstellung keine Bedeutung haben,
teile ich sie doch, sofern sie gewichtiger sind, in den Anmerkungen zur
Edition mit, auch um einen anschaulichen Eindruck von der auch in
Druckausgaben rasch einsetzenden Korruption neulateinischer Texte (die
heute meist unterschätzt wird) zu vermitteln.
(30) V. 26 fæta (1664 wie 1638) statt sæta
(1642); 94 redijsse statt redîjsse; 101 Sine („lass“)
statt Sinè („ohne“); 161 operæ statt opera;
212 fatam statt satam. Für solche Korrekturen war
weder die Einsicht in den besseren Text von 1638 noch divinatorischer
Scharfsinn notwendig; es genügten gute Lateinkenntnisse. Gegen die
Benutzung der Erstausgabe sprechen entscheidend die mit der Ausgabe von
1642 übereinstimmenden Fehler (verzeichnet oben Anm. 29; dazu
kommen kleinere, unten nicht mehr registrierte, Ungereimtheiten der
Interpunktion, wie ein Fragezeichen nach fuissem in V. 63 oder
das Fehlen eines Punkts nach exclamo in V. 149 ...).
(31) Die Literatur des Barock, ausgewählt und
eingeleitet von Hans Pörnbacher, München 1986, S. 96-103;
dort S. 1310 zitiert: Sinn- und Geistreiche recht Guldene
Helden-Schreiben des Ehrw .P. Jacobi Bidermann, S.J. vormals unter dem
Namen EPISTULAE HEROUM, ET HEROIDUM, in Lateinischen Versen zierlich an
den Tag gegeben; Nun aber [...] in ebenso so viel Deutsche
Reime wohlmeynend übersetzet von P. Georgio Francisco Friebel
[...], Schweidnitz 1704. Dank der Freundlichkeit von Hans
Pörnbacher konnte ich für den Jephtisbrief seine Fotokopie
des Originals von Friebel verwenden.
(32) Obwohl Friebel mehrere Fehler der Ausgaben von 1642 und 1664
beseitigt – nicht etwa Ex oriente in V. 52 –, dürfte er
nicht unmittelbar auf den Text von 1638 zurückgegriffen haben;
besonders
auch einige auffällige Versehen der Interpunktion legen nahe, dass
er ein Exemplar von 1642 zugrundegelegt hat, in dem, nach der
Erstausgabe,
handschriftlich einige Fehler korrigiert waren. So ergibt sich
vorläufig
als mutmaßliches Stemma:
1638
|
1642
1664
1708
(33) Stillschweigend wurde nur die Schreibung des langen
s angeglichen; Abkürzungen sind regelmäßig
aufgelöst, und der das enklitische –que bzw. –ue
anzeigende diakritische Akzent wurde, sofern in der Erstausgabe
überhaupt vorhanden (die Nachdrucke sind hier etwas pedantischer)
auf den Vokal der jeweils vorausgehenden Silbe gesetzt (z.B. Barbaráque).
(34) Dazu jetzt grundlegend, wenn auch noch nicht
erschöpfend, Thorsten Burkard, „Interpunktion und Akzentsetzung in
lateinischen Texten des 16. und 17. Jahrhunderts [...]“,
Neulateinisches Jahrbuch 5, 2003, 5-58.
(35) Vgl. W. Stroh, Romanische Forschungen 95, 1983, 183
f.; die einschlägigen Probleme (vgl. etwa Lothar Mundt u.a. [Hg.],
Probleme der Edition von Texten der Frühen Neuzeit,
Tübingen
1992) wurden zuletzt diskutiert beim XII. Kongress der International
Association for Neo-Latin Studies, Bonn, 3.-9. August 2003; in den
Kongressakten sind einschlägige Beiträge von Jean-Louis
Charlet und Luc Deitz zu erwarten.
(36) Statt Deo wie im Original der Vulgata; dazu unten S.
??.
(37) Zum Vergleich (und besseren Verständnis der Epistel)
gebe ich den – gekürzten - Text der Vulgata (Iud. 11,29-39) nach
der Ausg. von Robert Weber OSB, Bd. 1, Stuttgart (Württembergische
Bibelanstalt) 1969 (mit ergänzter Interpunktion): factus est
ergo super Iepthae spiritus Domini et [...] [30] uotum uouit
Domino dicens: si tradideris filios Ammon in manus meas, [31]
quicumque primus fuerit egressus de foribus domus meae mihique
occurrerit reuertenti [...], eum holocaustum offeram Domino
[...]. [34] reuertenti autem Iepthae [...] occurrit
unigenita filia cum tympanis et choris [...] [35] qua visa
scidit uestimenta sua et ait: heu filia mi, decepisti me et ipsa
decepta es. aperui enim os meum ad Dominum et aliud facere non potero. [36]
cui illa respondit:
pater mi, si aperuisti os tuum ad Dominum, fac mihi quodcumque
pollicitus
es concessa tibi ultione atque uictoria de hostibus tuis. [37] dixitque
ad patrem; hoc solum mihi praesta quod deprecor: dimitte me, ut duobus
mensibus
circumeam montes et plangam uirginitatem meam cum sodalibus meis.[38]
cui ille respondti: uade et dimisit eam duobus mensibus [...]
[39]
expletisque duobus mensibus reuersa est ad patrem suum, et fecit ei
sicut
uouerat [...].
(38) Kursive und nichtkursive Schreibweise genau nach dem
Original.
(39) Das wohl zunächst als Patronym gedachte Iephtis wird
von Bidermann (und mir im Folgenden) wie ein Eigenname behandelt.
(40) Zu den Verweisen auf Salianus und Serarius s. unten S.
?? mit Anm. 196.
(41) Einen Überblick über die seit den
Vätern kontroverse Diskussion gibt Balde in den Prolusiones seiner
Iephtias (wie unten Anm. 190) S. 7 f.: Quæritur, an
peccârit?
„Vouendo: non reddendo“ S. Ambrosius. „Reddendo: non vouendo“. S.
Th.“Vouendo
& reddendo“. Tertull. Nazian. Procop. Chrys. apud Corn., qui tamen
mediam
viam ingreditur [...]. Die partielle Rechtfertigung Jephtes nach
Corn(elius a Lapide) wird dann referiert. Sonst findet man die
Ansichten älterer Ausleger zusammengefasst bei: Matthaeus Polus, Synopsis
criticorum aliorumque Sacrae Scripturae interpretum [...], vol. 1,
Ultrajecti 1684, Sp. 1149-1155.
(42) Der leicht unlogische Ausdruck erkärt sich als
Kontamination aus tacere uelim und iure tacere mihi liceat.
(43) moturus 1638: moriturus 1642, 1664.
Die spektakulär schöne Verschlimmbesserung (oder bloße
Verschreibung?) moriturus in hostem macht die Verse
unkonstruierbar. Wahrscheinlich ist mouere hier intransitiv im
Sinn von castra / signa mouere (wie
öfter etwa bei Livius) gebraucht; sonst hat man es, trotz dem
Komma
nach V. 11, mit signa in V. 12 zu verbinden.
(44) fæta 1638, 1664 : sæta 1642.
Obwohl feta leaena seit Ovid häufig gesagt wird
(Leonhardi,
Art. “fetus”, Thes. l. Lat. VI 1, dort Sp. 639, Z. 77-80) und
man
schon seit Homer weiß, dass die Löwin, die eben geworfen hat
(was ja fetus heißen kann), besonders bedrohlich ist
(z.B.
Ov. ars 2, 375, vgl. Markus Janka im Kommentar [Heidelberg 1997] z.St.
und
Steier, RE XIII [1926] 988), ist die Vorstellung hier nicht recht am
Platze:
Gefährlich in ihrem Zorn ist ja sonst immer die selber bedrohte
Löwin,
die für ihre Jungen kämpft; wo sie, wie hier, über
Schafe
herfällt, deren Wehrlosigkeit auch noch eigens hervorgehoben wird,
steht f(a)eta müßig. Aber vielleicht denkt Jephtis
in
der Tat an die Attacke einer Löwin, die Futter auch für ihre
Jungen
sucht (mündl. Hinweis von Bianca Schröder).
(45) feram 1638: teram 1642, 1664
(46) Exoriente 1638 : Ex oriente 1642, 1664
(47) solitò 1638, 1642 : solito 1664.
Der Akzent (falls kein Druckfehler vorliegt) zeigt an, dass solitò
nicht attributiv mit murmure zu verbinden ist („nicht
durch ein gewohntes murmur“, wie der Editor 1664 meinte),
sondern adverbial steht („in ungewohnter Weise, nämlich durch murmur“)
– wobei
unter murmur, wie im antiken Sprachgebrauch, das unartikulierte
Geräusch (hier aufbrausender Beifall und Jubelrufe) zu verstehen
ist. Für gewöhnlich, scheint Bidermann zu meinen,
äußern die Kinder Israel ihre Festfreude in gegliederten
Reden bzw. Liedern.
(48) aliàs 1638 : alijs 1642,
1664
(49) tuo. 1664 : tuo 1638, 1642
(50) fidera 1638 : sidera 1642, 1668
(51) solúmque 1638, 1642 : solémque
1664.- Die metrisch unmögliche Lesart von 1664 entstand wohl aus
dem richtigen Empfinden, dass das in der Lesart von 1642 (1638)
zwischen caelum und diem eingeschobene solum störend wirkt.
Schöner wäre, trotz Pleonasmus, cælum
solémque diémque (aber ohne Anhalt in der
Überlieferung).
(52) Sine 1638, 1664 : Sinè 1642
(53) Ein sog. versus hypermetrus: -que ist mit dem
Ante des folgenden Versanfangs zu verschleifen. Vergil im Epos liebt
dieses Kunstmittel (vgl. A.St. Pease im Komm. [Cambridge, Mass. 1935]
zu Aen. 4,558, mit älterer Lit., und zuletzt N. Horsfall im Komm.
[Leiden u.a. 2000] zu Aen. 7,470, mit weiteren Hinweisen); im
elegischen Distichon ist es unüblich (vgl. immerhin Catull.
115,5): Hier soll vielleicht, wie schon durch den syntaktischen
Einschnitt vor dem letzten Versfuß, das in ante meos tumulos
liegende „Zu früh“ verstärkt werden.
(54) operæ 1638, 1664 : opera 1642
(55) Hinc muss, trotz dem Komma nach laborant,
mit fugam inire verbunden werden.
(56) Nach Lucan 1,12 bella geri placuit nullos habitura
triumphos?, ebenfalls in Bezug auf eine tödliche
Auseinandersetzung unter Verwandten: Lucans Pointe fällt bei der
Nachbildung (wo triumphi nur metonymisch für gloria gesagt
wird) fort.
(57) fugam. 1642, 1664 : fugam, 1638
(58) Iephtis 1642, 1668 : Iephthis 1638.- Iephtis
ist die sonst bei Bidermann übliche Schreibweise.
(59) pangúntque scripsi : pingúntque
1638, 1642, 1664. - Es ist nicht zu sehen, wie die Mädchen in
ihrer Bergeinsamkeit die Lächerlichkeit der Todesfurcht mit Hilfe
gerade der Malkunst darstellen sollen: “Dichten” (pangere mit Akkusativ
des Bedichteten, seit Ennius) kann man dagegen überall, so gut wie
“singen” (canere). Wahrscheinlich also ein von Bidermann
übersehener Druckfehler.
(60) satam, 1638 : fatam, 1642 : satam.
1664
(61) quot 1638, 1642 : quos 1664
(62) Das Motiv des durch Tränen verschmierten Briefs
findet sich (vielleicht überhaupt zuerst) bei Properz 4,3,3 f.;
bei Ovid zuerst in epist. 3,3 (Briseis): quascumque adspicies,
lacrimae fecere lituras (ähnlich 11,1 f.; epist. Sapph. 97
f.), wo auch schon das Wortspiel littera (V. 1!) – litura
angedeutet ist. (Hier und im Folgenden gebe ich Hinweise auf antike
Parallelen nur, soweit sie von inhaltlichem
Interesse sind oder zum sprachlichen Verständnis beitragen.).- Zum
Widerspruch
dieses Gedichteingangs mit der später exponierten Gedichtsituation
s.
unten S. ??
(63) Inspiriert aus Ovid, trist. 1,1,7 nec titulus minio nec
cedro charta notetur (über sein ungepflegt, traurig
aussehendes
erstes Tristienbuch), wo die Vorstellung aber klarer ist: Der Werktitel
(Tristia) wird nicht wie sonst durch ein fröhliches Rot
hervorgehoben.
Bei Bidermanns Jephtis scheint nicht an den Titel, sondern irgendwie an
das ganze Schreiben gedacht; umgekehrt hat bei der jubilierenden Esther
(Heroides 2,5) der ganze Brief (versehentlich tabella genannt)
sowie
der Briefumschlag purpurrote Farbe (V. 11-14).
(64) Mit tribus muss doch wohl das ganze Heeresaufgebot
des (untereinander verwandten) Volks Israel gemeint sein, nicht Jephtes
spezieller Stamm; sua (signa) bezeichnet, wie auch das
Folgende zeigt, die Feldzeichen (vgl. V. 25) Jephtes.
(65) Ein schönes Hysteron proteron, wie Vergils
berühmtes moriamur et in media arma ruamus (Aen. 2 353).
Die sofort geäußerte Bereitschaft zur Selbstopferung ist
charakteristisch für die Vaterliebe der Jephtis, die sie naiv auch
auf andere überträgt: Sie selber wird ja später bereit
sein, sanguine suo dem Vater zu helfen.
(66) Die Szene erinnert (ohne genauere wörtliche
Anklänge) vage an den ovidischen Daedalus, der, in scheinbar
aussichtsloser Lage, in einem Monolog beschließt, sich einen
neuen Trick auszudenken (Ov. ars 2,33 ff. quod simul ut sensit [...]),
und dabei auf seine Weise auf die Idee mit dem „Himmel“ kommt. Vgl.
unten S. ??
(67) Zur zunächst befremdlichen Formulierung dieses
Gelöbnisses s. unten S. ??
(68) Solche gehäuften Polyptota drücken seit Homer das
Mann gegen Mann des Nahkampfs aus; vgl. etwa Vergil, Aen. 10,361 haeret
pede pes densusque uiro uir und die Parallelen bei Otto Skutsch im
Kommentar zu Ennius, ann. 584 Sk. (Oxford 1985, S. 724 ff.). Bidermann
steigert durch clades und cruor die Kühnheit des
(nicht mehr recht anschaulichen) Ausdrucks.
(69) Hier wird Jephte als quasi römischer Feldherr
vorgestellt, der den Göttern aus den Waffen des besiegten Feinds tropaea
(wie Aeneas nach dem Sieg über Mezentius: Verg. Aen. 11, 1 ff.)
errichtet. Auch seine festliche Heimkehr mit der beuteschweren Legion
erinnert etwas an einen römischen Triumphzug, ist aber vor allem
auch nach 1. Sam. 18, 6 f. (vgl. unten Anm. 71) gestaltet.
(70) Hier und später (V. 169 f.) drückt Jephtis eigene
frühere Gedanken in direkter Rede so aus, als ob sie ihr jetzt
gerade in den Sinn kämen.
(71) Neben den (hier aus der Vulgata stammenden) tympana (Tamburins
bzw. Handpauken) wären nach antiker Vorstellung als weiteres
Schlaginstrument die erzenen cymbala („Zimbeln“) zu erwarten.
Statt dessen spricht Bidermann, angeregt durch die musizierenden Frauen
in 1. Sam. 18,6 (in tympanis laetitiae et in sistris, wo die
sistra den kýmbala der Septuaginta entsprechen; vgl.
auch 2. Sam. 6,5) von sistra, die in der römischen Literatur nur
(als metallene Rasseln bzw. Klappern) im Zusammenhang des
ägyptischen Isiskults genannt werden: tremula manu (was zu
cymbala nicht passen würde) zeigt, dass er
tatsächlich an ein solches Instrument denkt, das dem Ganzen wohl
ein exotischeres Flair geben soll.
(72) Jephtis, die in ihrer Liebe zum Vater (vgl.
schon oben zu V. 13 f.) diesen als zweite Sonne erlebt, übertreibt
hier sicherlich die äußere Waffenpracht seiner
Erscheinung.
Die Waffen sind im übrigen, wie vieles in diesem Brief ganz
römisch
stilisiert
(73) velut icta ist nicht recht klar, obschon das antike
Vorbild hier deutlich zu fassen ist, nämlich Vergil, Aen. 2,378
ff.
(Erschrecken des Androgeos, der plötzlich entdeckt, dass er unter
die
Feinde geraten ist): obstipuit retroque pedem cum uoce
repressit,
/ improuisum aspris ueluti qui sentibus anguem pressit [...].
(74) Seit Homer finden vergebliche Versuche stets dreimal statt,
wobei dieses „dreimal“ regelmäßig anaphorisch gesetzt wird.
(75) Dies soll wohl das biblische decepisti me et ipsa
decepta es (Iud. 11,35) variieren; statt resque wäre
also vom Sinn eher spesque tua oder tuaque zu erwarten.
Offenbar interferiert das alte Wortspiel: non res, sed spes
u.ä. (A. Otto, Die Sprichwörter und sprichwörtlichen
Redensarten der Römer, Leipzig 1890,
S. 297 (s.v. res Nr. 3).
(76) Auf dieselbe Pointe läuft Bidermanns früher
veröffentlichtes Epigramm JEPHTAE votum infelix (in:
Epigrammata III 8, zitiert nach der Ausg., Dillingen 41692, S.
158 f.) hinaus (V. 7-10): Victor ubi spoliis rediit
sublimis opimis, / Iámque stetit patrios proximus ante
lares,/ Obvia cum sociis venienti Nata choreis, / Prodiit; et victus
maluit esse parens
(77) reuoluo ist wohl nicht so zu verstehen, als
würde Jephtis bereits über ihr Schicksal als Opfer
meditieren, denn weder war von ihr noch überhaupt von einem Opfer
in den Worten Jepthes die Rede; erst im folgenden Vers 88 vermutet sie,
dass die uota auf ein Opfer hinauslaufen, und ihre Angst in V. 89 f.
zeigt, dass sie jedenfalls hier auch
zu ahnen beginnt, wen es trifft. Wirklich klar ist ihr aber die
Wahrheit erst
nach der Ohnmacht geworden, offenbar visionär (bis in die Details
des
Gelöbnisses), s. V. 95 ff. So zögert Bidermann, wie das
halbe
Geständnis des Vaters, so auch die Erkenntnis der Wahrheit durch
Jephtis
stufenweise hinaus, während die Bibel sie sofort alles erfassen
lässt
(ohne dass auch dort der Vater es direkt ausspricht). Psychologisch
glaubhafter
und theatralisch wirkungsvoller ist hier die Ökonomie bei Balde,
der
nur die entscheidende Äußerung durch den Vater, die
dafür
aber unzweideutig ist, wirkungsvoll hinauszögert, was dann durch
die
überraschende Reaktion der Tochter – die augenblicklich zum Tod
bereit
ist - einen großartigen Bühneneffekt ergibt (Iephtias [
wie unten Anm. 190], III 4, S. 91 f.). S. im übrigen unten S. ??
(78) Eine kühne Metonymie, durch die die eigentlichen
Akteure, Gott und Jephte, in den Hintergrund gedrängt werden (s.
unten S. ??).
(79) Libitina, die in Rom für Begräbnisse
zuständige Gottheit, berühmt vor allem durch Horaz, carm.
3,30,7 – Bidermann strapaziert nie übermäßig die
Gelehrsamkeit seines humanistischen Lesers - steht hier metonymisch
für das Begräbnis selber.
(80) Ähnlich hat Ovid seine Trauerdichtung aus dem Exil (das
ihm wie ein Tod scheint) charakterisiert (trist. 5,1,14): efficio
tacitum ne mihi funus eat (ein tacitum funus war ein
Begräbnis ohne Musik).
(81) Hier hat Bidermann geradezu mutwillig eine Schwierigkeit in
die Geschichte hereingebracht, die in der biblischen Version nicht
vorhanden war. Erst bei ihm, nicht in der Bibel, schwört ja
Jephte, er werde das Opfer „unverzüglich“ (postposita mora,
V. 24) vollziehen; nun kann er in diesem Punkt seinen Schwur nicht
wörtlich wahr machen. Offenbar soll das Jephtes Strenge mildern
und das Mitempfinden auch beim Leser steigern: Weder der Vater noch der
„Altar“ können bei solchem Heldensinn des Mädchens
ungerührt bleiben.
(82) Wohl eine Anspielung auf Persius 1,1 O curas
hominum! o quantum est in rebus inane! Während aber Persius
auf die Nichtigkeit menschlicher Sorgen und Bemühungen abhebt,
scheint Jephtis mehr (im Sinne der stoischen Lehre, s. unten S. ??, und
des bekannten Vanitas vanitatum) die Hinfälligkeit
des scheinbaren menschlichen Glücks im Auge zu haben. Das
substantivierte inane findet sich auch im Brief der Judith (Heroides
2,4,213 f., über das abgeschlagene Haupt des Holofernes): Torua
tamen facies, etiamnum assueta, minatur, / Sed magnum esse suas sentit
inane
minas.
(83) Erinnert dem Gedanken nach ebenfalls (vgl. oben Anm. 8) an
den verbannten Ovid: trist. 5,1,5 flebilis ut noster status est,
ita
flebile carmen (vgl. Ovid, epist. Sapph. 7).
(84) Entspricht dem zwischen Vorsängerin und Chor
abwechselnden Kommos (Klagelied) einer Tragödie; vgl. etwa Seneca,
Tro. 67-163.
(85) Die ganze stimmungsvolle Partie (V. 125-134), deren Ethos in
schönem Gegensatz zum Pathos der angrenzenden Partien steht,
erinnert nur sehr ungefähr an die in der Bukolik üblichen
Klagen der Natur (Pflanzen und Flüsse einbegriffen) um ihren toten
oder sterbenden Liebling, vgl. Theokrit 1,71 ff., Epitaphium Bionis 1
ff., Vergil, ecl. 10, 13 ff.
(entfernter ähnlich ecl. 5,20 ff.); denn dort handelt es sich
jeweils
um spontane Äußerungen der Trauer, nicht, wie hier, um das
Einstimmen
in einen menschlichen Klagegesang. In den Versen 129 f. kommt
äußerlich ein Motiv des Orpheusmythos ins Spiel (wilde Tiere
durch Gesang bezaubert: Vergil, georg. 4,510 usw., das Material bei
Konrat Ziegler, RE XVIII 1 [1939] 1247 ff.), aber auch hier setzt
Bidermann den Akzent anders; und höchst poetisch ist es, wie er
dann vom Widerspiel der Flussbrandung (V. 133 repercussa aqua)
zur alternierenden Klage der Mädchen (V. 135 mutua lamenta,
vgl. 123 f. und 160 alterno choro) zurückleitet.
(86) Höchst bemerkenswert: Der Traum, der als
schierer Angsttraum begonnen hat, bietet also, fast im Sinne Freuds,
letztlich eine Wunscherfüllung – die aber trügerisch ist! Die
eigentliche höhere Aufgabe des Traums, durch Meditation des
Schrecklichen dessen seelischer Überwindung vorzuarbeiten,
enthüllt sich erst später. S. unten S. ??
(87) Dies soll wohl heißen, dass alles Leben (=Lebendige),
auch wenn es de facto am Leben bleibt (etiam viua), so doch
potentiell immer vom Tod bedroht ist (perire potest), der Mensch
also nie ohne Sorgen sein kann.
(88) Vg. oben Anm. 70 zu V. 39 f.
(89) Nicht leicht zu verstehen; dum ist am ehesten im
Sinne von „sofern nur“ aufzufassen: „dass ich zu meiner Rettung [seruata
proleptisch] (selbst) unbekannte Penaten aufsuche, sofern es mir
nur gelingt, mit meiner Absicht, nicht zurückzukehren, die
heimischen Laren (die mit der Rückkehr rechnen) zu täuschen.“
Penates und Lares, bei den Römern
wohlunterschiedene Typen der Hausgötter, sind hier in der
Metonymie gleichbedeutend.
(90) Die Argumentation der Mädchen ist geschickt auf die
Vaterliebe als den alles beherrschenden Charakterzug der Jephtis
berechnet: Mit einem Appell an ihre Liebe zum Leben hätten sie
ohnehin keinen Erfolg. Mit dem hochrhetorischen, überpointierten
Schlussdilemma in V. 181 verraten sie sich allerdings als Sophistinnen
und verderben die Wirkung ihrer Rede.
(91) Gerade das wiederholte, nutzlose Reden wird gerne als
canere bezeichnet (weil Lieder in der Regel keine
überredende Wirkung haben); so besonders in den
sprichwörtlichen Wendungen surdo canere (Otto [wie oben
Anm. 75] s.v. „surdus“), eandem cantilenam
canere (Otto s.v. „cantilena“, vgl. Andreas Bagordo, Beobachtungen
zur Sprache des Terenz, Göttingen 2001, 38), frustra
canere
(vgl. K.F. Smith im Komm. [N.Y. 1913] zu Tibull 1,5, 67).
(92) Wieder denkt Jephtis an Reigen (vgl. V. 41 f.) und
Kränze (V. 45): Bidermann betont, dass sie nun mit demselben
Enthusiasmus in den Tod gehen will, wie sie seinerzeit dem Vater
entgegentanzte.
(93) Auch die mola salsa entstammt römischem (und,
unter anderem Namen, griechischem) Ritual; bei Horaz, sat. 2,3,200 wird
Iphigenie vor der Opferung mit mola salsa bestreut.
(94) Nach dem biblischen Bericht (s. oben Anm. 37) ist das Opfer
(was bei Bidermann nicht weiter erwähnt wurde) als holocaustum
versprochen - wie auch das des Isaak (s. Genesis 22,2), dessen
Vorbild schon hier die Vorstellungen der Jephtis bzw. Bidermanns
beherrscht (vgl. ligna struémque mit Genesis 22, 9 super
struem lignorum).
(95) Mit dem Unterschied allerdings, dass Abraham es nicht wagte,
seinem Sohn die volle Wahrheit zu sagen; Genesis 22,6-8: tulit
quoque
ligna holocausti et inposuit super Isaac filium suum. [...] dixit
Isaac patri suo: [...] ubi est uictima holocausti? dixit
Abraham:
Deus prouidebit sibi uictimam holocausti.
(96) Sprichwörtlich, s. Otto (wie oben Anm. 75) s.v. „magnus
1“; vgl. bes. Stat. silv. 1,5,61 fas sit componere magnis / parua.
(97) Das Rad der Fortuna (unser „Glücksrad“) ist eine
schon in der Antike beliebte (allerdings nicht vor Cicero, Pis. 22
belegte) Vorstellung, vor allem dank Boethius (Cons. 2,1 f.;
fundamental: Pierre Courcelle,
La consolation de philosophie dans la tradition littéraire,
Paris 1967, 127 ff.) von unübersehbarer Wirkung in Mittelalter
und früher Neuzeit; vgl. bes. Gottfried Kirchner, Fortuna in
Dichtung und Emblematik des Barock, Stuttgart 1970; neuere Lit. bei
Fritz Graf, „Fortuna“, Der Neue Pauly 4 (1998), 598-602. Die
Formulierung fortuna rotat (V. 213) stammt von Seneca (Ag. 71;
vgl. Thy. 618 rotat omne fatum und Phaed. 1123 f.); Sed
Fortuna rotat heißt es auch im 2. Vers des Mottos auf dem
Titelkupfer des 1638 neu bearbeiteten Poema de vanitate mundi
von Jacob Balde (Rudolf Berger [Hrsg.], Jacob Balde: Deutsche
Dichtungen, Amsterdam & Maarssen 1983, vor S. 1 des paginierten
Anhangs).
(98) vota müssen eigentlich die Gelübdegaben
sein, denn nur diese kann man „weihen“ (dicare); entfernt
ähnlich Stat. Theb. 6, 198 crinem uoti reus ante dicaram.
(99) Deutliche Anspielung auf eine berühmte Sentenz Ovids
(met. 13, 140 f.): nam genus et proauos et quae non fecimus ipsi /
uix ea nostra uoco.
(100) Wieder ein Stück römischer statt jüdischer
Sitte: Im Atrium, wo früher auch der Herd des Hauses stand, werden
die wächsernen Ahnenmasken der Familie aufbewahrt. Zur satirischen
Formulierung vgl. Cicero, Pis. 1 commendatione fumosarum imaginum und
bes. Seneca, epist. 44,5 non facit nobilem atrium plenum fumosis
imaginibus
[...]; animus facit nobilem, cui ex quacumque condicione supra
fortunam
licet surgere; vgl. die Parallelen im ThlL-Artikel
„fumosus“
von Rubenbauer (VI 1, 1540, dort Z. 30 ff. , wo Boeth. cons. 1,1,3
statt
„1,1,16“ zu lesen ist).
(101) An „äußeren Glücksgütern“
werden also aufgezählt: Adel, Reichtum, Beliebtheit,
Schönheit; es fehlt – nur Männern so wichtig – die Macht.
(102) Jephtis denkt, wie sich gleich zeigen wird, vor allem an
die Freuden des Jenseits; vgl. unten S. ??.
(103) Die sich hier äußernde Altklugheit des jungen
Mädchens ist ein feines Stück der Charakterisierung.
(104) Das griechische Fremdwort (wie unser französisches
„Souvenir“) nach Catull. 12,13 mnemosynum mei sodalis.
(105) Damit kann unmöglich, wie Friebel (wie oben Anm. 31)
annimmt (V. 226 ff. „Und habt Euch diesen Brief [...]“), der
vorliegende Brief selber gemeint sein, denn diesen hat ja die Amme
schon größtenteils gelesen, wenn sie zu dieser Stelle
gekommen ist (V. 227 Quod, precor, ipsa legas!), und er ist,
nicht nur aus Gründen des Metrums, denkbar ungeeignet dafür,
von den Töchtern Israels gesungen zu werden. Vielmehr handelt es
sich um das Kultlied, das bei einem jüdischen Mädchenfest in
der Tat jährlich gesungen wurde: Iud. 11,39 f. exinde mos
increbruit in
Israhel [...] ut post anni circulum conueniant in unum filiae Israhel
et
plangant filiam Iepthae Galaaditae diebus quattuor; wie die
Kommentare zum Alten Testament angeben, ist ja unsere Geschichte nichts
anderes als eben
die Äitiologie bzw. der hieros logos zu diesem Brauch (wie
ein
Kultlied der troizenischen Jungfrauen Grundlage ist des Phaidramythos,
den
Euripides im ‚Hippolytos‘ gestaltet hat; vgl. U.v.
Wilamowitz-Moellendorff in der Einleitung zu seiner Ausgabe, Berlin
1891, S. 23 ff.). Nach Bidermanns glücklicher Fiktion ist es also
eben dieses ursprünglich improvisierte Klagelied (V. 109 ff., 119
ff., vgl. bes. 121 miseranda poëtria, 122 nostra
poësis und 207 f. pangúntque canúntque),
das Jephtis in nunmehr schriftlich redigierter Form dem Brief an die
Amme als literarische Beigabe hinzufügt (ähnlich wie etwa
Catulls Coma Berenices, carm. 66, als dem Brief an Hortensius,
carm. 65, beigegeben zu denken ist).
(106) Bei manchen römischen Geldgeschäften wird Geld
bei einem Mittelsmann, sequester, deponiert, der
dafür bürgt, dass die Zahlung ordentlich stattfindet. So
sorgt hier offenbar der Mond, nach dem Jephtis die Frist bis zu ihrer
Opferung bestimmt hat (V. 101 f.), als luna sequestra dafür,
dass die Zeit richtig eingehalten
wird. Auch
bei römischen Schriftstellern war nach Ausweis der Lexika sequester
schon gelegentlich, wenn auch nicht genau in diesem Sinn,
übertragen gebraucht worden.
(107) Die Zeitangabe steht im Widerspruch zu der des argumentum,
ein Flüchtigkeitsfehler.
(108) Vielleicht ein Anklang an die Frage der Venus in Vergils
Aeneis 1,241 quem das finem, rex magne, laborum?
(109) Hier vermischt Bidermann heidnisch-antike und christliche
Vorstellungen. Das Elysium ist der (seit Vergil, Aen. 6,542 und 637
ff.; vgl. bes. Peter Habermehl, „Jenseits B V 3“, Reallex. f. Ant.
u. Chr. XVII [1996], dort 297-300) unterirdische Sitz der seligen
Geister; „Abrahams Schoß“, auch bei uns sprichwörtlich,
stammt aus der Erzählung vom armen Lazarus im Lukasevangelium (16,
22 et portaretur ab angelis in sinum
Abrahae).
(110) matris in amplexus [...] ruam ist ein
natürliches gewolltes Echo von V. 62 in patris amplexus [...]
ruo. So
drückt sich sinnfällig der Hauptgedanke aus, dass die
Sehnsüchte
unseres Lebens erst im Jenseits Erfüllung finden können.- Im
übrigen denkt der klassisch gebildete Leser unwillkürlich an
die Szene bei
Vergil, wo Anchises im Elysium seinem Sohn Aeneas sehnsüchtig die
Arme
entgegenstreckt (Aen. 6,685), auch wenn die wirkliche Urmarmung nicht
möglich
ist (V. 700-702).
(111) Sarah ist als Abrahams Frau Mutter von Israel; aber sie ist
speziell auch Mutter von Isaak, wie dessen Frau Rebekka ist (die nur
aus diesem
Grund hier erwähnt wird): Beide können also mit Jephtis in
besonderer
Weise mitempfinden.
(112) Die pointierte zusammenfassende Zuspitzung am Ende ist ganz
in der Art von Ovids ‚Heroides‘, die auf den formellen Briefschluss
durchweg verzichten (mit der Ausnahme von epist. 8, 168, wo sich das uale
aber gerade nicht an den formellen Adressaten des Briefs richtet).
(113) Vgl. W. Stroh, „Heroides Ouidianae cur epistulas scribant“
(zuerst 1991), in: Verf., Apocrypha, Stuttgart 2000, 144-174
(z.T.
im Widerspruch zur älteren Forschung).
(114) Vgl. oben Anm. 62
(115) Vgl. oben Anm. 37 und 77
(116) Vgl. oben Anm. 85
(117) Vgl. Karl Hoheisel / Carsten
Colpe, „Jenseits B VIII“, Reallex. f. Ant. u. Chr. 17 (1996),
dort
Sp. 332-345
(118) Vgl. oben Anm. 41
(119) Vgl. oben Anm. 90
(120) Mir vorliegend in: Georgii Buchanani Scoti poemata
quæ extant, Amsterdam 1687, S. 187-223: Jephthes, sive
votum, tragœdia (danach zitiert; bei der Aktzählung rechne
ich den Prolog nicht
mit).
(121) Nil, nata, per te perpetratum est: hoc meum / Nefas:
meum istud est scelus totum: meæ / Immerita pœnas pendis
imprudentiæ etc.
(122) Akt 5, 170 f. (Iphis, Jephtes Tochter:) [...] totque
cædes hostium / Pensemus una sponte gratique hostia.
(123) Akt 5, 143 f. Et quam parenti patriæque debeo /
Animam libenter reddo. Am Schluss stirbt sie, um durch ihren Tod
Gott mit seinem Volk (über das er wegen dessen Treulosigkeit
erzürnt ist) zu versöhnen (Akt 6, 57-59): Quæcumque
nostra contumax superbia /supplicia meruit, te parentem deserens, /
Utinam luatur hoc cruore [...].
(124) Vgl. zuletzt Führer (wie unten Anm. 188) 121.
(125) Unwidersprochen bleibt das Schlusswort, mit dem Jephte die
scharfsinnige Diskussion mit dem professionellen Theologen beendet (Akt
4, 211-214): Vos ista per me, si libet, sectamini, / Quos juvat
haberi
antistites prudentiæ: / Ego veritatem malo stultam &
simplicem,
/ Quam splendidam fuco impiam sapientiam - was deutlich an ein
berühmtes
Wort des (unstreitig im Recht befindlichen) euripideischen Polyneikes
über
die „einfache Rede der Wahrheit“ (Phoen. 469) anklingt. Der Schlusschor
preist
die Tochter Jephtes dafür, dass sie ihr Leben für das
Vaterland
gegeben habe; und Jephte verwünscht sich zwar auch noch bei der
Opferhandlung
wegen seines Gelöbnisses (Akt 6, 70 f.), hat aber keinen
Zweifel
an der Berechtigung des Opfers, gegen das am Schluss auch die Mutter,
bei
allem Schmerz, nicht mehr protestiert.
(126) Nicht einmal die Vaterliebe, die Bidermann so
herausgestrichen hatte, um das ungeduldige Vorpreschen der Jephtis zu
motivieren (s. oben
Anm. 65 und 72 zu V. 14 und 56), wird von ihm hier explizit genannt.
(127) Vgl. oben Anm. 123
(128) Vgl. oben Anm. 66
(129) In V. 89 f. spricht Jephtis sogar von dem Altar
als förmlich exekutierendem Henker: quam si [...] /
Iam iam structa meo finderet ara caput!
(130) Die Überwindung der Todesfurcht ist das große
Thema von Senecas ‚Troas‘, in der zwei Kinder, Astyanax und Polyxena –
freilich noch ohne vernünftige Überlegung – ihre Hinrichtung
mutig akzeptieren (vgl. W. Stroh, in: Orchestra: Drama – Mythos –
Bühne (Festschrift Hellmut Flashar), Suttgart / Leipzig 1994,
253 f.).
(131) Vgl. dazu bes. A.D. Leeman, „Das Todeserlebnis im Denken
Senecas,“ Gymnasium 78, 1971, 322-333 (dort zur meditatio
mortis S.
327-329) und die unten Anm. 132 zur praemeditatio angeführte
Literatur. Vgl. auch die Stellenangaben bei Anna Lydia Motto, Seneca
source book: Guide to the thought of L.A. Seneca, Amsterdam 1970,
s.v.
„Death“ Nr. 16 (S. 60): „Importance of meditating upon death“.
(132) Locus classicus ist Cicero, Tusc. 3, 29 haec igitur
praemeditatio futurorum malorum lenit eorum aduentum, quae uenientia
longe ante uideris; vgl. den ganzen Abschnitt §§ 28-30
(z.T. wohl nach Poseidonios, vgl. Stoicorum Veterum Fragmenta III 482
v. Arnim) und §§ 52-61; bei Seneca vgl. etwa epist. 100,
4 nemo non fortius ad id cui se diu composuerat accessit et
duris quoque, si praemeditata erant, obsistit. [...] hoc
cogitatio assidua praestabit, ut nulli malo sis tiro (mehr etwa bei
C.E. Manning, Mnemosyne s. IV 29, 1976, 301, Anm. 3 und
jetzt bes. Manfred Wacht, “Angst und Angstbewältigung in Senecas
Briefen”, Gymnasium 105, 1998, 507-536, dort S. 529-532, bes.
auch zur meditatio mortis). An diese Meditationspraxis denkt
Seneca, wenn er angesichts
seines eigenen, erzwungenen Freitods seinen Freunden die Tränen
verweist
(Tacitus, ann. 15, 62,2): ubi praecepta sapientiae, ubi tot per
annos
meditata ratio aduersum imminentia? Grundlegend zu diesen und
ähnlichen
Meditationstechniken ist immer noch das Buch von Paul Rabbow, Seelenführung:
Methodik der Exerzitien in der Antike, München 1954 (zur praemeditatio
S. 160-179, mit reichen Belegen, bes. aus Seneca), wo die Linien
von
der hellenistischen Philosophie bis zu Ignatius von Loyola durchgezogen
werden; spezieller zu Seneca: Ilsetraut Hadot, Seneca und die
griechisch-römische Tradition der Seelenleitung, Berlin 1969
(zur praemeditatio
S. 60 f.). Bidermanns Zeitgenossen wurde die praemeditatio vor
allem vermittelt durch Lipsius’ ‚Manuductio ad Stoicam philosophiam‘
(1604),
in: Opera 1675 (wie unten Anm. 165) IV 2, p. 776-778.
(133) cons. Pol. 9, 4-6; cons. Marc. 20. Ähnliche
Äußerungen Senecas bei Motto (wie oben. Anm. 131) s.v.
„Death“ Nr. 23 (S. 60): „Is
escape from life’s lengthy torture“. Zum ganzen Themenkomplex in der
Antike:
Theodor Johann, Trauer und Trost: Eine quellen- und
strukturanalytische
Untersuchung der philosophischen Trostschriften über den Tod,
München
1968, 100-109.
(134) Zur Bedeutung des Vorbilds in Senecas Denken und Leben s.
bes. Döring (wie unten Anm. 137) 18-21.
(135) De providentia 2, 9-12
(136) epist. 98,13 (nach Aufzählung vorbildlicher Taten
anderer): nos quoque aliquid et ipsi faciamus animose: simus inter
exempla. Vgl. epist. 11,9 und bes. 67, 9 dubitas ergo an
optimum sit memorabilem mori et in aliquo opere uirtutis? Dies darf
nicht, wie oft, mit dem Streben nach (für den Stoiker wertlosem)
Ruhm verwechselt werden.
(137) Tacitus, ann. 15, 62-64 (vgl. bes. Klaus Döring, Exemplum
Socratis, Wiesbaden 1979, 37-42).Wohl erst im 19. Jahrhundert
beginnt man, über den allerdings schon immer gegen Seneca
erhobenen Vorwurf
der Heuchelei hinaus, gerade an der theatralischen Stilisierung dieses
Tods
Anstoß zu nehmen (treffend dazu m.E. Hildegard Cancik,
Untersuchungen
zu Senecas Epistulae morales, Hildesheim 1967, 112 Anm. 122).
Interessant
ist, dass der Neostoiker Justus Lipsius seinem Vorbild Seneca mit der
Stilisierung
seines Tods als ‚Seneca Christianus’ nachgefolgt zu sein scheint; vgl.
Günter Hess „Der Tod des Seneca: Ikonographie – Biographie –
Tragödientheorie“, Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft
25, 1981, 196-228, dort S. 223 f.
(138) Viel Material bei Elisabeth Frenzel, Motive der
Weltliteratur, Stuttgart ³1988, s.v. „Märtyrer“, S.
484-498, bes. 489-493; zum ganzen Themenkreis ist zu vergleichen der
Aufsatz von Hess (wie oben Anm. 137).
(139) Die exquisite Formulierung nach Horaz, carm. 1,11,6 f. spatio
breui / spem longam reseces.
(140) Vgl. etwa die bekannten Darstellungen von Max Pohlenz, Die
Stoa: Geschichte einer geistigen Bewegung, Göttingen (1959) 41979,
Bd. 1, 119-123; Peter Steinmetz, „Die Stoa“, in: Grundriss der
Geschichte der Philosophie: Die Philosophie der Antike, Bd. 4: Die
hellenistische Philosophie, Basel 1994, 491-716, dort S. 542-544,
615 f. (mit Lit.). Einen vereinfachten Abriss für Bidermanns
Zeitgenossen gab Lipsius
in ‚De constantia‘ I 7 (in Opera 1675 [wie unten Anm. 165] IV
2,
p. 535 f.), ausführlicher in der ‚Manuductio ad Stoicam
philosophiam‘
II 22-23 (a.O. 734-743).
(141) Die auch nur beiläufige Nennung Fortunas bei Bidermann
weist sofort auf Seneca, der mehr als ein anderer Philosoph von
Fortuna gesprochen hat; vgl. den materialreichen und tiefdringenden
Aufsatz von Gerda Busch, „Fortunae resistere in der Moral des
Philosophen Seneca“ (zuerst 1961), in: Gregor Maurach (Hg.), Seneca
als Philosoph, Darmstadt 1975, 53-92. Der Neustoiker Lipsius in ‚De
constantia‘ hielt die Vorstellung einer Kosmos und Menschheit
regierenden Fortuna für unphilosophisch (I 13, in: Opera 1675
[wie unten Anm. 165] IV 2, p.545 f.), was allerdings nur den Worten
nach ein Widerspruch ist (vgl. dens. in I 15, p. 548 und bes. in
‚Physiologia Stoica‘ III 3, a.O. p. 969); vgl unten Anm. 184.
(142) Mit ähnlichem Jenseitsausblick endet der letzte
(6.) Brief von Bidermanns 2. Heroidenbuch, in dem die Mutter der
Makkabäer an ihren Jüngsten schreibt: Dieser aber verdient
sich durch seine Hinrichtung schon wie ein christlicher Märtyrer
den Himmel (und entgeht der Hölle), indem er nämlich als
Bekenner für Gott und seinen Glauben stirbt: V. 95-98 (zitiert
nach der Ausg. v. 1664): Tu fragilem vt serues morituro in corpore
vitam, / Perpetua vitae sorte carere voles? / Tu modicis tradas ne
membra caduca fauillis, / Membra dabis Stygiis non moritura focis.
(Auch das zweite Distichon ist natürlich als rhetorische Frage zu
verstehen.) Hier muss von Bidermann ein Gegensatz zum ersten Brief (der
Jephtis) intendiert sein. Vgl. unten Anm. 181.
(143) cons. Pol. 9,7 in hoc tam procelloso et ad omnes
tempestates exposito mari nauigantibus nullus portus nisi mortis est. cons
Marc.
20,2 f. haec (sc. mors) est, inquam, quae efficit, ut nasci
non
sit supplicium [...]. caram te, uita, beneficio mortis habeo.
Vgl. oben Anm. 133.
(144) Die gewöhnliche stoische meditatio mortis kommt
ohne Vorstellung eines Lebens nach dem Tode aus, das auch bei
Seneca nie als gesichert gilt (epist. 102,30!); gut Leeman (wie
oben Anm. 131) 326 f. Vgl. die folgenden Anmerkungen.
(145) cons. Marc. 25,2 integer ille [...] ad excelsa
sublatus inter felices currit animas. excepit illum coetus sacer,
Scipiones Catonesque interque contemptores uitae et beneficio suo
liberos [Cremutius hatte durch Selbstmord geendet] parens tuus,
Marcia (was dann weiter ausgemalt wird). Vgl. cons. Pol. 9,8, wo
das Jenseitsglück des Verstorbenen allerdings nur hypothetisch
beschrieben wird (und zu Ähnlichem die Stellensammlung bei Motto
[wie oben Anm. 131] s.v. „Death“ Nr. 32 (S. 61): „ The soul after
death“). An sich ist diese Vorstellung, dass die Seele im Tod, vom
Körper befreit, unsterblich fortlebe, natürlich platonischen,
nicht stoischen Ursprungs.
(146) Dort wird der in einem Traum ins Jenseits entrückte
jüngere Scipio von seinem verstorbenen Vater darüber belehrt,
dass die Götter den verdienten Staatsmännern einen speziellen
Ort im Himmel zur ewigen Seligkeit reserviert hätten (Cic. rep. 6,
13). Zu Grunde liegt wohl
wie bei Seneca die (modifizierte) Lehre des Stoikers Chrysipp - in der
Forschung wird hier einseitig das Platonische betont (gut aber Leeman
[wie oben Anm. 131] 326) -, dass die Seelen wenigstens der Weisen,
obwohl auch sie materiell und prinzipiell sterblich sind, bis zum
großen Weltenbrand in höheren Sphären
fortbestehen (Diog. Laert. 7, 157; vgl. Stoicorum Veterum Fragmenta
II 809-822 v. Arnim; solche stoischen Vorstellungen mögen
gebildeten Römern Kaiserapotheose und Kaiserkult akzeptabel
gemacht haben).
(147) Vielleicht ist es kein Zufall, dass gerade diese Epistel so
ungewöhnlich viel heidnisch-römisches Kolorit enthält: tropaea
(V. 35, vgl. oben Anm. 69), römische Waffen (53-56),Triumphzug
(57-60, vgl. oben Anm. 69), Göttin Libitina (109 und 208, vgl.
Anm. 79), Penaten und Laren (173 f., vgl. oben Anm. 89), mola salsa
(188, vgl. oben
Anm. 93), Atrium mit Ahnenbildern (217, vgl. oben Anm. 100).
(148) Ich denke an das berühmte Mustergebet des
Kleanthes an Zeus und das Schicksal, von Seneca übersetzt in
epist. 107,10; das parere deo ist einer seiner wichtigsten
Leitsätze. – Im übrigen mag Bidermann auf Grund asketischer
Ideale, was die Verachtung äußerer Güter angeht, den
Unterschied zwischen Bibel und Stoa weniger stark
empfunden haben, als wir dies heute meist tun.
(149) Alois Schmid (Hg.): Bayerische Gelehrtenkorrespondenz.
P. Matthäus Rader SJ, Bd. 1: 1595 -1612, bearbeitet von Helmut
Zäh und Silvia Strodel, München 1995, Nr. 182, S. 367-369
(Bidermanns Briefe, einschließlich der nach 1612 verfassten,
wurden zuvor veröffentlicht von Richard van Dülmen, „Die
Gesellschaft Jesu und der bayerische Späthumanismus“, Zeitschrift
für bayerische Landesgeschichte 37, 1974, 358-415 (dort S.
393-415, unser Brief S. 405 f.).
(150) Vgl. unten Anm. 156
(151) Mit der betreffenden Partie reagiert Bidermann auf die
Nachricht vom Tode des Lipsius; sie beginnt: Lipsium vixisse
audiui; et mouisset me tam acerbum funus, nisi ego iam dudum illum
extulissem.
(152) Eine Vers-Improvisation oder ein noch nicht erkanntes Zitat
aus einem jambischen Gedicht, auf jeden Fall angelehnt an Hor. epod.
11,1 Petti, nihil me, sicut antea, iuuat etc.
(153) „Weh um die Mühe, um die Tage und Nächte, die ich
einst mit diesen Irrtümern unglücklich vergeudet habe. Es
macht mir kein Vergnügen mehr wie früher, nach dem zu
streben, was nichts nützen kann. Nichts hat das Batavervolk mehr,
was mich heute freuen könnte,
da mir die Freuden der früheren Zeit so teuer zu stehen kommen
[abwegig
übersetzt hier, nach van Dülmen [wie oben Anm. 149] 382, H.
Weddige, in:
Hubert Glaser [Hg.], Um Kaiser und Reich: Kurfürst Maximilian
I.
[Ausstellungskatalog 1980], München / München-Zürich
1980,
520, Nr. 836]. Und ich fühle, Pater, dass dies die Quelle meiner
Leiden
ist, in denen ich noch heute nach göttlichem Willen
büße. [Ob hier an eine physische Krankheit gedacht ist?]
Gerecht ist allemal GOTT.“ Stefan Römmelt, Bearbeiter des zu
erwartenden zweiten Bands der Raderkorrespondenz, macht mich im
Gespräch darauf aufmerksam, dass in Iustus ein
pointierter Bezug auf Justus Lipsius liegen könnte; er tendiert
dazu,
in Bidermanns Brief eher eine etwas launige Stilübung als ein
ernsteres
Herzensbekenntnis zu sehen. Vgl. unten Anm. 155.
(154) „Ich werde ein zweiter Heliodor sein und allen bezeugen,
was ich zu spüren bekam usw. : ‚Ihr, wenn ihr einen Feind habt, so
schickt ihn dort hin und befehlt ihm, stur ein Lipsianer zu sein; und
ihr werdet
ihn gegeißelt wiederbekommen, sofern er davon kommt‘ [eine
parodistische Nachbildung der Rede des Heliodor, nachdem er sich am
jüdischen Tempelschatz vergriffen hatte und, nach Gottes
Eingreifen, kaum mit dem Leben davon gekommen war: Macc. II 3,38; vgl.
dort V. 36 testabatur autem omnibus]. Denn was ich schon von
damals an für Unglück im Geiste erduldet habe, das weiß
GOTT, der Herr, und die, die klarer über meinen Sinn
Bescheid wissen.“ (Die Unterstreichungen stammen von Bidermann [nach
Rolf
Tarot, Hg.: J. Bidermann, Ludi theatrales 1966, Bd. 1,
Tübingen
1967, Nachwort S. 4*] und markieren das wörtlich Zitierte.)
(155) Im Gegensatz (wenn auch nicht in explizitem Widerspruch)
zur communis opinio der Forschung beziehen Zäh und Strodel (wie
oben Anm. 149) S. 369, Anm. 5 diese Anhängerschaft nicht auf
den Neostoizismus des Lipsius, sondern auf dessen unciceronischen,
lakonischen und z.T. archaistischen Pointenstil, den zum Schlagwort
gewordenen „Lipsianismus“. Dafür spricht immerhin, dass nirgendwo
in Raders Korrespondenz, soweit mir bisher bekannt, von einem
weltanschaulichen Gegensatz zum oft erwähnten Lipsius, dem
Rader in einem Brief (Nr. 9, S. 17) als commune Musarum oraculum
huldigt, die Rede ist, immer nur von seinen philologischen Leistungen
und in der Tat von seinem Stil, dessen Nachahmung Rader bei seinen
Schülern und sonst missbilligt (Nachweise bei Zäh/Strodel
a.O.; allgemein zur Kontroverse um den „Lipsianismus“ vgl. bes. Wilhelm
Kühlmann, Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat,
Tübingen 1982, 204-255): Bidermann selbst verteidigt sich schon
1599 (Brief Nr. 51, dort S. 109) gegen Raders ihm,
Bidermann, zugetragenen Vorwurf: [...] me desijsse ueterem et
agnatum
mihi stilum: affectare nouum, breuem, plus iusto [zu verstehen auch
als
Iusto Lipsio!] concisum (vgl. die Kritik eines Misenus
an einem
carmen Bidermanns: es sei Lipsianâ facundiâ
dignum
wegen seiner affektierten antiquitas [Brief Nr. 174, dort S.
352]);
und als Rader selbst vom Tod des Lipsius erfährt, denkt er nicht
an
dessen Weltanschauung, sondern sagt (in einem Brief an Marcus Welser:
AMSJ
M I 30, Nr. 363): amaui Iustum, viuum, colam mortuum; adorabo
semper acerrimum
in scribendo iudicium, praedicabo eruditionem, sequor tamen in stilo
Ciceronem,
quantum quidem assequi potero, ita enim uideo placere, et meritò
sanè,
maioribus meis (mir zugänglich gemacht durch Stefan
Römmelt,
der mich auch auf andere vergleichbare Äußerungen über
Lipsius
in Raders noch unveröffentlichtem Briefwechsel mit Welser
hinweist).
Aber eine solche Deutung unseres Bidermann-Briefs müsste dessen
Äußerungen
über Gottes Strafe und Buße zur schieren Ironie degradieren,
was
mir, trotz dem gelegentlich scherzhaften Ton des Briefs (vgl. auch
unten
Anm. 167) und seinen pathetischen Übertreibungen, ausgeschlossen
scheint.
„Irrtümer“ der Jugend bezeugt übrigens auch Bidermanns
Vorrede
an seinen Schutzengel in den ‚Heroum epistulae’ ( München 1634, S.
1):
QVI [...] per deuia tesqua curiosæ / Errantem pede
libero
Iuuentæ, / Seruasti, pius; vltimæque cladem / Cauisti
miserabilem
ruinæ [...].
(156) Aus Bidermanns Formulierungen wird deutlich, dass er
sich in dem Brief von 1606 nicht etwa vom Lipsianertum erst lossagt,
wie
es in der Forschung gelegentlich heißt, sondern eine frühere
Zeit im Auge hat, in der ihn Rader vor seiner Neigung zu Lipsius
gewarnt
haben muss: O vtinam, tuis olim consilijs paruissem. Sed
serò
sapiunt Phryges. Da Bidermanns Briefe an Rader aus der Zeit des
Philosophiestudiums
(Nov. 1597-Sept.1600) keine Reflexe einer solchen Auseinandersetzung
enthalten
– ein natürlich nicht ganz sicheres argumentum e silentio – und
die
zeitweilige Verstimmung zwischen beiden, die ein Brief vom August 1603
(Nr.
123) beenden will, keinen Bezug auf eine philosophisch-theologische
Kontroverse
zu haben scheint, denken Zäh / Strodel (wie oben Anm. 149) S. 369
hier
wohl zu Recht vor allem an „persönliche Gespräche mit Rader
in
der Zeit zwischen 1600 und 1602 in Augsburg“. Die Beschäftigung
mit
Lipsius dürfte allerdings schon auf die Zeit von Bidermanns
Philosophiestudium
(1597-1600) zurückgehen.
(157) Wobei immer zu bedenken ist, dass unsere Textfassungen sich
auf spätere Aufführungen beziehen (nach Hess [wie oben Anm.
6]: München 1609 und Ingolstadt 1617).
(158) R.T. (Hg.), Jakob Bidermann: Cenodoxus,
Tübingen 1963, dort S. XXIII-XXV. Vgl. neben vielen anderen bes.
auch den bekannten Aufsatz von Max Wehrli, „Bidermann ·
Cenodoxus“ (zuerst: 1958), in: M. W., Humanismus und Barock,
Hildesheim / Zürich 1993, 24-47, dort 35 ff. Nicht ganz
glücklich vergleicht Wehrli Bidermanns Haltung mit Baldes Abkehr
vom Stoizismus (vgl. unten Anm.191): Dort wird die
„Gefühllosigkeit“ der stoischen Apathie abgelehnt, was im
‚Cenodoxus‘ eigentlich keine Rolle spielt.
(159) Gut vergleicht Tarot dazu neben Sen. prov. 1,2 bes. auch
epist. 78,20 f., wo Seneca Lucilius ermahnt, mit seiner Krankheit
zu ringen, um ein Schaustück und Beispiel (exemplum) der
Tapferkeit (uirtus) zu bieten.
(160) In diese Richtung gingen meine zaghaften Vermutungen noch
bei meinem mündlichen Augsburger Vortrag im Oktober 2002.
(161) Noch kühner hat Morford (wie unten Anm. 169) 132, Anm.
147 vermutet, die berühmte Münchener Aufführung des
‚Cenodoxus‘ von 1609 sei „a reaction to the histrionics of his
[Lipsius‘!] death scene“ gewesen.
(162) München 1634, A 2: IN secessu Tusculano [...]
huc animum horis subseciuis appuli; vt lucubrationes, quas
adolescentiæ calor excuderet, otiosus inspicerem; & varios
ingenij, seu partus, seu abortus, ad lucernam (tollendi mihi, an
exponendi viderentur) explorarem.
(163) Dafür spricht vor allem auch, dass Bidermann in der
Vorrede der ‚Heroidum ep.‘ ausdrücklich sagt, er hätte das
Werk unmittelbar nach den ‚Heroum ep.‘ publizieren können, habe
aber Angst vor einer
Übersättigung des Publikums gehabt.
(164) Nach Hans Pörnbacher, „Jacob Bidermann: Cenodoxus, Der
Doctor von Pariß“, in: Dramen vom Barock zur Aufklärung,
Stuttgart (Reclam UB 17512) 2000, 7-36 (dort S. 21) beruht diese
Auffassung, die auch Pörnbacher vorsichtig modifiziert, im Kern
auf einer Arbeit
von Meinrad Sadil ,1899/1900 (s. das Literaturverzeichnis bei
Pörnbacher, wo man reiche Angaben zum ‚Cenodoxus‘ findet).- Kritik
an der antistoischen Deutung des Stücks übt
auch Peter-Paul Lenhard,
Religiöse Weltanschauung und Didaktik im Jesuitendrama:
Interpretationen
zu den Schauspielen Jacob Bidermanns, Frankfurt/M. / Bern 1976,
77-81,
schießt dabei aber weit über das Ziel hinaus. Vorsichtiger
in
der Kritik ist Best (wie oben Anm. 4) 217 f. Anm. 28 (dessen
chronologisches
Argument aber nicht durchschlägt).
(165) Am nächsten kommt dem eine ganz beiläufige (das
Lob der Parkanlagen abschließende!) Äußerung (De
const. II
3; zitiert nach: Justus Lipsius, Opera omnia, Wesel 1675
[Nachdr.
Hildesheim u.a. 2001], Bd. IV.2, p.569; es spricht Lipsius’ Freund
Langius):
Ut quandocumque fatalis ille & meus dies venerit, fronte
compositâ
nec mæstus eum excipiam: abeamque ex hac vita non ut ejectus, sed
ut emissus.- ‚De constantia’ ist jetzt bequem erschlossen durch die
zweisprachige, kommentierte Ausgabe von Florian Neumann, Mainz 1998 (wo
allerdings die Vorreden weggelassen sind).
(166) Einen Versuch, den ‚Cenodoxus’ direkt auf ‚De constantia’
zu beziehen, hat Denys G. Dyer (Verfasser einer einschlägigen,
leider
ungedruckten Cambridger Dissertation von 1950) in seiner zweisprachigen
Ausgabe des ‚Cenodoxus’, Edinburgh 1975, „Introduction“ S. 16-18,
gemacht
(er betrachtet Cenodoxus als Abbild von Langius bzw. dem in diesem
verkörperten
Lipsius), aber seine Interpretation von ‚De constantia’ als einer
Verherrlichung
menschlicher Kraft auf Kosten von Gottes Gnade und Liebe bleibt
zu
einseitig, und er übersieht, dass Lipsius bzw. Langius gerade in
den
Glauben an Gottes Vorsehung den Hauptgrund der constantia setzt
(I
14, II 6 ff.).
(167) Petit Gaspar Lechner à me nescio quas sarcinulas
in re musica collectas. Sed ego asotus pridem decoxi; ac denique etiam
ex
ritu prisco Proteruiam feci: Nam meos ego chartas tanquam de haeresi
Lipsiana
suspectas, nuper ultro exussi. Haec illi significa, et fidem meam
liberaui.
„G. L. verlangt von mir irgendwelche Sächlein, die ich mir in der
Musik
[= Poesie, wie bei Terenz] zusammengepackt hätte [mit unklarer
Anspielung auf Juvenal 6,146 collige sarcinulas; an sich
ist colligere sarcinam üblich für „zusammenpacken“].
Aber ich habe als Prasser [die griechische Vokabel und der Zusammenhang
weisen vielleicht auf den
verlorenen Sohn, Lukas 15,13] längst Bankrott gemacht; und
schließlich
habe ich sogar nach altem Brauch Proteruia gemacht [mir
völlig
unklar: t.t. der Studentensprache? - proteruia ist nach
Ausweis der
Lexika eine etwa bei Ambrosius, übrigens auch in Lipsius, ‚De
constantia‘
belegte Variante zu proteruitas, „Frechheit“]. Denn neulich
habe
ich meine Papiere, als seien sie der lipsianischen Häresie
verdächtig,
von mir aus verbrannt. Dies gib ihm zu verstehen, und ich bin meine
Schuld
losgeworden.“ (Nebenbei sei immerhin notiert, dass Jeremias Drexel in
Nr.
170 der Rader-Korrespondenz [wie oben Anm. 149, dort S. 342], einem
Brief
vom 1.1.1606, in Hinsicht auf den Stil des Lipsius von einer haeresis
spricht.)
(168) Ovid, Tristia 1,7,15-22
(169) Ich stütze mich auf Mark Morford, Stoics
and Neostoic: Rubens and the circle of Lipsius, Princeton, N.J.
1991, vgl. bes. das Kapitel „Lipsius, the church, and posterity“, S.
96-138, zu Lipsius’ „conversion“ bes. S. 120 ff.
(170) Vgl. oben Anm. 155
(171) So lehnte er etwa den Selbstmord ab oder nahm (was
gravierender ist) das peccatum aus den von der Providentia
bestimmten Ereignissen heraus.
(172) Zum Inhalt der jesuitischen Kritik an Lipsius ist besonders
ergiebig der erste Teil des (unten Anm. 192 zitierten) Aufsatzes von
Barbara Bauer; sie zitiert dort unter anderem aus Leonhard Lessius, De
summo bono et aeterna beatitudine hominis, Antwerpen 1615. Weniger
Genaues zum Thema findet man in dem einschlägigen (sonst
instruktiven) Kapitel
des Buchs von Morford (s. oben Anm. 169).
(173) Ein gewisser Guil(elmius) Fabricius Noviomagus
Apostolicus ac Archiducalis librorum Censor: Man lese sein geradezu
mit Begeisterung geschriebenes Imprimatur zu ‚De constantia‘ (Opera
1675 [wie oben Anm. 165] IV 2, p. 612).
(174) Opera 1675 [wie oben Anm. 165] p. 821
(175) Mit der Metapher wird die Vorrede von Lipsius selbst
zitiert, wo er sagt, sein Ziel sei es, dem Leser facem aliquam ad
ANNÆUM
SENECAM [..] praelucentem zu geben, [...] neque hercle
suscitare [...] veterem & sepultam sectam, quam ævum
& ratio tulit [offenbar = sustulit], nostra
imprimis religio, cui fateor hanc [...] non undique concordem
aut amicam (Opera 1675 [wie oben Anm. 175] IV 2, p. 617).
(176) Noch ich, der ich mich zur Kirche des Augustiners Luther
bekenne, habe im Konfirmandenunterricht gelernt, meine vornehmste Sorge
im Leben
solle sein, dass ich „das Himmelreich gewinne“.
(177) Zwar behauptet er von der gens Stoicorum: [...] non
aliam homines ad ætherea illa & æterna traxisse magis
(De const. I 18,in: Opera 1675 [wie oben Anm. 165] IV 2, p. 556), aber
nicht in dem Sinn, dass sie die Menschen auf das Jenseits ausrichten
würde, sondern dass sie die maiestas und prouidentia Gottes in
besonderer Weise
zu würdigen verstehe.
(178) Bezeichnend ist, wie er in dem Abschnitt von ‚De
constantia‘, der über die Strafen Gottes geht, die (für den
Christen doch entscheidenden) Jenseitsstrafen nur erwähnt, um sie
zu übergehen (II 15, in: Opera 1675 [wie oben Anm. 165] IV 2, p.
587): Adde jam huc Postumas illas & æternas pœnas: quas
è mediâ Theologia posuisse mihi satis sit, non evolvisse.
(179) Wenn Lipsius in der ‚Manuductio’ II 13-20 die Lehre vom summum
bonum in rein stoischem Sinn ausführlichst vorträgt,
setzt
er diese am Schluss nicht etwa von der christlich-augustinischen
Auffassung
ab, sondern versucht, ganz kurz und mit ein paar wenigen
herausgerissenen
Bibel- und Väterzitaten ihre Übereinstimmung mit derjenigen
der
nostri, d.h. dem Christentum, darzutun (Opera 1675 [wie
oben Anm. 165] IV 2, p. 731 f.).
(180) Diese Orthodoxie macht den Brief
paradoxerweise sogar weniger religiös, als er hätte sein
können. Der „standhafte“ christliche Stoiker, wie ihn Lipsius als
Ideal hinstellt, zieht ja seine
Kraft vor allem aus dem Bewusstsein, dass alles, auch alles Leiden, von
Gott
stammt, in Einklang mit dessen providentia steht, der es sich
unterzuordnen gilt. Gerade diesen frommen Gedanken hat Jephtis nicht:
Augustins Jenseits hat sich in ihrem Brief geradezu auf Kosten des
lipsianischen Gottesvertrauens durchgesetzt.
(181) Zu fragen bleibt natürlich, warum Bidermann
überhaupt einen solchen Stoff gewählt hat. Vgl. oben Anm. 18.
- Hingewiesen sei vorläufig immerhin auch darauf, dass die Art,
wie Bidermann seine Jephtis darstellt, dem Ganzen seines zweiten
Heroidenbuchs eine Dynamik gewissermaßen zunehmender
Gottgläubigkeit gibt. Auf die noch ‚gottlose’ Jephtis (1) folgt
die Königin von Saba (2,3), die bei Salomon vom Heidentum zum
Monotheismus konvertiert; Judith (4) und Esther (5) sind dann
gläubige
Jüdinnen, die sich gegen die Heiden mannhaft für ihr Volk
einsetzen;
der jüngste Makkabäer wird nach dem Wunsch seiner fanatisch
gläubigen
Mutter (6) für seinen Glauben einen Märtyrertod sterben, der
in
deutlichem Kontrast zur Hinrichtung der Jephtis steht (vgl. oben Anm.
142).
(182) Harald Burger: Jakob Bidermanns ‚Belisarius‘: Edition
und Versuch einer Deutung, Berlin 1966, S. 11,V. 63 -66 (Fortuna
spricht:) [...] sentiunt me principes, / Regésque fascibus
etiam accidunt meis: / Metuunt Supremi & imi, Ego hominum
neminem; / Sed servio uni & et subsum Providentiae.
(183) Zu Fortuna und Providentia ausführlich Burger (wie
oben Anm.182) 140-145, 151 f.; Lenhards (wie oben Anm. 164, S. 21-36)
in Polemik gegen Burger vorgetragene These, Fortuna sei identisch mit
dem Satan, ist gänzlich abwegig.
(184) Vgl. dazu den Aufsatz von Busch (wie oben Anm. 141), bes.
S. 89 ff. und jetzt die z.T. nicht unproblematische Abhandlung von
Erwin Hachmann, „Der fortuna-Begriff in Senecas Epistulae morales“,
Gymnasium 107, 2000, 295-319 (mit Lit., leider ist
Busch nicht berücksichtigt). Was Lipsius in De const. I 17
über das
fatum sagt (Opera 1675 [wie oben Anm.165] IV 2, p. 552),
liegt
ganz auf Senecas Linie.
(185) Dazu Burger (wie oben Anm. 182) 151-154. (Dieselbe Deutung
seines Schicksals gibt Belisarius auch in einem Brief von Bidermanns
‚Heroum
epistulae‘; dieser dürfte also derselben Zeit entstammen.) Was
Jean-Marie
Valentin gegen diese Auffassung bzw. über sie hinaus vorbringt
(„Die
Jesuitendichter Bidermann und Avancini“, in: Harald Steinhagen / Benno
von
Wiese [Hg.], Deutsche Dichter des 17. Jahrhunderts, Berlin
1984,
385-414, dort S. 394 f.), überzeugt nicht recht.
(186) Von Christlichem abgesehen: Dass „Gottes Mühlen
langsam mahlen“ ist ein schon altgriechisches Sprichwort, und von
Plutarch gab es eine einschlägige Schrift ‚De sera numinis
vindicta’.
(187) De const. II 13, in: Opera 1675 (wie oben Anm.
165)
IV 2, p. 584 f.
(188) Ich behandle das Werk detaillierter in „Balde auf der
Bühne: zum dramatischen Werk des Jesuitendichters“, demnächst
in den Akten
des II. Symposions zur Münchner Theatergeschichte. Eine
ausführliche, aber vielfach problematische Interpretation gibt
Heidrun Führer, Studien zu Jacob Baldes Jephtias: Ein
jesuitisches Meditationsdrama aus der Zeit
der Gegenreformation, Lund 2003. Sonstige Literatur auf meiner
Balde-Homepage: www.klassphil.uni-muenchen.de/~stroh/balde_lit.htm
unter V. Nr. 103 ff.
(189) Abgedruckt bei Jean-Marie Valentin, „Hercules moriens.
Christus patiens: Baldes Jephtias und das Problem des christlichen
Stoizismus im
deutschen Theater des 17. Jahrhunderts“, Argenis 2, 1978,
37-72;
vgl. Dünnhaupt (wie oben Anm.24) Balde Nr. 34
(190) Iephtias tragoedia, Amberg 1654 (danach wird
zitiert); später in: Opera poetica omnia, München
1729 (Ndr. hg.
von Wilhelm Kühlmann / Hermann Wiegand, Frankfurt/M. 1990,) Bd. 6,
1-193 (bei Dünnhaupt [wie oben Anm. 24] Nr. 22.I)
(191) Vgl. Schäfer (wie oben Anm. 5), bes. S. 201-218
und Sabine Müller, Jacobus Balde und die Stoa,
Staatsexamensarbeit München 1985. Vgl. auch oben Anm. 158.
(192) Richtig hierin, gegen den Versuch stoischer Deutung durch
Valentin (wie oben Anm.189), Barbara Bauer, „Apathie des stoischen
Weisen oder Ekstase der christlichen Braut? Jesuitische Stoakritik und
Jacob Baldes Jephtias“, in: Sebastian Neumeister / Conrad Wiedemann
(Hg.), Res Publica Litteraria, Bd. 2, 453-474, bes. 461 f. -
Nur in den ersten Reden der großen Szene mit ihren Freundinnen
(IV 2, p. 104 ff.) bringt Jephtes Tochter zur Begründung ihres
Todesmuts einige stoische, vor allem an Seneca anklingende Gedanken.
(193) Besonders im großen Entscheidungsmonolog Jephtes (IV
1), im Gespräch Menulemas mit ihren Freundinnen (IV 2) und den
Botenberichten des letzten Akts (V 1-4). Nie wird allerdings (wie z.B.
bei Buchananus)
die Rechtmäßigkeit der Opferung mit ernstlich theologischen
Argumenten in Frage gestellt: In Jephtes Entscheidungsmonolog geht es
weniger um die
Frage, ob er die Tat tun soll, als vielmehr, ob er dazu die seelische
Kraft
aufbringt.
(194) Vgl. die Prolusiones der Ausg. von 1654 (wie oben
Anm. 190), bes. S. 1 f., 12 ff.
(195) Soweit richtig Führer (wie Anm. 188) 52 f.
(196) N. Serrarius, Iudices et Ruth explanati, Mainz 1609
; I. Salianus, Annales Ecclesiastici veteris testamenti, Paris
1616
(von mir benutzt: Köln 1620)
(197) Zur Geschichte der Exegese vgl. etwa Karl Suso Frank,
„Hoheslied“, Reallex. f. Ant. u. Christ., Bd.16 (1994) 58-87.
(198) Dass er dabei, wie es sich gehört, zum Monotheismus
übertritt, erinnert an die (Salomo bewundernde) Königin von
Saba, die Heldin der auf den Jephtisbrief folgenden zwei Episteln bei
Bidermann (vgl. oben Anm. 17).
(199) Dabei entfaltete er übrigens auch beachtliche
prophetische Fähigkeiten: So weissagte er der Tochter von
Pfalzgraf Philipp Wilhelm bei ihrer Geburt (1653) zutreffend, dass kein
Geringerer als der Kaiser
sie zur Frau und Mutter machen werde (Georg Westermayer, Jacobus
Balde,
sein Leben und seine Werke. Eine literärhistorische Skizze,
München 1868 [neu hrsg. v. Hans Pörnbacher und Wilfried
Stroh, Amsterdam /
Maarssen 1998], 205-207).- Vgl. zu diesem Komplex Beate Promberger,
Die
Enthusiasmen in den lyrischen Werken Baldes von 1643, Diss.
München
1995 (vorläufige Veröffentlichung: Microform-Dissertation,
Ketsch
bei Mannheim 1998).
(200) Ein förmliches Gelöbnis, dessen Entsprechung zum
(die Handlung einleitenden) Gelöbnis des Jephte auch durch das
Metrum
(Hexameter statt des dramenüblichen jambischen Trimeter)
unterstrichen
wird.
(201) Vgl. bei Bidermann V. 238 Abramio [...] tuta
sinu, 242 neptes. Im übrigen klingt der (eher
unkeusche) Schluss der Cynthiarede in Properz 4,7 an (V. 94
mecum eris et mixtis ossibus ossa teram).
(202) Bes. III 1, p. 74-76 ; IV 1 p. 100.
(203) p. 109 [...] auditur blanda jocosæ / Vocis imago.
Vgl. bei Bidermann V. 127 garrula vocis imago.
(204) Vgl. bei Bidermann V. 131 f.
(205) Hier erscheint auch das Argument, dass Menulema ihren Vater
zum Verbrecher mache (bei Bidermann V. 177 f.).
(206) Während sie dieses Elysium mit den aus Vergils
sechstem Aeneisbuch (V. 640 ff.) bekannten Farben ausmalt (p. 111
Est alius aër, alia lux post funera etc.), schwelgen ihre
Freundinnen in
den üblichen trübseligen Unterweltsvorstellungen (Styx,
Charon
usw.) – von Menulema als figmenta (p. 113) gegenüber der
wahren
Lehre der Patres abgelehnt!
(207) Dies verbindet sie natürlich am meisten mit Bidermanns
Jephtis.
(208) Diese dreifache Liebe zeigt sich sofort in Menulemas erster
Szene (II 6), wo sie zunächst in Sorge ist um ihr vom
übermächtigen Feind bedrängtes Volk (p. 54), dann ihre
Hoffnung allein auf Gott setzt (p. 54 f.) und schließlich
trotzdem um ihren Vater fürchtet (p. 55): Ergóne nigris
vecta tenebrarum rotis / Ades hora tandem!
dulce post Deum [!] mihi / Raptura, patrem, præ meo
carum caput!
/ Vtinam remittant bella viuum! – worauf sie selbst für einen
Augenblick, wie eine Soldatin des heutigen Israel, ihn in die Schlacht
begleiten will (was ihr dann Ariphanasso gewissermaßen als
Ersatzmann abnimmt).
(209) Natürlich mit Anspielung auf Horazens berühmtes dulce
et decorum est pro patria mori (carm. 3,2,13).- Im selben Sinn sagt
Menulema etwa zwanzig Verse später: Patriæ, triumpho,
quique
donauit, Deo / Libens meum propino sanguinem, und kurz darauf:
[...]
si recusem, ne malum / In te, Pater, redundet; is demum est timor.
(210) In der der fatalis occursio vorausgehenden Szene
(III 1) vergießt sie Tränen und klagt ausführlich
über das Schicksal des Isaak, dessen Opferung sie selber
ahnungsvoll in ein Tuch
gewebt hat (p. 73-76), ein Sinnbild unstoischster misericordia,
ja
miseratio.
(211) In ihrer Golgathavision (IV 2, p. 115) sieht sie ihn so:
sic amans (!), sic innocens, / Sic virgo mecum occumbet.
(212) Der Versuch Führers
(wie oben Anm. 188), Baldes ,Jephtias’ als gegenreformatorisches
Meditationsdrama zu deuten, scheint mir nicht gelungen. Näheres in
der dort (Anm.188) angekündigten Arbeit. Man sieht leicht, dass
die großen Themen des Konfessionsstreits (Rechtfertigungslehre,
Schriftprinzip, Willensfreiheit Sakramente usw.) in beiden Werken keine
Rolle spielen, z.T. natürlich auch gar nicht spielen können.
(213) Der dem Protestantismus zuneigende Buchananus steht, wie
man leicht sieht, gerade in der Darstellung der Jephtetochter dem
Jesuiten Balde viel näher als dessen Ordensbruder Bidermann.