Wilfried Stroh

Jephtes Tochter bei Bidermann und Balde
Mit Edition und deutscher Nachdichtung von Jacob Bidermann, Heroidum epistulae 2,1*


Zwei Dichtern, deren Werke bis heute zur Weltliteratur gehören, hat Bayerns Gesellschaft Jesu im siebzehnten Jahrhundert die Möglichkeit poetischen Schaffens gegeben: dem Schwaben Jacob Bidermann und dem Elsässer Jacob Balde. Beider Leben verläuft, im Abstand einer Generation – Bidermann ist 1578, Balde 1604 geboren -, auf eine weite Strecke fast aufs Jahr genau parallel, in der von ihrem Orden gewiesenen Bahn.(1) Sie absolvieren, beide in Ingolstadt, zunächst das Philosophiestudium; dann wirken sie einige Jahre als Gymnasiallehrer, was ihnen jeweils die erste Gelegenheit gibt, sich als Dichter hervorzutun: Der 24-jährige Bidermann führt (1602) in Augsburg seinen ‚Cenodoxus‘ auf; im selben Alter veröffentlicht Balde (1628) im Auftrag und Namen der Münchner Jesuiten seinen ‚Panegyricus equestris‘, ein anspruchsvolles Preisgedicht auf einen Augsburger Fugger. Es folgt bei beiden, wiederum in Ingolstadt, das Theologiestudium, darauf eine erneute Tätigkeit am Gymnasium. Dann erst gehen sie verschiedene Wege. Bidermann, der wissenschaftlich Interessiertere von beiden,(2) wird mit 37 Jahren Professor für Philosophie und Theologie in Dillingen; den 34-jährigen Literaten Balde zieht Kurfürst Maximilian I. nach München an seinen Hof, zuerst als Hofprediger, dann als erhofften bayerischen Historiographen. Bidermann beschließt 1639 sein Leben als Ordenszensor in Rom, Balde 1668 als Hofprediger des Pfalzgrafen Philipp Wilhelm in Neuburg an der Donau. Beide veröffentlichen bis zum Schluss ihres Lebens literarische, vor allem poetische Werke.(3)
    Wenn wir beide zur Weltliteratur rechnen, so kennt die Welt doch von ihnen heute nur je einen Teil des Werks: Bidermann ist so gut wie ausschließlich als Dramatiker bekannt;(4) Balde rühmt man, seit ihn Johann Gottfried Herder zumindest für das protestantische Deutschland wieder entdeckt hat, fast nur für seine Lyrik, wegen der er ja als „deutscher Horaz“, Germaniae Horatius, gilt.(5) Diese einseitige Wertschätzung ist ungerecht: Balde hat im Laufe seines Lebens mit einer geradezu absichtlich wirkenden Gründlichkeit fast sämtliche poetischen Gattungen um höchst originelle Werke bereichert; und auch Bidermanns Ruhm beruhte zu Lebzeiten nicht so sehr auf den Dramen (die ja erst postum gedruckt wurden) als auf anderen, publizierten Gedichten. Einer seiner zeitgenössischen Zensoren sagt von ihm: Poemata R.P. Bidermanni [...] recudi merentur. Nam in Elegiis Ovidium, sed castum, in epigrammatis Martialem, sed pium, in Herodiade Virgilium, sed Christianum agnoscere et imitari licet. ( „Die Gedichte Bidermanns [...] verdienen es, wiedergedruckt zu werden; denn man kann in seinen Elegien einen Ovid, aber einen keuschen, in seinen Epigrammen einen Martial, aber einen frommen, in seiner ‚Herodias‘ einen Virgil, aber einen christlichen, anerkennen und nachahmen.“)(6)
    Heute soll uns also eine Elegie des „keuschen Ovid“ beschäftigen, ein Heroidenbrief, den Bidermann der aus dem Buch der Richter bekannten Tochter des Jephte in den Mund bzw. in die Feder gelegt hat, zunächst vor allem darum, weil dies einer der wenigen Stoffe in Bidermanns Werk ist, den auch Balde ausführlich (in einer Tragödie, ‚Jephtias’) behandelt hat,(7) so dass hier einmal ein direkter Vergleich möglich ist (dabei wird natürlich, unserem Jubiläum entsprechend, Bidermanns der Forschung noch unbekanntes Gedicht im Vordergrund stehen).
Zunächst wenige Bemerkungen zu der Gattung des Heroiden- bzw. Heldinnenbriefs. Der römische Elegiker Ovid hatte in seinen ‚Heroides‘ fünfzehn Frauen meist der griechischen Mythologie Briefe an ihre größtenteils entlaufenen oder sonstwie abhanden gekommenen Liebhaber oder Ehemänner schreiben lassen(8) und damit eine neue Gattung kreiert, der vor allem in Renaissance und Barock, wie Heinrich Dörrie in einem bekannten Buch dokumentiert hat,(9) ein überwältigender Erfolg beschieden war: Alle Welt schrieb fiktive Versbriefe, erst in Latein, dann auch in neueren Sprachen; und sogar christliche Dichter versuchten, sich dieser Form für ihre Inhalte zu bedienen. Von den letzteren, soweit sie vor Bidermann geschrieben haben, sind hier vor allem zwei Namen zu nennen, die für ihn wichtig gewesen sein müssen. Der berühmte Protestant Eobanus Hessus veröffentlichte 1514, noch vor der Reformation, seine ‚Heroides Christianae‘ in drei Büchern, Briefe heiliger Frauen, die er 1532 aus mittlerweile lutheranischem Geist zu bearbeiten versuchte;(10) dann erschienen 1574 die ‚Sacrae Heroides‘ des katholischen Niederländers Andreas Alenus, wiederum in drei Büchern, wobei das erste seine Stoffe aus dem Alten Testament, das zweite aus dem Neuen Testament, das dritte aus der Kirchengeschichte nahm.(11) Bidermann variierte die traditionelle Form, indem er zunächst, Antwerpen 1630,(12) ‚Heroum epistulae‘, also Briefe von Männern (meist der kirchlichen, aber auch der profanen Geschichte) publizierte;(13) ihnen folgten acht Jahre später, Rom 1638, unsere ‚Heroidum epistulae‘, deren Verfasserinnen z.T. recht überraschend gewählt sind.(14) Im ersten Buch, das Frauen der ersten beiden Bücher Mosis zu Wort kommen lässt, schreibt zunächst Urmutter Eva drei Briefe an Abel, an Kain und an die Menschheit;(15) dann berichtet Noahs Frau Tyrea von der Sintflut, die erythraeische Sibylle gibt eine rückwärts gerichtete Prophezeiung über den Turmbau zu Babel,(16) und Maria, die Schwester des Moses, erzählt vom Durchzug durchs Rote Meer. Im zweiten Buch folgen Frauen der historischen Bibelbücher, nunmehr echte, aktive „Heldinnen“: die sogleich zu behandelnde Jephtis, Tochter des Jephte, zweimal Candace, die Königin von Saba,(17) Judith, Esther und die Mutter der Makkabäer(18) (es fällt auf, dass fast alle diese Frauen typologische Beziehungen auf Maria oder Christus haben; diese scheinen hier aber vernachlässigt zu werden(19)). Im dritten Buch würde man nun Frauen des Neuen Testaments erwarten, aber diese Stoffe verschmäht Bidermann, wie er im Vorwort andeutet, als schon zu abgegriffen;(20) er lässt statt dessen (in diesmal nur vier Briefen) die allegorische Gestalt der Ecclesia militans in Korrespondenz treten mit der Ecclesia triumphans und der Ecclesia purgans, was aufschlussreiche Kommentare zur Kirchengeschichte, von den antiken Christenverfolgungen (1. Brief) über die Ketzergeschichte (Arius bis Calvin: 2. Brief) bis zu den res nouissimae (Himmelsfreuden und Fegefeuerqualen: Briefe 3 und 4) ergibt. Das Ganze ist also eine Art Heilsgeschichte aus weiblicher (freilich nicht feministischer) Sicht, vom Anfang der Welt bis fast zur Gegenwart; das dahinter steckende theologische Programm, soweit es ein solches überhaupt gibt, bedürfte noch genauerer Erhellung.(21) Wir behandeln den Brief der Jephtis  jetzt als ein für sich stehendes Kunstwerk mit eigener Aussage.
    Der zugrundeliegende Stoff, ist, wie gesagt, dem Buch ‚Iudices‘, 11. Kapitel, entnommen, ein Sujet, das sich, ähnlich wie die Form des Heroidenbriefs, in Renaissance und Barock großer Beliebtheit erfreute, bis hin zu Händels noch heute oft aufgeführtem Oratorium ‚Jephte‘.(22)  Ich gebe den Inhalt kurz mit den Worten von Bidermanns argumentum, nebst einigen Ergänzungen, wieder.

Dabei folge ich, wie bei der Edition der Epistel selbst, dem Erstdruck, Rom 1638,(23)  der, in Deutschland sonst nicht erreichbar,(24)  mir durch Fotografien aus einem Exemplar der Bibliothek der Fondazione Ugo da Como in Lonato zugänglich war.(25)  Er gibt einen offenbar vom Autor selbst betreuten, fast druckfehlerfreien Text.(26)  Ohne Überlieferungswert sind dagegen, jedenfalls nach Her. 2,1 zu urteilen – ich habe andere Briefe nicht kollationieren können -, die in Deutschland öfter vorhandenen postumen Dillinger Ausgaben von 1642(27)  und 1664 (28). Der Text von 1642 ist ein, bis auf minimale Korrekturen der Interpunktion, fehlerhafter Nachdruck der Erstausgabe;(29)  auf diesem wiederum basiert die Ausgabe von 1664, in der immerhin einige leichter erkennbare Fehler, wie es scheint, konjektural (also ohne Rückgriff auf die Erstausgabe)  richtiggestellt sind.(30)  Erst in der um eine (etwas ungelenke, aber nicht verdienstlose) deutsche Übersetzung angereicherten Neuausgabe von Bidermanns „Guldenen Heldenschreiben“ durch den Ordensbruder Georg Franz Friebel, 1704 (deren lateinischer, z.T. auch deutscher Text im 2. Band der „Bayerischen Bibliothek“ von Hans Pörnbacher abgedruckt ist(31)), findet man wieder die Erstausgabe von 1638 berücksichtigt;(32)  eigenen Überlieferungswert hat auch dieser Druck nicht. Ich folge also der Erstausgabe – bis auf wenige, stets vermerkte Abweichungen - genau,(33)  bis hinein in gewisse scheinbare oder wirkliche Inkonsequenzen der Orthographie, Interpunktion und Akzentsetzung.(34)  Wer hier, wie noch heute meist üblich, mit Rücksicht auf die moderne Schreibgewohnheit ändert, läuft Gefahr, einen Teil der vom Autor gegebenen Informationen zu zerstören, und jedenfalls, wenn er keine Angaben zum Original macht, dem Leser die Möglichkeit eigenen Urteilens zu nehmen.(35)

IEPHTIDA puellam, generis domusque spem vnicam, insciens pater, si de hoste triumpharet, Aris(36)  deuouerat. Id votum illa, cùm reduci & triumphanti, infeliciter obuia, serò comperisset; bimestrem à patre victore moram flagitauit, qua, priùs quàm Aris admoueretur, ferales has nuptias deploraret. Impetrauit. Rem omnem ea nutrici suæ, cùm triduum adhuc vitæ restaret, per hasce litteras enarrat.(37)  Lib. Iudicum cap. 11. Serarius ibid.  Sal. ann. mundi 2850.(38)

„Das Mädchen Jephtis (Tochter des Jephte(39)) war die einzige Hoffnung seines Geschlechts und Hauses. Sie hatte der Vater, ohne es zu ahnen, den Altären gelobt, für den Fall, dass er über den Feind [gemeint: die Ammoniter] triumphieren würde. [Die Bibel sagt es genauer: Jephte hatte für den Fall seines Siegs gelobt, das Erste, was ihm bei der Rückkehr aus dem Haus entgegenkäme, Gott als Brandopfer darzubringen.] Als sie ihm nun unglücklicherweise, wie er triumphierend nach Hause kehrte, entgegen kam und zu spät von jenem Gelübde erfuhr, erbat sie von ihrem siegreichen Vater einen Aufschub von zwei Monaten, um, bevor sie an den Altar gebracht würde, diese tödliche Hochzeit zu beklagen. Dies erwirkte sie. [Wir ergänzen aus der Bibel: Zwei Monate ist Jephtis mit ihren Freundinnen in den Bergen, um ihr Klagelied zu singen.] All dies erzählt sie, als sie gerade noch drei Tage zu leben übrig hat, ihrer Amme im folgenden Brief.“(40)  Darin ist impliziert, was jeder von Bidermanns Lesern aus der Bibel weiß: Nach Ablauf der zwei Monate tat Jephte, wie er gelobt hatte; d.h. er schlachtete Gott die eigene, unschuldige Tochter. Ein empörender Stoff, eine Geschichte, die zum Teil schon die älteren Bibelerklärer gegen Jephte aufgebracht hatte: Durfte Jephte ein solches Gelöbnis ausführen? Kann Gott überhaupt so etwas gewollt haben?(41)  Sehen wir, ob oder wie Bidermann mit dem Problem zurecht kommt!


IEPHTIS immolanda, NVTRICI suæ.
    
De patris voto, & Sacrificio.
                                                
LITTERA, quæ sparsis tibi deformata lituris
       Mittitur, est lacrimis pleraque tincta meis.
Non illam Minio debebam pingere. Rebus
       Iste meis aptum se negat esse color.
Parce tuos, NVTRIX, cum legeris, addere fletus:                 5        
       Sat madidam lacrimis fecit ALVMNA suis.
Caussa tamen flendi, quæ sit mihi, iure requiris,
        Quanquam ego, si liceat, iure tacere velim.(42)
Non licet: obstrictam tibi ad omnia ducis alumnam,
        Facta, propinato lacte, secunda parens.                       10    
Iusserat, armatum Genitor moturus(43) in hostem,
        Ad sua cognatam signa coire tribum.
Audita cöiere tuba: patris arma parati
        Sanguine quisque suo, quisque iuuare manu.
At pater, hostiles cuneo maiore phalanges                          15
        Dum videt, & socios non videt esse pares;                        
Arte, ait, vtendum est, cælúmque in vota vocandum:
        Firmius hoc omni milite robur erit.
Si domitum ferro manus hæc mea fuderit hostem,
        Barbaráque imposito presserit arma iugo,                   20
Victima sollennes mihi prima trahetur ad aras,                        
        Obuia quæ patrias prima erit ante fores.
Sic ego te solem, sic vos ego sidera testor:
        Stat, rata postposita soluere vota mora.                                        
Dixit: & illatis ijt agmina in hostica signis,                            25
        Qualis in imbellem fæta(44) leæna gregem.
Arma viríque viris armísque premuntur: & hæret
        Assidua clades clade, cruore cruor.                            
Mille petita gemunt Hebræo corpora ferro,
        Saucia mortifero vulnere mille cadunt.                         30
Mille alios formido fugat. mille, auia cursu
        Vel iuga, vel cæci tramitis antra, petunt.
Denique fusa manus toto vanescere campo,
       Victorique hostes cedere præda suo.
Fama volat, vicisse patrem: fixisque trophæis                    35        
       Ad sua felicem tecta referre pedem.
Quid facerem, voti iam dudum ignara paterni?
       Non reduci plausum, non ego prima, darem!
Prima dabo certè. Iubet hoc pater. Obuia plaudam;
       Et reduci proles oscula pura feram.(45)                         40
Nec mora; bis denæ (legio mihi chara) puellæ
       Instaurant geminos, me præeunte, choros.
Pars quatiunt læto resonantia tympana pulsu,                        
       Pars agitant tremula tinnula sistra manu.
At mihi festa caput crinémque corona premebat,              45
       Implebántque meos munera verna sinus.
His ego venturo genitori floribus omnes
       Prodiga certabam sternere nata vias.                        
Iamque adeò gressu numeris modulantibus apto                        
       Prodierat nostra tota chorea domo,                          50
Eminus, ecce, patrem!  Viso patris ore, videbar
        Exoriente(46)  nouum sole videre iubar,
Cristatus fulgebat apex; galeamque comantem
       Cælato rutilus cinxerat ære calybs.
Argentóque nitens lorica rigebat, & auro:                        55
       Et capulus gladij totus iaspis erat.
Ponè secuta patrem legio, victricibus  armis                        
       Nobilis, hostiles plena trahebat opes.
Omnia plaudebant, festæque sonantia pompæ                        
       Vndique, non solitò(47)  murmure signa dabant.          60
Tunc ego (quis natæ vitio daret improbus?) vltro
       In patris amplexus prima puella ruo.
Prima, sed è socijs vtinam postrema fuissem!
       Nunc perij obsequio præcipitata meo.
Nam mutata simul vidi pallescere patris                           65
       Ora; simul tracto membra rigere gelu:
Et, mea, quæ calidis tuleram patri oscula labris,
       In patrijs sensi frigida facta genis.
Attoniti siluere chori, choreǽque: suúsque
       Destituit plausus tympana, sistra suus.                      70
Obstupui; timidéque gradu, velut icta, represso,
       Me miseram!  exclamo; quod pater Omen habes!
Lumina nunc primo video tua turbida fletu;
       Nunquam aliàs(48)  lacrimis visa madere tuis.
Quicquid id est, capiti noceat cuicunque: reuersum         75
       Omina dum parcant tangere læua patrem.
Sic ego. Sed genitor, ter promere verba parabat;
       Ter nequijt refugo promere verba sono.
Denique suspirans; quid patrem, ait, inscia perdis?
       Interit occursu spes mea résque tuo.(49)                     80
Nam quid agam? Voui. Sunt conscia sidera(50) testes,
       Non ego, fac cupiam, fallere vota queam.
Dixerat. Inde, licet victo remearit ab hoste,
       Mæstior, ac victus si remeasset, erat.
Tum mihi vox (nec enim sum ferrea) faucibus hæsit,         85
       Frigidáque hiberno membra stetere gelu.
Quǽque patris fuerint tam tristia vota, reuoluo:
       Et soluenda quibus sint ea vota sacris.
Non aliter tremui, quam si pendente bipenni
       Iam iam structa meum finderet ara caput.                  90
Circumfusa, patrem, cælúmque solúmque(51) diémque,                    
       Méque mihi, & socium sustulit vmbra chorum.
Verùm vbi, quos animos inopinus ademerat horror,
       Non multo sensi pòst redijsse mihi.                            
Parce metu, dixi: quæ victima quæritur aris,                   95
       Est ea non dubijs mi manifesta notis.
Nempe ea, quæ patrio prior exijt obuia tecto,
       Ense decet patrio victima prima cadat.
Prima cadam: mora nulla. Tamen, si parua precanti,
       Non potis es natæ parua negare pater,                   100
Hoc moritura precor. Sine(52)  plenæ Cornua Lunæ                        
       Antè suas peragant bis repetita vices.
Hic mihi bis denæ sunt, turba simillima, nymphæ,
       Moribus, & chara virginitate pares;
Hoc comitante globo desertos squallida montes             105
       Visam ego & in riguis vallibus hospes ero:
Donec mæsta breues oculis vndantibus annos,
       Et properata rudi carmine fata fleam.
Ipsa meæ fiam Libitinæ præfica: lessúmque(53)
       Ante meos tumulos viua vidénsque canam.              110
Et dabit ipsa mihi (quamuis sint sidera testes
       Scilicet) hanc facilis mi dabit Ara moram.
Annuit illacrimans precibus pater; annuit ara;
       Inuidiam auditæ non meruere preces.
Protinus in montes, socijs comitata, recedo,                   115    
        Et vaga per saltus, quà lubet ire, feror.
Hic, quid agam, nutrix, nemora inter opaca, requiris?
       Aut quibus in studijs triste bimestre teram?
Carmine lugubri fugitiuæ gaudia vitæ,
       Et magnum in lætis rebus INANE, queror.              120
Hos ego nunc facio miseranda poëtria versus:                        
       Non alios numeros nostra poësis habet.                        
Ad numerum Comites, præeo quacunque, sequuntur,                    
       Ínque datos flectunt verba sonúmque modos.
Audit Idumæum nemus; assuetǽque cauernæ                 125
       Voce pari auditum reddere carmen amant;
Vt, nisi nota mihi sit garrula vocis imago,                            
       Ipsa putem casus antra dolere meos.
Sæpe feræ arrectis ceruicibus admirantes
       Virgineum captant aure, probántque, melos.            130
Sæpe suos turtur gemitus, & murmura miscet,
       Déque mea iniussæ clade queruntur aues.
Quin etiam planctus imitantur littora nostros,
       Vda repercussa cum feriuntur aqua.                            
Mutua sic inter lamenta volantibus horis,                         135
       Præcipitatus obit, sole iubente, dies.
Nos vigilem trahimus quacunque sub arbore noctem,
       Pectora dum serus repat in ægra sopor.
Heu! quas ille mihi falsa sub imagine formas                        
       Fabricat, vt crebro terreat ora metu?                        140
Quod mihi cunque semel faciet pater omnibus illud                        
       Iam tantò ante mihi noctibus vmbra facit.
Cernere fumantes videor procul ignibus aras,
       Teláque sacrificum nuda leuare patrem.
Ipsa ego libratæ submitto colla securi,                             145        
       Victima cognata iam ferienda manu.
Mox, velut icta cado: Sed mox erecta, peracti
       Vulneris impressam miror abesse notam.
Viuo equidem, exclamo. Nihil à genitore timendum est:
       Vt velit esse ferus, non tamen esse potest.                150
Sollicitæ accurrunt, me vociferante, sodales;
       Et pauidæ, clamor quid velit ille, rogant.
Hic, errantis adhuc nebula circumdata somni,                        
       Erigor; atque vbi sim, vix satis ipsa scio.
Ex oculis fugit Ara meis; fugit omne verendi                    155
       Sacrificaturo cum patre pegma loci.
Subductísque alijs, ego victima sola supersum;
       Debueram ipsa etiam rapta fuisse mihi.
Ergo iuuat, lacrimas repetito fundere fletu;
       Funeráque alterno plangere nostra choro:                 160
Et precium est operæ.(54)  Sic desinet illa timeri,
       Iam toties iugulo Sica minata meo.
Quid, quod vita potest inamabilis ipsa videri,
       Quæ toties etiam viua perire potest?
Altera quæratur potius; cui nulla minentur                       165
       Funera; quae stabiles certa reseruet opes.
Illa mihi placeat. Quid enim mihi nostra placeret,
       Patris vbi ipse mei me iugulabit amor?
I, nunc, & reduci passis occurre lacertis
       Nata patri. reduce in patre, NOVERCA venit.         170    
Hinc(55)  mihi sæpe meæ comites suadere laborant,
       Vt quacunque fugam coner inire via,                            
Ignotósque petam seruata puella penates,
       Dum patrios fallam non reditura lares.
Nam tua quos, aiunt, mors est habitura triumphos,(56)       175
       Victima sacrifico si patris ense cadas?
Nempe, pater, facies, crudelis vt esse feratur,
        Cogatúrque sua barbarus esse manu.                        
Barbariem potes hanc, potes hanc auertere famam,
       Per maturatam qualibet arte fugam.(57)                      180
Si pius est pater, ipse volet: si sæuus, abire
        Longius à sæuo te genitore decet.                            
Hæc mihi sæpe canunt. Sed sæpe canentibus illis
       Vsque nego, pactam fallere velle fidem.
Sponte mea veniam, socijs deducta choreis;                   185    
       Promptior ad primos quam noua Nupta toros.                    
Ipsa mea mihi serta manu contexta parabo;
       Et spargam salsa colla capútque mola.
Ipsa coronandas ornabo floribus aras;
       Imponámque meis tura Sabæa focis.                       190
Tum, sua ne desint ad flammas pabula, habebit
       Vecta parens humeris ligna, struémque, meis.
Hanc si fortè tuæ mentem reprehendis alumnæ,
       Eius ego specimen non tibi prima dedi.
Isacius dedit antè puer: quem fasce grauatum                 195
       Iusserat ad sacrum tale præire pater.
Si mihi fas, rebus tenues componere magnis;
       Et vetera exemplis sollicitare nouis,                            
Da veniam, Abramio pater vt par fiat Iephtes,
       Forsitan Isacio par & Iephtis(58)  ero.                       200
Scilicet, vt pueris dux ille rudíque iuuentæ
       Quælibet ad patris iussa sequenda fuit:
Sic & virginibus, tenerísque puella puellis,
       Non formidandæ dux ego mortis ero.
Forsan ero. Iam nunc aliquæ didicere sodales              205
       Mascula de tristi funere verba loqui.
Impauidae iam busta vident: pangúntque(59)  canúntque                
       Ridiculos, gignit quos Libitina, metus.
Certè vbi fortunam, quæ me pede calcat vtroque,
       Rebus in his tantum iuris habere vident,                   210
Vt modò florentem formaque annísque puellam
       Ínque domo illustri, & principe patre satam,(60)                     
Præcipitem mutata rotet; celeríque ruina                            
       Immeritam è summo trudat ad ima gradu;
Paullatim renuunt spes affectare caducas,                    215
       Longáque pro fluxis vota dicare bonis:
Et genus, & proauos, fumosísque atria ceris,
       Quásque domus monstrat, quásque recondit opes,
Et formæ illecebras, &, nomen inane, fauores,
       Vix pluris faciunt, quàm facit æra puer:                    220
Ne tanti facienda quidem. Magis illa mereri
       Præmia, quæ nunquam sint peritura, volunt:
Hæc comites iam sola sibi; hæc mihi sola requiro:
       Hæc eadem, ô nutrix, sola require tibi.
Si mortale tamen tibi vis, vt alumna relinquam                   225
       Mnemosynon; missum hoc lugubre carmen habe:
Quod, precor, ipsa legas; & longo more, quotannis
       Omnis in Isacia gente puella canat.                            
Forsitan, & quanti superet mihi temporis vsus,
        Quæris? Habet paucos luna sequestra dies.              230
Cernis, vt impleri properent duo cornua? Cernis,
       Vt tangant metam iam propè, iámque suam?
Sex noctes septemue fluent, cùm tota coibunt,                        
       Et patiens pleni luminis orbis erit :
Ille dies mihi summus erit; finémque laborum,                 235
       Tota mihi nequijt quam dare vita, dabit.
Pòst vbi in Elysium penetrabo libera campum,                        
       Abramio viuam tuta recepta sinu.
Atque ibi, quam genitor mortalibus exiget oris,
       Matris in amplexus, non abigenda, ruam.                 240
Méque ibi Sara parens, ibi me Rebecca, receptam
        Non renuent, neptes inter habere suas.
Quot proauos, patruósque mihi, quot(61)  sanguine iunctos
       Isacidas, vno mors dabit vna loco?
I, pater, & sociæ comites hic eripe vitæ;                         245
       Nil mihi, dum restet tanta ibi turba, rapis.

Vor der Übersetzung soll eine knappe Disposition den Überblick erleichtern :

1-6            Prooemium: „Brief von Tränen entstellt“
7-10          Propositio I: „Erklärung der causa flendi“
11-116      Hauptteil I: Erzählung (Narratio):     „Unglück der Jephtis“
11-34        „Gelöbnis Jephtes“
35-60        „Entschluss zur Begrüßung“
61-92        „Begegnung und erstes Entsetzen“
93-116       „Rede der Jephtis: Todesbereitschaft und Bitte um Aufschub“
117-118      Propositio II: „Darstellung des quid agam“
119-228      Hauptteil II: Beschreibung (Ecphrasis): „Trauer der Jephtis“
119-136    „Klage in der Natur“
137-160    „Angsttraum und Klage“
161-192    „Angstüberwindung: freudige Todesbereitschaft“
193-228    „Tod der Jephtis als Beispiel und Lehre für andere“
229-246    Peroratio: „Jenseitsgewissheit“



IEPHTIS, zum Opfer bestimmt, an ihre AMME

Über das Gelöbnis ihres Vaters und ihre Opferung

Hässlich entstellt ist der Brief, den ich sende, hat überall Flecken:
    Freilich es haben ihn ja   feucht meine Tränen gemacht.(62)
Nicht mit Zinnober und Rot durft’ ich ihn zeichnen:(63)  Das Unglück,
    das ich erdulde, es lässt   fröhliche Farbe nicht zu.
Weine nicht auch noch Du, sobald Du ihn liest, meine Amme;                         5
    schon mit dem üppigsten Nass   netzte Dein Zögling den Brief.
Du aber fragst mich mit Recht, was Ursach mir gebe zum Weinen –
    wahrlich, auch ich hätte Recht,   wenn von der Ursach ich schwieg’!
Aber das darf ich ja nicht, in allem Dir fügsam, Dein Ziehkind;
    denn zum Dank für die Milch   halt ich der Mutter Dich gleich.                    10

Als mein Vater die Schar seines Stammes(64)  dem Feinde entgegen            
    führte, berief er zuvor   alle vereint zum Appell.
Und so kamen sie denn auf den Schall der Trompete; ein jeder
    schenkte ihm gerne sein Blut,   lieh ihm so gern seinen Arm.(65)
Doch wie der Vater nun sah, dass um so viel stärker des Heeres                    15
    Keile beim Feind, so viel   schwächer die Unseren war’n,            
sprach er: „Hier braucht man die Kunst, zum Gelöbnis den Himmel zu rufen; (66)
    stärker als jeder Soldat   ist ja des Himmels Gewalt:
‚Wenn denn mein Arm mit dem Schwert die Feinde besiegt und vernichtet,
    dass das barbarische Volk   willig dem Joch sich bequemt,                         20
dann versprech ich zum heilgen Altar als Opfer zu schleppen,                
    was mir zuerst in den Weg   kommt vor der heimischen Tür.
Sonne, bezeuge mir dies, seid ihr auch, Sterne, mir Zeugen:
    Ohne Verzug, ich beschwör’s,   wird das Gelübde erfüllt!’“(67)
Sprach’s, und gegen den Feind schon richtet zum Marsch er die Fahnen,        25
    wie eine Löwin in Wut   zagende Schafe bedroht.
Mann gegen Mann und Schlag gegen Schlag, es stießen die Waffen
    gegen die Waffen, und Blut   wurde vom Blute getränkt.(68)
Tausende stöhnen da laut, vom hebräischen Eisen getroffen;
    unter dem tödlichen Streich   sinken verwundet sie hin.                               30
Tausende fliehen davon, vom Schrecken gehetzt; auf den Bergen
    suchen sie weglosen Pfad,   suchen in Höhlen sich Schutz.
Endlich sind alle besiegt, wie ausgelöscht von dem Felde;
    und dem Sieger verfällt   als seine Beute der Feind.

Kunde vom Sieg schon flattert voran und meldet, der Vater                           35
    kehre mit glücklichem Fuß,   reich an Trophäen,(69) nach Haus.
Was nur sollte ich tun?  Ich wusste ja nichts vom Gelöbnis:
    Musst’ ich die erste nicht sein,   klatschen zuerst beim Triumph?
„Ja, ich klatsche dem Vater zuerst, so will er’s; entgegen
    lauf’ ich ihm gerne, den Kuss   geb’ ich in Ehren dem Held!“(70)                  40
Alsbald bilden zu Rei’n sich zweimal zehne der Mädchen -
    meine Legion! - und voran   tanz ich dem doppelten Chor.
Manche entlocken den jubelnden Ton der geschwungenen Pauke,
    and’re mit hellerem Klang   lassen die Rasseln(71) erschall’n.
Mir aber drückte ein festlicher Kranz das Haupt und die Haare,                     45
    und es füllten mir hold   Gaben des Frühlings den Schoß.
So mit den Blumen beeilte ich mich, für die Heimkehr des Vaters
    reich zu bestreuen den Weg,   üppig zu schmücken die Bahn.
Und schon hatte das Haus unser schwärmender Reigen verlassen,
    tanzte dahin, zur Musik   fügend im Einklang den Tritt.                               50
Da von der Ferne erblickte ich ihn! Als ob eine neue
     Sonne erhöbe sich hell,   schien mir des Vaters Gesicht.
Glänzend erstrahlte die Spitze des Helms; aus gehämmertem Erze
    wand sich ein rötliches Band   rings um den buschigen Schmuck.
Glänzend von Silber und Gold hell starrte sein Panzer, ein großer                   55
    Jaspis verzierte das Schwert,   diente als Griff ihm und Knauf.(72)
 Hinter dem Vater das Heer; im Glanze der siegreichen Waffen
     schleppt’ es die Schätze des Feinds,   üppige Beute, als Tross.
Überall klatscht man und lärmt. Es brauste dem festlichen Zuge,            
    nicht in gewöhnlichem Ton,   mächtig der Menge Getös’.                           60

Selber stürz’ ich mich vor – wer wehrte es neidisch der Tochter -:
    „Niemand dürfe vor mir   schlingen die Arme um  i h n!“
Erste zu sein ist der Wunsch – ach, wär’ ich die letzte gewesen!
    Dass ich die Pflicht übereilt’,   wurde mir selbst zum Ruin.
Denn ich sah, wie des Vaters Gesicht sich in Blässe verkehrte;                       65
    sah, wie die Glieder zugleich   starrende Kälte durchfuhr.
Ach, mein Kuss, den dem Vater ich gab mit der Glut meiner Lippen,
    wurde, ich fühlt’ es sofort,   schon auf der Wange zu Eis.
Gleich wie vom Donner gerührt, so schwiegen nun Chöre und Reigen;
    stumm war der Pauke Gedröhn,   stumm war der Rassel Getös’.               70
Schrecken erfasst mich; ich weiche zurück voll Angst, wie getroffen:(73)
    „Weh mir!“, rufe ich laut,   „Vater, was deutet dein Blick?
Nie doch sah ich zuvor deine Augen von Trauer befeuchtet;
    nie hatten Tränen den Blick   früher benetzt und getrübt.
Was dies aber auch sei, das Omen mag dem oder jenem                              75
     schaden – dem Vater allein   werde kein Leid prophezeit!“
Also rief ich. Es rang dreimal der Vater nach Worten,
    dreimal(74) wurde er stumm,   floh von der Lippe der Laut.
Endlich doch seufzt er und spricht: „Du tötest den Vater und ahnst nicht,
    dass die Begegnung mit dir   sämtliche Hoffnung mir raubt.(75)                    80
Denn was kann ich noch tun! Ich hab es geschwor’n bei den Sternen.
    Woll’ ich schon trügen, ich muss   treu dem Gelöbnis doch sein.“
Sprach’s, und trauriger war der im Sieg heimkehrende Führer
     als selbst Feindes Triumph   hätte ihn traurig gemacht.(76)
Mir aber stockte – mein Herz ist nicht hart – die Stimme im Halse;                85
    und es erstarrte mein Leib,   plötzlich vor Kälte vereist.
Dachte daran, welch schrecklichen Schwur wohl der Vater geschworen,(77)
    dachte ans Opfer zugleich,   das das Gelöbnis verlangt.
Und so zitterte ich, als hinge das spaltende Beil schon
    über dem Haupt und schon   schlachtete mich der Altar.(78)                       90
Finsternis hüllte den Geist; sie raubte mir Vater und Himmel,
    Erde und Freundinnen mir,   raubte das Licht und mich selbst.

Doch nicht längere Zeit hielt plötzlicher Schreck mich gefangen,
    bald schon kehrte der Mut   samt der Besinnung zurück.
„Fürchte du nichts!“, sprach ich. „Das Opfer, bestimmt dem Altare,              95
     kenn’ ich; die Zeichen sind klar,   zeigen die Wahrheit mir an.
Welche als erste das Haus des Vaters verließ, ihm entgegen,
    sei als die erste geweiht,   Opfer des Vaters zu sein.
Ich will es sein, bald bin ich es auch! Doch wirst eine kleine
    Bitte der Tochter du doch,  Vater, erfüllen zuvor.                                    100
Dieses nur bitt’ ich, dem Tod schon geweiht: Lass zweimal des Mondes
    Hörner sich füllen zum Kreis,   dass sie vollenden das Rund!
Siehst bei mir meiner Freundinnen Schar, so lieb mir und ähnlich,
    zwanzig an Zahl, so wie ich   fühlend und Jungfern wie ich:
Lass sie zur Seite mir sein, wenn nun in die einsamen, rauen                        105
    Berge ich lenke den Fuß,   Tälern und Flüssen ein Gast.
Trauernd bejamm’re ich dort unter Tränen die Kürze der Jahre,
    kunstlos klag’ ich ein Lied   von dem beschleunigten Tod,
singe den Trauergesang, für das eig’ne Begräbnis(79) ein Klagweib;
    vor meinem Ende bereits   spiel’ ich die Totenmusik(80)                           110
Gnade wird selbst der Altar mir gewähr’n, sind die Sterne auch Zeugen:
    Solchen geringen Verzug   wird er gewiss mir verzeih’n.“(81)
Und so fügte sich denn, unter Tränen, der Vater der Bitte,
     fügte sich auch der Altar:   Keiner versagte den Wunsch.
Ich aber eilte sogleich mit den Freundinnen fort ins Gebirge,                       115
     streifte durch Wälder und Au’n,   wie es der Sinn mir gebot.

Fragst Du mich, Amme, jedoch, was nun ich in schattigen Hainen
    treibe und wie mir die Zeit   zwiefachen Mondes verstreicht:
Traurig erklingt mir das Lied von den flüchtigen Freuden des Lebens:
    Selbst in der Mitte des Glücks   herrsche gewaltig das NICHTS.(82)      120
Kläglich ist immer mein Vers, als Dichterin kann ich nur dieses;
    niemals zu anderem Ton    will sich bequemen mein Lied.(83)
So also sing’ ich voran; der Chor in dem nämlichen Takte
    stimmt in die Weise mit ein,   sucht sich den passenden Text.(84)
So vernimmt es der Wald von Iduma; es senden die Grotten                      125
    gern das vernommene Lied   gleich mit der Stimme zurück.
Und wär’ nicht mir bekannt des Echos geschwätziger Nachklang,
    glaubt’ ich, die Höhlen sogar   fühlten voll Kummer mein Leid.
Öfter bestaunt auch das wilde Getier unser Singen, gereckten
    Halses erhascht es den Ton,   freut sich des Mädchengesangs.                130
Öfter vermengen dem Lied auch Täubchen ihr Stöhnen und Gurren,
    und wie aus eigenem Trieb   klagen die Vögel um mich.
Unserer Trauermusik tönt nach das ertönende Ufer,
    schlagen die Wellen zum Strand,   schlagen vom Strand sie zurück.(85)
Ach, so fliegen im Hin und im Wider der Klage die Stunden,                      135
    bis der Tag sich verzieht,   wie ihm die Sonne befiehlt.

Wachend verliegen wir dann die Nacht unter wechselnden Bäumen,
    harrend des Schlafs, der der Brust   endlich erleicht’re den Schmerz.
Wehe, wie bildet er mir viel trügende Formen zur Täuschung!
    Ständige Schreckensgestalt    quält mit Entsetzen den Blick.                   140
Was mir der Vater dereinst wird tun, es tut mir sein Schatten
    jetzt schon in jeglicher Nacht,   waltet zu früh seines Amts.
Und ich erblick’ den Altar mit den weithin qualmenden Flammen,
    sehe die Waffe entblößt,   welche der Vater erhebt.
Und schon schwingt er das Beil, ich reiche den Hals zu dem Streiche;        145
    wie das geopferte Tier   biet’ ich dem Schlächter mich dar.
Stürze dann auch, als träf’ mich der Schlag. Doch bald wieder steh’ ich,
    und ich vermisse die Spur   jeglicher Wunde am Leib.
„Also vergönnt er das Leben mir doch! Was fürcht’ ich den Vater?“,
    rufe ich. „Wollt’ er es auch,   kann er doch grausam nicht sein.“(86)         150
Rufe ich so, dann laufen erschreckt meine Freundinnen zu mir,
    und sie fragen besorgt,   was mich zum Schreien gebracht.
Ich aber tappe verwirrt noch im hüllenden Nebel des Schlafes;
    stehe dann auf und noch kaum   weiß ich den Ort, wo ich bin.
Weit aus dem Auge dann flieht der Altar, das Schreckensgerüste               155
    flieht mit dem Vater zugleich,   der mich zum Opfer erkor.
So ist alles entrückt; nur ich, das Opfer, bin übrig.
    Wär doch auch ich nur zugleich   selber entflohen von mir!
Also erneu’re ich gern mit Tränen das traurige Weinen,
    gerne im Wechsel des Chors   meine Begräbnismusik.                            160

Und es verlohnt auch der Müh’. Bald fürchte ich kaum noch das Messer,
    das ja so oft schon zuvor   drohend der Kehle genaht.
Muss nicht das Leben auch selbst mir minder verlockend erscheinen,
    welches dem Tode so leicht,   auch in der Blüte, verfällt?(87)  
Suche ein anderes Leben mir gern, das befreit ist vom Tode,                       165
    das mir den festen Besitz   dauernder Güter verbürgt.
Solch ein Leben sei mein! Wie könnte nur dieses mir lieb sein,
    das zu des eigenen Bluts   Mörder den Vater bestimmt?
„Lauf nur, lauf ihm entgegen, dem Vater mit offenen Armen!
    Kommt dir der Vater nach Haus,   wird er dir STIEFMUTTER sein!“(88) 170
Öfter bemühen sich wohl die Gespielinnen, mich zu bereden,
    dass auf beliebigem Weg   Heil ich mir suche durch Flucht,
dass in der Fremde ein Haus ich gewinne zur rettenden Wohnung
    und, die Rückkehr verschwor’n,   täusche den heimischen Herd.(89)
„Glaube nicht,“ sagen sie dann, „dein Tod sei herrlich und glorreich,             175
    wenn dich der Vater erschlägt,   wenn du als Opfer ihm fällst.
Dieses bewirkst du allein, dass dein Vater als gräulich und grausam
    gelte der Welt: Dein Tod   macht als Barbar ihn bekannt.
Wehre so schändlichem Ruf und lass zum Barbar ihn nicht werden.
    Rette mit schleuniger Flucht   dich und den Vater mit dir!(90)                     180
Ist er denn fromm, so will er dies selbst. Doch wäre er furchtbar,
    musst du noch schneller entfliehn   furchtbaren Vaters Gewalt.“
So tönt häufig ihr Lied; doch so häufig das Lied sie auch singen,(91)
     sage ich: Nein - denn ich will   treulich bewahren mein Wort.
Selber dorthin will ich zieh’n, von dem Reigen der Mädchen geleitet,           185
    freudiger als eine Braut   gerne zur Hochzeit sich schickt.
Selber auch winde ich mir mit den Händen des Kranzes Geflechte,(92)
    streu mir auf Nacken und Haupt   selber das heilige Salz.(93)
Schmücke auch selbst den Altar mit den festlichen Kränzen und Blumen;
    Weihrauch von Saba dem Herd   gebe ich, der mich verzehrt.                 190
Dass es der Flamme auch nicht an der nötigen Nahrung gebreche,
    trag’ ich auf Schultern das Holz,   schichte es selber zum Stoß.(94)

Willst Du mir’s, Amme, verwehr’n? Missfällt Dir die Absicht des Ziehkinds?
    Hab ich als Erste doch nicht   solche Gesinnung gezeigt!
Isaak tat mir’s zuvor: Es schnürte zum Bündel der Vater                              195
    Reisig dem Sohn, und voraus   schritt zu dem Opfer das Kind.(95)
Sei mir’s erlaubt, die bescheidene Tat zu vergleichen der großen,(96)
    was uns die Alten vererbt,   neu durch Exempel zu mehr’n.
Dieses verzeih’: Wie Jephte, der Vater, dem Abraham gleiche,
    dass ich, Jephtis, dem Sohn   Isaak tue es gleich.                                      200
Isaak war für die Schar der Knaben, die Jugend, der Führer,
     lehrte sie, wie man getreu   Vaters Befehle befolgt.
So auch möchte ich sein, als Mädchen den Mädchen und Jungfraun
    Lehrerin, wie man des Tods   Grauen und Ängste bezwingt.
Und ich werd’ es vielleicht. Schon manche der Freundinnen lernten,              205
    gegen den Schrecken des Tods   tapfer in Worten zu sein.
Gräber entsetzen sie nun nicht mehr; sie dichten und singen,
    wie Libitina umsonst   grässliche Ängste uns schafft.
Freilich, erblicken sie mich, die Fortuna nun tritt mit den Füßen –
    herrscht sie ja über die Welt   mächtig an Recht und Gewalt -,                   210
mich, die ich früher geblüht in der Frische und Schönheit der Jugend,
    die ich, von hoher Geburt,   „Vater“ den Herrscher genannt,
wie Fortuna mit wirbelndem Rad(97) mich Schuldlose jählings
    von der Höhe des Glücks   tief ins Verderben gestürzt,
da verlernen sie bald, nach vergänglichen Dingen zu trachten                         215
    und für flüchtiges Gut   große Gelübde(98) zu tun:
Ahnen und adlig Geblüt(99) und des Atriums rauchige Masken,(100)
    Schätze, im Hause gezeigt,   Schätze, verborgen im Haus,
Reize der Schönheit zumal, der Beliebtheit entbehrliche Freuden,(101)
    achten sie kaum, wie ein Kind   kupferne Münzen verschmäht.                 220
Jenes verdient ja die Achtung auch nicht: Das Ewige, Echte,
    das der Vergänglichkeit trotzt,   ist ihr erhabenes Ziel.(102)
Danach streben allein meine Freundinnen, strebe ich selber:
    O meine Amme, auch Du   strebe nach diesem allein!(103)
Suchst Du jedoch zur Erinnerung Dir auch ein irdisches Denkstück,(104)        225
     das dir die Tochter vermacht:   Nimm diesen Trauergesang!(105)     
Lies ihn, ich bitte Dich, selbst: Dann später nach dauernder Sitte
    singe in Isaaks Volk   jegliches Mädchen das Lied.

Fragst Du vielleicht, wie viel mir noch bleibt an Zeit, sie zu nutzen.        
    Wenige Tage nur lässt   mir der verbürgende Mond.(106)                          230
Sieh, wie die Hörner schon fast zum Kreis sich verbinden; o sieh doch,
    wie sie zum Ende mit Macht   streben, zum Ende und Ziel !
Sechs- oder siebenmal kehrt noch die Nacht, dann sind sie vereinigt, (107)
    und der gerundete Mond   strahlt in der Fülle des Lichts:
Jener Tag wird der letzte mir sein und beenden die Mühsal;(108)                   235
    was mir das Leben ja nie   schenkte, das schenkt mir der Tod.        
Hab ich in Freiheit sodann des Elysiums Auen betreten,
    leb’ ich in Abrahams Schoß,   sicher und selig beschützt.(109)
Treibt denn der Vater mich fort aus der Sterblichen Fluren – zur Mutter
    fliege ich dann in den Arm:(110)     Keiner verjagt mich von ihr.                 240
Dort nimmt Sarah, die Mutter des Volks,(111)  mich auf und Rebekka,            
    freudig gesellen sie mich   all ihren Enk’linnen zu.             
Viele der Väter erkenne ich dann, und manch einen Oheim
    find’ ich aus Isaaks Blut,   alle am Tag meines Tods!
Nimmst du auch, Vater, mir fort die Genossinnen hier meines Lebens:         245
    Bleibt mir so mächtige Schar   übrig, so raubst du mir nichts.(112)

 
Der Zeitpunkt des Briefs ist glücklich gewählt. Jephtis schreibt wenige Tage vor ihrer Opferung (V. 233 f.), als sie, mit ihren Freundinnen noch immer in den Bergen, dabei ist, die Bilanz ihres kurzen Lebens zu ziehen. Nicht ebenso gelungen scheint die Wahl der Adressatin: Ihre Amme (nutrix) soll sie angeblich um briefliche Auskunft über ihr unglückliches Schicksal gebeten haben (V. 7 „Du fragst mit Recht, was der Grund meines Weinens sei“). Bidermann macht keinen Versuch zu erklären, wie dieser doch intimsten Vertrauensperson der Jephtis die Ereignisse der vergangenen Wochen bisher unbekannt geblieben sein könnten. Aber in diesen Dingen scheint er auch sonst sorglos: Im Gegensatz zu Ovid, wo das Briefschreiben der Heroiden jeweils sorgfältig motiviert wird,(113)  ist die Briefform bei Bidermann oft nur ein Vorwand, um bestimmte Dinge darzustellen.
Insgesamt ist die Epistel, deren Länge Ovids Heroidenbriefe um einiges übertrifft, recht sinnfällig in zwei fast gleich große Hauptteile gegliedert, die jeweils durch eine Art propositio mit Bezugnahme auf eine Frage der Amme eingeleitet werden. Im ersten Teil (11-116), einer narratio, erzählt Jephtis die Ereignisse vom Gelöbnis ihres Vaters bis zum eigenen ersten Todesentschluss; im zweiten (119-228), einer ecphrasis bzw. descriptio, beschreibt sie ihr gegenwärtiges Leben in den Bergen.
Der Brief beginnt mit dem aus Ovid wohlbekannten Prooemien-Topos der Tintenflecke, die von den Tränen der Briefschreiberin stammen sollen.(114) Der Erklärung eben dieser Tränen soll nun der ganze Brief dienen (was aber, wie wir sehen werden, nur für dessen ersten Teil gilt). Die folgende narratio (von V.11 an) nimmt dann ihren Ausgang von der Situation vor der Entscheidungsschlacht, wobei Jephtis diese Dinge von einem objektiven oder, wie man heute sagt, „auktorialen“ Erzählerstandpunkt aus referiert - ohne dass Bidermann anzudeuten bemüht ist, woher sie das alles wisse oder wissen könne. (Auch diese Nachlässigkeit scheint für den Dichter charakteristisch; so schildert sogleich im ersten Heroidenbrief Eva die Geschichte von der Erschaffung der Welt aus dem Nichts: Vorgänge also, die sie eigentlich nur in der Bibel gelesen haben kann – wenn sie ihr nicht etwa Gottvater persönlich in einer Mußestunde erzählt hat.) Jephte also, Heerführer der Israeliten, sieht, dass die Ammoniter zahlenmäßig überlegen sind und beschließt seine Zuflucht zu dem fatalen Gelöbnis zu nehmen (dessen Formulierung wird uns noch später beschäftigen). Dem Versprechen folgen Schlacht und Sieg, dessen Kunde bald auch zu der Tochter dringt. Anschaulich und in lebhafter Vergegenwärtigung – hier kann Bidermann mit einem kleinen Theatermonolog (37-40) stilistisch brillieren - schildert Jephtis ihre Freude und den unwiderstehlichen Drang, dem Heldenvater mitsamt ihren Freundinnen entgegenzutanzen (37-50).  Sie sieht ihn auch schon von ferne, leuchtend wie die aufgehende Sonne: Sie muss die erste sein, den Vater zu begrüßen (51-64): Ach, er erblasst bei ihrer Umarmung, und er weint – zum ersten Mal! Verschüchtert fragt sie nach dem Grund (65-76).
Bidermann, versierter Dramatiker, lässt Vater Jephte zunächst dreimal vergebens nach Worten ringen; erst als die Tochter noch einmal in ihn dringt, gelingt es ihm, das herauszubringen, was ihm zum Teil schon die Heilige Schrift euphemistisch verhüllend in den Mund legt: „Weh, du betrügst mich und dich um unsere Hoffnung! Ich habe gelobt, und muss mein Gelübde erfüllen“ (77-82). Seine Tochter Jephtis ergreift nun, als sie diesen Worten des Vaters nachsinnt, das kalte Entsetzen und sie fällt in eine (höchst anschaulich beschriebene) Ohnmacht (83-92). Aus dieser wieder erwacht, weiß sie intuitiv –Bidermann strapaziert hier die Gläubigkeit des Lesers nicht mehr als schon der biblische Bericht(115)-, dass sie, Jephtis, weil sie als erste das Haus verlassen hat, am Altar als erkorenes Opfer sterben muss (93-98). Und so bittet sie nur noch darum – Bidermann folgt wieder genau der Bibel – zwei Monate lang mit ihren Freundinnen in den Bergen ihren allzu frühen Tod beweinen zu dürfen (99-112). Der Vater gestattet ihr, obwohl er einen sofortigen Vollzug des Opfers versprochen hatte, diesen Aufschub: Jephtis geht ins Gebirge (113-116).
So weit scheint, zumindest bei oberflächlichem Hinsehen, dieser erste Teil des Briefs nicht viel mehr als eine lebhafte Veranschaulichung und Ausgestaltung der biblischen Erzählung zu geben, nicht völlig, aber doch weithin aus der Sicht der Hauptbetroffenen. Der nun folgende zweite Teil, angeblich ebenfalls auf eine Nachfrage der Amme geschrieben (117-118), bringt nun aber im Gegensatz dazu einige Überraschungen, auf die der Bibelleser nicht gefasst sein kann. Zunächst beginnt Jephtis, wie erwartet, mit der Schilderung ihrer und ihrer Freundinnen Klage, an der auch – ein Motiv der Bukolik, das Bidermann sehr gefühl- und wirkungsvoll abwandelt(116) – die ganze Natur teilnimmt: Die Höhlen klingen wieder vom Echo des Trauerchors, sogar Vögel, wilde Tiere und Flüsse hören staunend zu, ja stimmen ein, bis zum Kommen der Nacht (119-138). Diese bringt Jephtis, wie leicht zu verstehen, Angstträume. Immer wieder glaubt sie, am Altar den tödlichen Streich zu empfangen. Aber, noch im Traum, stellt sie immer wieder auch fest, dass sie unverletzt ist und sie bricht in laute Freudenschreie aus. Die Freundinnen, die diese Rufe hören, eilen herbei, fragen nach der Bedeutung; jetzt erst kehrt der noch Traumseligen allmählich das Bewusstsein ihrer Lage zurück. Das Erlebnis der Wirklichkeit löst nun neue Klagegesänge aus (139-160).
Nun kommt das Unerwartete. Wie Jephtis plötzlich feststellt, hilft ihr der Traum, der sich ja öfter wiederholt, ihre Angst zu überwinden. Mit einem Mal scheint ihr nun auch das Leben selber nicht mehr so liebenswert (163-170, über diese Partie wird noch zu sprechen sein). Jephtis beginnt sich in eine förmliche Todesbegeisterung hineinzusteigern. Wenn ihr die Freundinnen den menschlich verständlichen Rat geben: sie solle doch zu fremden Leuten fliehen, da ihre Opferung ja auch den Vater nur in Misskredit bringen müsste (171-182) – so hört sie nicht zu, sondern besteht auf der Erfüllung ihres Versprechens: Sie selber will sich und den Altar kränzen; sie selber will das Holz zum Opferfeuer tragen (183-192). Isaak, der bereit war, sich von seinem Vater Abraham opfern zu lassen, soll ihr Vorbild sein (193-204).
Nun fangen sogar manche ihrer Freundinnen bereits an, die Todesangst als lächerlich zu verachten und einzusehen, dass man seine Hoffnung überhaupt nicht auf die nichtigen Güter des Lebens setzen darf, vielmehr auf „Werte, die nie vergehen werden“. (205-224, auch über diese wichtige Partie ist später noch zu sprechen). Erst im Schlussteil des Briefs, der peroratio, wird klar ausgesprochen, wo diese Werte zu suchen sind. Nachdem Jephtis ihrer Amme ein selbstverfasstes Klagelied zum ewigen Gebrauch der Töchter Israels ans Herz gelegt hat, kommt sie darauf, dass ihr Tod, der ihr das „Ende der Mühsal“ bringe, nun schon bald bevorstehe (229-236). Dann werde sie sein in Abrahams Schoß, bei so vielen ihrer Vorväter (237-244). Während sie bisher im Brief nur immer die Amme angesprochen hatte, apostrophiert sie (wie in den direkten Reden des ersten Briefteils) in den letzten beiden Versen ihren Vater: „Du kannst mir nichts nehmen, wofür ich nicht vielfach entschädigt würde“ (245 f.).
So christlich auch dieses ganze Finale stilisiert ist – der Trost im Gedanken an die himmlischen Freuden ist ja in der Tat ein zutiefst christliches Motiv, das im jüdischen Glauben des Alten Testaments, von der Jephtelegende zu schweigen, noch kaum eine Rolle spielt(117) -, er darf uns nicht darüber hinwegsehen lassen, dass diese Epistel Bidermanns auf weite Strecken ein nicht nur unchristliches, sondern fast geradezu irreligiöses Gedicht darstellt. Zunächst fällt auf, dass Bidermann die ganze theologische Problematik, die im Zusammenhang des Jephtestoffs von Exegeten und Dichtern diskutiert wurde,(118) ausgeblendet hat. Nicht nur findet sich kein Wort zu dem Problem, ob Jephte überhaupt das Recht gehabt habe, ein so fatales Gelöbnis auszusprechen; auch nicht einmal die noch viel brennendere Frage, ob er seine Tochter denn töten dürfe, ob Gott ein solches Opfer wirklich wohlgefällig sein könne, wird erörtert (wenn wir von der kurzen Andeutung in den Versen 177-182 absehen, wo die Freundinnen der Jephtis die „Barbarei“ des seine Tochter opfernden Vaters tadeln; von Jephtis wird dies als durchsichtiges Sophisma gar nicht erst zur Kenntnis genommen(119)). Man muss nur die wichtigste und bekannteste ältere Bearbeitung des Stoffs, die ‚Jephthes‘-Tragödie des Georgius Buchananus von 1554(120) vergleichen, um zu sehen, was Bidermann hier weggelassen hat. Dort bei Buchananus versucht nicht nur Jephtes Frau, sondern sogar ein leibhaftiger Priester und Theologe in langer Diskussion (4. Akt) den Titelhelden davon zu überzeugen, dass diese Opferung nicht im Sinne Gottes sei; ja auch die Tochter widersetzt sich zunächst der ihr selber widernatürlich scheinenden Tötung und appelliert an das Mitleid ihres Vaters (Akt 5, 90 ff.). Dieser gibt zwar zu, ein törichtes, ja, wie er sagt, geradezu verbrecherisches Gelübde abgelegt zu haben (Akt 5, 104 ff.(121)), glaubt sich aber jetzt den Konsequenzen nicht entziehen zu können; und als schließlich auch seine Tochter einsieht, dass sie ihr Leben dem Vaterland, das ja von Gott eben auf Grund des Gelöbnisses gerettet wurde,(122) schuldig ist,(123) vollzieht er schweren Herzens eine Opferung, an deren Rechtmäßigkeit sogar bis heute die Buchananusphilologen zweifeln(124) (letzteres jedoch, meine ich, zu Unrecht).(125) Diese gesamte theologische Problematik hat Bidermann, wie man sieht, in der Weise ausgeklammert, dass sie dem Leser gar nicht ins Bewusstsein dringt: Weder Jephte noch seine Tochter kommen auch nur einen Moment auf die Idee, dass Gott in seiner Güte den Tod eines unschuldigen Mädchens gar nicht wollen könnte; für beide gilt vielmehr als völlig selbstverständlich: Versprochen ist versprochen.
Nun könnte man erwarten, dass der christliche Heroidendichter Bidermann dafür den unbedingten Gehorsam gegenüber Gott – Gehorsam ist, wie man weiß, die bekannteste, wenn nicht berüchtigste Jesuitentugend – und die Dankbarkeit für die von Gott bewirkte wunderbare Rettung Israels vor den übermächtigen Ammonitern ins Zentrum der Epistel rücken würde. Aber auch davon kann keine Rede sein. Jephtis stirbt weder aus Liebe zu Gott noch zu ihrem Vaterland,(126) sie bringt auch kein stellvertretendes Opfer dar wie die ungleich rührendere Jephtetochter des Buchananus;(127) sie stirbt, weil es nun einmal so sein muss, ohne in ihrem Tod einen tieferen Sinn zu sehen, ja ohne überhaupt an Gott, dem sie doch geopfert wird, zu denken. Gott selber – und das ist das Unglaublichste an diesem sonderbaren Gedicht – kommt hier überhaupt nicht vor, nicht einmal dem Namen nach, in völligem Gegensatz zur Bibel. Betrachten wir die Einzelheiten!
Wenn Jephte daran geht, beim Anblick der übermächtigen Ammoniter sein fatales Gelübde auszusprechen, tut er dies nicht etwa im frommen Gebet „Herr Gott, jetzt kannst nur du noch helfen: Dir gelobe ich  usw.“. Vielmehr sieht er sein Gelöbnis als eine Art Kunstgriff (ars) an, um sich die Hilfe des „Himmels“, wie es recht vage heißt, zu sichern (V. 13 Arte, ait, vtendum est, caelúmque in vota vocandum).(128) In der Bibel war es dagegen Gott selber, nicht eine Überlegung Jephtes, der das Gelöbnis auslöste (Iud. 11,29 factus est ergo super Iepthae spiritus domini [...]). In der Bibel wird Gott von Jephte auch beim Gelübde angerufen, von ihm wird der Sieg erbeten (a.O. 30 votum vovit Domino dicens „Si tradideris filios Ammon“ etc.) Nichts davon bei Bidermann. Sein Jephte redet weder Gott an, noch heißt es, dass er auf ihn seine Hoffnung setze; nicht einmal als Empfänger des Opfers wird Gott genannt, obwohl er ja eigentlich gemeint sein muss (17-20): „Wenn meine Hand den Feind mit dem Eisen hingestreckt hat [...], soll das mir zuerst als Opfer vor den heiligen Altar geschleppt werden, was mir zuerst vor dem väterlichen Haus entgegenkommt.“ Und sogar in der Schwurformel wird der Gottesname gemieden und durch die als Zeugen aufgerufenen Sonne und Sterne ersetzt (23).
Dementsprechend ist bei Bidermann, wiederum im Gegensatz zur Bibel, auch nicht davon die Rede, dass Gott es gewesen ist, der die Ammoniter geschlagen hat (a.O. 32 quos tradidit Dominus in manus eius); und sogar in der ganzen großen Szene, wo Jephtis die schreckliche Wahrheit über das Gelöbnis und ihr Schicksal erfährt, wird sein Name nicht genannt. Während der Jephte der Bibel ausruft (a.O. 35): aperui enim os meum ad Dominum et aliud facere non potero, spricht er bei Bidermann wieder nur von einem bei den Sternen geleisteten Eid, dem er entsprechen müsse (81 f.): „Denn was soll ich tun? Ich habe es gelobt. Die Sterne sind meine Mitwisser und Zeugen (Sunt conscia sidera testes). / Ich könnte, selbst wenn ich es wünschte, mein Gelöbnis nicht betrügen.“ Entsprechendes gilt für Jephtes Tochter. Während sie nach Erzählung der Bibel erkennt, dass Gott, weil er Israel den Sieg geschenkt hat, Anspruch auf Erfüllung des Gelöbnisses hat (a.O. 36: fac mihi quodcumque pollicitus es concessa tibi ultione atque victoria), weiß sie bei Bidermann nichts von Gott, sondern nur unbestimmt, dass sie als „Opfer für den Altar“ bestimmt sei (95 f.: quæ victima quæritur aris, / est ea non dubijs mi manifesta notis). Sogar als sich Jephtis, entgegen dem Wortlaut des Schwurs, der ja ein sofortiges Opfer vorsah, eine Gnadenfrist von zwei Monaten erbittet, ist es nicht Gott, der ihr diese Gefälligkeit konzediert, sondern wiederum der „Altar“, als ob dieser und nur dieser einen Anspruch auf das Opfer hätte. Jephtis sagt (111 f.): „[...] Und obwohl freilich die Sterne Zeugen sind, wird doch auch der Altar mir gnädig diesen Verzug gewähren (hanc facilis mi dabit Ara moram)“; und dem entspricht die Reaktion (113): „Unter Tränen stimmte der Vater den Bitten zu, und stimmte der Altar zu (annuit ara)“! Diese geradezu künstliche Formulierung(129) zeigt mit aller Deutlichkeit, wie Bidermann bemüht ist, den Namen Gottes und mit ihm zugleich sowohl die theologische Problematik als auch die menschliche Anstößigkeit des Jephtestoffs aus seiner Heroidenepistel fern zu halten. Die Peinlichkeit, die auch für Theologen darin lag, dass Gott ein solches Opfer zumindest akzeptierte, wird beseitigt oder scheint doch entscheidend gemildert, wenn hier nur ein anonymer „Himmel“ mit seinen „Sternen“ oder ein unerbittlicher „Altar“ am Werk ist.
    Stirbt aber Jephtis nicht aus Gehorsam oder Dankbarkeit gegen Gott, welchen Sinn hat dann ihr Tod für Dichter und Leser? Sie stirbt, um es vorwegnehmend zu sagen, als eine Philosophin, genauer gesagt: als Stoikerin, die grundsätzlich den Unwert des Lebens erkannt hat und sein Ende mit Gelassenheit hinnehmen kann, als ‚christliche‘ Stoikerin, insofern sie dabei auch an ein Leben nach dem Tode denkt. Vor allem zeigt der Brief, wie auch ein junger Mensch durch philosophische Reflexion die Angst vor dem Tod überwinden, den eigenen Tod freudig hinnehmen kann (man kann zum Vergleich etwa an die Polyxena in den Troiadramen von Euripides und besonders Seneca denken(130)). Während sich Jephtis im ersten Teil des Briefs noch als ein Mädchen gibt, das von der Trauer über sein Schicksal niedergeworfen ist – die von Tränen verursachten Tintenkleckse sind dafür ein sozusagen sichtbares Symbol –, schildert der zweite Teil mit zunehmender Deutlichkeit eine im wesentlichen stoische meditatio mortis,(131) die am Schluss zu einer völligen Seelenruhe, ja geradezu Hochstimmung führt, die, streng logisch betrachtet, in einem nicht auflösbaren Widerspruch zum Anfang steht. (Es ist ja doch kein Grund zu sehen, warum die nach dem Zeugnis des Schlussteils  schon längst getröstete Jephtis ihr Briefpapier mit Tränen wässert.)
Vergegenwärtigen wir uns in nochmaligem, detaillierterem Durchgang die Etappen dieser heilenden Todesmeditation! Die große chorische Klage, mit deren Wiedergabe der zweite, beschreibende Teil des Briefs eröffnet wird (119-136), bleibt als schierer Ausdruck des Schmerzes im Rahmen dessen, was sonst aus Klageliedern in Tragödie und Bukolik bekannt ist; sie scheint zunächst noch keine seelentherapeutische Wirkung zu haben. Wohl aber, wie wir gesehen haben, der im Nachfolgenden erzählte, öfter wiederkehrende Traum, in dem Jephtis ihre Schlachtung durch den Vater, wenn auch mit trügerischem Happy End – sie bleibt ja unverletzt -, voraus erlebt (137-162). Er scheint zwar zunächst nur Anlass zu erneuten, fast lustvollen Klagen zu bieten, dann aber erweist er sich, vielleicht im Verein mit der daraus resultierenden Klage, als eine erste Hilfe zur Überwindung der Furcht (159-162): „So macht es mir also Freude (iuuat), mit erneutem Weinen meine Tränen auszugießen und mein Begräbnis im Wechsel des Chors zu beklagen. Und es ist auch der Mühe wert (precium est operæ): So wird das Messer, das meine Kehle schon so oft bedroht hat, aufhören, mir Furcht einzujagen (desinet [...] timeri).“ Das ist, wenn auch natürlich ohne Absicht und unwissentlich geübt, schon ein Stückchen stoischer praemeditatio: Der Stoiker hat sich ja, um gegen Unglück gewappnet zu sein, alles Widrige, das ihm widerfahren könnte, immer wieder meditativ vor Augen zu halten.(132)  
Für Jephtis wird diese aus Träumen resultierende Beruhigung über ihren Tod Anlass zu weiterem Nachdenken über den Unwert des irdischen Lebens überhaupt (163-170), wobei ihre Überlegungen z.T. paradox scheinen: Das jetzige Leben könne darum nicht verlockend sein, weil es immer vom Tod bedroht sei, wie sich gerade an ihr zeige, welcher der eigene Vater zum Mörder werde. (Durch ihre Opferung entkommt sie also einem Leben, in dem eine so schreckliche Opferung möglich ist!). Andeutungsweise kommt schon hier der, wie wir festgestellt haben, christliche Gedanke an ein glücklicheres Jenseits herein (165 Altera quæratur potius sc. vita). Im übrigen ist die vielfältige Gefährdung des Lebens, aus der nur der Tod erlöse, ein besonders aus den Trostschriften des Stoikers Seneca(133) bekannter Gedanke.
    An Stoisches, besonders an Seneca, erinnert aber vor allem auch die Art und Weise, wie sich Jephtis an ein historisches Exempel hält:(134) Die mutige Todesbereitschaft des jungen Isaak ist ja das Muster (194 specimen, vgl. 198 exemplis), an dem sie sich orientiert (193-200); wie er als Vorbild des Gehorsams gegen den Vater für die männliche Jugend Israels zu einer Leitfigur (dux) geworden sei (201 f.), so hofft sie, durch ihren Tod auch selber ein solches Vorbild zu werden – freilich nicht des Gehorsams (was zu ihr ja nicht recht passen würde), als vielmehr des Todesmuts (203 f.): „... so werde ich den Jungfrauen und zarten Mädchen eine Führerin darin sein, dass der Tod nicht zu fürchten ist“ (non formidandæ dux ego mortis ero). Ähnlich hat, in Senecas Darstellung, der Stoiker Cato seinen Freitod als vorbildliches Schauspiel gestaltet;(135) ähnlich hat Seneca selber, der auch sonst „Vorbild“ (exemplum) sein wollte,(136) sein eigenes Sterben, nach dem Vorbild des Sokrates, höchst eindrucksvoll und theatralisch als ein Muster für die Nachwelt inszeniert.(137) Der Tod der Jephtis ist ganz in seinem Geiste und, dürfen wir vielleicht hinzufügen, im Geiste des aus Seneca inspirierten Barocktheaters, welches das vorbildliche Sterben, vor allem der Märtyrer, zu einem seiner Lieblingsthemen gemacht hat.(138)
    Aber der Brief wird noch spezieller stoisch: Jephtis darf, wie sie dem Bekenntnis ihrer Todesbereitschaft sogleich hinzufügt, noch zu Lebzeiten die Freude erfahren, dass sich andere an ihr ein Vorbild nehmen: Einige ihrer eigenen Freundinnen, schreibt sie, begännen schon jetzt (205 Iam nunc), den Tod mit Verachtung zu behandeln. Und nicht nur ihn! Wenn sie am Beispiel der von der Fürstentochter zum Opfertier degradierten Jephtis gewahr werden, wie rasch sich im Leben größtes Glück in größtes Unglück wandeln kann, dann wird ihnen auch klar, dass die von der Glücksgöttin Fortuna geschenkten äußeren Güter – genannt werden Schönheit (211, 219), Adel (212, 217), Reichtum (218) und Ansehen (219) – überhaupt keinen wahren Wert haben können, dass es sich nicht lohnt (215 f.), „auf Hinfälliges zu hoffen und für solche vergänglichen Werte weitreichende Wünsche zu äußern (spes affectare caducas, / longáque(139) pro fluxis vota dicare bonis).
Diese große Partie (209-222) enthält, ein großes Stück weit, die von Seneca so oft behandelte Güterlehre der Stoa.(140) Alle äußeren Güter, alle Dinge, über die der Mensch nicht wirklich verfügen kann, sind letztlich wertlos, Adiaphora, die der Zufall bzw. Fortuna(141) schenkt und wieder nimmt: Güter des Körpers, des Reichtums und der gesellschaftlichen Stellung. Wer auf sie vertraut, liefert sich der launischen Weltregentin Fortuna aus; wer aber, dank eigener Vernunft oder durch große Beispiele gewarnt, ihnen sein Herz entzieht, hat das wahre Gut gewonnen – aber welches? Hier trennen sich nun allerdings entschieden die Wege: Für den heidnischen Stoiker ist die virtus selber, das eben in der Verachtung des Äußeren bestehende Leben nach der Natur bzw. Vernunft, das höchste Gut, welches auch das menschliche Glück garantiert; für die prächristliche Jüdin Jephtis ist dieses Glück im irdischen Jammertal nicht zu finden, sie gewinnt es erst durch den Tod in den Freuden des Jenseits, in Abrahams Schoß (235-238), wo sie, die vom Vater Getötete, mit ihrer Mutter wieder vereint wird und die Gesellschaft Sarahs und Rebekkas genießen darf (239-242). Aber sogar dieses fromme, fast christliche Finale(142) ist nicht ganz ohne heidnisch-stoisches Vorbild. In beiden Trostschriften, die Seneca über den Tod geschrieben hat, wird der Tod nicht nur als Befreier von den Leiden des Lebens gefeiert(143) (was ja noch kein Jenseits voraussetzt),(144) es wird auch ausgemalt, wie die Seele des Verstorbenen, frei von den Banden des Körpers, im Ätherbereich den Anblick des Kosmos genießt; und jedenfalls in der ‚Consolatio ad Marciam‘ wird dabei der Sohn Marcias in die Gemeinschaft der großen Römer, unter die Scipiones Catonesque,(145)  aufgenommen und von seinem eigenen Großvater, dem berühmten Cremutius Cordus, betreut (schon in Ciceros z.T. wohl stoisch inspiriertem Somnium Scipionis fand sich Ähnliches(146)).
Wie dem aber auch sei, es bleibt dabei, dass Bidermanns Brief ein zumindest weithin unreligiöses Gedicht ist, ein Gedicht, aus dem sogar der Name Gottes (der ja überraschenderweise nicht einmal im himmlischen Paradiesesfinale erscheint) ausgeklammert ist. Die Entchristlichung(147) geht, wie wir inzwischen gesehen haben, vielleicht noch ein Stückchen weiter. Wenn für die als partielle Stoikerin dargestellte Jephtis der Tod nichts anderes ist als ein nur vermeintliches Übel, das es, wie alle äußeren Übel und Güter, mit Verachtung zu strafen gilt, so entspricht dies nicht völlig dem Weltbild der Bibel, bestimmt nicht dem des Alten Testaments (wenn ich mir als Nichttheologe solche Feststellungen erlauben darf). Schon unsere Vater-Unser-Bitte um „das tägliche Brot“, zeigt, dass auch Christen den äußeren Gütern einen Wert zuerkennen; und ganz gewiss tut dies Jephte, wenn er in Israels höchster Not Jahwe um den Sieg anfleht und eben dafür sein fatales Gelübde ablegt (statt sich, wie ein Stoiker, wenn auch nicht ohne aktives Handeln, letztlich in den Willen des Schicksals zu fügen(148)). Weder die Befreiung Israels noch der Tod der Jephtetochter sind im Sinne der Bibel stoische Adiaphora; jene bringt höchstes Glück, dieser tiefstes Leid, das, wenn überhaupt, nur durch die noch tiefere Dankbarkeit gegenüber Gott und die Liebe zum eigenen Volk gerechtfertigt sein kann.
Der Jesuit Bidermann hat, wie wir sahen, diese Sicht nicht übernommen und seine Jephtis zur stoischen Märtyrerin gemacht, deren Hauptleistung, ohne Rücksicht auf Gott, in der Überwindung der Furcht vor einem Tod besteht, der von ihr als ein bloßer Schicksalsschlag empfunden wird. Er hat damit zwar, wie ich meine, der Jephtelegende das Herz ausgebrochen, dafür aber doch ein Gedicht geschaffen, das, vom rührenden Elend seines Tränenprooemiums bis zur Peroratio mit Tod und Verklärung im jüdischen Elysium, eine so hinreißende Dynamik entfaltet, dass man über die logische Unstimmigkeit des Ganzen und einige künstlerische Schwächen im Einzelnen gerne hinwegsieht.
    Meine literarischen und historischen Kenntnisse reichen nicht dazu aus, dieser sonderbaren Epistel im Ganzen von Bidermanns Leben und Werk sicher seinen Platz zuzuweisen. Immerhin fällt auf, dass ihr zumindest partieller Stoizismus, soweit ich sehe, ohne Parallele in den anderen ‚Heroidum epistulae‘ ist. Was haben dem Dichter sonst stoische Ideale und Vorstellungen bedeutet? Aus einem in der Forschung seit über hundert Jahren oft zitierten Brief an seinen Mentor Matthaeus Rader, geschrieben gegen Ende seines Theologiestudiums in Ingolstadt (Anfang Mai 1606),(149) weiß man, dass er bekannte, in früherer Jugend, gegen die Ratschläge Raders,(150) der Lehre des berühmten neustoischen Philosophen und Gelehrten Justus Lipsius angehangen und viel Zeit mit dessen Irrtümern vertan zu haben, ja dass er sich deswegen geradezu schuldig und von Gott bestraft fühlte:(151) Hei mei laboris, hei dierum ac noctium, quas olim inter hos errores malè perdidi. Nihil me, sicut antea iuuat, nil profutura quaerere.(152) Nihil est in Gente Batauâ, quod me hodie delectet; quando tam magno mihi prioris aeui delectamenta constant. Et sentio Pater, hunc mearum aerumnarum fontem esse, in quibus hodiéque diuinitus luo. Iustus omnino DEVS.(153)  Wobei er sich, höchst spektakulär, als ein neuer Heliodor – der gegen Gott frevelnde und von diesem abgestrafte Heide aus dem zweiten Makkabäerbuch (Kap. 3) – inszenieren und der Öffentlichkeit vorstellen will: Ero egómet Heliodorus alter, et testabor omnibus ea, quae sensi etc. Vos si quem habetis hostem, mittite illuc, et contumaciter Lipsianum esse iubete, et flagellatum eum recipietis; si tamen euaserit. Nam quas ego iam inde animo calamitates perpessus fuerim, nouit Dominus DEVS et ij, quibus de mente mea liquidius constat.(!54)
Wenn diese ehemalige, jetzt bestrafte Lipisiusanhängerschaft,(155) wie verschiedene Überlegungen plausibel machen, vor allem in Bidermanns Zeit als Gymnasiallehrer in Augsburg (von Herbst 1600 bis Herbst 1602) gehört,(156) dann hätte sie vielleicht nicht allzu lange gedauert. Denn schon im ‚Cenodoxus’, der Anfang Juli 1602 aufgeführt wurde,(157)  sieht man in der Forschung seit langem nicht nur einen deutlichen Bezug auf das Ideal des Stoikers, sondern zugleich eine gewisse Distanzierung davon. Der gleißnerische Titelheld, der wegen seiner pharisäischen Hoffart schließlich zur Hölle fährt, posiert zumal auf seinem Kranken- und Sterbebett unverkennbar als stoischer Weiser, und zwar geradezu mit Formulierungen Senecas. Vor allem Rolf Tarot in der Einleitung seiner kritischen Ausgabe hat dies detailliert nachgewiesen.(158) Dabei ergeben sich auch gewisse inhaltliche Parallelen zum Brief der Jephtis. Nur diese seien hier, weil sie für uns besonders relevant sind, hervorgehoben. Cenodoxus fordert seine Freunde auf, mit ihm den Tod zu verachten, ja ihn zu suchen (V. 1376-1379): Vergleichbares will Jephtis bei ihren Freundinnen erreicht haben (205-208). Wie Senecas Cato möchte er Gott das Schauspiel eines Mannes liefern, der mit Schmerz und Tod mannhaft zu ringen weiß (1378-1382)(159): Jephtis möchte einen für andere beispielhaften Tod sterben (201-204). Der Tod, behauptet Cenodoxus, könne ihn darum nicht schrecken, weil er ihn schon immer erwartet habe (1385): Auch Jephtis ist, wie wir sahen, durch eine Art praemeditatio gegen Todesschrecken gefeit (161 f.). Cenodoxus betrachtet den Tod als Erlösung von den Leiden des Lebens, zu denen (paradoxerweise) die Gefahr des Todes selber gehört (1385-1387): „Ich sterbe? Gut so. Dann werde ich aufhören krank sein zu können, gefesselt werden zu können, werde aufhören sterben zu können! (moriar? bene est. / Ita desinam aegrotare posse; ita desinam / Posse alligari, posséque mori desinam.): Mit ähnlicher, noch spitzfindigerer Pointe hatte Jephtis ein Leben für lebensunwert erklärt, in dem der Vater zum Mörder der Tochter werden kann (167-170).
Sieht man auf solche Übereinstimmungen und betrachtet man, wie üblich, den ‚Cenodoxus‘ als Dokument der Absage an die neustoische Verirrung Bidermanns, dann könnte es nahe liegen, den Jephtis-Brief in eben diese stoische Periode zu setzen(160) und in der Sterbebettszene des Cenodoxus die Todesbegeisterung der Jephtis gewissermaßen parodiert zu sehen.(161) Rein chronologisch wäre das denkbar. Von seinen 1634 herausgegebenen ‚Heroum epistulae‘ sagt Bidermann ausdrücklich, dass es sich dabei um schon früher, von ihm als adulescens, geschriebene Gedichte handle(162) (was eine spätere Überarbeitung natürlich nicht ausschließt); und dasselbe dürfte analog auch von den ‚Heroidum epistulae’ d.J. 1638 gelten.(163) Da Bidermann in der Zeit seines Ingolstädter Philosophiestudiums (1597-1600) darüber klagt, dass er nicht recht zur Poesie komme – für die Zeit des Theologiestudiums (1602-1606) ist Entsprechendes anzunehmen –, würde man also von hieraus am meisten an die Jahre in Augsburg (1600-1602) und München (1606-1614) denken, wo von ihm ja als Gymnasiallehrer das Dichten geradezu professionell gefordert war. Der Jephtisbrief wäre also das eine, kostbare Überbleibsel einer mit dem ‚Cenodoxus‘ überwundenen Episode in Bidermanns Leben. Aber vieles, Entscheidendes, spricht gegen eine solche Vermutung. Ich nenne drei Punkte.
1. Wenn Rolf Tarot, wie andere,(164) meint, dass Bidermann im ‚Cenodoxus’ schlechtweg den „Humanismus stoischer Prägung“ anprangern wolle, so ist dies nicht völlig richtig: Cenodoxus  i s t  ja kein Stoiker, sondern tut nur so, wie er ja auch nicht reuig ist und doch an einer Stelle den bußfertigen Sünder mimt (1344-1346), nicht barmherzig ist und doch Almosen spendet (Akt II 6) – ohne dass dadurch etwa christliche Reue oder Mildtätigkeit herabgesetzt werden sollten! Eher hätte man wohl zu sagen, dass Bidermann die Gefahren aufzeigt, die im Ideal des zur Selbstherrlichkeit neigenden stoischen Weisen liegen - womit diesem Ideal als solchem noch nicht unbedingt abgesagt sein müsste. Dazu kommt, dass die Äußerungen des Cenodoxus zwar vielfach an solche Senecas, aber, wenn ich recht sehe, weniger an solche gerade des Lipsius, seines angeblichen Verführers, erinnern. In dessen Büchern ‚De constantia‘ – der einzigen stoischen Schrift, die Lipsius vor 1602 veröffentlicht hat – steht, auch trotz dem senecanischen Titel, die Gestalt des heroisch mit seinem Schicksal ringenden und im Tod bewährten stoischen Weisen, wie sie in Cenodoxus pervertiert scheint, durchaus nicht im Vordergrund.(165) So dürfte der ‚Cenodoxus’ kaum speziell auf Lipsius gemünzt sein.(166)
2. Bidermann selbst behauptet in einer (nicht ganz leicht verständlichen) Partie des zitierten Briefs an Rader, er habe kürzlich (1606) Gedichte dieser früheren Zeit, die jemand von ihm angefordert hatte, eben wegen „Verdachts auf lipsianische Ketzerei (haeresis Lipsiana)“ verbrannt.(167) Das weist, auch wenn es theatralisch übertrieben sein sollte – Ovids Metamorphosenverbrennung(168) liefert hier ja der Dramenszene sichtbarlich die Vorlage –, immerhin auf eine entschiedene Distanzierung von solchen Gedichten, die es in der Tat gegeben haben dürfte. Und sollte eines von ihnen dem wie auch immer zu denkenden Autodafé entronnen sein – wie hätte ausgerechnet der Ordenszensor Bidermann von 1638 seine eigene neustoische Jugendsünde nach fast drei Jahrzehnten passieren lassen? Dies führt uns zum letzten und entscheidenden Punkt.
3. Fragt man, warum Lipsius, der doch schon 1591 ostentativ in den Schoß der katholischen Kirche zurückgekehrt war(169) (und etwa gerade auch von Rader in einem Brief hofiert wurde(170)), mit seinem christlich stark modifizierten Stoizismus(171) den Theologen dennoch bedenklich erscheinen konnte,(172) so liegt, was jedenfalls das Wichtigste angeht, die Anwort auf der Hand; der Zensor der ‚Manuductionis ad Stoicam philosophiam libri tres L. Annaeo Senecae aliisque scriptoribus illustrandis‘ (1604), ein Lipsius wohlgesonnener Kritiker,(173) hat sie klar ausgesprochen:(174) Tres isti [...] libri, quatenus [!] A. Senecæ illustrando facem præferunt, utiliter imprimentur. In cujus tamen Senecæ & similiter philosophantium lectione est ita versandum, ut inconcussâ interim fide teneantur, quæ de Beatitudine scripta reliquit B. Augustinus lib. 19 de Civit. Dei cc. 4 & 25. Soweit sie „der Erhellung Senecas und anderer Stoiker voraus eine Fackel anzünden“,(175) seien diese Bücher nützlich; im übrigen sei bei ihrer  „und ähnlicher Philosophen Lektüre mit unerschütterlichem Glauben festzuhalten, was der Heilige Augustin über die Glückseligkeit gelehrt hat“. Die zitierten Kapitel von ‚De civitate Dei‘ enthalten, was zu erwarten war: die Lehre, dass das summum bonum und damit das Glück des Menschen im ewigen Leben (vita aeterna) liege(176) und nicht etwa in der virtus bzw. dem „Naturgemäßen Leben“ der Stoiker. Eben in dieser Ausklammerung des Jenseitigen,(177) das bei Lipsius, auch schon in ‚De constantia‘ nur ganz gelegentlich und gleichsam pro forma erscheint(178) und jedenfalls nicht mit dem summum bonum zusammengebracht wird,(179) musste der entscheidende Anstoß für ein orthodoxes Christentum liegen. Aber gerade hier war ja, wie wir uns erinnern, der Jephtisbrief, soweit bei einer Jüdin möglich, orthodoxest katholisch gewesen: Der letzte Trost in der Schlusspartie ihres Briefs, kam, auch wenn sogar diese z.T. aus Seneca inspiriert war (oben S. ??), aus eben den Freuden des Jenseits, nicht eigentlich aus einer constantia, wie Lipsius sie beschrieben hatte.(180) So deutlich setzt sich in diesem entscheidenden Punkt Bidermann von Lipsius ab, dass man die Jephtisepistel geradezu als Dokument seiner Bekehrung von den errores Lipsiani lesen könnte. Auf jeden Fall kann sie trotz ihrem evidenten Stoizismus auch nach dieser Bekehrung bzw. dem Brief an Rader von 1606 verfasst sein.
Mit dem Gesagten meine ich freilich nicht, dass Bidermann seine Heroidenepistel geschrieben hätte, um sein Verhältnis zu Kirche und Stoa klarzustellen oder gar mit Lipsius abzurechnen. Er stand wie jeder Bearbeiter des Jephtestoffs vor dem Problem, wie er mit der schrecklichen Tat des Jephte, der Tötung der eigenen Tochter für einen Gott der Liebe, zurechtkommen könne. Und er löste es in der radikalst möglichen Weise: indem er Gott heraushielt, die Opferung zu einem schieren Schicksalsschlag machte. Um dann Jephtis nicht als willenloses Opfer, sondern als „Heldin“ präsentieren zu können, musste sie gewissermaßen als Heldentat ihre Todesfurcht überwinden; und die von der Bibel bezeugten zwei Monate der Klage boten dann sozusagen den zeitlichen Raum für eine meditatio mortis, die mit den sich anbietenden stoischen Farben und Gedanken ausgemalt wurde – soweit nur möglich im Rahmen der Orthodoxie.(181)  So spiegelt zwar dieser sonderbare Versbrief, ebenso wie in seiner Weise der ‚Cenodoxus’, die offenbar intensive Beschäftigung des jungen Bidermann mit der Stoa, vor allem mit dem wahrscheinlich durch Lipsius vermittelten Seneca, er ist ihr aber wohl nicht eigentlich entsprungen.
Wenigstens noch  ein weiteres Beispiel sei gegeben für den eigenartigen Niederschlag, den diese Auseinandersetzung Bidermanns mit der Stoa in seinem Frühwerk findet. Das nach dem ‚Cenodoxus‘ nächste erhaltene Stück, ‚Belisarius‘ (aufgeführt 1607), enthält wiederum dezidiert Stoisches und erinnert in manchem an den Jephtisbrief. Hier demonstriert der Titelheld, ein mächtiger Feldherr Kaiser Justinians, der, von diesem ungerecht bestraft, zum blinden Bettler absinkt, durch sein Beispiel das Walten der Fortuna und die Vergänglichkeit allen Glücks (V. 81-86; 2067-2073), dem Zuschauer zur Warnung (2070 f.). Soweit entspricht er ein Stück weit Jephtis, die ja im selben (gut stoischen) Sinn als Opfer Fortunas (V. 209 ff.) ein Beispiel für ihre Freundinnen und die weibliche Nachwelt sein will. Das Besondere dieser Fortuna von 1607 liegt nun aber, im Unterschied zum Jephtisbrief,  darin, dass sie nur scheinbar mächtig ist, in Wirklichkeit jedoch, wie sie selbst von Anfang an klar macht (66(182); vgl. 532 f., 2074-2078), im Dienste der Providentia, der göttlichen Vorsehung, steht.(183) Auch das ist noch ganz im Sinne von Lipsius (und Seneca) gedacht: Für den christlichen wie den heidnischen Stoiker kann Fortuna letztlich nur ein vom oberflächlichen Blick wahrgenommener Aspekt des (mit der Providentia praktisch identischen) Fatum sein.(184) Den spezifisch christlichen Akzent setzt auch in diesem Stück der Schluss, wo der Titelheld einsehen muss (bzw. von seiner Conscientia darüber belehrt wird), dass er, obschon vom Kaiser unschuldig verurteilt, dennoch von Fortuna/Providentia zu Recht wegen einer anderen, früher von ihm (an Papst Silvester) begangenen Sünde bestraft wird (1864 ff.).(185) Diese Form schlicht strafender Gerechtigkeit wäre beim heidnischen Stoiker Seneca, der keine strafenden Götter kennt (weil ihm die Bosheit Strafe genug ist), kaum denkbar. Ausgerechnet sie entspricht aber – was natürlich auch ein Zufall sein könnte(186) – dem Denken des christlichen Stoikers Lipsius, der in ‚De constantia‘ ausführlich davon handelt, dass die göttliche Providentia den Bösen oft erst spät und unerwartet strafe.(187) Wie der Jephtisbrief weit stärker an Seneca als an Lipsius orientiert war, so ist also ausgerechnet der (in der Zeit des Briefs an Rader entstandene!) ‚Belisarius’ mehr lipsianisch als senecanisch. Die beiden Werke könnten dennoch, meine ich, etwa zur selben Zeit konzipiert worden sein. Denn wie der Tod der Jephtis und der des Cenodoxus nicht in dem Sinne, als wäre dieser die Parodie von jenem, aufeinander bezogen werden dürfen, vielmehr beide in je ganz eigener Weise eine Variante zum stoisch-spektakulären Sterben Senecas darstellen, so lässt sich auch von der in manchem ähnlichen Bestrafung des Belisarius vorläufig wohl nicht mehr sagen, als dass sie in diesen ganzen Zusammenhang der durch Lipsius neu fühlbar gewordenen Spannung von Stoa und Christentum gehört. Der junge Bidermann scheint sich ihr jedenfalls mit recht differenziertem Nachdenken gewidmet zu haben.
Jacobus Balde, auf dessen gewaltige, mehr als 5000 Verse umfassende Jephtetragödie wir zum Schluss wenigstens noch einen Blick werfen wollen(188) (ohne sie allerdings ästhetisch würdigen zu können), hat seine Grundkonzeption des Stücks aller Wahrscheinlichkeit nach ohne Kenntnis Bidermanns entworfen. Als er 1637 den ‚Jephte’ in Ingolstadt zum ersten Mal aufführte – wir kennen davon nur den Handlungsabriss durch die Periochen(189) – waren ja Bidermanns ‚Heroidum epistulae’ noch nicht im Druck erschienen. Diese hat er dann aber sicherlich eingesehen, als er selber seine einzige Tragödie für den Druck von 1654, jetzt unter dem Titel ‚Jephtias’, ausarbeitete.(190) Wie Bidermann, anders als etwa der streng auf Einheit von Zeit und Ort bedachte Klassizist Buchananus, hält sich Balde äußerlich genau an die Handlungsvorgaben der biblischen Erzählung. Der erste Akt zeigt, wie Jephte zum Führer des Volks Israel gewählt wird; der zweite bringt die gescheiterten Verhandlungen mit Ammon und das Gelübde vor der Schlacht (die dann hinterszenisch während eines Chorlieds und einer Art telepathischen Reportage durch einen Propheten stattfindet). Im dritten Akt, Zentrum und Peripetie, kommt es zur fatalen Begegnung von Vater und Tochter, die hier Menulema heißt - ein an den besten Szenen des Tragikers Seneca geschultes Meisterwerk dramatischer Kunst. Der vierte Akt lässt Jephte (samt dem Zuschauer) im Traum miterleben, wie sich seine Tochter mit den Freundinnen in den Bergen zum Tode rüstet; ihre Standhaftigkeit, ja Todesbegeisterung gibt auch ihm die Kraft, das Opfer zu vollziehen. Von diesem berichten schließlich die Botenberichte des fünften und letzten Akts, in dem am Schluss eine Urne mit der Asche der Geopferten und verschiedene Reliquien auf die Bühne gebracht werden.
    Wie zu erwarten hat Balde, der der Stoa mit wechselnder Sympathie, immer aber auch mit großer Skepsis gegenüberstand,(191) seine Darstellung fast von all dem für Bidermann so bezeichnenden Stoizismus gereinigt,(192) dafür aber wieder das Problematische, unnatürlich Scheinende von Jephtes Tat thematisiert.(193) In der Christianisierung des Stoffs geht er wohl über alle sonstigen poetischen Fassungen des Stoffs hinaus, indem er nicht nur – im völligen Gegensatz zu Bidermann – überall das Walten Gottes betont, sondern sogar den Opfertod der Jephtetochter als ein letztlich von Gott selber veranstaltetes Praeludium zum Opfertod Christi deutet:(194) Jephte entspricht demnach typologisch Gottvater, seine Tochter dem Gottessohn Jesus Christus (so erklärt sich auch ihr Name, Menulema, als ein Anagramm von Emmanuel). Balde folgt mit dieser Deutung, die schon seiner Erstfassung zugrundelag,(195) theologischen Autoritäten des Jesuitenordens, Nicolaus Serrarius (1609) und Jacobus Salianus (1616),(196) die auch Bidermann in der Inhaltsangabe (argumentum) seiner Epistel angeführt hatte, ohne ihnen jedoch einen Einfluss auf seine Konzeption zu gönnen (so dass die Vermutung nahe liegt, Bidermann habe diese Hinweise erst später, bei der Druckfassung des früher, vor 1609, konzipierten Werks, hinzugefügt). Für Balde jedenfalls ergibt sich aus dieser Deutung auf den Opfertod Christi unter anderem, dass Menulema, Jephtes Tohter, in der zweiten Fassung des Stücks einen Liebhaber bekommt (was auch sonst einer damals aufkommenden dramatischen Mode entsprach): Weil man das Hohelied Salomonis seit langem auf die Liebe der Kirche oder der menschlichen Seele zu Christus deutete und weil Salomo es zu seiner Hochzeit mit einer Tochter des ägyptischen Pharao geschrieben haben sollte,(197) darum heißt nun dieser Liebhaber der Jephtetochter Ariphanasso, ein Anagramm für Pharaonissa, „Pharaos Tochter“. So korrespondiert also das Mädchen Menulema dem Mann Christus (Emmanuel); der Mann Ariphanasso, übrigens in der Tat ein Ägypter, entspricht der liebenden Seele bzw. der Pharaotochter (Pharaonissa)!(198)  
Trotz solchem allegorischen Quidproquo gelingt Balde ein Drama von größter psychologischer und auch theatralischer Lebendigkeit, wobei die beschriebene typologische Deutung dem Stück nicht nur äußerlich aufgepfropft wird, sondern in der Weise in die Handlung eingeht, dass die Personen selber an entscheidenden Punkten der Handlung etwas von der zukünftigen Bedeutung ihres Tuns und Leidens ahnen. Balde war ein Ekstatiker, ein Mensch, der zu enthusiastischen Entrückungzuständen neigte,(199) Zuständen, die sich vielfach in seiner Dichtung gespiegelt finden. Im Falle der ,Jephtias’ sind es eben solche Enthusiasmen, in denen sich die typologische Bedeutung des Opfertods manifestiert und die den Beteiligten das furchtbare Geschehen nicht nur erträglich, sondern geradezu sinnvoll scheinen lassen. Weil es in der Bibel heißt, der Geist des Herrn sei beim Gelöbnis über Jephte gekommen – was Bidermann, wie wir uns erinnern, eliminiert hatte –, lässt Balde Jephte schon dieses votum in inspirierter Begeisterung aussprechen (II 7, p. 63 Calidæ recepto spiritu venæ micant – „Heiß hüpfen die Adern, in die der Geist gefahren ist“). Dann erlebt, im vierten Akt, die Jephtetochter Menulema am Ende der großen Szene mit ihren Freundinnen eine Art prophetischer Verzückung (IV 2, p. 114 Mente concepit Deum – „Gott ist in ihren Geist gefahren“), in der sie ahnt, dass ihr Selbstopfer nur das Vorspiel eines zukünftigen ist und dabei visionär sogar das „jungfräuliche Fleisch“ auf einem Berge hängen sieht (p.114 f.). Auch Jephte in seinem letzten Entscheidungsmonolog vor der furchtbaren, notwendigen Tat spürt in Begeisterung (IV 4, p. 121 cordis impulsi calor) etwas von der geheimnisvollen Zukunftsbedeutung seines Tuns (IV 4, p. 122), was es ihm erleichtert, seinen Entschluss später durchzuhalten und, wiederum nicht ohne „über ihn kommenden göttlichen Anhauch“ (V 4, p. 142 super incubantis sensit afflatum Dei), die Tochter zu enthaupten. Und als letzter ist es Ariphanasso, Menulemas etwas tapsiger, von Balde nicht ohne Ironie gezeichneter Liebhaber, der in der Schluss-Szene des Stücks eine Ahnung bekommt von der heilsgeschichtlichen Bedeutung der Ereignisse, in die er wegen seiner Verliebtheit geraten ist (V 5, p. 162). So wird es dem heißblütigen Ägypter zum Schluss leichter, aller Frauenliebe zu entsagen(200) und auf ein Wiedersehen mit seiner Menulema zu hoffen – wo? Natürlich in Abrahams geräumigem Schoß, dort, wohin schon Bidermann seine vom Leben enttäuschte Jephtis hatte fliehen lassen (p. 163):

    Nos Sinus Abrami, neptes ac mille nepotes
    Complexus, thalami votis feliciùs olim
    Reddet: vbi tutò castas miscebimus Vmbras
.(201)

    Uns wird Abrahams Schoß, der Tausende Enkel und tausend
    Enklinnen birgt, ein schöneres Glück als die Hochzeit bescheren:
    Dort vereinen wir einst in Keuschheit selig die Schatten.
 
So hat Balde in die endgültige Fassung seines Dramas manches aus Bidermanns Epistel einfließen lassen. Neben den (an sich naheliegenden) gelegentlichen Bezugnahmen auf Isaaks Opferung(202) ist es besonders die große lyrische Szene, die zweite des vierten Akts (wo sich Menulema im Kreise ihrer Freundinnen auf den Tod vorbereitet), welche Bidermann verschiedene Motive zu verdanken scheint: das Einstimmen von Natur, Echo(203) und Vögeln in die Totenklage (p. 108):
    
    Audi: palumbes atque turtur adgemunt
    Tuo vtique fato. queritur in ramis sedens,
    Multásque Aëdon flebileis miscet fides.


    Hör, wie die Taube, wie die Turteltaube stöhnt,
    dein Schicksal klagend; jammervoll in Zweigen mischt
    die Nachtigall ein tränenreiches Saitenspiel ...-,(204)

die beschwörenden Bitten, mit denen die Freundinnen Menulema von ihrem Todesentschluss abhalten wollen (bes. p. 114),(205) schließlich vor allem, wie später bei Ariphanasso, die Aussicht auf ein besseres Leben im Jenseits, das als Lehre der jüdischen Väter ausgegeben wird, dennoch aber mit antikem Namen „Elysium“ heißt (p. 111-113).(206)   
Aber auch dies ist nur ein Nebenmotiv, nicht etwa eine die Tragödie krönende Vorstellung; und die Jephtetochter ist bei Balde eine von Grund auf andere Frau als bei Bidermann: keine Stoikerin, die Tod und Leben als Adiaphora durchschaut hat, sondern vor allem eine Liebende, die – im Gegensatz zu wohl allen früheren Darstellungen – sofort und ohne Zögern zum Tod bereit ist, weil sie Gott über alles liebt, danach ihren Vater,(207) nicht zuletzt aber auch ihr Volk,(208) dem ja durch ihre Opferung der Schutz Gottes gesichert bleibt. Der erste Satz, den sie spricht, als sie von ihrem Vater die furchtbare Wahrheit erfahren hat, heißt: „Ist es denn so elend und traurig, für das Vaterland zu sterben?“ (p. 92 Adeóne miserum ac triste pro patria mori!);(209) und in ihrer letzten Szene sagt sie zu den Freundinnen, noch bevor sich ihr die Zukunftsbedeutung ihres Tuns ahnungsweise enthüllt (p. 113): „Ich gehe, für euch zu sterben“ (Vado pro vobis mori), und noch vorher (p. 110): „Ich sterbe, damit ihr lebt“ (Moriamur, vt viuatis). Vor allem diese selbstaufopfernde Liebe macht Baldes gefühlvolle(210) Menulema zum Prototyp Christi,(211) eine Rolle, der Bidermanns tapfere Jephtis nicht hätte entsprechen können.
    So verschieden, fast diametral verschieden, haben also diese beiden großen christlichen Dichter denselben biblischen Stoff ausgelegt. Offenbar hat der Jesuitenorden, dem Bidermann wie Balde ohne Murren angehört haben, seinen poetischen Begabungen nicht nur, wie wir eingangs feststellten, reichlich die Möglichkeit zum Schaffen gegeben, er hat sie, auch bei der Gestaltung eines religiösen Themas, nicht auf ein bestimmtes (etwa gar gegenreformatorisches)(212) Programm festgelegt,(213) ihnen vielmehr ein erstaunliches Maß an Freiheit der Deutung gelassen, ein Stück der alten und immer notwendigen licentia poetarum.


* Für hilfreiche Hinweise danke ich Günter Hess, Stefan Römmelt und Bianca (mit Jens Peter) Schröder.
 (1) Bequemen Überblick über beider Leben (mit Literatur) geben die Artikel in Walther Killy (Hrsg.), Bertelsmann Lexikon: Deutsche Autoren, Bd. 1, Gütersloh / München 1994 ; Franz Günter Sieveke, „Bidermann, Bidermanus, Jakob“, dort S. 188-191; Wilhelm Kühlmann, „Balde, Jacob“, S. 127-130.        
(2)  Wenn es in Matthaeus Raders berühmtem Epigramm über seine Schüler von Bidermann heißt: [...] qui nunc est alter Aquinas / atque Stagyrites, Tullius atque Maro, so ist mit Aquinas natürlich nicht, wie hartnäckig behauptet wird (vgl. etwa Margrit Schuster [Hg.], Jakob Bidermanns ‚Utopia‘, Bd. 1, Bern u.a. 1984, S.2), Juvenal gemeint, sondern Thomas von Aquin: Bidermann soll als großer Theologe (Thomas), Philosoph (Aristoteles, ungenau Schuster a.O.), Redner bzw. Prosaiker (Cicero) und  Dichter (Vergil) erscheinen.
(3)  Wobei es sich allerdings im Falle Bidermanns um Retraktationen früherer Gedichte (die aber noch nicht publiziert waren) zu handeln scheint (vgl. unten S. ???). Balde bleibt auch im Alter voll schöpferisch.
(4)  So besteht die einzige neuere Monographie (Thomas W. Best, Jacob Bidermann, Twayne’s World Authors Series 314, 1975) fast ausschließlich in einer Besprechung der Dramen.
(5)  Dazu das bekannte Buch von Eckart Schäfer, Deutscher Horaz: Conrad Celtis, Georg Fabricius, Paul Melissus, Jacob Balde. Die Nachwirkung des Horaz in der neulateinischen Dichtung Deutschlands, Wiesbaden 1976, 109-260; vgl. neuerdings bes. Eckard Lefèvre (Hg.), Balde und Horaz, Tübingen 2002.
(6)   So in der Ausgabe der Heroum epistulae, Epigrammata et Herodias, Antwerpen 1634, zitiert nach Heinrich Dörrie, Der heroische Brief (s. unten Anm. 9) 390; die Äußerung dürfte schon aus der (Dörrie unbekannten) Erstausgabe von 1630 stammen.- Auch noch in Bidermanns Würdigung durch Franz Lang SJ (bei Kropf, 1754; mir vermittelt durch den wichtigen Aufsatz von Günter Hess, „Spectator -  Lector – Actor: Zum Publikum von Jacob Bidermanns Cenodoxus“, Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 1, 1976, 30-106, dort S. 46 Anm. 61) werden die Dramen gar nicht erwähnt, wohl aber sieben andere Werke.
(7)  Veröffentlicht: Amberg 1654 (die Uraufführung der Erstfassung des Dramas hatte 1637 in Ingolstadt stattgefunden); vgl. unten Anm. 190.
(8)  Grundlegend zu diesem vielleicht originellsten Werk Ovids: Howard Jacobson, Ovid’s Heroides, Princeton N.J. 1974.
(9)  H. D., Der heroische Brief: Bestandsaufnahme, Geschichte, Kritik einer humanistisch-barocken Literaturgattung, Berlin 1968.
(10)  Dazu Dörrie (wie Anm. 9) 369-374.
(11)  Dazu Dörrie (wie Anm. 9) 386-388.
(12)  Nachgewiesen von Gerhard Dünnhaupt, Personalbibliographien zu den Drucken des Barock, 1. Teil, Stuttgart ²1990: Bidermann Nr. 38.1 (S. 564), danach Rom 1633, München 1634 und Antwerpen 1634 (die früheste Dörrie [wie oben Anm. 9] bekannte Ausgabe).
(13)  Dazu Dörrie (wie Anm. 9) 381-391.
(14)  Dazu Dörrie (wie Anm. 9) 392-393: Dort sind die Überschriften der insgesamt sechzehn Briefe bequem aufgelistet. (Der volle Titel der Ausgabe unten in Anm. 23).
(15)  Die drei Briefe sind chronologisch nach der „Abfassungszeit“, nicht nach dem Gegenstand geordnet: An Abel schreibt Eva über die Erschaffung der Welt und den Paradiesesgarten (Genesis 1-2); im Brief an Kain geht es um den Brudermord (Genesis 4); der Brief an die Menschheit – formales Vorbild dürften vor allem die Briefe von Petrarca und Hessus ad posteritatem sein – behandelt im Rückgriff den Sündenfall (Genesis 2-3) und liest sich wie ein letztes Vermächtnis der verhängnisvollen „Ur-Stiefmutter“ (V. 2 prima NOVERCA), die am Ende eine vage Prophezeiung auf Maria gibt. Sonst folgt Bidermann, wie leicht zu sehen, der Chronologie der Ereignisse.
(16)  Nur dieser Brief  einer sozusagen professionellen „Sängerin“ ist ausdrücklich (wie Ovids Sapphobrief) als Gedicht (V. 1), ja als lateinisches Gedicht markiert (V. 9); sonst wird die poetische Form, wie in der Regel bei Ovid, nicht thematisiert.
(17)  Sie schreibt mit feiner Differenzierung: erst an ihr Volk De opibus Salomonis (eine Art populäres Sightseeing im goldenen Jerusalem, wo man sie nur ins Allerheiligste des Tempels nicht einlässt), dann an die Vornehmeren (Optimates) De sapientia Salomonis, wobei sowohl dessen praktische Klugheit (salomonisches Urteil!) als auch seine theoretische Weltweisheit (in Physik und Theologie) gerühmt wird; letztere beeindruckt Candace so stark, dass sie sogar (wie später Ariphanasso bei Balde,vgl. unten Anm. 198) dem Polytheismus abschwört.
(18)  In allen Episteln, mit Ausnahme derjenigen der Jephtetochter, geht es um die Auseinandersetzung zwischen Juden- und Heidentum; dabei sind Judith, Esther und die Mutter der Makkabäer Frauen, die sich heldinnenhaft für ihr eigenes Volk einsetzen. Der Idee nach könnte dies (durch die Bereitschaft zum Opfertod für Israel) auch die Jephtetochter sein; doch akzentuiert Bidermann gerade diesen Aspekt nicht. Man könnte vermuten, dass das mit den Personen gegebene Programm dieses zweiten Buchs entweder nicht von Bidermann selbst stammt oder, was die Tochter des Jephte betrifft, nachträglich von ihm modifiziert wurde. Vgl. aber auch unten Anm. 181.
(19)  Ohne Nachweis behauptet Dörrie (wie oben Anm. 9) 392, dass Bidermann in den ersten beiden Büchern „den Symbolgehalt, den man seit Origenes und seit Ambrosius den Erzählungen des AT zusprach, recht stark“ herausarbeite; nicht einmal in der Beschreibung des Durchzugs durchs Rote Meer (Heroides 1,6) kann ich einen Hinweis auf die bekannte allegorische, genauer: typologische Bedeutung (Ostern!) finden. Und Evas Prophezeiung auf Maria (in 1,3, s. oben Anm. 15), an die Dörrie vielleicht denkt, darf ja nicht mit einer solchen typologischen Auslegung gleichgesetzt werden.- Aufschlussreich wäre der Vergleich des Judithbriefs (Heroides 2,4) mit der Behandlung desselben Stoffs durch Balde im Epyllion Juditha Holofernis triumphatrix (Opera omnia [wie unten Anm. 190] 3, 287-294): Balde, nicht Bidermann, behandelt Judith als Typus der Gottesmutter.
(20)  Principio, nolui materiem mihi sumere, iam aliàs alibi vulgatam: ac proinde Virginum nostrarum copias, etsi suppetebant, tamen quod in Epigrammatis iam ante plerásque attigeram, reducendas hic non existimaui. [Gemeint sind hier vor allem die in den Epigrammata, zuerst 1620 (mir zugänglich in 4. Aufl., Dillingen 1692), behandelten heiligen Jungfrauen (Buch I Nr. 57-70: „Parthenia“; Buch II: neun Chori virginum).] Tum deinde Magdalenæ lacrymis [Maria Magdalena war unter den Briefschreiberinnen bei Hessus und Alenus], & Sponsæ Romanæ querelis [gemeint sind Briefe Petrarcas, in denen sich die Ecclesia Romana bzw. urbs Roma beim Papst als ihrem Verlobten beklagt, s. Dörrie (wie Anm. 9) 42, 433-436], & hoc genus alijs argumentis, per mille poetas, millies decantatis, quid noui nos adderemus?
(21)  Kühn Dörrie (wie oben Anm. 9) 393 über das Corpus: „Es ist ein in sich geschlossenes Erbauungsbuch, das alle Lehren des Christentums vorträgt [...]“. Jedenfalls unsere Interpretation der Jephtisepistel wird dies nicht bestätigen können.
(22)   Elisabeth Frenzel, Stoffe der Weltliteratur, Stuttgart 81992, 373-376 (mit Lit.); vgl. zuletzt Führer (wie unten Anm. 188) 121-123.
(23) “IACOBI BIDERMANI è  Societate IESV HEROIDVM EPISTVLÆ. ROMÆ, Formis Petri Antonij Facciotti. M.DC.XXXIIX. Permissu Superiorum” (der Brief dort auf den Seiten 51-57).
(24)  Bei Gerhard Dünnhaupt, Personalbibliographien zu den Drucken des Barock, Erster Teil, Stuttgart ²1990 ist für diese Ausgabe (Bidermann Nr. 42.1) nur ein Eintrag in einem Katalog des Hamburger Antiquariats von 1981 angeführt. Dörrie (wie Anm. 9) 392 kennt ein Exemplar in Rom (Biblioteca Nazionale); das in Lonato vorhandene Exemplar hat mir freundlicherweise Wolfgang Schibel, Universitätsbibliothek Mannheim, nachgewiesen.
(25)  Für prompte und liebenswürdige Hilfe danke ich der Direktorin der Bibliothek, Frau Roberta Valbusa.
(26)  Nur an pingúntque in V. 207 kann ich nicht glauben (s. unten z. St.); fidera statt sidera (mit „langem s“!) in V. 81 wird vom das Auge des Lesers quasi von selbst korrigiert. Auch einige wenige kleinere Unstimmigkeiten der Interpunktion (wie das Komma statt Punkt nach V. 180 fugam oder der fehlende Punkt nach V. 80 tuo) könnten auf Flüchtigkeit beim Korrekturlesen weisen.
(27)  Dünnhaupt (wie oben Anm. 24), Bidermann Nr. 42.2 (mit Bibliotheksnachweisen). Dieser Text ist jetzt auch bequem zugänglich im Internet unter den Online-Editionen der von Wolfgang Schibel begründeten, vor allem von Wilhelm Kühlmann betreuten  Mannheimer CAMENA: www.uni-mannheim.de/mateo/camautor/bider.html.
(28)   Dünnhaupt (wie oben Anm. 24), Bidermann Nr. 42.3 (mit Bibliotheksnachweisen; ein Exemplar ist in meinem Privatbesitz). 
(29)  Sinnstörend vor allem V.11 moriturus (statt moturus 1638); 40 teram (statt feram); 52 Ex oriente (statt Exoriente); 74 alijs (statt aliàs). Diese Fehler sind  in der Ausgabe von 1664 übernommen worden.- Obwohl solche und andere fehlerhafte Lesarten (vgl. die folgende Anm. 30) für die Textherstellung keine Bedeutung haben, teile ich sie doch, sofern sie gewichtiger sind, in den Anmerkungen zur Edition mit, auch um einen anschaulichen Eindruck von der auch in Druckausgaben rasch einsetzenden Korruption neulateinischer Texte (die heute meist unterschätzt wird) zu vermitteln.
(30)  V. 26 fæta (1664 wie 1638) statt sæta (1642); 94 redijsse statt redîjsse; 101 Sine („lass“) statt Sinè („ohne“); 161 operæ statt opera; 212 fatam statt satam. Für solche Korrekturen war weder die Einsicht in den besseren Text von 1638 noch divinatorischer Scharfsinn notwendig; es genügten gute Lateinkenntnisse. Gegen die Benutzung der Erstausgabe sprechen entscheidend die mit der Ausgabe von 1642 übereinstimmenden Fehler (verzeichnet oben Anm. 29; dazu kommen kleinere, unten nicht mehr registrierte, Ungereimtheiten der Interpunktion, wie ein Fragezeichen nach fuissem in V. 63 oder das Fehlen eines Punkts nach  exclamo in V. 149 ...).
(31)  Die Literatur des Barock, ausgewählt und eingeleitet von Hans Pörnbacher, München 1986, S. 96-103; dort S. 1310 zitiert: Sinn- und Geistreiche recht Guldene Helden-Schreiben des Ehrw .P. Jacobi Bidermann, S.J. vormals unter dem Namen EPISTULAE HEROUM, ET HEROIDUM, in Lateinischen Versen zierlich an den Tag gegeben; Nun aber [...] in ebenso so viel Deutsche Reime wohlmeynend übersetzet von P. Georgio Francisco Friebel [...], Schweidnitz 1704. Dank der Freundlichkeit von Hans Pörnbacher konnte ich für den Jephtisbrief seine Fotokopie des Originals von Friebel verwenden.
(32)  Obwohl Friebel mehrere Fehler der Ausgaben von 1642 und 1664 beseitigt – nicht etwa Ex oriente in V. 52 –, dürfte er nicht unmittelbar auf den Text von 1638 zurückgegriffen haben; besonders auch einige auffällige Versehen der Interpunktion legen nahe, dass er ein Exemplar von 1642 zugrundegelegt hat, in dem, nach der Erstausgabe, handschriftlich einige Fehler korrigiert waren. So ergibt sich vorläufig als mutmaßliches  Stemma:
                       
 1638
     |
            1642         
1664                    
                        1708
(33)  Stillschweigend wurde nur die Schreibung des langen s angeglichen; Abkürzungen sind regelmäßig aufgelöst, und der das enklitische –que bzw. –ue anzeigende diakritische Akzent wurde, sofern in der Erstausgabe überhaupt vorhanden (die Nachdrucke sind hier etwas pedantischer) auf den Vokal der jeweils vorausgehenden Silbe gesetzt (z.B. Barbaráque).
(34)  Dazu jetzt grundlegend, wenn auch noch nicht erschöpfend, Thorsten Burkard, „Interpunktion und Akzentsetzung in lateinischen Texten des 16. und 17. Jahrhunderts [...]“, Neulateinisches Jahrbuch 5, 2003, 5-58.
(35)  Vgl. W. Stroh, Romanische Forschungen 95, 1983, 183 f.; die einschlägigen Probleme (vgl. etwa Lothar Mundt u.a. [Hg.], Probleme der Edition von Texten der Frühen Neuzeit, Tübingen 1992) wurden zuletzt diskutiert beim XII. Kongress der International Association for Neo-Latin Studies, Bonn, 3.-9. August 2003; in den Kongressakten sind einschlägige Beiträge von Jean-Louis Charlet und Luc Deitz zu erwarten.
(36)  Statt Deo wie im Original der Vulgata; dazu unten S. ??.
(37)  Zum Vergleich (und besseren Verständnis der Epistel) gebe ich den – gekürzten - Text der Vulgata (Iud. 11,29-39) nach der Ausg. von Robert Weber OSB, Bd. 1, Stuttgart (Württembergische Bibelanstalt) 1969 (mit ergänzter Interpunktion): factus est ergo super Iepthae spiritus Domini et [...] [30] uotum uouit Domino dicens: si tradideris filios Ammon in manus meas, [31] quicumque primus fuerit egressus de foribus domus meae mihique occurrerit reuertenti [...], eum holocaustum offeram Domino [...]. [34] reuertenti autem Iepthae [...] occurrit unigenita filia cum tympanis et choris [...] [35] qua visa scidit uestimenta sua et ait: heu filia mi, decepisti me et ipsa decepta es. aperui enim os meum ad Dominum et aliud facere non potero. [36] cui illa respondit: pater mi, si aperuisti os tuum ad Dominum, fac mihi quodcumque pollicitus es concessa tibi ultione atque uictoria de hostibus tuis. [37] dixitque ad patrem; hoc solum mihi praesta quod deprecor: dimitte me, ut duobus mensibus circumeam montes et plangam uirginitatem meam cum sodalibus meis.[38] cui ille respondti: uade et dimisit eam duobus mensibus [...] [39] expletisque duobus mensibus reuersa est ad patrem suum, et fecit ei sicut uouerat [...].
(38)  Kursive und nichtkursive Schreibweise genau nach dem Original.
(39)  Das wohl zunächst als Patronym gedachte Iephtis wird von Bidermann (und mir im Folgenden) wie ein Eigenname behandelt.
(40)  Zu den Verweisen auf  Salianus und Serarius s. unten S. ?? mit Anm. 196.
(41)  Einen Überblick über die seit den Vätern kontroverse Diskussion gibt Balde in den Prolusiones seiner Iephtias (wie unten Anm. 190) S. 7 f.: Quæritur, an peccârit? „Vouendo: non reddendo“ S. Ambrosius. „Reddendo: non vouendo“. S. Th.“Vouendo & reddendo“. Tertull. Nazian. Procop. Chrys. apud Corn., qui tamen mediam viam ingreditur [...]. Die partielle Rechtfertigung Jephtes nach Corn(elius a Lapide) wird dann referiert. Sonst findet man die Ansichten älterer Ausleger zusammengefasst bei: Matthaeus Polus, Synopsis criticorum aliorumque Sacrae Scripturae interpretum [...], vol. 1, Ultrajecti 1684, Sp. 1149-1155.
(42)  Der leicht unlogische Ausdruck erkärt sich als Kontamination aus tacere uelim und iure tacere mihi liceat.
(43)  moturus 1638:  moriturus 1642, 1664. Die spektakulär schöne Verschlimmbesserung (oder bloße Verschreibung?) moriturus in hostem macht die Verse unkonstruierbar. Wahrscheinlich ist mouere hier intransitiv im Sinn von castra / signa mouere (wie öfter etwa bei Livius) gebraucht; sonst hat man es, trotz dem Komma nach V. 11, mit signa in V. 12 zu verbinden.
(44)  fæta 1638, 1664 :  sæta 1642. Obwohl feta leaena seit Ovid häufig gesagt wird (Leonhardi, Art. “fetus”, Thes. l. Lat. VI 1, dort Sp. 639, Z. 77-80) und man schon seit Homer weiß, dass die Löwin, die eben geworfen hat (was ja fetus heißen kann), besonders bedrohlich ist (z.B. Ov. ars 2, 375, vgl. Markus Janka im Kommentar [Heidelberg 1997] z.St. und Steier, RE XIII [1926] 988), ist die Vorstellung hier nicht recht am Platze: Gefährlich in ihrem Zorn ist ja sonst immer die selber bedrohte Löwin, die für ihre Jungen kämpft; wo sie, wie hier, über Schafe herfällt, deren Wehrlosigkeit auch noch eigens hervorgehoben wird, steht f(a)eta müßig. Aber vielleicht denkt Jephtis in der Tat an die Attacke einer Löwin, die Futter auch für ihre Jungen sucht (mündl. Hinweis von Bianca Schröder).
(45)  feram 1638:  teram 1642, 1664
(46)  Exoriente 1638 :  Ex oriente 1642, 1664
(47)  solitò 1638, 1642 :  solito 1664. Der Akzent (falls kein Druckfehler vorliegt) zeigt an, dass solitò nicht attributiv mit murmure zu verbinden ist („nicht durch ein gewohntes murmur“, wie der Editor 1664 meinte), sondern adverbial steht („in ungewohnter Weise, nämlich durch murmur“) – wobei unter murmur, wie im antiken Sprachgebrauch, das unartikulierte Geräusch (hier aufbrausender Beifall und Jubelrufe) zu verstehen ist. Für gewöhnlich, scheint Bidermann zu meinen, äußern die Kinder Israel ihre Festfreude in gegliederten Reden bzw. Liedern.

(48)  aliàs 1638 :  alijs 1642, 1664
(49)  tuo. 1664 :  tuo 1638, 1642
(50)  fidera 1638 :  sidera 1642, 1668
(51)  solúmque 1638, 1642 :  solémque 1664.- Die metrisch unmögliche Lesart von 1664 entstand wohl aus dem richtigen Empfinden, dass das in der Lesart von 1642 (1638) zwischen caelum und diem eingeschobene solum störend wirkt. Schöner wäre, trotz Pleonasmus,  cælum solémque diémque (aber ohne Anhalt in der Überlieferung).
(52)  Sine 1638, 1664 :  Sinè 1642
(53)  Ein sog. versus hypermetrus: -que ist mit dem Ante des folgenden Versanfangs zu verschleifen. Vergil im Epos liebt dieses Kunstmittel (vgl. A.St. Pease im Komm. [Cambridge, Mass. 1935] zu Aen. 4,558, mit älterer Lit., und zuletzt N. Horsfall im Komm. [Leiden u.a. 2000] zu Aen. 7,470, mit weiteren Hinweisen); im elegischen Distichon ist es unüblich (vgl. immerhin Catull. 115,5): Hier soll vielleicht, wie schon durch den syntaktischen Einschnitt vor dem letzten Versfuß, das in ante meos tumulos liegende „Zu früh“ verstärkt werden.

(54)  operæ 1638, 1664 :  opera 1642
(55)  Hinc muss, trotz dem Komma nach laborant, mit fugam inire verbunden werden.
(56)  Nach Lucan 1,12 bella geri placuit nullos habitura triumphos?, ebenfalls in Bezug auf eine tödliche Auseinandersetzung unter Verwandten: Lucans Pointe fällt bei der Nachbildung (wo triumphi nur metonymisch für gloria gesagt wird) fort.
(57)  fugam. 1642, 1664 :  fugam, 1638
(58)  Iephtis 1642, 1668 :  Iephthis 1638.- Iephtis ist die sonst bei Bidermann übliche Schreibweise.

(59)  pangúntque scripsi :  pingúntque 1638, 1642, 1664. - Es ist nicht zu sehen, wie die Mädchen in ihrer Bergeinsamkeit die Lächerlichkeit der Todesfurcht mit Hilfe gerade der Malkunst darstellen sollen: “Dichten” (pangere mit Akkusativ des Bedichteten, seit Ennius) kann man dagegen überall, so gut wie “singen” (canere). Wahrscheinlich also ein von Bidermann übersehener Druckfehler.
(60)  satam, 1638 :  fatam, 1642 :  satam. 1664
(61)  quot 1638, 1642 :  quos 1664

(62)  Das Motiv des durch Tränen verschmierten Briefs findet sich (vielleicht überhaupt zuerst) bei Properz 4,3,3 f.; bei Ovid zuerst in epist. 3,3 (Briseis): quascumque adspicies, lacrimae fecere lituras (ähnlich 11,1 f.; epist. Sapph. 97 f.), wo auch schon das Wortspiel littera (V. 1!) – litura angedeutet ist. (Hier und im Folgenden gebe ich Hinweise auf antike Parallelen nur, soweit sie von inhaltlichem Interesse sind oder zum sprachlichen Verständnis beitragen.).- Zum Widerspruch dieses Gedichteingangs mit der später exponierten Gedichtsituation s. unten S. ??
(63)  Inspiriert aus Ovid, trist. 1,1,7 nec titulus minio nec cedro charta notetur (über sein ungepflegt, traurig aussehendes erstes Tristienbuch), wo die Vorstellung aber klarer ist: Der Werktitel (Tristia) wird nicht wie sonst durch ein fröhliches Rot hervorgehoben. Bei Bidermanns Jephtis scheint nicht an den Titel, sondern irgendwie an das ganze Schreiben gedacht; umgekehrt hat bei der jubilierenden Esther (Heroides 2,5) der ganze Brief (versehentlich tabella genannt) sowie der Briefumschlag purpurrote Farbe (V. 11-14).
(64)  Mit tribus muss doch wohl das ganze Heeresaufgebot des (untereinander verwandten) Volks Israel gemeint sein, nicht Jephtes spezieller Stamm; sua (signa) bezeichnet, wie auch das Folgende zeigt, die Feldzeichen (vgl. V. 25) Jephtes.
(65)  Ein schönes Hysteron proteron, wie Vergils berühmtes moriamur et in media arma ruamus (Aen. 2 353). Die sofort geäußerte Bereitschaft zur Selbstopferung ist charakteristisch für die Vaterliebe der Jephtis, die sie naiv auch auf andere überträgt: Sie selber wird ja später bereit sein, sanguine suo dem Vater zu helfen.

(66)  Die Szene erinnert (ohne genauere wörtliche Anklänge) vage an den ovidischen Daedalus, der, in scheinbar aussichtsloser Lage, in einem Monolog beschließt, sich einen neuen Trick auszudenken (Ov. ars 2,33 ff. quod simul ut sensit [...]), und dabei auf seine Weise auf die Idee mit dem „Himmel“ kommt. Vgl. unten S. ??
(67)  Zur zunächst befremdlichen Formulierung dieses Gelöbnisses s. unten S. ??
(68)  Solche gehäuften Polyptota drücken seit Homer das Mann gegen Mann des Nahkampfs aus; vgl. etwa Vergil, Aen. 10,361 haeret pede pes densusque uiro uir und die Parallelen bei Otto Skutsch im Kommentar zu Ennius, ann. 584 Sk. (Oxford 1985, S. 724 ff.). Bidermann steigert durch clades und cruor die Kühnheit des (nicht mehr recht anschaulichen) Ausdrucks.
(69)  Hier wird Jephte als quasi römischer Feldherr vorgestellt, der den Göttern aus den Waffen des besiegten Feinds tropaea (wie Aeneas nach dem Sieg über Mezentius: Verg. Aen. 11, 1 ff.) errichtet. Auch seine festliche Heimkehr mit der beuteschweren Legion erinnert etwas an einen römischen Triumphzug, ist aber vor allem auch nach 1. Sam. 18, 6 f. (vgl. unten Anm. 71) gestaltet.
(70)  Hier und später (V. 169 f.) drückt Jephtis eigene frühere Gedanken in direkter Rede so aus, als ob sie ihr jetzt gerade in den Sinn kämen.
(71)  Neben den (hier aus der Vulgata stammenden) tympana (Tamburins bzw. Handpauken) wären nach antiker Vorstellung als weiteres Schlaginstrument die erzenen cymbala („Zimbeln“) zu erwarten. Statt dessen spricht Bidermann, angeregt durch die musizierenden Frauen in 1. Sam. 18,6 (in tympanis laetitiae et in sistris, wo die sistra den kýmbala der Septuaginta entsprechen; vgl. auch 2. Sam. 6,5) von sistra, die in der römischen Literatur nur (als metallene Rasseln bzw. Klappern) im Zusammenhang des ägyptischen Isiskults genannt werden: tremula manu (was zu cymbala nicht passen würde) zeigt, dass er tatsächlich an ein solches Instrument denkt, das dem Ganzen wohl ein exotischeres Flair geben soll.
(72) 
Jephtis, die in ihrer Liebe zum Vater (vgl. schon oben zu V. 13 f.) diesen als zweite Sonne erlebt, übertreibt hier sicherlich die äußere Waffenpracht seiner Erscheinung.  Die Waffen sind im übrigen, wie vieles in diesem Brief ganz römisch stilisiert
(73)  velut icta ist nicht recht klar, obschon das antike Vorbild hier deutlich zu fassen ist, nämlich Vergil, Aen. 2,378 ff. (Erschrecken des Androgeos, der plötzlich entdeckt, dass er unter die Feinde geraten ist): obstipuit retroque pedem cum uoce repressit, / improuisum aspris ueluti qui sentibus anguem pressit [...].
(74)  Seit Homer finden vergebliche Versuche stets dreimal statt, wobei dieses „dreimal“ regelmäßig anaphorisch gesetzt wird.
(75)  Dies soll wohl das biblische decepisti me et ipsa decepta es (Iud. 11,35) variieren; statt resque wäre also vom Sinn eher spesque tua oder tuaque zu erwarten. Offenbar interferiert das alte Wortspiel: non res, sed spes u.ä. (A. Otto, Die Sprichwörter und sprichwörtlichen Redensarten der Römer, Leipzig 1890, S. 297 (s.v. res Nr. 3).
(76)  Auf dieselbe Pointe läuft Bidermanns früher veröffentlichtes Epigramm JEPHTAE votum infelix (in:  Epigrammata III 8, zitiert nach der Ausg., Dillingen 41692, S. 158 f.) hinaus (V. 7-10): Victor ubi spoliis rediit

sublimis opimis, / Iámque stetit patrios proximus ante lares,/ Obvia cum sociis venienti Nata choreis, / Prodiit; et victus maluit esse parens
(77)  reuoluo ist wohl nicht so zu verstehen, als würde Jephtis bereits über ihr Schicksal als Opfer meditieren, denn weder war von ihr noch überhaupt von einem Opfer in den Worten Jepthes die Rede; erst im folgenden Vers 88 vermutet sie, dass die uota auf ein Opfer hinauslaufen, und ihre Angst in V. 89 f. zeigt, dass sie jedenfalls hier auch zu ahnen beginnt, wen es trifft. Wirklich klar ist ihr aber die Wahrheit erst nach der Ohnmacht geworden, offenbar visionär (bis in die Details des Gelöbnisses), s. V. 95 ff.  So zögert Bidermann, wie das halbe Geständnis des Vaters, so auch die Erkenntnis der Wahrheit durch Jephtis stufenweise hinaus, während die Bibel sie sofort alles erfassen lässt (ohne dass auch dort der Vater es direkt ausspricht). Psychologisch glaubhafter und theatralisch wirkungsvoller ist hier die Ökonomie bei Balde, der nur die entscheidende Äußerung durch den Vater, die dafür aber unzweideutig ist, wirkungsvoll hinauszögert, was dann durch die überraschende Reaktion der Tochter – die augenblicklich zum Tod bereit ist - einen großartigen Bühneneffekt ergibt (Iephtias [ wie unten Anm. 190], III 4, S. 91 f.). S. im übrigen unten S. ??
(78)  Eine kühne Metonymie, durch die die eigentlichen Akteure, Gott und Jephte, in den Hintergrund gedrängt werden (s. unten S. ??).
(79)  Libitina, die in Rom für Begräbnisse zuständige Gottheit, berühmt vor allem durch Horaz, carm. 3,30,7 – Bidermann strapaziert nie übermäßig die Gelehrsamkeit seines humanistischen Lesers - steht hier metonymisch für das Begräbnis selber.
(80)  Ähnlich hat Ovid seine Trauerdichtung aus dem Exil (das ihm wie ein Tod scheint) charakterisiert (trist. 5,1,14): efficio tacitum ne mihi funus eat (ein tacitum funus war ein Begräbnis ohne Musik).
(81)  Hier hat Bidermann geradezu mutwillig eine Schwierigkeit in die Geschichte hereingebracht, die in der biblischen Version nicht vorhanden war. Erst bei ihm, nicht in der Bibel, schwört ja Jephte, er werde das Opfer „unverzüglich“ (postposita mora, V. 24) vollziehen; nun kann er in diesem Punkt seinen Schwur nicht wörtlich wahr machen. Offenbar soll das Jephtes Strenge mildern und das Mitempfinden auch beim Leser steigern: Weder der Vater noch der „Altar“ können bei solchem Heldensinn des Mädchens ungerührt bleiben.

(82)  Wohl eine Anspielung auf Persius 1,1 O curas hominum! o quantum est in rebus inane! Während aber Persius auf die Nichtigkeit menschlicher Sorgen und Bemühungen abhebt, scheint Jephtis mehr (im Sinne der stoischen Lehre, s. unten S. ??, und des bekannten Vanitas vanitatum) die Hinfälligkeit  des scheinbaren menschlichen Glücks im Auge zu haben. Das substantivierte inane findet sich auch im Brief der Judith (Heroides 2,4,213 f., über das abgeschlagene Haupt des Holofernes): Torua tamen facies, etiamnum assueta, minatur, / Sed magnum esse suas sentit inane minas.
(83)  Erinnert dem Gedanken nach ebenfalls (vgl. oben Anm. 8) an den verbannten Ovid: trist. 5,1,5 flebilis ut noster status est, ita flebile carmen (vgl. Ovid, epist. Sapph. 7).
(84)  Entspricht dem zwischen Vorsängerin und Chor abwechselnden Kommos (Klagelied) einer Tragödie; vgl. etwa Seneca, Tro. 67-163.
(85)  Die ganze stimmungsvolle Partie (V. 125-134), deren Ethos in schönem Gegensatz zum Pathos der angrenzenden Partien steht, erinnert nur sehr ungefähr an die in der Bukolik üblichen Klagen der Natur (Pflanzen und Flüsse einbegriffen) um ihren toten oder sterbenden Liebling, vgl. Theokrit 1,71 ff., Epitaphium Bionis 1 ff., Vergil, ecl. 10, 13 ff. (entfernter ähnlich ecl. 5,20 ff.); denn dort handelt es sich jeweils um spontane Äußerungen der Trauer, nicht, wie hier, um das Einstimmen in einen menschlichen Klagegesang. In den Versen 129 f. kommt äußerlich ein Motiv des Orpheusmythos ins Spiel (wilde Tiere durch Gesang bezaubert: Vergil, georg. 4,510 usw., das Material bei Konrat Ziegler, RE XVIII 1 [1939] 1247 ff.), aber auch hier setzt Bidermann den Akzent anders; und höchst poetisch ist es, wie er dann vom Widerspiel der Flussbrandung (V. 133 repercussa aqua) zur alternierenden Klage der Mädchen (V. 135 mutua lamenta, vgl. 123 f. und 160 alterno choro) zurückleitet.

(86)  Höchst bemerkenswert: Der Traum, der als schierer Angsttraum begonnen hat, bietet also, fast im Sinne Freuds, letztlich eine Wunscherfüllung – die aber trügerisch ist! Die eigentliche höhere Aufgabe des Traums, durch Meditation des Schrecklichen dessen seelischer Überwindung vorzuarbeiten, enthüllt sich erst später. S. unten S. ??
(87)  Dies soll wohl heißen, dass alles Leben (=Lebendige), auch wenn es de facto am Leben bleibt (etiam viua), so doch potentiell immer vom Tod bedroht ist (perire potest), der Mensch also nie ohne Sorgen sein kann.
(88)  Vg. oben Anm. 70 zu V. 39 f.
(89)  Nicht leicht zu verstehen; dum ist am ehesten im Sinne von „sofern nur“ aufzufassen: „dass ich zu meiner Rettung [seruata proleptisch] (selbst) unbekannte Penaten aufsuche, sofern es mir nur gelingt, mit meiner Absicht, nicht zurückzukehren, die heimischen Laren (die mit der Rückkehr rechnen) zu täuschen.“ Penates und Lares, bei den Römern wohlunterschiedene Typen der Hausgötter, sind hier in der Metonymie gleichbedeutend.
(90)  Die Argumentation der Mädchen ist geschickt auf die Vaterliebe als den alles beherrschenden Charakterzug der Jephtis berechnet: Mit einem Appell an ihre Liebe zum Leben hätten sie ohnehin keinen Erfolg. Mit dem hochrhetorischen, überpointierten Schlussdilemma in V. 181 verraten sie sich allerdings als Sophistinnen und verderben die Wirkung ihrer Rede.

(91)  Gerade das wiederholte, nutzlose Reden wird gerne als canere bezeichnet (weil Lieder in der Regel keine überredende Wirkung haben); so besonders in den sprichwörtlichen Wendungen surdo canere (Otto [wie oben Anm. 75] s.v. „surdus“), eandem cantilenam canere (Otto s.v. „cantilena“, vgl. Andreas Bagordo, Beobachtungen zur Sprache des Terenz, Göttingen 2001, 38),  frustra canere (vgl. K.F. Smith im Komm. [N.Y. 1913] zu Tibull 1,5, 67).
(92)  Wieder denkt Jephtis an Reigen (vgl. V. 41 f.) und Kränze (V. 45): Bidermann betont, dass sie nun mit demselben Enthusiasmus in den Tod gehen will, wie sie seinerzeit dem Vater entgegentanzte.
(93)  Auch die mola salsa entstammt römischem (und, unter anderem Namen, griechischem) Ritual; bei Horaz, sat. 2,3,200 wird Iphigenie vor der Opferung mit mola salsa bestreut.
(94)  Nach dem biblischen Bericht (s. oben Anm. 37) ist das Opfer (was bei Bidermann nicht weiter erwähnt wurde) als holocaustum versprochen - wie auch das des Isaak (s. Genesis 22,2), dessen Vorbild schon hier die Vorstellungen der Jephtis bzw. Bidermanns beherrscht (vgl. ligna struémque mit Genesis 22, 9 super struem lignorum).
(95)  Mit dem Unterschied allerdings, dass Abraham es nicht wagte, seinem Sohn die volle Wahrheit zu sagen; Genesis 22,6-8: tulit quoque ligna holocausti et inposuit super Isaac filium suum. [...] dixit Isaac patri suo: [...] ubi est uictima holocausti? dixit Abraham: Deus prouidebit sibi uictimam holocausti.
(96)  Sprichwörtlich, s. Otto (wie oben Anm. 75) s.v. „magnus 1“; vgl. bes. Stat. silv. 1,5,61 fas sit componere magnis / parua.
(97)  Das Rad der Fortuna (unser „Glücksrad“)  ist eine schon in der Antike beliebte (allerdings nicht vor Cicero, Pis. 22 belegte) Vorstellung, vor allem dank Boethius (Cons. 2,1 f.; fundamental: Pierre Courcelle, La consolation de philosophie dans la tradition littéraire, Paris 1967, 127 ff.) von unübersehbarer Wirkung in
Mittelalter und früher Neuzeit; vgl. bes. Gottfried Kirchner, Fortuna in Dichtung und Emblematik des Barock, Stuttgart 1970; neuere Lit. bei Fritz Graf, „Fortuna“, Der Neue Pauly 4 (1998), 598-602. Die Formulierung fortuna rotat (V. 213) stammt von Seneca (Ag. 71; vgl. Thy. 618 rotat omne fatum und Phaed. 1123 f.); Sed Fortuna rotat heißt es auch im 2. Vers des Mottos auf dem Titelkupfer des 1638 neu bearbeiteten Poema de vanitate mundi von Jacob Balde (Rudolf Berger [Hrsg.], Jacob Balde: Deutsche Dichtungen, Amsterdam & Maarssen 1983, vor S. 1 des paginierten Anhangs).
(98)  vota müssen eigentlich die Gelübdegaben sein, denn nur diese kann man „weihen“ (dicare); entfernt ähnlich  Stat. Theb. 6, 198 crinem uoti reus ante dicaram.
(99)  Deutliche Anspielung auf eine berühmte Sentenz Ovids (met. 13, 140 f.): nam genus et proauos et quae non fecimus ipsi / uix ea nostra uoco.
(100)  Wieder ein Stück römischer statt jüdischer Sitte: Im Atrium, wo früher auch der Herd des Hauses stand, werden die wächsernen Ahnenmasken der Familie aufbewahrt. Zur satirischen Formulierung vgl. Cicero, Pis. 1 commendatione fumosarum imaginum und bes. Seneca, epist. 44,5 non facit nobilem atrium plenum fumosis imaginibus [...]; animus facit nobilem, cui ex quacumque condicione supra fortunam licet surgere; vgl. die Parallelen im ThlL-Artikel „fumosus“ von Rubenbauer (VI 1, 1540, dort Z. 30 ff. , wo Boeth. cons. 1,1,3 statt „1,1,16“ zu lesen ist).

(101)  An „äußeren Glücksgütern“ werden also aufgezählt: Adel, Reichtum, Beliebtheit, Schönheit; es fehlt – nur Männern so wichtig – die Macht.
(102)  Jephtis denkt, wie sich gleich zeigen wird, vor allem an die Freuden des Jenseits; vgl. unten S. ??.
(103)  Die sich hier äußernde Altklugheit des jungen Mädchens ist ein feines Stück der Charakterisierung.
(104)  Das griechische Fremdwort (wie unser französisches „Souvenir“) nach Catull. 12,13 mnemosynum mei sodalis.
(105)  Damit kann unmöglich, wie Friebel (wie oben Anm. 31) annimmt (V. 226 ff. „Und habt Euch diesen Brief [...]“), der vorliegende Brief selber gemeint sein, denn diesen hat ja die Amme schon größtenteils gelesen, wenn sie zu dieser Stelle gekommen ist (V. 227 Quod, precor, ipsa legas!), und er ist, nicht nur aus Gründen des Metrums, denkbar ungeeignet dafür, von den Töchtern Israels gesungen zu werden. Vielmehr handelt es sich um das Kultlied, das bei einem jüdischen Mädchenfest in der Tat jährlich gesungen wurde: Iud. 11,39 f. exinde mos increbruit in Israhel [...] ut post anni circulum conueniant in unum filiae Israhel et plangant filiam Iepthae Galaaditae diebus quattuor; wie die Kommentare zum Alten Testament angeben, ist ja unsere Geschichte nichts anderes als eben die Äitiologie bzw. der hieros logos zu diesem Brauch (wie ein Kultlied der troizenischen Jungfrauen Grundlage ist des Phaidramythos, den Euripides im ‚Hippolytos‘ gestaltet hat; vgl. U.v. Wilamowitz-Moellendorff in der Einleitung zu seiner Ausgabe, Berlin 1891, S. 23 ff.). Nach Bidermanns glücklicher Fiktion ist es also eben dieses ursprünglich improvisierte Klagelied (V. 109 ff., 119 ff., vgl. bes. 121 miseranda poëtria, 122 nostra poësis und 207 f. pangúntque canúntque), das Jephtis in nunmehr schriftlich redigierter Form dem Brief an die Amme als literarische Beigabe hinzufügt (ähnlich wie etwa Catulls Coma Berenices, carm. 66, als dem Brief an Hortensius, carm. 65, beigegeben zu denken ist).
(106)  Bei manchen römischen Geldgeschäften wird Geld bei einem  Mittelsmann, sequester, deponiert, der dafür bürgt, dass die Zahlung ordentlich stattfindet. So sorgt hier offenbar der Mond, nach dem Jephtis die Frist bis zu ihrer Opferung bestimmt hat (V. 101 f.), als luna sequestra dafür, dass die Zeit richtig eingehalten wird. Auch  
bei römischen Schriftstellern war nach Ausweis der Lexika sequester schon gelegentlich, wenn auch nicht genau in diesem Sinn, übertragen gebraucht worden.
(107)  Die Zeitangabe steht im Widerspruch zu der des argumentum, ein Flüchtigkeitsfehler.
(108)  Vielleicht ein Anklang an die Frage der Venus in Vergils Aeneis 1,241 quem das finem, rex magne, laborum? 
(109)  Hier vermischt Bidermann heidnisch-antike und christliche Vorstellungen. Das Elysium ist der (seit Vergil, Aen. 6,542 und 637 ff.; vgl. bes. Peter Habermehl, „Jenseits B V 3“, Reallex. f. Ant. u. Chr. XVII [1996], dort 297-300) unterirdische Sitz der seligen Geister; „Abrahams Schoß“, auch bei uns sprichwörtlich, stammt aus der Erzählung vom armen Lazarus im Lukasevangelium (16, 22 et portaretur ab angelis in sinum Abrahae).
(110)  matris in amplexus [...] ruam ist ein natürliches gewolltes Echo von V. 62 in patris amplexus [...] ruo. So drückt sich sinnfällig der Hauptgedanke aus, dass die Sehnsüchte unseres Lebens erst im Jenseits Erfüllung finden können.- Im übrigen denkt der klassisch gebildete Leser unwillkürlich an die Szene bei Vergil, wo Anchises im Elysium seinem Sohn Aeneas sehnsüchtig die Arme entgegenstreckt (Aen. 6,685), auch wenn die wirkliche Urmarmung nicht möglich ist (V. 700-702).
(111)  Sarah ist als Abrahams Frau Mutter von Israel; aber sie ist speziell auch Mutter von Isaak, wie dessen Frau Rebekka ist (die nur aus diesem Grund hier erwähnt wird): Beide können also mit Jephtis in besonderer Weise mitempfinden.
(112)  Die pointierte zusammenfassende Zuspitzung am Ende ist ganz in der Art von Ovids ‚Heroides‘, die auf den formellen Briefschluss durchweg verzichten (mit der Ausnahme von epist. 8, 168, wo sich das uale aber gerade nicht an den formellen Adressaten des Briefs richtet).
(113)  Vgl. W. Stroh, „Heroides Ouidianae cur epistulas scribant“ (zuerst 1991), in: Verf., Apocrypha, Stuttgart 2000, 144-174 (z.T. im Widerspruch zur älteren Forschung).

(114)  Vgl. oben Anm. 62
(115)  Vgl. oben Anm. 37 und 77
(116)  Vgl. oben Anm. 85
(117) 
Vgl. Karl Hoheisel / Carsten Colpe, „Jenseits B VIII“, Reallex. f. Ant. u. Chr. 17 (1996), dort Sp. 332-345
(118)  Vgl. oben Anm. 41
(119)  Vgl. oben Anm. 90
(120)  Mir vorliegend in: Georgii Buchanani Scoti poemata quæ extant, Amsterdam 1687, S. 187-223: Jephthes, sive votum, tragœdia (danach zitiert; bei der Aktzählung rechne ich den Prolog nicht mit).
(121)  Nil, nata, per te perpetratum est: hoc meum / Nefas: meum istud est scelus totum: meæ / Immerita pœnas pendis imprudentiæ etc.
(122)  Akt 5, 170 f. (Iphis, Jephtes Tochter:) [...] totque cædes hostium / Pensemus una sponte gratique hostia.
(123)  Akt 5, 143 f. Et quam parenti patriæque debeo / Animam libenter reddo. Am Schluss stirbt sie, um durch ihren Tod Gott mit seinem Volk (über das er wegen dessen Treulosigkeit erzürnt ist) zu versöhnen (Akt 6, 57-59): Quæcumque nostra contumax superbia /supplicia meruit, te parentem deserens, / Utinam luatur hoc cruore [...].
(124) Vgl. zuletzt Führer (wie unten Anm. 188) 121.
(125)  Unwidersprochen bleibt das Schlusswort, mit dem Jephte die scharfsinnige Diskussion mit dem professionellen Theologen beendet (Akt 4, 211-214): Vos ista per me, si libet, sectamini, / Quos juvat haberi antistites prudentiæ: / Ego veritatem malo stultam & simplicem, / Quam splendidam fuco impiam sapientiam - was deutlich an ein berühmtes Wort des (unstreitig im Recht befindlichen) euripideischen Polyneikes über die „einfache Rede der Wahrheit“ (Phoen. 469) anklingt. Der Schlusschor preist die Tochter Jephtes dafür, dass sie ihr Leben für das Vaterland gegeben habe; und Jephte verwünscht sich zwar auch noch bei der Opferhandlung wegen  seines Gelöbnisses (Akt 6, 70 f.), hat aber keinen Zweifel an der Berechtigung des Opfers, gegen das am Schluss auch die Mutter, bei allem Schmerz, nicht mehr protestiert.
(126)  Nicht einmal die Vaterliebe, die Bidermann so herausgestrichen hatte, um das ungeduldige Vorpreschen der Jephtis zu motivieren (s. oben Anm. 65 und 72 zu V. 14 und 56), wird von ihm hier explizit genannt.
(127)  Vgl. oben Anm. 123
(128)  Vgl. oben Anm. 66

(129)  In V. 89 f. spricht Jephtis sogar von dem Altar als  förmlich exekutierendem Henker: quam si [...] / Iam iam structa meo finderet ara caput!
(130)  Die Überwindung der Todesfurcht ist das große Thema von Senecas ‚Troas‘, in der zwei Kinder, Astyanax und Polyxena – freilich noch ohne vernünftige Überlegung – ihre Hinrichtung mutig akzeptieren (vgl. W. Stroh, in: Orchestra: Drama – Mythos – Bühne (Festschrift Hellmut Flashar), Suttgart / Leipzig 1994, 253 f.).
(131)  Vgl. dazu bes. A.D. Leeman, „Das Todeserlebnis im Denken Senecas,“ Gymnasium 78, 1971, 322-333 (dort zur meditatio mortis S. 327-329) und die unten Anm. 132 zur praemeditatio angeführte Literatur. Vgl. auch die Stellenangaben bei Anna Lydia Motto, Seneca source book: Guide to the thought of L.A. Seneca, Amsterdam 1970, s.v. „Death“ Nr. 16 (S. 60): „Importance of meditating upon death“.
(132)  Locus classicus ist Cicero, Tusc. 3, 29 haec igitur praemeditatio futurorum malorum lenit eorum aduentum, quae uenientia longe ante uideris; vgl. den ganzen Abschnitt §§ 28-30 (z.T. wohl nach Poseidonios, vgl. Stoicorum Veterum Fragmenta III 482 v. Arnim) und §§ 52-61; bei Seneca vgl. etwa epist. 100, 4  nemo non fortius ad id cui se diu composuerat accessit et duris quoque, si praemeditata erant, obsistit. [...] hoc cogitatio assidua praestabit, ut nulli malo sis tiro (mehr etwa bei C.E. Manning, Mnemosyne s. IV 29, 1976, 301, Anm. 3 und jetzt bes. Manfred Wacht, “Angst und Angstbewältigung in Senecas Briefen”, Gymnasium 105, 1998, 507-536, dort S. 529-532, bes. auch zur meditatio mortis). An diese Meditationspraxis denkt Seneca, wenn er angesichts seines eigenen, erzwungenen Freitods seinen Freunden die Tränen verweist (Tacitus, ann. 15, 62,2): ubi praecepta sapientiae, ubi tot per annos meditata ratio aduersum imminentia?  Grundlegend zu diesen und ähnlichen Meditationstechniken ist immer noch das Buch von Paul Rabbow, Seelenführung: Methodik der Exerzitien in der Antike, München 1954 (zur praemeditatio S. 160-179, mit reichen Belegen, bes. aus Seneca), wo die Linien von der hellenistischen Philosophie bis zu Ignatius von Loyola durchgezogen werden; spezieller zu Seneca: Ilsetraut Hadot, Seneca und die griechisch-römische Tradition der Seelenleitung, Berlin 1969 (zur praemeditatio  S. 60 f.). Bidermanns Zeitgenossen wurde die praemeditatio vor allem vermittelt durch Lipsius’ ‚Manuductio ad Stoicam philosophiam‘ (1604), in: Opera 1675 (wie unten Anm. 165) IV 2, p. 776-778.
(133)  cons. Pol. 9, 4-6; cons. Marc. 20. Ähnliche Äußerungen Senecas bei Motto (wie oben. Anm. 131) s.v. „Death“ Nr. 23 (S. 60): „Is escape from life’s lengthy torture“. Zum ganzen Themenkomplex in der Antike: Theodor Johann, Trauer und Trost: Eine quellen- und strukturanalytische Untersuchung der philosophischen Trostschriften über den Tod, München 1968, 100-109.
(134)  Zur Bedeutung des Vorbilds in Senecas Denken und Leben s. bes. Döring (wie unten Anm. 137) 18-21.

(135)  De providentia 2, 9-12
(136)  epist. 98,13 (nach Aufzählung vorbildlicher Taten anderer): nos quoque aliquid et ipsi faciamus animose: simus inter exempla. Vgl. epist. 11,9 und bes. 67, 9 dubitas ergo an optimum sit memorabilem mori et in aliquo opere uirtutis? Dies darf nicht, wie oft, mit dem Streben nach (für den Stoiker wertlosem) Ruhm verwechselt werden.
(137)  Tacitus, ann. 15, 62-64 (vgl. bes. Klaus Döring, Exemplum Socratis, Wiesbaden 1979, 37-42).Wohl erst im 19. Jahrhundert beginnt man, über den allerdings schon immer gegen Seneca erhobenen Vorwurf der Heuchelei hinaus, gerade an der theatralischen Stilisierung dieses Tods Anstoß zu nehmen (treffend dazu m.E. Hildegard Cancik, Untersuchungen zu Senecas Epistulae morales, Hildesheim 1967, 112 Anm. 122). Interessant ist, dass der Neostoiker Justus Lipsius seinem Vorbild Seneca mit der Stilisierung seines Tods als ‚Seneca Christianus’ nachgefolgt zu sein scheint; vgl. Günter Hess „Der Tod des Seneca: Ikonographie – Biographie – Tragödientheorie“, Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 25, 1981, 196-228, dort S. 223 f.
(138)  Viel Material bei Elisabeth Frenzel, Motive der Weltliteratur, Stuttgart ³1988, s.v. „Märtyrer“, S. 484-498, bes. 489-493; zum ganzen Themenkreis ist zu vergleichen der Aufsatz von Hess (wie oben Anm. 137).
(139)  Die exquisite Formulierung nach Horaz, carm. 1,11,6 f. spatio breui / spem longam reseces.
(140)  Vgl. etwa die bekannten Darstellungen von Max Pohlenz, Die Stoa: Geschichte einer geistigen Bewegung, Göttingen (1959) 41979, Bd. 1, 119-123; Peter Steinmetz, „Die Stoa“, in: Grundriss der Geschichte der Philosophie: Die Philosophie der Antike, Bd. 4: Die hellenistische Philosophie, Basel 1994, 491-716, dort S. 542-544, 615 f. (mit Lit.). Einen vereinfachten Abriss für Bidermanns Zeitgenossen gab Lipsius in ‚De constantia‘ I 7 (in Opera 1675 [wie unten Anm. 165] IV 2, p. 535 f.), ausführlicher in der ‚Manuductio ad Stoicam philosophiam‘ II 22-23 (a.O. 734-743).
(141)  Die auch nur beiläufige Nennung Fortunas bei Bidermann weist sofort auf  Seneca, der mehr als ein anderer Philosoph von Fortuna gesprochen hat; vgl. den materialreichen und tiefdringenden Aufsatz von Gerda Busch, „Fortunae resistere in der Moral des Philosophen Seneca“ (zuerst 1961), in: Gregor Maurach (Hg.), Seneca als Philosoph, Darmstadt 1975, 53-92. Der Neustoiker Lipsius in ‚De constantia‘ hielt die Vorstellung einer Kosmos und Menschheit regierenden Fortuna für unphilosophisch (I 13, in: Opera 1675 [wie unten Anm. 165] IV 2, p.545 f.), was allerdings nur den Worten nach ein  Widerspruch ist (vgl. dens. in I 15, p. 548 und bes. in ‚Physiologia Stoica‘ III 3, a.O. p. 969); vgl unten Anm. 184.    

(142)  Mit ähnlichem Jenseitsausblick endet der letzte (6.) Brief von Bidermanns 2. Heroidenbuch, in dem die Mutter der Makkabäer an ihren Jüngsten schreibt: Dieser aber verdient sich durch seine Hinrichtung schon wie ein christlicher Märtyrer den Himmel (und entgeht der Hölle), indem er nämlich als Bekenner für Gott und seinen Glauben stirbt: V. 95-98 (zitiert nach der Ausg. v. 1664): Tu fragilem vt serues morituro in corpore vitam, / Perpetua vitae sorte carere voles? / Tu modicis tradas ne membra caduca fauillis, / Membra dabis Stygiis non moritura focis. (Auch das zweite Distichon ist natürlich als rhetorische Frage zu verstehen.) Hier muss von Bidermann ein Gegensatz zum ersten Brief (der Jephtis) intendiert sein. Vgl. unten Anm. 181.
(143)  cons. Pol. 9,7 in hoc tam procelloso et ad omnes tempestates exposito mari nauigantibus nullus portus nisi mortis est. cons Marc. 20,2 f.  haec (sc. mors) est, inquam, quae efficit, ut nasci non sit supplicium [...]. caram te, uita, beneficio mortis habeo. Vgl. oben Anm. 133.
(144)  Die gewöhnliche stoische meditatio mortis kommt ohne Vorstellung eines Lebens nach dem Tode aus, das auch bei Seneca  nie als gesichert gilt (epist. 102,30!); gut Leeman (wie oben Anm. 131) 326 f.  Vgl. die folgenden Anmerkungen.
(145)  cons. Marc. 25,2 integer ille [...] ad excelsa sublatus inter felices currit animas. excepit illum coetus sacer, Scipiones Catonesque interque contemptores uitae et beneficio suo liberos [Cremutius hatte durch Selbstmord geendet] parens tuus, Marcia (was dann weiter ausgemalt wird). Vgl. cons. Pol. 9,8, wo das Jenseitsglück des Verstorbenen allerdings nur hypothetisch beschrieben wird (und zu Ähnlichem die Stellensammlung bei Motto [wie oben Anm. 131] s.v. „Death“ Nr. 32 (S. 61): „ The soul after death“). An sich ist diese Vorstellung, dass die Seele im Tod, vom Körper befreit, unsterblich fortlebe, natürlich platonischen, nicht stoischen Ursprungs.
(146)  Dort wird der in einem Traum ins Jenseits entrückte jüngere Scipio von seinem verstorbenen Vater darüber belehrt, dass die Götter den verdienten Staatsmännern einen speziellen Ort im Himmel zur ewigen Seligkeit reserviert hätten (Cic. rep. 6, 13). Zu Grunde liegt wohl wie bei Seneca die (modifizierte) Lehre des Stoikers Chrysipp - in der Forschung wird hier einseitig das Platonische betont (gut aber Leeman [wie oben Anm. 131] 326) -, dass die Seelen wenigstens der Weisen, obwohl auch sie materiell und prinzipiell sterblich sind, bis zum großen Weltenbrand  in höheren Sphären fortbestehen (Diog. Laert. 7, 157; vgl. Stoicorum Veterum Fragmenta II 809-822 v. Arnim; solche stoischen Vorstellungen mögen gebildeten Römern Kaiserapotheose und Kaiserkult akzeptabel gemacht haben). 
(147)  Vielleicht ist es kein Zufall, dass gerade diese Epistel so ungewöhnlich viel heidnisch-römisches Kolorit enthält: tropaea (V. 35, vgl. oben Anm. 69), römische Waffen (53-56),Triumphzug (57-60, vgl. oben Anm. 69), Göttin Libitina (109 und 208, vgl. Anm. 79), Penaten und Laren (173 f., vgl. oben Anm. 89), mola salsa (188, vgl. oben Anm. 93), Atrium mit Ahnenbildern (217, vgl. oben Anm. 100).

(148)  Ich denke an das berühmte Mustergebet des Kleanthes an Zeus und das Schicksal, von Seneca übersetzt in epist. 107,10; das parere deo ist einer seiner wichtigsten Leitsätze. – Im übrigen mag Bidermann auf Grund asketischer Ideale, was die Verachtung äußerer Güter angeht, den Unterschied zwischen Bibel und Stoa weniger stark empfunden haben, als wir dies heute meist tun.
(149)  Alois Schmid (Hg.): Bayerische Gelehrtenkorrespondenz. P. Matthäus Rader SJ, Bd. 1: 1595 -1612, bearbeitet von Helmut Zäh und Silvia Strodel, München 1995, Nr. 182, S. 367-369 (Bidermanns Briefe, einschließlich der nach 1612 verfassten, wurden zuvor veröffentlicht von Richard van Dülmen, „Die Gesellschaft Jesu und der bayerische Späthumanismus“, Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 37, 1974, 358-415 (dort S. 393-415, unser Brief S. 405 f.).
(150)  Vgl. unten Anm. 156
(151)  Mit der betreffenden Partie reagiert Bidermann auf die Nachricht vom Tode des Lipsius; sie beginnt: Lipsium vixisse audiui; et mouisset me tam acerbum funus, nisi ego iam dudum illum extulissem.
(152)  Eine Vers-Improvisation oder ein noch nicht erkanntes Zitat aus einem jambischen Gedicht, auf jeden Fall angelehnt an Hor. epod. 11,1 Petti, nihil me, sicut antea, iuuat etc.
(153)  „Weh um die Mühe, um die Tage und Nächte, die ich einst mit diesen Irrtümern unglücklich vergeudet habe. Es macht mir kein Vergnügen mehr wie früher, nach dem zu streben, was nichts nützen kann. Nichts hat das Batavervolk mehr, was mich heute freuen könnte, da mir die Freuden der früheren Zeit so teuer zu stehen kommen [abwegig übersetzt hier, nach van Dülmen [wie oben Anm. 149] 382, H. Weddige, in: Hubert Glaser [Hg.], Um Kaiser und Reich: Kurfürst Maximilian I. [Ausstellungskatalog 1980], München / München-Zürich 1980, 520, Nr. 836]. Und ich fühle, Pater, dass dies die Quelle meiner Leiden ist, in denen ich noch heute nach göttlichem Willen büße. [Ob hier an eine physische Krankheit gedacht ist?] Gerecht ist allemal GOTT.“ Stefan Römmelt, Bearbeiter des zu erwartenden zweiten Bands der Raderkorrespondenz, macht mich im Gespräch darauf aufmerksam, dass in Iustus ein pointierter Bezug auf Justus Lipsius liegen könnte; er tendiert dazu, in Bidermanns Brief eher eine etwas launige Stilübung als ein ernsteres Herzensbekenntnis zu sehen. Vgl. unten Anm. 155.
(154)  „Ich werde ein zweiter Heliodor sein und allen bezeugen, was ich zu spüren bekam usw. : ‚Ihr, wenn ihr einen Feind habt, so schickt ihn dort hin und befehlt ihm, stur ein Lipsianer zu sein; und ihr werdet ihn gegeißelt wiederbekommen, sofern er davon kommt‘ [eine parodistische Nachbildung der Rede des Heliodor, nachdem er sich am jüdischen Tempelschatz vergriffen hatte und, nach Gottes Eingreifen, kaum mit dem Leben davon gekommen war: Macc. II 3,38; vgl. dort V. 36 testabatur autem omnibus]. Denn was ich schon von damals an für Unglück im Geiste erduldet habe, das weiß GOTT, der Herr, und die, die klarer über meinen Sinn Bescheid wissen.“ (Die Unterstreichungen stammen von Bidermann [nach Rolf Tarot, Hg.: J. Bidermann, Ludi theatrales 1966, Bd. 1, Tübingen 1967, Nachwort S. 4*] und markieren das wörtlich Zitierte.)
(155)  Im Gegensatz (wenn auch nicht in explizitem Widerspruch) zur communis opinio der Forschung beziehen Zäh und Strodel (wie oben Anm. 149) S. 369, Anm. 5 diese Anhängerschaft nicht auf  den Neostoizismus des Lipsius, sondern auf dessen unciceronischen, lakonischen und z.T. archaistischen Pointenstil, den zum Schlagwort gewordenen „Lipsianismus“. Dafür spricht immerhin, dass nirgendwo in Raders Korrespondenz, soweit mir bisher bekannt, von einem weltanschaulichen Gegensatz zum oft erwähnten  Lipsius, dem Rader in einem Brief (Nr. 9, S. 17) als commune Musarum oraculum huldigt, die Rede ist, immer nur von seinen philologischen Leistungen und in der Tat von seinem Stil, dessen Nachahmung Rader bei seinen Schülern und sonst missbilligt (Nachweise bei Zäh/Strodel a.O.; allgemein zur Kontroverse um den „Lipsianismus“ vgl. bes. Wilhelm Kühlmann, Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat, Tübingen 1982, 204-255): Bidermann selbst verteidigt sich schon 1599 (Brief Nr. 51, dort S. 109) gegen Raders ihm, Bidermann, zugetragenen Vorwurf: [...] me desijsse ueterem et agnatum mihi stilum: affectare nouum, breuem, plus iusto [zu verstehen auch als Iusto Lipsio!] concisum (vgl. die Kritik eines Misenus an einem carmen Bidermanns: es sei Lipsianâ facundiâ dignum wegen seiner affektierten antiquitas [Brief Nr. 174, dort S. 352]); und als Rader selbst vom Tod des Lipsius erfährt, denkt er nicht an dessen Weltanschauung, sondern sagt (in einem Brief an Marcus Welser: AMSJ M I 30, Nr. 363): amaui Iustum, viuum, colam mortuum; adorabo semper acerrimum in scribendo iudicium, praedicabo eruditionem, sequor tamen in stilo Ciceronem, quantum quidem assequi potero, ita enim uideo placere, et meritò sanè, maioribus meis (mir zugänglich gemacht durch Stefan Römmelt, der mich auch auf andere vergleichbare Äußerungen über Lipsius in Raders noch unveröffentlichtem Briefwechsel mit Welser hinweist). Aber eine solche Deutung unseres Bidermann-Briefs müsste dessen Äußerungen über Gottes Strafe und Buße zur schieren Ironie degradieren, was mir, trotz dem gelegentlich scherzhaften Ton des Briefs (vgl. auch unten Anm. 167) und seinen pathetischen Übertreibungen, ausgeschlossen scheint. „Irrtümer“ der Jugend bezeugt übrigens auch Bidermanns Vorrede an seinen Schutzengel in den ‚Heroum epistulae’ ( München 1634, S. 1): QVI [...] per deuia tesqua curiosæ / Errantem pede libero Iuuentæ, / Seruasti, pius; vltimæque cladem / Cauisti miserabilem ruinæ [...].
(156)  Aus Bidermanns  Formulierungen wird deutlich, dass er sich in dem Brief von 1606 nicht etwa vom Lipsianertum erst lossagt, wie es in der Forschung gelegentlich heißt, sondern eine frühere Zeit im Auge hat, in der ihn Rader vor seiner Neigung zu Lipsius gewarnt haben muss: O vtinam, tuis olim consilijs paruissem. Sed serò sapiunt Phryges. Da Bidermanns Briefe an Rader aus der Zeit des Philosophiestudiums (Nov. 1597-Sept.1600) keine Reflexe einer solchen Auseinandersetzung enthalten – ein natürlich nicht ganz sicheres argumentum e silentio – und die zeitweilige Verstimmung zwischen beiden, die ein Brief vom August 1603 (Nr. 123) beenden will, keinen Bezug auf eine philosophisch-theologische Kontroverse zu haben scheint, denken Zäh / Strodel (wie oben Anm. 149) S. 369 hier wohl zu Recht vor allem an „persönliche Gespräche mit Rader in der Zeit zwischen 1600 und 1602 in Augsburg“. Die Beschäftigung mit Lipsius dürfte allerdings schon auf die Zeit von Bidermanns Philosophiestudium (1597-1600) zurückgehen.
(157)  Wobei immer zu bedenken ist, dass unsere Textfassungen sich auf spätere Aufführungen beziehen (nach Hess [wie oben Anm. 6]: München 1609 und  Ingolstadt 1617).

(158)  R.T. (Hg.), Jakob Bidermann: Cenodoxus, Tübingen 1963, dort S. XXIII-XXV. Vgl. neben vielen anderen bes. auch den bekannten Aufsatz von Max Wehrli, „Bidermann · Cenodoxus“ (zuerst: 1958), in: M. W., Humanismus und Barock, Hildesheim / Zürich 1993, 24-47, dort 35 ff. Nicht ganz glücklich vergleicht Wehrli Bidermanns Haltung mit Baldes Abkehr vom Stoizismus (vgl. unten Anm.191): Dort wird die „Gefühllosigkeit“ der stoischen Apathie abgelehnt, was im ‚Cenodoxus‘ eigentlich keine Rolle spielt.
(159)  Gut vergleicht Tarot dazu neben Sen. prov. 1,2 bes. auch epist. 78,20 f., wo Seneca  Lucilius ermahnt, mit seiner Krankheit zu ringen, um ein Schaustück und Beispiel (exemplum) der Tapferkeit (uirtus) zu bieten.
(160)  In diese Richtung gingen meine zaghaften Vermutungen noch bei meinem mündlichen Augsburger Vortrag im Oktober 2002.
(161)  Noch kühner hat Morford (wie unten Anm. 169) 132, Anm. 147 vermutet, die berühmte Münchener Aufführung des ‚Cenodoxus‘ von 1609 sei „a reaction to the histrionics of his [Lipsius‘!] death scene“ gewesen.
(162)  München 1634, A 2: IN secessu Tusculano [...] huc animum horis subseciuis appuli; vt lucubrationes, quas adolescentiæ calor excuderet, otiosus inspicerem; & varios ingenij, seu partus, seu abortus, ad lucernam (tollendi mihi, an exponendi viderentur) explorarem.
(163)  Dafür spricht vor allem auch, dass Bidermann in der Vorrede der ‚Heroidum ep.‘ ausdrücklich sagt, er hätte das Werk unmittelbar nach den ‚Heroum ep.‘ publizieren können, habe aber Angst vor einer Übersättigung des Publikums gehabt.
(164)  Nach Hans Pörnbacher, „Jacob Bidermann: Cenodoxus, Der Doctor von Pariß“, in: Dramen vom Barock zur Aufklärung, Stuttgart (Reclam UB 17512) 2000, 7-36 (dort S. 21) beruht diese Auffassung, die auch Pörnbacher vorsichtig modifiziert, im Kern auf  einer Arbeit von Meinrad Sadil ,1899/1900 (s. das Literaturverzeichnis bei Pörnbacher, wo man reiche Angaben zum ‚Cenodoxus‘ findet).- Kritik an der antistoischen Deutung des Stücks übt auch Peter-Paul Lenhard, Religiöse Weltanschauung und Didaktik im Jesuitendrama: Interpretationen zu den Schauspielen Jacob Bidermanns, Frankfurt/M. / Bern 1976, 77-81, schießt dabei aber weit über das Ziel hinaus. Vorsichtiger in der Kritik ist Best (wie oben Anm. 4) 217 f. Anm. 28 (dessen chronologisches Argument aber nicht durchschlägt).
(165)  Am nächsten kommt dem eine ganz beiläufige (das Lob der Parkanlagen abschließende!) Äußerung (De const. II 3; zitiert nach: Justus Lipsius, Opera omnia, Wesel 1675 [Nachdr. Hildesheim u.a. 2001], Bd. IV.2, p.569; es spricht Lipsius’ Freund Langius): Ut quandocumque fatalis ille & meus dies venerit, fronte compositâ nec mæstus eum excipiam: abeamque ex hac vita non ut ejectus, sed ut emissus.- ‚De constantia’ ist jetzt bequem erschlossen durch die zweisprachige, kommentierte Ausgabe von Florian Neumann, Mainz 1998 (wo allerdings die Vorreden weggelassen sind).
(166)  Einen Versuch, den ‚Cenodoxus’ direkt auf ‚De constantia’ zu beziehen, hat Denys G. Dyer (Verfasser einer einschlägigen, leider ungedruckten Cambridger Dissertation von 1950) in seiner zweisprachigen Ausgabe des ‚Cenodoxus’, Edinburgh 1975, „Introduction“ S. 16-18, gemacht (er betrachtet Cenodoxus als Abbild von Langius bzw. dem in diesem verkörperten Lipsius), aber seine Interpretation von ‚De constantia’ als einer Verherrlichung menschlicher Kraft auf Kosten von  Gottes Gnade und Liebe bleibt zu einseitig, und er übersieht, dass Lipsius bzw. Langius gerade in den Glauben an Gottes Vorsehung den Hauptgrund der constantia setzt (I 14, II 6 ff.).
(167)  Petit Gaspar Lechner à me nescio quas sarcinulas in re musica collectas. Sed ego asotus pridem decoxi; ac denique etiam ex ritu prisco Proteruiam feci: Nam meos ego chartas tanquam de haeresi Lipsiana suspectas, nuper ultro exussi. Haec illi significa, et fidem meam liberaui. „G. L. verlangt von mir irgendwelche Sächlein, die ich mir in der Musik [= Poesie, wie bei Terenz] zusammengepackt hätte [mit unklarer Anspielung auf Juvenal 6,146  collige sarcinulas; an sich ist colligere sarcinam üblich für „zusammenpacken“]. Aber ich habe als Prasser [die griechische Vokabel und der Zusammenhang weisen vielleicht auf den verlorenen Sohn, Lukas 15,13] längst Bankrott gemacht; und schließlich habe ich sogar nach altem Brauch Proteruia gemacht [mir völlig unklar: t.t. der Studentensprache? - proteruia ist nach Ausweis der Lexika eine etwa bei Ambrosius, übrigens auch in Lipsius, ‚De constantia‘ belegte Variante zu proteruitas, „Frechheit“]. Denn neulich habe ich meine Papiere, als seien sie der lipsianischen Häresie verdächtig, von mir aus verbrannt. Dies gib ihm zu verstehen, und ich bin meine Schuld losgeworden.“ (Nebenbei sei immerhin notiert, dass Jeremias Drexel in Nr. 170 der Rader-Korrespondenz [wie oben Anm. 149, dort S. 342], einem Brief vom 1.1.1606, in Hinsicht auf den Stil des Lipsius von einer haeresis spricht.)
(168)  Ovid, Tristia 1,7,15-22

(169)  Ich stütze mich auf Mark Morford, Stoics and Neostoic: Rubens and the circle of Lipsius, Princeton, N.J. 1991, vgl. bes. das Kapitel „Lipsius, the church, and posterity“, S. 96-138, zu Lipsius’ „conversion“ bes. S. 120 ff.
(170)  Vgl. oben Anm. 155
(171)  So lehnte er etwa den Selbstmord ab oder nahm (was gravierender ist) das peccatum aus den von der Providentia bestimmten Ereignissen heraus.
(172)  Zum Inhalt der jesuitischen Kritik an Lipsius ist besonders ergiebig der erste Teil des (unten Anm. 192 zitierten) Aufsatzes von Barbara Bauer; sie zitiert dort unter anderem aus Leonhard Lessius, De summo bono et aeterna beatitudine hominis, Antwerpen 1615. Weniger Genaues zum Thema findet man in dem einschlägigen (sonst  instruktiven) Kapitel des Buchs von Morford (s. oben Anm. 169).
(173)  Ein gewisser Guil(elmius) Fabricius Noviomagus  Apostolicus ac Archiducalis librorum Censor: Man lese sein geradezu mit Begeisterung geschriebenes Imprimatur zu ‚De constantia‘ (Opera 1675 [wie oben Anm. 165] IV 2, p. 612).
(174)  Opera 1675 [wie oben Anm. 165] p. 821
(175)  Mit der Metapher wird die Vorrede von Lipsius selbst zitiert, wo er sagt, sein Ziel sei es, dem Leser facem aliquam ad ANNÆUM SENECAM [..] praelucentem zu geben, [...] neque hercle suscitare [...] veterem & sepultam sectam, quam ævum & ratio tulit [offenbar = sustulit], nostra imprimis religio, cui fateor hanc [...] non undique concordem aut amicam (Opera 1675 [wie oben Anm. 175] IV 2, p. 617).
(176)  Noch ich, der ich mich zur Kirche des Augustiners Luther bekenne, habe im Konfirmandenunterricht gelernt, meine vornehmste Sorge im Leben solle sein, dass ich „das Himmelreich gewinne“.
(177)  Zwar behauptet er von der gens Stoicorum: [...] non aliam homines ad ætherea illa & æterna traxisse magis (De const. I 18,in: Opera 1675 [wie oben Anm. 165] IV 2, p. 556), aber nicht in dem Sinn, dass sie die Menschen auf das Jenseits ausrichten würde, sondern dass sie die maiestas und prouidentia Gottes in besonderer Weise zu würdigen verstehe.
(178)  Bezeichnend ist, wie er in dem Abschnitt von ‚De constantia‘, der über die Strafen Gottes geht, die (für den Christen doch entscheidenden) Jenseitsstrafen nur erwähnt, um sie zu übergehen (II 15, in: Opera 1675 [wie oben Anm. 165] IV 2, p. 587): Adde jam huc Postumas illas & æternas pœnas: quas è mediâ Theologia posuisse mihi satis sit, non evolvisse.
(179)  Wenn Lipsius in der ‚Manuductio’ II 13-20 die Lehre vom summum bonum in rein stoischem Sinn ausführlichst vorträgt, setzt er diese am Schluss nicht etwa von der christlich-augustinischen Auffassung ab, sondern versucht, ganz kurz und mit ein paar wenigen herausgerissenen Bibel- und Väterzitaten ihre Übereinstimmung mit derjenigen der nostri, d.h. dem Christentum, darzutun (Opera 1675 [wie
oben Anm. 165] IV 2, p. 731 f.).
(180)
  Diese Orthodoxie macht den Brief paradoxerweise sogar weniger religiös, als er hätte sein können. Der „standhafte“ christliche Stoiker, wie ihn Lipsius als Ideal hinstellt, zieht ja seine Kraft vor allem aus dem Bewusstsein, dass alles, auch alles Leiden, von Gott stammt, in Einklang mit dessen providentia steht, der es sich unterzuordnen gilt. Gerade diesen frommen Gedanken hat Jephtis nicht: Augustins Jenseits hat sich in ihrem Brief geradezu auf Kosten des lipsianischen Gottesvertrauens durchgesetzt.
(181)  Zu fragen bleibt natürlich, warum Bidermann überhaupt einen solchen Stoff gewählt hat. Vgl. oben Anm. 18. - Hingewiesen sei vorläufig immerhin auch darauf, dass die Art, wie Bidermann seine Jephtis darstellt, dem Ganzen seines zweiten Heroidenbuchs eine Dynamik gewissermaßen zunehmender Gottgläubigkeit gibt. Auf die noch ‚gottlose’ Jephtis (1) folgt die Königin von Saba (2,3), die bei Salomon vom Heidentum zum Monotheismus konvertiert; Judith (4) und Esther (5) sind dann gläubige Jüdinnen, die sich gegen die Heiden mannhaft für ihr Volk einsetzen; der jüngste Makkabäer wird nach dem Wunsch seiner fanatisch gläubigen Mutter (6) für seinen Glauben einen Märtyrertod sterben, der in deutlichem Kontrast zur Hinrichtung der Jephtis steht (vgl. oben Anm. 142).
(182)  Harald Burger: Jakob Bidermanns ‚Belisarius‘: Edition und Versuch einer Deutung, Berlin 1966, S. 11,V. 63 -66 (Fortuna spricht:) [...] sentiunt me principes, / Regésque fascibus etiam accidunt meis: / Metuunt  Supremi & imi, Ego hominum neminem; / Sed servio uni & et subsum Providentiae.
(183)  Zu Fortuna und Providentia ausführlich Burger (wie oben Anm.182) 140-145, 151 f.; Lenhards (wie oben Anm. 164, S. 21-36) in Polemik gegen Burger vorgetragene These, Fortuna sei identisch mit dem Satan, ist gänzlich abwegig.
(184)  Vgl. dazu den Aufsatz von Busch (wie oben Anm. 141), bes. S. 89 ff. und jetzt die z.T. nicht unproblematische Abhandlung von Erwin Hachmann, „Der fortuna-Begriff in Senecas Epistulae morales“,   

Gymnasium 107, 2000, 295-319 (mit Lit., leider ist Busch nicht berücksichtigt). Was Lipsius in De const. I 17 über das fatum sagt (Opera 1675 [wie oben Anm.165] IV 2, p. 552), liegt ganz auf Senecas Linie.
(185)  Dazu Burger (wie oben Anm. 182) 151-154. (Dieselbe Deutung seines Schicksals gibt Belisarius auch in einem Brief von Bidermanns ‚Heroum epistulae‘; dieser dürfte also derselben Zeit entstammen.) Was Jean-Marie Valentin gegen diese Auffassung bzw. über sie hinaus vorbringt („Die Jesuitendichter Bidermann und Avancini“, in: Harald Steinhagen / Benno von Wiese [Hg.], Deutsche Dichter des 17. Jahrhunderts, Berlin 1984, 385-414, dort S. 394 f.), überzeugt nicht recht.
(186)  Von Christlichem abgesehen: Dass „Gottes Mühlen langsam mahlen“ ist ein schon altgriechisches Sprichwort, und von Plutarch gab es eine einschlägige Schrift ‚De sera numinis vindicta’.
(187)  De const. II 13, in: Opera 1675 (wie oben Anm. 165) IV 2, p. 584 f.
(188)  Ich behandle das Werk detaillierter in „Balde auf der Bühne: zum dramatischen Werk des Jesuitendichters“, demnächst in den Akten des II. Symposions zur Münchner Theatergeschichte. Eine ausführliche, aber vielfach problematische Interpretation gibt Heidrun Führer, Studien zu Jacob Baldes Jephtias: Ein jesuitisches Meditationsdrama aus der Zeit der Gegenreformation, Lund 2003. Sonstige Literatur auf meiner Balde-Homepage: www.klassphil.uni-muenchen.de/~stroh/balde_lit.htm unter V. Nr. 103 ff.
(189)  Abgedruckt bei Jean-Marie Valentin, „Hercules moriens. Christus patiens: Baldes Jephtias und das Problem des christlichen Stoizismus im deutschen Theater des 17. Jahrhunderts“, Argenis 2, 1978, 37-72; vgl. Dünnhaupt (wie oben Anm.24) Balde Nr. 34
(190)  Iephtias tragoedia, Amberg 1654 (danach wird zitiert); später in: Opera poetica omnia, München 1729 (Ndr. hg. von Wilhelm Kühlmann / Hermann Wiegand, Frankfurt/M. 1990,) Bd. 6, 1-193 (bei Dünnhaupt [wie oben Anm. 24] Nr. 22.I)

(191)  Vgl. Schäfer (wie oben Anm. 5), bes. S. 201-218 und  Sabine Müller, Jacobus Balde und die Stoa, Staatsexamensarbeit München 1985. Vgl. auch oben Anm. 158.
(192)  Richtig hierin, gegen den Versuch stoischer Deutung durch Valentin (wie oben Anm.189), Barbara Bauer, „Apathie des stoischen Weisen oder Ekstase der christlichen Braut? Jesuitische Stoakritik und Jacob Baldes Jephtias“, in: Sebastian Neumeister / Conrad Wiedemann (Hg.), Res Publica Litteraria, Bd. 2, 453-474, bes. 461 f. - Nur in den ersten Reden der großen Szene mit ihren Freundinnen (IV 2, p. 104 ff.) bringt Jephtes Tochter zur Begründung ihres Todesmuts einige stoische, vor allem an Seneca anklingende Gedanken.
(193)  Besonders im großen Entscheidungsmonolog Jephtes (IV 1), im Gespräch Menulemas mit ihren Freundinnen (IV 2) und den Botenberichten des letzten Akts (V 1-4). Nie wird allerdings (wie z.B. bei Buchananus) die Rechtmäßigkeit der Opferung mit ernstlich theologischen Argumenten in Frage gestellt: In Jephtes Entscheidungsmonolog geht es weniger um die Frage, ob er die Tat tun soll, als vielmehr, ob er dazu die seelische Kraft aufbringt.
(194)  Vgl. die Prolusiones der Ausg. von 1654 (wie oben Anm. 190), bes. S. 1 f., 12 ff.
(195)  Soweit richtig Führer (wie Anm. 188) 52 f.
(196)  N. Serrarius, Iudices et Ruth explanati, Mainz 1609 ; I. Salianus, Annales Ecclesiastici veteris testamenti, Paris 1616 (von mir benutzt: Köln 1620)
(197)  Zur Geschichte der Exegese vgl. etwa Karl Suso Frank, „Hoheslied“, Reallex. f. Ant. u. Christ., Bd.16 (1994) 58-87.
(198)  Dass er dabei, wie es sich gehört, zum Monotheismus übertritt, erinnert an die (Salomo bewundernde) Königin von Saba, die Heldin der auf den Jephtisbrief folgenden zwei Episteln bei Bidermann (vgl. oben Anm. 17).

(199)  Dabei entfaltete er übrigens auch beachtliche prophetische Fähigkeiten: So weissagte er der Tochter von Pfalzgraf Philipp Wilhelm bei ihrer Geburt (1653) zutreffend, dass kein Geringerer als der Kaiser sie zur Frau und Mutter machen werde (Georg Westermayer, Jacobus Balde, sein Leben und seine Werke. Eine literärhistorische Skizze, München 1868 [neu hrsg. v. Hans Pörnbacher und Wilfried Stroh, Amsterdam / Maarssen 1998], 205-207).- Vgl. zu diesem Komplex Beate Promberger, Die Enthusiasmen in den lyrischen Werken Baldes von 1643, Diss. München 1995 (vorläufige Veröffentlichung: Microform-Dissertation, Ketsch bei Mannheim 1998).
(200)  Ein förmliches Gelöbnis, dessen Entsprechung zum (die Handlung einleitenden) Gelöbnis des Jephte auch durch das Metrum (Hexameter statt des dramenüblichen jambischen Trimeter) unterstrichen wird.
(201)  Vgl. bei Bidermann V. 238 Abramio [...] tuta sinu, 242 neptes. Im übrigen klingt der (eher unkeusche) Schluss der Cynthiarede in Properz 4,7 an (V. 94  mecum eris et mixtis ossibus ossa teram).

(202)  Bes. III 1, p. 74-76 ; IV 1 p. 100. 
(203)  p. 109 [...] auditur blanda jocosæ / Vocis imago. Vgl. bei Bidermann V. 127 garrula vocis imago.
(204)  Vgl. bei Bidermann V. 131 f.
(205)  Hier erscheint auch das Argument, dass Menulema ihren Vater zum Verbrecher mache (bei Bidermann V. 177 f.).
(206)  Während sie dieses Elysium mit den aus Vergils sechstem Aeneisbuch (V. 640 ff.)  bekannten Farben ausmalt (p. 111 Est alius aër, alia lux post funera etc.), schwelgen ihre Freundinnen in den üblichen trübseligen Unterweltsvorstellungen (Styx, Charon usw.) – von Menulema als figmenta (p. 113) gegenüber der wahren Lehre der Patres abgelehnt!
(207)  Dies verbindet sie natürlich am meisten mit Bidermanns Jephtis.
(208)  Diese dreifache Liebe zeigt sich sofort in Menulemas erster Szene (II 6), wo sie zunächst in Sorge ist um ihr vom übermächtigen Feind bedrängtes Volk (p. 54), dann ihre Hoffnung allein auf Gott setzt (p. 54 f.) und schließlich trotzdem um ihren Vater fürchtet (p. 55): Ergóne nigris vecta tenebrarum rotis / Ades hora tandem! dulce post Deum [!] mihi / Raptura, patrem, præ meo carum caput! / Vtinam remittant bella viuum! – worauf sie selbst für einen Augenblick, wie eine Soldatin des heutigen Israel, ihn in die Schlacht begleiten will (was ihr dann Ariphanasso gewissermaßen als Ersatzmann abnimmt).
(209)  Natürlich mit Anspielung auf Horazens berühmtes dulce et decorum est pro patria mori (carm. 3,2,13).- Im selben Sinn sagt Menulema etwa zwanzig Verse später: Patriæ, triumpho, quique donauit, Deo / Libens meum propino sanguinem, und kurz darauf: [...] si recusem, ne malum / In te, Pater, redundet; is demum est timor.
(210)  In der der fatalis occursio vorausgehenden Szene (III 1) vergießt sie Tränen und klagt ausführlich über das Schicksal des Isaak, dessen Opferung sie selber ahnungsvoll in ein Tuch gewebt hat (p. 73-76), ein Sinnbild unstoischster misericordia, ja miseratio.
(211)  In ihrer Golgathavision (IV 2, p. 115) sieht sie ihn so: sic amans (!), sic innocens, / Sic virgo mecum occumbet.
(212) 
Der Versuch Führers (wie oben Anm. 188), Baldes ,Jephtias’ als gegenreformatorisches Meditationsdrama zu deuten, scheint mir nicht gelungen. Näheres in der dort (Anm.188) angekündigten Arbeit. Man sieht leicht, dass die großen Themen des Konfessionsstreits (Rechtfertigungslehre, Schriftprinzip, Willensfreiheit Sakramente usw.) in beiden Werken keine Rolle spielen, z.T. natürlich auch gar nicht spielen können.
(213)  Der dem Protestantismus zuneigende Buchananus steht, wie man leicht sieht, gerade in der Darstellung der Jephtetochter dem Jesuiten Balde viel näher als dessen Ordensbruder Bidermann.