Wilfried Stroh

DECLAMATIO


                        Verzeiht! ich hört‘ Euch deklamieren;
                        Ihr last gewiß ein griechisch Trauerspiel?
                        In dieser Kunst möchte ich was profitieren,
                        Denn heut zu Tage wirkt das viel.
                        Ich hab‘ es öfters rühmen hören,
                        Ein Komödiant könnt‘ einen Pfarrer lehren.


Dem Kenner der römischen Literatur ist bewusst, dass diese Verse, mit denen Wagner, wissenschaftlicher Assistent beim Hochschullehrer Dr. Faust, eine der berühmtesten Diskussionen über Rhetorik eröffnet (Goethe, Faust, 1. Teil, 522-527), ihrem Hauptgedanken nach aus Cicero und Quintilian stammt (mit denen der Dichter seit Leipziger Studientagen wohl bekannt war):1 Der Redner – den man für Goethes Pfarrer einzusetzen hat -, hieß es dort, müsse, um den guten Vortrag 2 zu erlernen, auch beim Komödianten (actor) in die Schule gehen.3 Dieser Kenner weiß dann aber wohl auch, dass der rhetorikbeflissene Wagner das Wort „deklamieren“ nicht ganz im alten, korrekten Sinn von declamare gebraucht: Erst in der Neuzeit werden auch Gedichte, wie die von Wagner fälschlich supponierte griechische Tragödie, „deklamiert“ – das Wort ist geradezu terminus technicus für den Vortrag von Gedichten und und besonders auch Liedtexten beim Gesang geworden -; in der Antike dagegen wird declamare immer in Bezug auf Reden gebraucht;4 und man versteht unter declamatio, jedenfalls seit der augusteischen Zeit, über deren rhetorische Kultur wir dank dem älteren Seneca so gut informiert sind, jene Übungsreden über fiktive Themen bzw. causae im Rhetorikunterricht, durch die der Schüler auf seine Rednertätigkeit in Politik und vor allem vor Gericht vorbereitet werden soll (suasoriae und controuersiae), Übungsreden, die daneben aber auch, besonders wenn der Lehrer spricht, der schieren Unterhaltung dienen können und oft sogar von einem größeren Publikum geradezu konzertmäßig genossen werden.5

1)  1756 hört er eine Vorlesung des berühmten Johnn August Ernesti „über Cicerons Gespräche vom Redner“, also De oratore, nach späterer Erinnerung „Cicero’s Orator“ (Zeugnisse bei Ernst Grumach, Goethe und die Antike, Berlin 1949, Bd. 2,907 f.; dort S. 907-910: Beschäftigung mit Quintilian, S. 895-897: intensives Studium der rhetorischen „Technologien“ von J.A. Ernestis Neffen Johann Christoph Gottlob Ernesti).
2)  Allein der Vortrag macht des Redners Glück (V. 546) ist Übersetzung von actio [...] in dicendo  u n a  dominatur (Cic. de orat. 213); allein ist also zu betonen.
3
)   Cic. de orat. 1,156 (vgl. Anton D. Leeman / Harm Pinkster [Hrsg.], Cicero, De oratore, Kommentar Bd. 1, Heidelberg 1981, S. 220 zu Cic. de orat. 1,118; Cicero selbst soll ja mit Roscius, dem bekanntesten Schauspieler seiner Zeit, seine Kräfte in Vortragsübungen gemessen haben: Macrob. sat. 3,14,12; vgl. Plut. Cic. 5,3); Quint. inst. 1,11,1-14: Dandum aliquid comoedo quoque [...]; aus dem Folgenden ergibt sich, dass hier wohl an förmlichen Unterricht zu denken ist.
 4)  Unrichtig J. Sandstede ('Deklamation', in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hrsg. v. G. Ueding, Bd. 2, Darmstadt 1994, 481-507, dort 481): „Schon in der Antike bezieht sich der Begriff D. sowohl auf den Vortrag dichterischer Werke als auch auf eine Teilübung (dicendo) der exercitatio“. Auf solchen Unklarheiten beruht z.B. die gelegentlich zu lesende Vorstellung, Senecas Tragödie seien in Rhetorenschulen „deklamiert“ worden.
 5)   Die wichtigste allgemeine ältere Literatur (seit 1925) zur Geschichte der Deklamation nennt Janet Fairweather, „The elder Seneca and declamation“, ANRW II 32.1 (1984) 514-556, dort 543 Anm. 124 (vgl. auch ihr wertvolles Buch Seneca the elder, Cambridge u.a. 1981, bes. 104 ff., vgl. Index ); mehr bei Lewis A. Sussman: „The elder Seneca and declamation since 1900: a bibliography“, ANRW II 32.1 (1984) 557-577 (Titel bis 1981); wichtig seitdem bes. (abgesehen von reinen Textausgaben): Michael Winterbottom, „Schoolroom and courtroom“, in: B. Vickers (Hrsg.), Rhetoric revalued, New York 1982, 59-70; Konrad Heldmann, Antike Theorien über Entwicklung und Verfall der Redekunst, München 1982; D.A. Russell, Greek declamation, Cambridge 1983; Michael Winterbottom, The minor declamations ascribed to Quintilian, Berlin / New York 1984 (mit Komm.); Graham Anderson, Philostratus, London 1986; Lennart. Håkanson „Die quintilianischen Deklamationen in der neueren Forschung“, ANRW II 32.4 (1986), 2272-2306; Doreen C. Innes / M. Winterbottom (Hrsg.), Sopatros the rhetor, London 1988 (mit allg. Einl.); Joachim Dingel, Scholastica materia: Untersuchungen zu den Declamationes minores und der Institutio oratoria Quintilians, Berlin / New York 1988;  G. Anderson, „The pepaideumenos in action: sophists and their outlook in the early empire“, ANRW II 33.1
(1989) 29-208, bes. S.89-104; Robert J. Penella, Greek philosophers and sophists in the fourth century A.D.: Studies in Eunapius of Sardis, Leeds 1990; Thomas Zinsmaier, Der von Bord geworfene Leichnam, Frankfurt/M. u.a. 1993 (Komm. zu Ps. Quint. decl. 6, mit Einl.); G. Anderson, The second sophistic, London 1993, bes. S. 55-68; Lewis A. Sussman (Hrsg.), The declamations of Calpurnius Flaccus, Leiden 1994 (mit Komm.); George A. Kennedy, A new history of classical rhetoric, Princeton, N.J. 1994 (s. Index); Malcolm Heath, Hermogenes on issues, Oxford 1995 (Übers. u. Komm.), bes. S. 12-18 (Lit.); Hans-Ulrich Wiemer, Libanios und Julian, München 1995; Robert A. Kaster (Hrsg.), Suetonius, De grammaticis et rhetoribus, Oxford 1995 (mit Komm.), mit Lit.; Klaus Sallmann / [Peter Lebrecht Schmidt], „Redekunst“, in: K. Sallmann (Hrsg.), Handbuch der lateinischen Literatur der Antike, hrsg. v. R. Herzog / P.L. Schmidt, Bd. 4, München 1997, 279-321; D.H. Berry / Malcolm Heath: „Oratory and declamation“, in Stanley E. Porter (Hrsg.), Handbook of classical rhetoric in the hellenistic period 330 B.C.- A.D. 400, Leiden u.a. 1997, 393-420, bes. 406 ff. (mit weiterer Lit.); M. Korenjak, Publikum und Redner: Ihre Interaktion in der sophistischen Rhetorik der Kaiserzeit, München 2000; Robert A. Kaster: „Controlling reason: Declamation in rhetorical education“, in: Yun Lee Too, Education in Greek and Roman antiquity, Leiden u.a. 2001, 317-337 (mit Lit.). Knappe und zuverlässige Information bietet: M. Winterbottom, „declamation“, in: Oxford Classical Dictionary 31996, 436-437; verwirrend (bes. zur Antike): Sandstede, „Deklamation“ (s. oben Anm. 4); umso wertvoller: Manfred Kraus, „Exercitatio“, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd.3, 1996, 71-123 (bes. auch zum Fortleben der antiken Traditionen).


    Wie kam es dazu, dass man solche Reden gerade mit declamatio bezeichnet hat, einem Wort, das seinem etymologischen Sinn nach ja eigentlich so viel wie das „Herunterschreien“ bedeutet? Hatte es etwa von Ursprung an auch jenen despektierlichen Sinn der „klangvolle(n), aber inhaltsarme(n) Rede“, den ihm heute die Brockhaus Enzyklopädie6 attestiert und den wir meinen, wenn wir sagen, der oder jene Politiker habe wieder einmal nichts als „Deklamationen“ geliefert? Dem hier gesetzten wissenschaftlichen Problem, das umso dringender ist, als dem lateinischen declamare (nicht etwa ein griechisches kataboân, sondern) das farblose meléte („Übung“) zu entsprechen scheint,7 ist vor allem Stanley F. Bonner in seinem grundlegenden Buch über Roman declamation (1949)8  nachgegangen, und seine Darlegungen sind bis heute im wesentlichen ohne Widerspruch geblieben.9 Danach bezeichnete declamare bzw. declamatio ursprünglich eine schiere 'Stimmübung', entsprechend dem griechischen anaphónesis; daraus habe sich wohl schon zu Anfang des ersten vorchristlichen Jahrhunderts, spätestens aber in der Zeit vor Ciceros De oratore (55 v.Chr.), die uns bekannte, oben skizzierte Bedeutung der 'Deklamation', also der Schulrede über fiktive Themen, entwickelt. Diese These Bonners ist, wie ich zeigen möchte, nur was den Ursprung der Vokabel angeht, zum großen Teil richtig; im übrigen hat Bonner nicht gesehen, dass gerade Cicero weniger Zeuge als vor allem auch treibende Kraft einer sprachlichen Entwicklung war, die er, Bonner, zu früh beendet glaubte und deren innere Gründe er nicht eigentlich erfasst hat. Dazu brauchen wir kein neues Material, sondern können uns im wesentlichen auf die Belege stützen, die schon Stöger in den einschlägigen Artikeln des Thesaurus linguae Latinae10 gesammelt, freilich noch nicht ausreichend gesichtet hat.

 6)  Wiesbaden, Bd. 4, 1968, 382; vgl. Gero von Wilpert, Sachwörterbuch der Literatur, Stuttgart 51969,155: „gelegentl. auch abwertend im Sinn von eingelerntes hohles Gerede“. Auch schon Goethe gebraucht das Wort so, wenn er bei Seneca (dem Philosophen) „leere, doch unnütze Declamationen“ gegen den Luxus findet, die er, wie auch heute beliebt, damit in Zusammenhang bringt, „daß die Redekunst aus dem Leben sich in die Schulen und Hörsäle zurückgezogen hat“ (Geschichte der Farbenlehre II 3, 127, zitiert nach Grumach [s. oben Anm. 1] 895.
7)  
Auf dieses sprachliche Problem ist offenbar zuerst F.H. Colson („‘DECLAMARE‘ – KATHXEIN“, CR 36, 1922, 116 f.) aufmerksam geworden. Dass melete auf die lateinische Wortgeschichte nicht eingewirkt hat – erst Quintilian scheint den griechischen t.t. zu beachten, wenn er die declamatio bestimmt als forensium actionum meditatio (inst. 4,2,29) –, dürfte vor allem auch dadurch zu erklären sein, dass sich melete selber wohl erst spät  terminologisch verfestigt hat; so Werner Hofrichter, Studien zur Entwickelungsgeschichte der Deklamation von der griechischen Sophistik bis zur römischen Kaiserzeit, Diss. Breslau 1935, 11-13 (der früheste Beleg bei Strabon ist aber nicht einschlägig); eine genauere Wortuntersuchung wäre wünschenswert (erst späte Belege bei Russell [s. oben Anm. 1] 9 ff.) Das von Colson als griech. Aequivalent zu declamare (was ursprünglich „unterrichten“ geheißen hätte) vorgeschlagene katechein findet keinen Anhalt in dem Belegmaterial für declamare usw.
8)  Voller Titel: Roman declamation in the late republic and early empire, Liverpool 1949 (dort bes. S.17-31); vieles daraus ist rekapituliert und weitergeführt in seinem ebenfalls wertvollen Werk: Education in ancient Rome: from the elder Cato to the younger Pliny, London 1977 (dort bes. S. 72 f. zur Wortgeschichte von declamare). 
9) 
Explizit zustimmend Leeman / Pinkster (s. oben Anm. 3), Bd. 1, S. 248 f. (mit allerdings vorsichtigen Formulierungen); Lewis A. Sussman, The elder Seneca, Leiden 1978, 5; Kaster (s. oben Anm. 5) 275; mit leichter Einschränkung Fairweather 1984 (s. oben Anm. 5) 550 Anm. 158, vgl. aber auch Fairweather 1981 (s. oben Anm. 5) 128.
10)  ‚declamatio‘, ‚declamo‘ usw., Bd. V 1(1910) 179-182

    Die ältesten Belege für declamare – sie stammen alle von Cicero - scheinen nicht im Zusammenhang der eigentlich schulmäßigen Rhetorik zu stehen; wir wollen mit ihnen beginnen. Als Grundbedeutung des Worts, wenn es in dieser Weise untechnisch gebraucht wird, gibt Stöger an „i.q. clamare vel vehementer dicere“ (ThlL V1,181,45), also das 'laute, heftige Reden'. Aber was besagt hier de? Das früheste Zeugnis gibt Auskunft. In seiner Rede für den angeblichen Vatermörder Roscius (80 v.Chr.) sagt Cicero ( S.Rosc. 82) über sachfremd scheinende Vorwürfe des Anklägers gegen seinen Mandanten: [...] quae mihi iste uisus est ex alia oratione  d e c l a m a r e  quam in alium reum commentaretur; ita neque ad crimen parricidi neque ad eum qui causam dicit pertinebant. Durch de- ('von oben nach unten') wird – ganz ähnlich wie bei decantare ('absingen') 11 - die Vorstellung suggeriert, dass es sich um einen fertigen Text handelt, der quasi mechanisch 'aufgesagt' bzw. 'heruntergedonnert' wird; wie hier dient auch sonst im außerrhetorischen Gebrauch das Wort stets der Abwertung, durchaus vergleichbar der, die wir im heutigen deutschen Fremdwort finden. Ähnlich ist (i.J. 70) Cic. Verr. II 4,149 ille autem insanus, qui pro isto uehementissime contra me  d e c l a m a s s e t [ ... ]. Der weitere Kontext zeigt, dass dieser wahnwitzige'Deklamierer'' von dem, was er 'aufgesagt hat', innerlich nicht überzeugt war. Diese Nuance ist noch deutlicher im Substantiv declamatio, das von Cicero zunächst so verwendet wird: Planc. 47 [i.J. 54]... ad communem ambitus causam  contulisti, in qua desinamus aliquando, si uidetur, uolgari et peruagata  d e c l a m a t i o n e  contendere. Hier, wo Cicero den Ankläger auffordert, seine Vorwürfe endlich zu konkretisieren, verstärkt das de- in declamatio das Formelhafte der „trivialen und überall üblichen“ 12 Gemeinplätze, die der geübte Redner in Sachen ambitus parat hat, um sie jeweils pro oder contra 'lautstark aufsagen' zu können.13 Schwieriger ist Cic. epist. 3,11,3 (i.J. 50), da der Text nicht in Ordnung scheint: uerum tamen est maiestas, etsi Sulla uoluit ne in quemuis impune  d e c l a m a r i  liceret, <ambigua> [suppl. Lehmann, Shackleton Bailey]; ambitus uero ita apertam uim habet ut aut accusetur improbe aut defendatur. Gemeint muss sein, dass die Schuld in Fälle von maiestas-Prozessen, offenbar wegen der relativen Unbestimmtheit des Begriffs, schwerer festzustellen ist als bei dem klarer umgrenzten ambitus - „obschon Sulla wollte, dass man nicht gegen jeden ungestraft 'deklamieren' dürfe“ – das dürfte dann wohl auf eine Klausel der lex Cornelia de maiestate14 gehen, in der eine Strafe für den festgesetzt war, der sachfremde Vorwürfe gegen einen Unschuldigen 'abspult' (die Vorstellung scheint also ähnlich wie in S.Rosc.82).
    Dies sind sämtliche15 Belege des ersten Jahrhunderts, in denen declamare bzw. declamatio ohne eindeutige Beziehung auf Rhetorik oder rhetorischen Unterricht gebraucht wird. Alle sind peiorativ, abwertend gemeint; alle betreffen auffallenderweise das Reden eines Redners, nicht das eines sonstigen Sprechers. Das letztere legt die Vermutung nahe, dass sie doch in einem gewissen Verhältnis zur technischen Verwendung des Worts in der römischen Rhetorik stehen.

11)  Vgl. die von Gudeman zu decantare „in malam partem“ zusammengestellten Belege (ThlL V 1, 118,14-38), zuerst Cic. de orat. 2,75 nec mihi opus est Graeco aliquo doctore, qui mihi peruulgata praecepta decantet.
12)  E. Köpke / G. Landgraf  (Cic., Planc., Leipzig 31887) zu Planc. 47: „unbegründetes und leeres Zungengedresche, das sich in trivialen Tiraden ergeht“. Zum Ausdruck vgl. Cic. orator 195 ... nimis dissolutum, ut peruagatum ac uulgare uideatur (über eine Rede ohne rhythmische Komposition).

13) Wie Cicero sagt noch (völlig untechnisch) Seneca, epist. 83,16 itaque declamationes istas de medio remoueamus [...].

 14) Literatur zum juristischen Problem bei D.R. Shackleton Bailey (Hrsg.), Cic., Epist. ad fam., Bd. 1, Cambridge 1977 z.St.

 15) Weggelassen ist nur Cic. Mur. 44 non placet mihi inquisitio candidati, praenuntia repulsae, non testium potius quam suffragatorum comparatio, non minae magis quam blanditiae, non  d e c l a m a t i o  potius quam persalutatio [...]: declamatio, nach Joachim Adamietz (Cic., Pro Murena ,mit Komm., Darmstadt 1989, S. 179 )
der „lautstarke Protest“, würde überhaupt nicht zur sonstigen Verwendung des Worts passen; wahrscheinlich ist mit Bake und Clark denuntiatio zu lesen; vgl. Joh. Nicolaus Madvig, Adversaria critica, Bd. 2, Kopenhagen 1873, 208.

    Wir studieren diese zunächst beim sogenannten Auctor ad Herennium – dessen Datierung heute nicht mehr unumstritten ist -,16 da er sich am ausführlichsten äußert. Dort werden im Zusammenhang des fünften Teils der Rhetorik, der pronuntiatio (3,11,19 ff.) – die er eingehender erörtern will als alle Rhetoriker vor ihm -, drei Vorzüge der Stimme behandelt (3,11,20):17 magnitudo (Stärke), firmitudo (Ausdauer), mollitudo (Modulationsfähigkeit).18 Die magnitudo sei vor allem ein Geschenk der Natur, könne aber durch die adcuratio (Stimmpflege) gebessert werden ; dagegen sei die firmitudo besonders Sache der Stimmpflege (cura), sie lasse sich aber nicht unwesentlich steigern und erhalten durch die exercitatio  d e c l a m a t i o n i s . Diese letztere dominiere vollends im dritten Punkt: mollitudinem uocis, hoc est ut eam torquere in dicendo nostro commodo possimus, maxime faciet exercitatio declamationis. Der ‚Auctor‘ gibt keine Definition dessen, was er unter cura (bzw. adcuratio) und declamatio verstehen will, sagt aber: was natura und cura angehe, [...] nihil nos attinet commonere, nisi ut ab iis qui non inscii sunt eius artificii ratio curandae uocis petatur.19 Unter diesen artifices sind offenbar Schauspieler oder Ärzte zu verstehen, die sich auf Pflege und Heilung der Stimme verstehen (von den Römern z.T. phonasci genannt);20 wir kennen einschlägige Vorschriften bezüglich von Medikamenten und Stimmübungen vor allem aus griechischen Ärzten der Kaiserzeit21 (über die nachher noch kurz zu sprechen sein wird). Deren Vorschriften scheinen also nicht gemeint, wenn der Auctor nun über den Aspekt (pars) der firmitudo und mollitudo sprechen will, der auf der ratio bzw. moderatio declamationis, wie er mit Variation des Ausdrucks sagt, beruhe.

16)   Die immer noch vorherrschende Frühdatierung der Herenniusrhetorik in die Achtzigerjahre (zuletzt bes. in der Ausg. von Guy Achard, Paris 1989, Einl. S. VI-XIII: zwischen 86 und 83) ist von A.E. Douglas bestritten worden („Clausulae in the Rhetorica ad Herennium as evidence of its date“, CQ 54, N.S. 10, 1960, 65-78). Obwohl mich dessen Argumentation nicht wirklich überzeugt, halte ich es doch aus anderen Gründen, die hier nicht einmal angedeutet werden können, für sehr wahrscheinlich, dass das Werk nach Ciceros De oratore  anzusetzen ist.
17)  Geradezu irreführend ist die Wiedergabe der Partie bei Josef Martin, Antike Rhetorik, München 1974, 353.
18)  Diese wohl vom Verfasser selber (aus der  Medizin?) in die Rhetorik eingeführte Einteilung hat nichts zu tun mit der des Aristoteles in „Stimmstärke, Harmonie (= Sprachmelodie), Rhythmus“ (so unrichtig Georg Wöhrle, „Actio: Das fünfte officium des antiken Redners“, Gymnasium 97, 1990, 31-46, dort 43 Anm. 42). Sie scheint aufgenommen und leicht variiert in der Ars rhetorica des Fortunatianus (4. Jhdt.?) 3,15 (mit Komm. hrsg. v. Lucia Calboli Montefusco, Bologna 1979, S. 158): bonitas uocis quibus constat? claritate, firmitate, suauitate.
19)  Im selben Sinn sagt Crassus in Cic. de orat. 3, 224 bei Behandlung der uox tuenda (m.E. das evidente Vorbild unserer Partie, vgl. oben Anm. 16): de quo illud iam nihil ad hoc praecipiendi genus, quem ad modum uoci seruiatur (equidem tamen magno opere censeo seruiendum); sed illud uidetur ab huius nostri sermonis officio non abhorrere, quod [...] plurimis in rebus, quod maxime est utile, id nescio quo pacto etiam decet maxime etc. (der Gedanke, den der Auctor in 3,11,21 f.  breit ausführt).
20)  Nach üblicher Auffassung der Lexika und der Spezialisten heißen  „Phonaskoi, phonasci [...] im Altertum die berufsmäßigen Stimmbildner, die zuerst für den Bühnenvortrag und weiterhin zur Anleitung des Redners benötigt wurden“; so Johanna Schmidt im Artikel 'Phonaskoi', RE XX 1 (1941) 522-526; ebenso jetzt (mit  neuerer Lit.) Gualtiero Calboli, 'Phonaskoi', Der Neue Pauly, Bd. 9 (2000) 949 f..  Sieht man genauer hin, so finden sich Belege für  phonascus im Sinne des 'Stimmbildners' offenbar nur bei den Römern Tacitus (ann. 14,15,4: über Nero, Text nach Konjektur) und Sueton (Nero 25,3;  Aug. 84,2). Bei Quintilian dagegen ist mit phonascus (zuerst 2,8,15; dann 11,3,19; 22;) immer eindeutig der Stimmvirtuose (Sänger oder Schauspieler, unrichtig Schmidt Sp. 524,34), also offenbar derjenige gemeint, der die eigene Stimme trainiert (phonaskei); und dies scheint auch dem üblichen  griechischen Sprachgebrauch zu entsprechen (etwa Epict. 1,4,20; Alexander Aphr. probl. 1,119; der Stimmtrainer heißt phonaskikos); überhaupt erst Römer dürften, in Analogie zum rhetor, den phonascus zum Lehrer gemacht haben. Im übrigen heißt phonaskein nicht nur „train one‘s voice, learn to sing or declaim“ (Liddell / Scott s.v.) sondern auch 'schön reden, das große Wort führen' (offenbar schon seit Demades or. fr. 75, p.43 de Falco2; dann bei Dio Chrysostomos und Libanios). Die Terminologie müsste im Zusammenhang einer Neubearbeitung des ganzen Komplexes (unzulänglich: Armin Krumbacher, Die Stimmbildung der Redner im Altertum bis auf die Zeit Quintilians, Paderborn 1920) geklärt werden.
21)  Viel dazu bei Schmidt, „Phonaskoi“ und Calboli (s. oben Anm. 20); am wertvollsten ist die Arbeit von Hermann Schöne, „Peri hygieines anaphoneseos bei Oribasius Coll. Med. VI 10, Hermes 65, 1930, 92-105.

    Worin diese besteht, zeigen die folgenden Vorschriften,22 zunächst zur firmitudo: Man solle die Proömien (principia) mit verhaltener Stimme sprechen,23 größere Pausen (interualla) einlegen, vom lautstarken Reden (clamor) öfter zum Umgangston (sermo) übergehen, plötzliche Ausrufe (exclamationes) meiden und am Schluss der Rede längere Partien auf einen Atem (uno spiritu continenter) sprechen. Zwar sind die hierfür gegebenen Begründungen zunächst rein medizinisch24 – so wird etwa die erste Vorschrift damit erklärt, dass ein zu lauter Redebeginn die Luftröhre (arteria) verletze -, aber seine 'Übung' selber ist, wie angedeutet, eine spezifisch rhetorische: Sie besteht offensichtlich im lauten Vortrag einer ganzen Rede, auf deren Teile ja sogar in der Reihenfolge der Vorschriften, zumindest bezüglich Anfang und Ende, Rücksicht genommen ist.
Dies ist kaum anders bezüglich der mollitudo, von der der Auctor betont, dass sie gänzlich in den Bereich des rhetorischen Unterrichts gehöre (11,13,23 omnis ad rhetoris praeceptionem pertinet), d.h. dass die erwähnten Spezialisten für 'Stimmpflege' sich offenbar nicht mit ihr befassen (weswegen hier auch Medizinisches fehlt). Wenn er, scheinbar nur systematisch, die drei verschiedenen 'Grundtöne' des rednerischen Ausdrucks nennt (und diese dann in acht Spezies zerlegt), so ist auch hier die Reihenfolge offenbar am Redeablauf orientiert. Der zuerst genannte 'Alltagston' (sermo25) entspricht den, wie wir gehört haben, gedämpften Proömien (und ein Spezies von ihm ist der, den zweiten Redeteil betreffende, 'Erzählton', narratio). Von der contentio ('Ton des Nachdrucks') sagt er ausdrücklich, sie sei ad confirmandum et ad confutandum geeignet, sie gehört also zu dem, was später zusammenfassend argumentatio heißen kann (bei ihm der vierte und fünfte Teil der Rede, confirmatio und confutatio [1,3,4]). Und wenn es von der zuletzt genannten amplificatio ('Ton der Steigerung') heißt, sie die oratio quae aut in iracundiam inducit aut ad misericordiam trahit auditoris animum, so ist klar, dass hier besonders auf den Redeschluss (1,3,4 conclusio, gewöhnlich peroratio) abgehoben ist, wo in der Gerichtsrede – an die in der Rhetorik ja immer zuerst gedacht wird - der Ankläger auf den Zorn, der Verteidiger auf das Mitleid des Zuhörers abzuzielen hat. So ist also auch bei den Vorschriften für die stimmliche Gestaltung der verschiedenen ‚Töne‘ (3,22,14 f.) der Ablauf einer Rede im Blick.

22)  Nur wenig hilfreich zum Verständnis ist die Arbeit von Krumbacher (s. oben Anm. 20), 42-44, 94-99, 101 f.; einige Hinweise bei Gualtiero Calboli (Hrsg.), Cornifici Rhetorica ad C. Herennium, Bologna 1969 (mir unbekannt: 21993), 265 ff.
23)  So auch Fortunatianus (vgl. oben Anm. 18) 3,17 [...] ut in principiis uox tua submissa sit, deinde paulatim se intendat (dies aber bei ihm nur, wenn nicht die Möglichkeit zu stimmlicher Vorübung besteht).
24)  Der Auctor dürfte hier eben die medizinische Literatur benutzen, auf die er gerade angespielt hat.
25)  OLD s.v. 'sermo' 6 b; vgl. unten Anm. 97

Natürlich hätte all dies Gesagte auch Gültigkeit für eine wirkliche, auf dem Forum vor Richtern gehaltene Rede; aber ebenso ist klar, dass der Auctor hier vor allem an eine spezielle Übung des rhetorischen Unterrichts (rhetoris praeceptio) denkt: Bei ihr werden ganze Reden vorgetragen, und zwar so, dass dabei nicht auf Inhalt und Form (inuentio, dispositio, elocutio), sondern ausschließlich auf die Vortragskunst (pronuntiatio) geachtet wurde. Wenn der Auctor versichert, dass seine Lehre auf diesem Gebiet neu, in Rhetoriken unüblich sei, so bezieht sich das nur auf seine speziellen stimmpädagogischen Vorschriften (die firmitudo und mollitudo fördern sollen), nicht auf die 'Übung der declamatio, die eher als bekannt vorausgesetzt wird. Sie findet sich, der Sache nach – von der Vokabel sehen wir einen Augenblick ab – im Kern auch noch bei Quintilian, dessen Vorschriften zur Schulung der pronuntiatio hier überhaupt den besten Kommentar geben. Der Redner, sagt er (11,3,19 ff.), müsse ebenso die Stimme ausbilden wie der phonascus, der Stimmvirtuose (als Sänger oder Schauspieler)26, könne aber nicht dieselben Methoden anwenden wie jener (einiges davon wird aufgezählt, worauf wir noch zurückkommen). Seine Stimmübung bestehe vor allem im Vortrag von auswendig Gelerntem (11,3,25 ediscere autem quo exercearis optimum), da man bei dessen Wiedergabe, unabgelenkt vom Inhalt, nur auf die Stimme achten könne: nam ex tempore dicentis auocat a cura uocis ille qui ex rebus ipsis concipitur adfectus; im übrigen gelte es, Texte auswendig zu lernen, die eine möglichst große Vielfalt von Tönen enthielten, um so durch den Vortrag nur eines Texts stimmlich für alle Anforderungen der Praxis gerüstet zu werden (also was der ‚Auctor‘ die mollitudo uocis nannte): et ediscere quam maxime uaria, quae et clamorem et disputationem et sermonem et flexus habeant, ut simul in omnia paremur.
Den einzigen Unterschied zum ‚Auctor‘ macht, dass bei Quintilian nicht speziell an den Vortrag ganzer Reden, sondern allgemeiner an für die Stimme dankbare Texte gedacht scheint.27 Jedenfalls ist evident, dass Quintilian hier nicht das im Auge hat, was er sonst, dem später üblichen Sprachgebrauch entsprechend, declamatio nennt, eben die zu fiktivem Thema gehaltene Übungsrede, welche die Krönung des Rhetorikunterrichts ist (inst. 2,10) und unweigerlich suasorias iudicialesque materiae (2,10,1) betrifft. Im übrigen gilt jedoch auch für die exercitatio declamationis des Auctor, dass sie, obschon sie im Vortrag ganzer Reden zu bestehen scheint, keine solche 'Deklamation' im späteren Sinn von declamatio darstellt; es kommt in ihr ja nicht auf das schöpferische Erfinden von Argumentationsstrategien oder auf diuisiones colores sententiae im späteren Sinne an, sondern ausschließlich auf die Stimmschulung. Declamare – das hat schon der Blick auf den unrhetorischen Sprachgebrauch nahegelegt – bezeichnet eben das 'laute Aufsagen' eines vorgefertigten, in der Regel wohl auswendig gelernten Textes; und exercitatio declamationis, um es einmal auch ganz wörtlich zu übersetzen, heißt: 'die Übung, die im lauten Aufsagen besteht'.28

26)  S. oben Anm. 20
27)  Ähnlich beim Auswendiglernen von Texten im Rahmen der Progymnasmata (inst. 2,7,2), wo es vor allem um die Schulung des Stils geht.
28)  Ich fasse also declamationis als einen epexegetischen Genitiv; anders sind die objektiven Genetive exercitatio uocis oder exercitatio dicendi (etwa Cic. Arch. 1), auch Sen. contr. 2 praef. 4 declamandi exercitatio, wo gemeint ist dass man 'das Deklamieren (im späteren Sinn) übt'.

Wäre also dieser technische Gebrauch von declamatio eine Festlegung nur des Auctor? Vor allem Cicero beweist, dass dies nicht der Fall ist. In De oratore (55 v.Chr.) heißt es über die Stimmschulung (1,251): quid est oratori tam necessarium quam uox? tamen me auctore nemo dicendi studiosus Graecorum more tragoedorum29 uoci seruiet, qui et annos compluris sedentes  d e c l a m i t a n t  et cotidie, antequam pronuntient, uocem cubantes sensim excitant eandemque, cum egerunt, sedentes ab acutissimo sono usque ad grauissimum sonum recipiunt et quasi quodam modo conligunt. Hier sind mit declamitare eindeutig Stimmübungen tragischer Schauspieler bzw. Sänger gemeint, und zwar Übungen, die zur habituellen Stimmpflege durchgeführt und offenbar von denen unterschieden werden, die dem aktuellen 'Ein- und Aussingen' vor und nach der vokalen Darbietung dienen.30 Spätestens in den Fünfzigerjahren scheint hier also ein technisch fester Begriff, der möglicherweise aus dem Bereich des  Schauspielunterrichts stammt, vorzuliegen. In dieselbe Richtung weist Ciceros Verwendung von declamare später (i.J. 45), also zu einer Zeit, wo sonst declamare im Sinn der spätere 'Deklamation'  terminologisch festgelegt ist (wie wir noch sehen werden): Cic. fin. 5,5 quo in loco ad fluctum aiunt  d e c l a m a r e  solitum Demosthenem, ut fremitum assuesceret uoce uincere (bei den berühmten Übungen des phonetisch behinderten Redners, kam es nur auf die Schulung der Stimme an); ebenso auch noch Val. Max. 8,7, ext. 1: (Demosthenes) litoribus insistens  d e c l a m a t i o n e s  fluctuum fragoribus obluctantibus edebat.31 Ja sogar noch  Quintilian, der declamare sonst ausschließlich für die Schulrede (im Sinne von inst. 2,10) gebraucht, scheint an der vorher zitierten Stelle, wo er die Stimmübungen behandelt, wenigstens einmal in diesen Sprachgebrauch zurückzufallen (inst. 11,3,27): nam crudum quidem aut saturum aut ebrium aut eiecto modo uomitu [...] d e c l a m a r e  neminem qui sit mentis compos puto.32 Was also der Auctor unter exercitatio declamationis versteht, entspricht einem älteren, sich in Ausläufern aber noch bis in die Kaiserzeit durchhaltenden Sprachgebrauch; für den Auctor spezifisch ist offenbar nur, dass er an das Sprechen ganzer Reden denkt,33 während der Begriff sonst allgemeiner im Sinn der 'Sprechübung' überhaupt zu fassen ist.34  
Terminus ante quem für diese Bedeutung der Vokabel scheint aber schon das Jahr 80 v. Chr.; denn es ist, wie im Kern schon Bonner gesehen hat,35 unverkennbar, dass Ciceros Spott über den Ankläger, der ihm ex alia oratione quam in alium reum commentaretur zu 'deklamieren' (declamare) scheine, auf eben diese Praxis des lauten, der Stimmschulung dienenden Vortrags eines festen Textes anspielt. Auch an den übrigen angeführten Stellen, wo declamare bzw. declamatio untechnisch gebraucht wird, dürfte also dieser Begriff mitzuhören sein; alle bezogen sich ja auf das 'Aufsagen' von etwas, das schon gewissermaßen fertig ist und darum der jeweils zu bewältigenden Situation nicht gerecht wird. Darum war auch die untechnisch gebrauchte declamatio immer peiorativ gemeint, während dies beim technischen Terminus natürlich nicht der Fall ist: Erst die Übertragung des declamare in Situationen außerhalb der Sprecherziehung, lässt das 'Aufsagen' deplatziert erscheinen. Der terminus technicus dürfte hier einmal der Ursprung des Begriffs sein.36

29)  K.F. Kumaniecki in seiner Ausgabe (Leipzig 1969) liest mit einem Teil der Überlieferung: Graecorum more et tragoedorum, wodurch der Brauch auch für griechische Redner bezeugt wäre; aber der Einwand, den Antonius im Folgenden macht, wäre dann weniger schlüssig.
30)  Vgl. zur sachlichen Erklärung außer dem Kommentar von Leeman / Pinkster (wie Anm.3), Bd. 2 (1985) 169 f. auch Krumbacher (wie Anm. 20), 83-85 und bes. Günther Wille, Musica Romana, Amsterdam 1967, 481.
31)  Stöger (ThlL V1, 180,42) hat dies wunderlicherweise auf schriftliche Edition bezogen!
32)  Dies entspricht der Beobachtung des Aristoteles, dass „alle, die ihre Stimme üben (phonaskuntes), wie Schauspieler und Choreuten [...] in der Frühe, wenn sie nüchtern sind, ihre Übungen machen“ (probl. 901 B 1).
33) Da ich den Auctor spät datiere (s. oben Anm.16) muss ich damit rechnen, dass er hier schon vom späteren Begriff der declamatio beeinflusst ist.
34)  Bonner  hat diese von ihm zu Recht ursprünglich angesetzte Bedeutung unzulässig eingeschränkt, wenn er meinte (1949 [wie Anm. 8], 21): „[...] that the rehearsal, either by the master for imitation or by the pupil for criticism, of sections of speeches for this strictly limited purpose of pronuntiatio was what declamatio originally meant“. Inspiriert hat ihn dazu wahrscheinlich die oben angeführte Stelle Cic. S.Rosc. 82; aber schon allein der Auctor, bei dem doch eindeutig an ganze Reden gedacht ist, verbietet die Einschränkung auf bloße Redeteile.- Vorsichtiger als Bonner unterscheidet A.E. Douglas in seinem Kommentar zum Brutus (Oxford 1966, S. 222 f., zu § 310) zwei Grundbedeutungen von declamatio: „(I) rehearsal of speeches which were to be delivered [so in der Tat wohl in Cic. Phil. 5,19, s.unten], (II) voice-training ([...] de or. I.251)“; nur an den übungsmäßigen Vortrag zu haltender Reden denkt Domenico Bo, Scuola e retorica in Roma fino al Io sec. d. c., Turin 1969, 151.
35)  Bonner 1949 (wie Anm. 8), 28, unter Bezugnahme auf den Kommentar von Gustav Landgraf.
36)  Ich kann somit nicht glauben, dass declamare ursprünglich ein „Spottwort“ war (so Adolf Kiessling / Richard Heinze [Hrsg.], Horatius, Briefe, Berlin 41914, Ndr. 1961, zu Hor. epist. 1,2,2), ähnlich Hofrichter (wie Anm. 7) 11 („ fast verächtlich, als sei es von Leuten geprägt, die sich über die Schulübungen lustig machten“).

Höchst problematisch war es jedoch, wenn Bonner diesen Begriff der declamatio (ohne genauere Begründung) von dem griechischen Äquivalent anaphonesis herleiten wollte.37 Hierbei handelt es sich um einen aus der (schon erwähnten) medizinischen Stimmpflege stammenden Terminus, der griechisch zuerst im ersten nachchristlichen Jahrhundert bei Aretaios38 und Plutarch belegt ist,39 und eine Stimmübung bezeichnet, die von der, die wir bei Cicero, dem ‚Auctor‘ und Quintilian bezeugt fanden, beträchtlich abweicht. Der Name selber scheint nämlich daher zu kommen, dass man die Stimme allmählich von den tiefsten Tönen beginnend in die Höhe steigen ließ (anagein) und sie dann wieder zurückbrachte.40 Er führt also auf eine andere Vorstellung als die, welche durch declamare evoziert wird; dagegen entspricht es der Vorstellung von anaphonesis, wenn Seneca und der ältere Plinius sie mit intentio41 uocis übersetzen42 (was eine ältere Übersetzung mit declamatio weniger wahrscheinlich, wenn auch nicht unmöglich, macht).

37)  Bonner 1949 (wie Anm. 8) 20 Anm. 3, sicherlich angeregt durch Colson (wie Anm. 7, dort 117, Anm. 2) und die Gleichsetzung der Vokabeln im Corpus Glossariorum III 351, 65 u.ö. (Hinweis schon bei Stöger ThlL V1,179,73), auf die sich Bonner sonderbarerweise erst später (1977, 344 Anm. 50, wo ihm die Gleichsetzung endgültig gesichert scheint) beruft. 
38)  Er nennt sie die „geeignete Schulung des Atems“ (8,13,10 = CMG II 170,1) und gebraucht sie für verschiedene therapeutische Zwecke (7,3,8; 8,7,6 = CMG II 150,31; 166,27).
39)  Plut. mor. 130 C (anaphonein neben anagignoskein als körperkräftigende, besonders für „Philologen“ geeignete  Stimmübung); 1071 C (anaphonesis neben anderen diätetischen und therapeutischen Maßnahmen); dann zahlreiche Belege bei Soranos, Archigenes, Galenos, Antyllos, Oreibasios, Aetios, Paulos. Etwas verwirrend ist die Zusammenstellung bei Krumbacher (wie Anm. 20), 105-107, da nicht genau auf die Terminologie geachtet wird..
40)  So Oreibasios (nach Antyllos), coll. med. 6,9,5 (CMG VI 1,1, p. 160); die in 6,10 beschriebene anaphonesis ist anderer Art und kann, wie von Schöne (wie Anm. 21) gezeigt, nicht von Antyllos stammen.
41)  intendere bezüglich der Stimme bezeichnet nicht nur Verstärkung, sondern auch Erhöhung des Tons; z.B. Cic. orator 59 ergo ille princeps [...] omnes sermonum tum intendens tum remittens persequetur gradus.
42)  Seneca, epist. 15,7 (bei Behandlung von gesundheitsfördernden Übungen) nec tu intentionem uocis contempseris, quam ueto te per gradus et certos modos extollere, deinde deprimere. (Seneca hält es für überflüssig, die anaphonesis in dieser strengen Form durchzuführen, was imerhin zeigt, dass anaphonesis auch in weiterer Bedeutung verwendet werden kann.) Bei Plinius, nat. 28,53, erscheint die intentio uocis neben anderen therapeutischen Maßnahmen (in ähnlichem Zusammenhang wie die anaphonesis regelmäßig bei griechischen Ärzten; vgl. etwa Galen X 251,13; XIII 167,14 Kühn):  his adnumeratur exercitatio, intentio uocis, ungui, fricari cum ratione [...]. im primis uero prodest ambulatio, gestatio [...].- Die Zusammenstellung der Belege für intentio uocis u.ä. bei Nielsen, ThlL VII 2121,57ff. wird dem technischen Gebrauch an diesen beiden Stellen nicht gerecht.

Diese spezielle Übung deckt sich, wie man sieht, zum Teil mit der bei Cicero für die Tragöden, aber nur für diese, bezeugten Übung zur Vor- und Nachbereitung des vokalen Auftritts; auch Quintilian kennt sie, meint aber ebenfalls, dass sie für den Redner, aus Gründen der Zeitökonomie, nicht in Frage komme (inst. 11,3,22): [...] nec praeparare ab imis sonis uocem ad summos nec semper43 a contentione condere licet, cum pluribus iudiciis saepe dicendum sit. Erst der in müßigeren Verhältnissen lebende spätantike Rhetor Fortunatianus44 schreibt die anaphonesis dem Redner als regelmäßige vormittägliche Übung, zur Verbesserung der Stimmstärke, vor (3,16)45: ut sedentes uersus (!) paucos pronuntiemus lenta et graui uoce, deinde per gradus paulatim extollamus46 ut quantum potest surgat; tunc rursus per eosdem gradus eam paulatim reuoluamus, donec sine damno ad murmur usque perueniat.47  Wie man aber sieht, hat diese anaphonesis fast nichts zu tun mit der vom ‚Auctor‘ beschriebenen oder vorausgesetzten declamatio,48 obschon auch bei ihr offenbar gewöhnlich ein fester Text, jedoch wohl meist ein dichterischer,49 zugrunde gelegt wird. Allerdings verwendet man bisweilen den Terminus anaphonesis auch für andere, nicht in diesem Auf und Ab bestehende Stimmübungen; diese sind dann aber nicht für den Stimmkünstler, sondern für die allgemeine Gesundheitspflege oder die Therapie bestimmter Krankheiten gedacht.50 Nichts weiter dazu! Terminologie und Praxis der antiken Sprecherziehung im Verhältnis zur rhetorischen pronuntiatio würden gewiss einmal eine gründlichere Erforschung verdienen; vorläufig können wir aber doch sagen, dass anaphonesis kaum das Vorbild für declamatio gewesen sein kann.

43)  Statt semper, was an dieser Stelle keinen rechten Sinn ergibt, ist vielleicht zu lesen sensim; so formulieren bei der Beschreibung der Abwärtsbewegung, die nicht zu schnell gehen dürfe, Oreibasios, coll. med. 6,9,5 (kata brachy) und Fortunatianus 3,16 (paulatim).
44)  Ihm folgend dann auch Martianus Capella, 5, 540 (p. 270 Dick).
45)  Die etwas undeutliche Struktur seiner Darlegungen, die auch aus dem Kommentar von Calboli Montefusco (wie oben Anm. 18) nicht klarer wird, scheint die folgende: Die Stimme muss (1) clara, (2) firma, (3) suauis sein (cap. 15). Für (1) uox clara ist zuständig die anaphónesis (cap. 16), die die Stimme „nährt“ (alere); (2) uox firma bewirkt der usus, der die Stimme erhält (custodire) und im vernünftigen Vortrag beim Reden (declamare im kaiserzeitlichen Sinn!) sowie gewissen diätetischen Maßnahmen (beschrieben in cap. 17) besteht; für (3) uox suauis gibt es ebenfalls diätetische Maßnahmen, die auf obseruantia cibi et potus et Veneris continentia (cap. 15) beruhen sollen (und, was Speise und Trank angeht, offenbar mit den in cap. 17 beschriebenen identisch sind). Dazu kommen schließlich therapeutische Maßnahmen (restituere) bei Stimmschäden. Das stimmt zum größeren Teil mit dem ‚Auctor‘ überein, der für die magnitudo (1) der Stimme nur die (ärztliche) cura für zuständig erklärt (wozu die anaphonesis gehören dürfte), für firmitudo (2) dagegen neben der cura auch die rhetorische exercitatio für wichtig erklärt (hier sind auch seine Vorschriften z.T. dieselben wie diejenigen, die später Fortunatianus gibt); bei der mollitudo (3) allerdings sind die Auffassungen verschieden.
46)  Formuliert wie bei Sen. epist. 15,7 (wie Anm. 42)
47)  Dass mit dieser Übung die früher (3,15) erwähnte anaphonesis gemeint ist, wird an dieser Stelle nicht mehr ausdrücklich gesagt, ergibt sich aber aus der Systematik des Gedankens (wie Anm. 45).
48)  Dies kann mit ein Grund dafür sein, warum er auf die ratio curandae uocis als Ergänzung zu seiner rhetoris praeceptio ausdrücklich verweist.
49)  So ausdrücklich beim Arzt Oreibasios, coll. med. 6,9 (wie Anm. 40), dessen Formulierungen sehr ähnlich sind; er empfiehlt zum Vortrag am besten Episches, dan , als zweitbestes usw., Jambisches, Elegisches, Lyrisches (wahrscheinlich weil der Singvers, der nach eigener Melodie verlangt, am wenigsten gerade für eine Gesangsübung dieser Art geeignet ist).
50)  Immerhin nimmt Caelius Aurelianus (um 400 n.Chr.), der sich auf Soranos (2. Jhdt. n.Chr.) stützt, den Vortrag, wenn ich recht verstehe, von rhetorischen Übungsreden unter die Therapiemaßnahmen gegen Geisteskrankheiten auf und verweist dabei auf die Lehren griechischer Ärzte über anaphonesis (chron. 1,5,163 f., p. 526 Bendz): tunc proficiente curatione erunt pro possibilitate meditationes adhibendae uel disputationes [wohl nicht „Gedankenübungen oder Streitgespräche“, wie Ingeborg Pape in der Ausg. v. Gerhard Bendz, Berlin 1990, S.527 übersetzt (im Folgenden erscheinen nur Hörer, nicht  Mitunterredner), sondern 'Redeübungen (melétai) und Erörterungen', vgl. die bei Plut. mor. 130 C in ähnlichem Zusammenhang erwähnten dialéxeis], sed nunc quoque [d.h. wie bei den vorausgehenden Leseübungen] similiter ordinatae, ut principia leni [leui codd., vgl. Rhet. Her. 3,11,21] uoce promantur, narratio uero et demonstrationes [entsprechen wohl der argumentatio] extenta atque maiore, tunc epilogus dimissa [codd., demissa Bendz, aber gemeint scheint, dass man die Stimme 'gehen lässt'] et indulgenti, sicut hi qui de exercenda uoce, quam Graeci anaphonesin uocant, <praecepta dant> [suppleui ex. gr.] tradiderunt.  Diese Vorschriften erinnern in der Tat an diejenigen für die exercitatio declamationis in der Herennius-Rhetorik; aber schon die unrichtige Wiedergabe von exercenda uox durch anaphonesis (richtig natürlich: phonascia) erweckt Zweifel daran, dass die beschriebene Übung wirklich je unter dem Namen anaphonesis gestanden hat (was auch nicht ganz eindeutig gesagt wird). 

Wenn man somit überhaupt eine griechische Entsprechung suchen will, müsste man eher auf den allgemeinsten Ausdruck für 'Sprechübung' raten: phonaskein bzw. phonaskia.51  Dieser ist, für uns seit Platon und Aristoteles52 fassbar, fester Terminus (vor allem im Bereich des Schauspiels); und, was noch wichtiger ist, schon Demosthenes hat ihn mehrfach polemisch gegen seinen Prozessgegner, den auch als Tragöden ausgebildeten Aischines, verwendet: Er machte sich mit dieser Vokabel nicht nur über dessen 'Einsingen' vor der Rede lustig,53 sondern hält ihm an berühmter Stelle vor (or. 18 = de cor. 280), er missbrauche den Prozess, indem er, statt auf die Bestrafung eines Schuldigen auszugehen, nur 'eine Redeschau und Stimmübungen (phonaskias) veranstalten' wolle. Sollte also diese Herleitung richtig sein, könnte sich Cicero auch in dem abwertenden Gebrauch, den er von declamare in seinen Reden macht, dem attischen Vorbild angeschlossen haben. Auf jeden Fall ist declamatio von Hause aus die 'Stimmübung', 'Übung im lauten Reden', bei der ein Text nicht eigentlich gesprochen, sondern 'aufgesagt' wird.
Wie kommt es nun zur Weiterentwicklung der Vokabel? Entscheidend dürfte zunächst vor allem Cicero gewesen sein, der in De oratore nicht nur, wie wir gesehen haben, von declamitare im älteren Sinn sprach, sondern die Wörter declamator und declamatorius in der Weise neu bildete, dass er dem declamare in ihnen metonymisch eine veränderte bzw. erweiterte Bedeutung gab. Wir behandeln die beiden entscheidend wichtigen Stellen in der Reihenfolge des Auftretens.
 In de orat. 1,73 sagt Crassus: Wie sich das sportliche Training in der Palaestra auch außerhalb dieser zeige, so sei es beim universal gebildeten Redner: [...] in orationibus hisce ipsis iudiciorum contionum senatus, etiam si proprie ceterae non adhibeantur artes, tamen facile declaratur, utrum is qui dicat tantummodo in hoc  d e c l a m a t o r i o  sit opere iactatus an ad dicendum omnibus ingenuis artibus instructus accesserit. Klar ist, dass mit declamatorium opus sachlich nicht so sehr die declamatio als 'Stimmübung' als vielmehr der gesamte Rhetorikunterricht mit dessen Übungsbetrieb gemeint ist; indem jedoch Crassus dafür eine Vokabel wählt, die von declamator, als dem gewissermaßen berufsmäßigen 'Stimmtrainer' abgeleitet ist - auch oratorium oder rhetoricum opus wäre ja hier durchaus sinnvoll und verständlich gewesen –, unterstellt er mit gezielter Boshaftigkeit, dass es in der üblichen rhetorischen Ausbildung nur darum ginge, gewissermaßen die Gurgel stark und geläufig zu machen. Er lässt absichtlich unbeachtet, dass - vom Unterricht in rhetorischer Theorie ganz abgesehen – gerade in den (ihm wohlbekannten 54) Übungsreden zu fiktiven Themen (also den später sogenannten controuersiae et suasoriae)55 ja doch auch die Fähigkeiten von inuentio, dispositio usw. trainiert werden, nicht nur die Zungenfertigkeit.56 Das steht natürlich in Zusammenhang mit dem Bildungsideal, das Cicero seinem Protagonisten in den Mund legt und von dem das ganze Werk durchtränkt und geprägt ist.57 Gegenüber dem durch alle ingenuae artes und besonders die Philosophie gebildeten Redner, wie Cicero ihn propagiert, soll die Ansicht derer, die glauben (de orat. 1,5) (eloquentiam) ab elegantia doctrinae segregandam [...] et in quodam ingenii atque exercitationis genere ponendam (esse), als möglichst banausisch hingestellt werden.

51)  Die lateinische Wortbildung, die Composita in Vergleich zum Griechischen nur sehr beschränkt zulässt, verbot hier eine wörtliche Übersetzung.
52)  Plat. leg. 665 E, Aristot. probl. 901 B (wie Anm. 32).
53)  or. 19, 255: Bei seiner Gesandtschaft in Mazedonien habe er 'sich einige unglückliche Phrasen einstudiert (meletedas) und seine Stimme geübt (phonaskesas)'; 336: Wenn die Richter auf ihn aufpassten, werde er 'nichts zu sagen wissen, sondern umsonst seine Stimme erheben und seine Stimmübungen veranstaltet haben (pephonaskekos estai)'; or. 18, 308: Wenn es der Stadt schlecht gehe, trete er 'plötzlich als Redner auf mit schön geübter Stimme (pephonaskekos) und allerlei zusammengerafften Ausdrücken und Wendungen'. 
54)  S. unten zu de orat. 1,149
55)  Zum Übungsbetrieb gehören natürlich immer auch die progymnasmata, die allerdings zu einem Teil nur schriftlich sind; wenn Suet. rhet. 25,4  zu trauen ist, haben sie im lateinischen (!) Rhetorikunterricht zunächst geradezu ausschließlich dominiert, [...] donec sensim haec exoluerunt et ad controuersiam uentum est (vgl. dazu den vorzüglichen Kommentar von Kaster [wie Anm. 5], S. 269-271, 279-283); allgemein jetzt: Ruth Webb, „The progymnasmata as practice“, in: Y.L. Too, Education (wie Anm.5), 289-316.
56)  Crassus gibt das selber implizit zu, wenn er in Bezug auf die 'Deklamationen' später polemisch sagt (de orat. 1,149) [...] plerique [!]  in hoc uocem modo [...] et uires exercent suas et linguae celeritatem incitant uerborumque frequentia delectantur. Leeman nimmt diese Äußerung in Bezug auf die Römer (von denen Crassus hier nicht speziell spricht) historisch ernst und meint, die später so genannten declamationes seien „vor allem im Dienste der pronuntiatio und der Wortfülle“ zunächst „in Rom eingebürgert“ worden (Komm. [wie Anm. 3] Bd. 1, S. 254). Nach Bonner (Education 73) würde Crassus hier speziell an die Schule des Plotius Gallus denken, die nach Ansicht des Crassus gemeingefährliche Schreier ausgebildet hätte. Dagegen wähnt  Sussman (wie Anm. 9), 8 hier ein Zeugnis für einen auch sonst von ihm angesetzten Übergang zwischen einer älteren und einer neueren Form der controuersia (die schon kaiserzeitliche Gestalt annähme) erkennen zu können.
57)  Noch immer fundamental ist Karl Barwick, Das rednerische Bildungsideal Ciceros, Leipzig 1963, der gezeigt hat, dass die Art und Weise, wie Cicero Rhetorik und Philosophie verbindet, „sein persönliches Eigentum“ (S. 38) ist. 

Ähnlich in Tendenz und sprachlichem Ausdruck äußert sich Cicero ein Jahr später (54 v.Chr.), unter fast ausdrücklichem Bezug auf De oratore, zu seinem Bruder Quintus, dessen Sohn sich seinen rhetorischen Studien fast allzu begeistert hingebe (Cic. Q.fr. 3,3,4)58: Cicero tuus nosterque summo studio est Paeoni sui rhetoris, hominis, opinor, ualde exercitati et boni (sed nostrum instituendi genus esse paulo eruditius et thetikóteron non ignoras59).60 quare neque ego impediri Ciceronis iter atque illam disciplinam uolo et ipse puer magis illo 
d e c l a m a t o r i o  genere duci et delectari uidetur
. Obschon durch den Kontext etwas gemildert61, ist auch hier die Abwertung des gewöhnlichen rhetorischen Übungsbetriebs spürbar.

58)  Schon Bonner 1949 (wie Anm. 8), 29  hat die Stelle richtig verglichen.
59)  Cicero denkt an die ihm durch Philon vermittelte akademisch-peripatetische consuetudo de omnibus rebus in contrarias partis disserendi, die er für nicht nur philosophisch, sondern auch rhetorisch bildend hält (Tusc. 2,9), weil sie es dem Redner ermöglicht, seinen Gegenstand in weitere, auch rednerisch dankbarere Zusammenhänge zu stellen (orator 45); sie fällt zusammen mit der rhetorischen Übung in der thésis (a.O.46) und unterscheidet den orator perfectus vom declamator de ludo (a.O. 47), s. unten; vgl. bes. Fairweather 1981 (wie Anm. 5), 118 und Barwick (wie Anm. 57), 37-39; speziell zu Cic. Q.fr. 3,3,4: E.G. Sihler, THETIKOTERON, AJP
23, 1902, 283-294 (gegen ältere Missverständnisse). Durch diesen Ausdruck ist hier stärker als in de orat. 1,73 (oben) auf die später so genannten declamationes, die Übungsreden zu fiktiven Themen, die ja immer hypotheseis sind, abgehoben.
60)  So, mit Parenthese, ist zu interpungieren, denn quare im folgenden Satz muss sich auf Ciceros Bewertung des Rhetors Paeonius (opinor), es kann sich gerade nicht auf seine rhetorische Idealvorstellungen (nostrum instituendi genus) beziehen.
61)  In fühlbarem Gegensatz zu seiner späteren Selbstdarstellung (orator 12 me oratorem [...] non ex rhetorum officinis, sed ex Academiae spatiis exstitisse) gibt er im Folgenden zu, dass er selber nicht so ganz ungern durch diese rhetorische Schule gegangen ist.

    Sie ist am deutlichsten zu erkennen an der Stelle, wo Cicero in De oratore schließlich das Wort declamator selber einführt. Als Crassus dort unter den großen (und, wie er meint, immer auch universal gebildeten) Rednern Perikles rühmt, heißt es (3, 138): at hunc non d e c l a m a t o r  aliqui ad clepsydram latrare docuerat, sed, ut accepimus, Clazomenius ille Anaxagoras, uir summus in maximarum rerum scientia. Sachlich ist hier mit declamator nichts anderes als der Redelehrer, rhetor, gemeint, aber durch die Wahl seiner Bezeichnung, wird er, durch latrare noch unterstrichen, im Kontrast mit dem Philosophen zu einem Lehrmeister des bloßen „Brüllens“ und „Bellens“ degradiert. Diese Stelle klingt noch nach im Orator (45 v.Ch.), wo Cicero sein altes Programm 62 wieder aufnimmt und erweitert (§ 47): non enim  d e c l a m a t o r e m  aliquem de ludo aut rabulam de foro, sed doctissimum et perfectissimum quaero (sc. oratorem). Dem angeblich nur 'brüllenden' Schulrhetor entspricht als sein Gegenstück, wenn nicht gar Produkt, der 'rabulistische Schreier'63 auf dem Forum.
Bonner hat diese peiorative Absicht bei der Verwendung der Vokabel fast durchweg verkannt oder geleugnet64 (und de orat. 3, 138 bezeichnenderweise aus seiner Wortgeschichte sogar weggelassen); er erklärte die in den zitierten Cicerozeugnissen konstatierbare Entwicklung der Vokabel aus einer von ihm postulierten historischen Entwicklung des Rhetorikunterrichts z.Zt. von Crassus (oder erst Cicero?), die sich bereits längst im allgemeinen Sprachgebrauch niedergeschlagen hätte (Rom. decl. 29): „evidently the declamatory elements [gemeint offenbar: die declamationes im späteren Sinn] had become so characteristic of the whole rhetorical training that the term declamare had now extended to become a general term for the whole of that training“ (womit die Entwicklung damals bereits abgeschlossen wäre)65. Aber selbst wenn es richtig sein sollte, dass diese „declamatory elements“ vor 91 (oder 55) v.Chr. entscheidend zugenommen hätten,66 könnte dies nicht erklären, wieso man ausgerechnet die Vokabel declamare, nach Bonner selbst ja bis dahin nur der Vortrag zum Stimmtraining, für die Bezeichnung dieses umgestalteten Unterrichts gewählt hätte.67 Im übrigen gebraucht jedoch Cicero in De oratore, wenn er wirklich von 'Deklamationen', also fiktiven Übungsreden spricht, gerade nicht das Verb declamare bzw. die davon abgeleiteten Vokabeln. So sagt Crassus über die 'Deklamations'-Übungen der (durch Sulpicius und Cotta repräsentierten) jüngeren Generation (de orat. 1,149): equidem probo ista [...] quae uos facere soletis,68 ut causa aliqua posita consimili causarum earum, quae in forum deferuntur, dicatis quam maxime ad ueritatem accommodate. Er weiß die offenbar erst neu aufgekommene Übungspraxis zu schätzen, kennt aber noch keinen Namen dafür. Und auch Antonius, dem diese Übungen, jedenfalls in ihrer griechisch-schulmäßigen Form, minder wichtig scheinen,69 kann sie nur sehr allgemein benennen (de orat. 2,100): hoc in ludo non fit; faciles enim causae ad pueros deferuntur: lex peregrinum uetat in murum escendere; escendit; hostis reppulit; accusatur etc.70 Schon darum ist - wenn man nicht etwa annehmen wollte, dass Cicero hier künstlich archaisiere - Bonners Erklärung unwahrscheinlich, ja unmöglich.71 Cicero kennt zur Zeit von De oratore noch keine declamatio zur Bezeichnung der Übungsrede; er bildet sich nur einen declamator zur Herabsetzung des engstirnigen Redelehrers.

62)  Es wird dann noch einmal erneuert in der Messallarede des Dialogus de oratoribus von Tacitus (31,1), dort allerdings unter terminologischer Verwendung von declamare, das explizit abgelehnt, nicht wegen der Konnotationen der Vokabel herabgesetzt, wird [...] (ueteres) ad hoc efficiendum intellegebant opus esse non ut in rhetorum scholis declamarent nec ut fictis [...] controuersiis linguam modo et uocem exercerent [...].
63)  Rabula = clamator (hier wegen des Gleichklangs gemieden). In De oratore gebraucht Cicero, wenn er vom bloßen 'Schreien' des Redners, ohne Bezug auf rhetorischen Unterricht, spricht, sonst bloßes clamare bzw. clamator (wobei allerdings die Textüberlieferung nicht immer eindeutig ist): 1,202 non enim causidicum nescioquem neque clamatorem [edd. plerique, proclamatorem codd., declamatorem Piderit, Klotz, vgl. Leeman/Pinkster (s. Anm. 1) z.St.] aut rabulam hoc sermone nostro conquirimus (proclamatorem als Augenblicksbildung scheint mir hier allenfalls möglich, nicht dagegen declamatorem); 2,86 [...] clamare contra quam deceat et quam possit, hominis est, ut tu, Catule, de quodam clamatore [so die beste Überl., declamatore VR, Richard] dixisti, stultitiae suae quam plurimos testes [...] colligentis; 3,81 quare Coracem istum uestrum patiamur nos quidem pullos suos excludere in nido, qui euolent clamatores odiosi ac molesti [...].
64)  Er konzediert sie nur bezüglich von orator 47 (1949 [wie Anm. 8], 29 f.), hält sie also für sekundär.
65)  Vorsichtiger als Bonner meint Fairweather 1981 (wie Anm. 5), 128, der technische Gebrauch von declamare sei erst „in the last years of Cicero’s life“ aufgekommen; sie findet diesen zuerst gespiegelt in den Äußerungen des Jahres 54 (die Zeugnisse von De oratore sind, wie z.T bei Bonner, übersehen). Ähnlich wie Bonner urteilte W. Kroll im Komm. zum ‚Orator‘ (Berlin 21913, Ndr. 1961), S. 54 zu § 47.
66)  Richtig daran ist, dass nach Ciceros Ansicht die (später so genannten) declamationes, deren Themen ihm schon in De inuentione geläufig sind (vgl. etwa Bonner 1949 [wie Anm. 8], 27 f.), spätestens am Ende des zweiten Jahrhunderts in Rom aufgekommen sein müssen; dies ergibt sich aus den im Folgenden zitierten Äußerungen von Antonius und Crassus. An anderer Stelle bezeugt er, dass schon Tiberius Gracchus immer griechische Lehrer (zu Redeübungen, versteht sich) gehabt habe (Cic. Brut. 104; allgemeiner zu dessen Zeit: de orat. 1,14); auch für den älteren, privaten Rhetorikunterricht vornehmer junger Römer (Beispiele bei Peter Lebrecht Schmidt, „Die Anfänge der institutionellen Rhetorik in Rom“, in: Eckard Lefèvre (Hrsg.), Monumentum Chiloniense (Festschr. Erich Burck), Amsterdam 1975, 183-216, dort S. 191) dürften griechische Deklamationsübungen selbstverständlich sein.
67)  Dies hat Russell (wie Anm. 5), 9 zu erklären versucht: „But a natural semantic development led to its [sc. declamatio] being used for the speech composed to be delivered in training, not for the delivery of it.“  In der Tat wäre das natürlich, aber es würde voraussetzen, dass Stimmübungen immer schon in Form eines Vortrags von 'Deklamationen' bestanden hätten.
68)  Deutlich fühlt man, dass der der Großvätergeneration Ciceros angehörige Crassus diese Übungen selber (de orat. 3,74  cui disciplina fuerit forum, magister usus et leges etc.) noch nicht praktiziert hat.
69)  Gegenüber dem (auch) der Schulrhetorik aufgeschlosseneren Crassus ficht er ja für eine traditionellere, fast nur praktische Ausbildung des Redners (Cic. de orat. 2,85 ff.).
70)  Das 'Deklamations'-Thema heißt hier jeweils causa (was auch Ciceros Übersetzung für hypothesis ist); aber erst ein Jahrzehnt später kann er sagen: declamitabam causas (Tusc. 1,7), s.unten. Im allgemeinen verbirgt sich in De oratore und sonst die 'Deklamation' hinter exercitatio (1,14 neque exercitationis ullam uim) bzw. exercitationes (1,19); vgl. Hey-M., ThlL V 2, 1381, 17 ff..
71)  Bonner selbst erkennt auf Grund von Cic. Brut. 310 (s. unten), dass Cicero „probably did not call his early exercises declamationes“ (1949 [wie Anm. 8], 30), scheint darin aber eine nur persönliche Abweichung vom üblichen Sprachgebrauch zu sehen.

Am aufschlussreichsten aber ist die Verwendung von declamator in einer schon erwähnten Rede wiederum des Jahres 54, Pro Plancio. Ciceros jugendlicher Prozessgegner M. Iuventius Laterensis hatte sich nämlich in seiner Anklagerede über Ciceros rhetorische Übertreibungen und besonders seinen unmäßigen Einsatz von Rührmitteln lustig gemacht – eine praemunitio gegenüber dem auch in Sachen des Plancius zu erwartenden Großangriff auf die Tränendrüsen –, und er hatte dabei die in der Tat witzige Behauptung gewagt, Cicero habe nur darum in seiner lex Tullia de ambitu das Exil als neue Strafe eingeführt,72 um in den perorationes seiner ambitus-Verteidigungen wirkungsvoller an das Mitleid appellieren zu können (Planc. 83), [...] ut miserabiliores epilogos possem dicere. Worauf Cicero so kontert: nonne uobis uidetur cum aliquo declamatore, non cum laboris et fori discipulo disputare? D.h. er hält Laterensis vor, dieser behandle ihn wie einen declamator, nicht wie einen 'Schüler des mühseligen Forum'. Dabei behält das Wort declamator offenbar die herabsetzende Kraft,73 die es auch in De oratore hatte; es steht aber nicht mehr, wie an den drei bisher behandelten Stellen, im Gegensatz zu universaler Bildung, sondern erstmals – dies hat Bonner richtig erkannt – zur lebendigen, 'forensischen Rhetorik'.74
Warum aber wäre Cicero, wenn Laterensis mit seinem Vorwurf Recht hätte, ein solcher declamator? Wir müssen, ja wir dürfen nicht an 'Deklamation' im späteren Sinn denken, um Ciceros Gedanken zu verstehen. Der declamator ist im alten Wortsinn, den Cicero schon seit dem Jahr 80 bei seinem Publikum voraussetzt, derjenige, der seine Stimme schult, um im Vortrag laut glänzen zu können: Dazu geben die perorationes mit ihrem Appell an das Mitleid natürlich die schönste Gelegenheit; nirgendwo kann der Redner vor allem die Modulationsfähigkeit seines Organs so ins Licht setzen wie hier, wo die Rede mitunter bis fast zum 'Lied' (orator 57 in epilogis paene canticum)75 entartet. Und diesem schnöden Erfolg, so Cicero, sollte er gar durch Reform des römischen Strafrechts nachgejagt haben - ohne Rücksicht, können wir uns dazu denken, auf das Wohl seiner ambitus-Klienten (für die eine solche lex ja gefährlich sein musste)? Nein, da kenne man ihn doch anders, eben nicht als einen solchen declamator,76 sondern als einen laboris ac fori discipulus!

72)  Bis zu diesem Gesetz aus Ciceros Konsulatsjahr, das (ein auf zehn Jahre befristetes) Exil als förmliche Strafe vorsah (Berger, 'Lex Tullia 2', RE XII 2 [1925] 2416) war das Exil immer nur die durch die Sitte geheiligte Möglichkeit gewesen, sich der kapitalen Bestrafung zu entziehen (Th. Mommsen, Röm. Strafrecht, 1899, Ndr. Darmstadt 1955, 68 ff., 941 f.; Neueres bei Richard Gamauf, 'Exilium', Der Neue Pauly 4 [1998] 343 f.) ; ambitus wurde aber nicht kapital bestraft (Mommsen a.O. 873 f.).
73)  Bonner notiert diese auch hier nicht, sondern konstatiert z.St. (1949 [wie Anm. 8], 29) „the first [falsch!] appearance of the noun declamator which seems to suggest that the declaimer was now becoming a notorious figure“.
74)  Von ihr handelt bekanntlich Christoff Neumeister in seiner schon geradezu klassischen Dissertation über 'Grundsätze der forensischen Rhetorik gezeigt an Gerichtsreden Ciceros', München 1964,  dort bes. S. 25-27, 146-148 (über den Gegensatz von forensischer und epideiktischer Rhetorik). Vgl. unten Anm. 103. Den Gegensatz zwischen bloßer Schulrhetorik und echter Rede kennt an sich schon De oratore, aber nur in Bezug auf die rhetorische Theorie (z.B. 1,105), nicht auf die 'Deklamation'. 
75)  Vgl. z.St. unten Anm. 84. - Besonders auch auf die mündliche pronuntiatio darf man beziehen, was Quintilian über die peroratio sagt (inst. 6,1,51): at hic, si usquam, totos eloquentiae aperire fontes licet.
76)  Nicht unzutreffend ist darum hier bei Köpke / Landgraf (wie Anm. 12) die Wiedergabe mit 'Zungendrescher'.

Während also Ciceros Gebrauch von declamator ohne Bezug auf die später technisch so genannte Übungsrede verständlich und sinnvoll ist, möchte ich es durchaus für möglich halten, dass Laterensis – der das Wort ja eben nicht verwendet haben kann, weil sonst Ciceros Entgegnung witzlos wäre -, hier in der Tat auf die Praxis der 'Deklamation' angespielt hat. Denn bei einer controuersia, wie sie später heißt, fingiert der die Aufgabe stellende Rhetoriklehrer ja nicht nur den Fall (2), sondern zunächst auch das Gesetz (1). Wir haben das Schulbeispiel schon gelesen: „lex peregrinum uetat in murum escendere (1); escendit, hostes reppulit (2). accusatur“ (Cic. de or. 2,100). Klar, dass auch eine solche Gesetzesfiktion im Hinblick auf die rhetorische Ergiebigkeit des Redethemas erfolgt. So habe denn Cicero, konnte Laterensis geistreich argumentieren, genau wie ein Rhetoriker bei der 'Deklamation', sich das passende Gesetz allererst geschaffen, das ihm Gelegenheit geben würde, seine Fähigkeiten zur tränenreichen miseratio am Redeschluss wirkungsreich zu entfalten!
Wie immer man aber über die Rekonstruktion einer solchen nicht überlieferten Pointe denkt, sicher ist wohl - und das haben auch schon ältere Erklärer gesehen -,77 dass bereits Laterensis bei seinem Vorwurf ausdrücklich Bezug auf den Rhetorikunterricht 78 genommen hatte79.  Denn im Anschluss an den erläuterten Satz sagt Cicero: „Rhodi enim“, inquit, „ego non fui“ – me uolt fuisse –, sed fui“, inquit – putabam in Vaccaeis dicturum80„bis in Bithynia.“ Das enim im Zitat aus der Laterensisrede verknüpft dieses mit seiner Pointe über Ciceros miserabiles epilogi; wenn Cicero hier also nicht geradezu mutwillig den Gedanken seines Gegners zerstört, dann hatte dieser Ciceros rednerische Eigenart bzw. seinen Überschwang, den er ja zu bespötteln versuchte, mit dessen Lehrjahr bei Molon auf Rhodos in Zusammenhang gebracht: 'Kein Wunder, dass du so grandios bist, zumal in Rühreffekten; du hast ja als junger Mann auf Rhodos studieren dürfen – ich musste bisher zweimal in Bithynien Militärdienst leisten.' Wir wissen, dass ähnliche Kritik an Cicero in diesen Jahren von einer Gruppe junger Redner, den sogenannten 'Attici' (unter Führung des C. Licinius Calvus), geäußert wurde:81 Ihnen schien Cicero vor allem durch ein Übermaß im Einsatz rhetorischer Mittel von den als vorbildlich empfundenen attischen Rednern abzuweichen; und sie nannten ihn im Hinblick auf seine Lehrer aus Kleinasien (und Rhodos)82 geradezu Asianus. 83 Von eben dieser Kritik dürfte Laterensis hier ein Stück weit inspiriert worden sein:84 Er mokierte sich, ohne selber das Wort declamator zu gebrauchen, über Cicero als pathetischen Mustereleven kleinasiatischer Schulmeister.

77)  Vgl. das ausführliche Zitat von Ferratius im Kommentar von Wunder (Cic. Planc., Leipzig 1830) S.207.
78)  Dem Gegner seine rhetorischen Studien vorzuwerfen, gehört übigens zum Standardrepertoire der Rhetorik schon des vierten vorchristlichen Jahrhunderts (Anaximenes 36,39).
79)  Dafür spricht vor allem auch der, wie ich meine, auf Laterensis zurückgehende Gebrauch des Worts epilogus statt peroratio (vgl. orator 57 u.ä.): Rhetorische Übungen finden immer noch meist in griechischer Sprache statt (vgl. unten Anm. 104). Im übrigen hat an dieser Stelle (non uobis uideor ...) schon Eduard Wunder in seinem immer tief dringenden Kommentar (wie Anm. 77), S. 206 partiell das Richtige erkannt.
80)  Die Pointe dieser Anspielung entgeht uns, trotz mancher Erklärungsversuche.
81)  Wertvoll hierzu sind noch immer die Einleitungen zu Wilhelms Krolls Kommentaren zum Brutus und Orator sowie die überall zitierte (aber selten beherzigte) Abhandlung von Ulrich v. Wilamowitz-Moellendorff, „Asianismus und Atticismus“, Hermes 35, 1900, 1-52 (Ndr. in: Rudolf Stark [Hrsg.], Rhetorika, Hildesheim 1968, 350-401), wo jedoch gerade die wichtige Nachricht übersehen ist, dass Cicero selbst Asianus tituliert wurde (ich möchte annehmen, dass man dieses kurzlebige „Schlagwort“ [Wilamowitz] überhaupt im Hinblick auf ihn erfunden hat). Von neuerer Literatur scheinen mir bes. instruktiv: Alfons Weische, Ciceros Nachahmung der attischen Redner, Heidelberg 1972, 178-182, sowie die Beiträge von Thomas Gelzer und vor allem G.W. Bowersock in: Hellmut Flashar (Hrsg.): Le classicisme à Rome aux Iers siècles avant et après J.-C., Genf 1979, 1 ff., 57 ff., außerdem der behutsam informierende Artikel 'Asianismus' von J. Adamietz, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hrsg v. Gert Ueding, Bd. 1 (1992) 1114-1120; Wie Weische, Bowersock und Adamietz meine ich, dass dieser (auf dem Studium der attischen Redner beruhende) Attizismus von Römern ausgegangen ist; anders etwa  Gelzer (S. 18!) und zuletzt Martin Hose in dem (zur späteren Entwicklung aufschlussreichen) Beitrag 'Die zweite Begegnung Roms mit den Griechen oder: Zu politischen Ursachen des Attizismus', in: Gregor Vogt Spira / Bettina Rommel (Hrsg.), Rezeption und Identität, Stuttgart 1999, 274-288 (mit weiterer Lit.), dort 278-280 (gerade dass Xenophon und Thukydides als Stilvorbilder auch des Redners erscheinen – beim zweiten denke ich konkret an den jungen Redner Sallust -, scheint mir auf eine nicht von griechischen Rhetoren stammende Begeisterung  für die Attiker zu weisen).

82)  Dass Cicero im Brutus  (§ 51)  und Orator (§ 25) die Rhodische Schule als gemäßigt von den 'Asiaten' absetzt, hat, obschon man an beiden Stellen die Absicht nicht merkt, taktische Gründe; ebenso dass er an Molon gerade die seinen, Ciceros, Stil mäßigende Wirkung hervorhebt (Brut. 316). Besonders verräterisch ist, wie er in ganz unverfänglichem Zusammenhang (Brut. 314) herausstreicht, dass seine rhetorische Bildungsreise nur durch seine  physischen Stimm- und Gesundheitsprobleme motiviert gewesen sei. Seine Gegner werden das alles recht anders dargestellt haben.
83)  Quint. inst. 12,10,12; vgl. Tac. dial. 18,4 f. (Stellen ausgeschrieben etwa bei Adamietz, wie Anm. 81).
84)  Sprechend in diesem Zusammenhang ist, dass Cicero selber, dessen miserabiles epilogi ja von Laterensis belächelt wurden, später das (oben zitierte) in epilogis paene canticum (orator 57) an den Rednern aus Karien und Phrygien rügt. Aufschlussreich ist auch, dass Laterensis wie die Attizisten Ciceros Sucht nach Witzen (Quint. 12,10,12 in salibus aliquando frigidum) kritisiert hat (Planc. 85 cupidior dicti). Auch gerade als Vertreter der konservativen Römerjugend und als dezidierter Anticäsarianer (Münzer, RE X 2 [1919], 1367) musste Laterensis in diesen Jahren ebenso dem Calvus (und dessen Freund Catull) nahestehen wie Cicero gegenüber Groll empfinden (ihm warf er in der Tat vor, dass er sich an die Triumvirn verkauft habe, s. Planc. 91-94; vgl. auch § 84  quod nimium multos defenderem).- Man vermisst in der heutigen Diskussion über den römischen Attizismusstreit den Hinweis sowohl auf dieses offenbar früheste Zeugnis wie überhaupt auf die politische Dimension der Auseinandersetzung.


Mit dem Jahr 54 reißt die Reihe der Belege für ein im Zusammenhang der Rhetorik gebrauchtes declamare und seine Derivate vorläufig ab. Fassen wir das Bisherige zusammen! Die Vokabeln declam(it)are und declamatio, die wir in einer vortechnischen bzw. volkstümlichen Verwendung nicht nachweisen können, sind ursprünglich, vielleicht als Aequivalent zu griech. phonaskein, -askia, gebildet worden, um das Stimmtraining des Schauspielers und Redners zu bezeichnen; es findet an einem Text statt, der 'laut aufgesagt' wird und bei dem es sich auch um eine Rede handeln kann. Im übertragenen Sinn gebraucht Cicero die Wörter stets abwertend und zwar in außerrhetorischem Zusammenhang mit der Absicht, bestimmte Äußerungen eines Redners als sachfremd, ihren Sprecher als unengagiert erscheinen zu lassen; im Zusammenhang der Rhetorik (vor allem in De oratore) sollen sie, in den Formen declamator und declamatorius, die Vertreter einer bloßen Schulrhetorik, als wären diese nur Stimmtrainer, gegenüber Ciceros Ideal des allseitig, besonders philosophisch gebildeten orator disqualifizieren.. Nur einmal, wo Cicero, selber als Schulrhetoriker angegriffen, in der Defensive ist, stellt er dem lebensfremden declamator, der er nicht sein will, den römischen Prozesspraktiker, als den man ihn kenne, gegenüber (Planc. 83). Aber auch gerade für diese - im Hinblick auf die Zukunft wegweisende85 - Stelle gilt, dass die später so genannten declamationes zwar als spektakulärster Teil des rhetorischen Schulbetriebs durchaus und ganz besonders im Blick sein müssen – insofern bereitet Cicero hier den späteren Sprachgebrauch vor -, dass declamator aber noch kein Terminus speziell für den Produzenten solcher Übungsreden ist, sondern ein Schimpfwort, um den Schulrhetoriker überhaupt abzuwerten.
Wenn sich Cicero im Jahr 46 nach längerem, jedenfalls literarischem Schweigen wieder zu Wort meldet, hat sich der Sprachgebrauch inzwischen merklich gewandelt. Über seine eigene jugendliche Ausbildung sagt er nun (Brut. 305 ff.), dass er sich einige Jahre nach seiner ersten Begeisterung für Philosophie (306) beim Stoiker Diodotos besonders auch mit Dialektik befasst habe, jedoch (309): [...] ita [...] ut ab exercitationibus oratoriis nullus dies uacuus esset. (310) commentabar  d e c l a m i t a n s  – sic enim nunc loquuntur – saepe cum M. Pisone et cum Q. Pompeio aut cum aliquo cottidie idque faciebam multum etiam Latine, sed Graece saepius [...]. Hier und hier erst wird mit declamito (zunächst noch nicht declamo) wertfrei die rhetorische Übungsrede bezeichnet; und damit, so konstatiert Cicero ausdrücklich, entspreche er dem gegenwärtigen (nunc) Sprachgebrauch, für den die Verantwortung aber anderen zugeschrieben wird (loquuntur) - was unsere Auslegung der Belege aus den Jahren 55/54 nachträglich bestätigen mag.86 Cicero folgt ihm von nun an, zwar, mit der eben erwähnten Ausnahme, nicht in seinen rhetorischen Schriften, wo er sozusagen konservativ bleibt,87 wohl aber in seinen sonstigen, mehr umgangssprachlichen Äußerungen. Mitte Juli 4688 erwähnt er Redeübungen, die er mit Hirtius und Dolabella abhält (fam. 9,16,7): puto enim te audisse [...] illos apud me  d e c l a m i t a r e , me apud illos cenitare.89 Diese Übungen heißen nun ausdrücklich declamationes (fam. 7,33,1; noch Ende Juli 46): Quod  d e c l a m a t i o n i b u s  nostris cares, damni nihil facis. In den Tusculanae disputationes (abgeschlossen wohl noch i.J. 45) überträgt er den Begriff declamatio scherzhaft auf seine nun Graecorum more abgehaltenen philosophischen scholae90 (Tusc.1,7): ut enim antea  d e c l a m i t a b a m  causas, quod nemo me diutius fecit, sic haec mihi nunc senilis est  d e c l a m a t i o (vgl. 2,26 postquam adamaui hanc quasi senilem declamationem).91  Im April 44 hat er die designierten Konsuln Hirtius und Pansa als seine 'Deklamations'-Schüler (Att. 14,12,2): haud amo uel hos designatos, qui etiam  d e c l a m a r e  me coegerunt [...], sed hoc meae nimiae facilitatis (womit denn endlich auch das einfache Verbum declamare92 in dieser Bedeutung erscheint).93 Wie der Vater, so der Sohn. Im August 44 schreibt der angeblich bildungsbeflissene junge Marcus aus Athen an Tiro (ap. Cic. fam. 16,21,5): praeterea d e c l a m i t a r e  Graece apud Cassium institui, Latine autem apud Bruttium exerceri uolo; und später (§ 6): de Gorgia [...] erat quidem ille in cottidiana  d e c l a m a t i o n e  utilis [...].  In den Philippiken (i.J.44/43) ist schließlich von den 'Deklamationen' die Rede, mit denen sich Antonius auf seinen großen Auftritt am 19. September gegen Cicero vorbereitet habe: Cic. Phil. 2,42 haec ut conligeres, homo amentissime, tot dies in aliena uilla  d e c l a m a s t i? quamquam tu quidem [...] uini exhalandi, non ingeni acuendi causa declamitas;94 5,19 ipse interea XVII dies de me in Tiburtino Scipionis  d e c l a m i t a u i t , sitim quaerens; haec enim ei causa esse declamandi solet. Gerade hier scheint allerdings kaum an eigentliche fiktive Übungsreden gedacht zu sein; Antonius dürfte sich zusammen mit seinem Mentor, dem erwähnten Rhetor Sex. Clodius,95 vor allem seine Rede gegen Cicero (de me) laut einstudiert haben.

85) Vgl. unten Anm. 103.
86)  Obwohl als Gegensatz zu nunc natürlich weniger an die Fünfziger- als vielmehr die Achtzigerjahre (in die Ciceros rhetorische Bildung fällt) zu denken ist.
87)  Im Orator mit der Ausnahme von § 47 (s. oben) fehlen Sache und Begriff; im Brutus wird declamitare bzw. declamare in der Regel durch commentari commentatio, exercere - exercitatio oder meditari ersetzt (vgl. schon Kraus wie Anm. 5], 76; so Brut. 105 in exercitationibus commentationibusque multum operae [...] ponere; 249 seseque cotidianis commentationibus acerrime exercuit; 272 aut a forensi dictione aut a commentatione domestica; 302 quin aut in foro diceret aut meditaretur extra forum; 305 cottidie [...] et scribens et legens et commentans oratoriis tantum exercitationibus contentus non eram; vgl. auch 321 cum omni genere exercitationis tum maxime stilo.
88)  Ich folge jeweils der Datierung bei D.R. Shackleton Bailey, Cic., Epist. ad fam., Bd. 2, Cambridge 1977.
89)  Vorher: Hirtium ego et Dolabellam dicendi discipulos habeo, cenandi magistros (man fühlt leicht, dass für Cicero das Schulmeisterspielen ein wenig peinlich ist, vgl.orator 144 ‚ 'at dignitatem docere non habet.' certe si quasi in ludo [...]).
90)  Zu Unrecht verknüpft Bonner (1949 [wie Anm. 8], 30) dies mit dem bei Sen. contr. 1 praef. 12 erwähnten späteren Terminus scholastica.
91)  Bonner missversteht Ciceros Wortspiel, wenn er aus der Stelle schließt (Rom. decl. 30): „In his later years, Cicero seems to have been particularly attracted to declaiming on philosophical themes“;  bei den  in Tusc. 3,81 angeführten Beispielen handelt es sich nicht um solche philosophischen Deklamationsübungen, wie Bonner
meint (30 f.), sondern, wie Cicero ausdrücklich sagt, um gewöhnliche philosophische Erörterungen (scholae bzw. disputationes). Richtig allerdings ist, dass die Socratica ratio contra alterius opinionem disserendi (Tusc. 1,8), die Cicero in den Tusculanen praktiziert, dem genus thetikóteron (Q.fr. 3,3,4, s. oben Anm. 59) entspricht, das er sich für die rhetorische Ausbildung wünschen würde.
92)  Irrig hierzu Hofrichter (wie Anm. 7), 13, Anm. 20.
93) Eine andere, aber ähnliche (und noch spaßigere) Äußerung Ciceros referiert beiläufig Seneca, contr. 1 pr. 11 (ähnlich Suet. rhet. 25,3): alioqui in illo atriolo in quo duos grandes praetextatos ait secum  d e c l a m a s s e [sc. Cicero] potui adesse [...]; vgl. auch Quint. inst. 8,3,54.- In Cic. fat. 3, das sich auf das Zusammensein mit Hirtius bezieht, ist statt des t.t. declamatio von oratoriae exercitationes bzw. oratoria studia (im Munde von Hirtius und Cicero) die Rede; vgl. auch Quint. inst. 12,11,6.

94)  Das declamitare dient also nun normalerweise geradezu der Geistesschulung, nicht, wie in De oratore, angeblich dem bloßen Stimmtraining.
95)  Vgl.zu ihm Suet. rhet. 29 mit weiterem Zitat aus Cicero, Phil.2,42 f., das zeigt, dass Clodius offenbar auch als Sparringspartner für einen Wortwechsel mit Cicero vorgesehen war; vgl. Kaster im Komm. (wie Anm. 5) z.St.

    Insgesamt aber hat sich offenbar, nach diesen Zeugnissen aus Ciceros letzten drei Lebensjahren,96 der Sprachgebrauch bezüglich declamare declamatio eindeutig in dem Sinn verfestigt, wie wir ihn später in der Augusteerzeit  (Hor. epist. 1,2,2 dum tu declamas Romae97) und dann besonders beim älteren Seneca finden. Wer war dafür verantwortlich? Nicht Cicero, wie schon festgestellt, obwohl er durch seine Verwendung von declamator und declamatorius die entscheidenden Weichen für die spätere Entwicklung gestellt hatte. Wer dann? Eine Spur scheint auf seinen schon erwähnten berühmten attizistischen Widersacher, den uns leider so wenig bekannten C. Licinius Calvus, zu führen. Von ihm bezeugt Seneca an einer bekannten Stelle, die wir wegen ihrer sonstigen notorischen Unzuverlässigkeit bisher beiseite gelassen haben, dass offenbar er zuerst das declamare der rhetorischen Übung dem dicere der rednerischen Praxis gegenübergestellt hat. So viel scheint klar, auch wenn das entscheidende Zitat korrupt überliefert ist (contr. 1, praef. 12): [...] sicut ipsa ‚declamatio‘ apud nullum antiquum auctorem ante Ciceronem et Caluum98 inueniri potest, qui declamationem <a dictione> [suppl. Gertz]99 distinguit. ait enim declamare iam se [iam se edd.recc., iam ne uel est uel iam uel est iam codd.] non mediocriter, dicere bene; alterum putat domesticae exercitationis esse, alterum uerae actionis. Dass sich Calvus hier selber das bene dicere zuerkannt hätte – was doch recht anmaßend klänge -, beruht auf einer (allerdings naheliegenden) Konjektur; vielleicht betraf seine Äußerung also einen anderen, oder sie ist sonstwie zu entschärfen.100 Auf jeden Fall ist diese Gegenüberstellung von Schulrede und wahrer forensischer Beredsamkeit, derjenigen ähnlich, die Cicero in  Planc. 83 zwischen dem declamator und dem laboris et fori discipulus gemacht hat, nur dass – und darin liegt der für uns entscheidende begriffsgeschichtliche Fortschritt  - bei Calvus hier offenbar keine Abwertung dieses declamare mehr zu fühlen ist. Der Kontext von Ciceros Äußerung erinnerte uns an die seinerzeit gegen ihn erhobenen Vorwürfe der sogenannten 'Attizisten', deren Haupt Calvus war. Sollte also dessen Äußerung über declamare und dicere etwa in seinem und Brutus‘ berühmten Briefwechsel mit Cicero über den richtigen Redestil, der in die zweite Hälfte der Fünfzigerjahre fallen muss,101 gestanden haben? Es fällt zwar an sich nicht schwer, sich einen Kontext auszudenken, in dem man etwa dem 'Schönredner' und 'Asianus' Cicero sein declamare vorgerückt und dieses dem bene dicere der vorbildlichen attischen Redner102 gegenübergestellt hätte;103 wie aber gerade aus solcher Polemik ein wertfreies declamare hätte entstehen sollen, ist nicht zu sehen.

96)  In diese Zeit gehört demnach auch das bisher undatierte Scherzwort Ciceros, das Quintilian überliefert (inst. 6,3,73): redarguimus interim aperte, ut Cicero Vibium Curium multum de annis aetatis suae mentientem: „tum ergo cum una declamabamus natus non eras“. Vibius Curius war Caesarianer und Kommandant im Bürgerkrieg (H. Gundel, RE  VII A 2 [1958] 1951 f.); man wird am ehesten auf eine Auseinandersetzung, die Cicero mit ihm in einer Senatssitzung der Jahre 44/43 hatte, raten. 
97)  Wo man ja nicht (mit manchen Kommentatoren) Homerum supplieren darf, was dem antiken Sprachgebrauch zuwider wäre.- Die unpoetische Vokabel declamare fehlt in den Oden des Horaz und der Liebeselegie, mit Ausnahme von Ovids Ars amatoria (wo ein relistischerer Ton angestrebt ist): 1, 465 quis nisi mentis inops tenerae declamat amicae? geht auf das die Deklamation kennzeichnende epideiktische Element (vgl. unten Anm. 103), durch das die für die forensische Beredsamkeit charakteristische dissimulatio artis (V. 463 sed lateant uires nec sis in fronte disertus) eingeschränkt wird (W. Stroh, „Rhetorik und Erotik“, WJA 5, 1979, 117-132, dort 120); 2, 507 sed neque  declament medio sermone diserti heißt nicht nur, dass man nicht 'mitten in gewöhnlicher Alltagsrede' (richtig Hermann Tränkle, zitiert bei Markus Janka, Ovid: Ars amatoria, Buch 2, Komm., Heidelberg 1997, 376) in den hohen Ton der Deklamation verfallen soll; sermo bezeichnet auch den die Übungsdeklamation einleitenden, noch ganz unrhetorisch stilisierten Vorspruch des Lehrers, der uns vor allem aus den quintilianischen Declamationes minores bekannt ist (Bonner 1977 [wie Anm. 8], 320 ff .): Leicht vorstellbar also, dass ein übereifriger Rhetoriker bisweilen schon im sermo versehentlich ins Deklamieren kam...
98)  Vgl. zum Text Fairweather 1981 (wie Anm. 5) 94 f. (m.E. hier unnötig skrupulös).
99)  Die Ergänzung macht den Gedanken klarer, ist sprachlich aber vielleicht nicht unbedingt nötig; vgl. etwa Cic. orator 65 sophistarum [...] magis distinguenda similitudo uidetur (sc. ab oratoribus).
100)  Vorschlag: declamare <cupere> iam se non mediocriter oder (besser): ait enim declamare iam se non mediocriter, <mediocriter> dicere. bene alterum putat etc. Zur pointierten Wortwiederholung vgl. Calvus fr. 22 ap. Quint  inst. 6,1,13 (p. 497 Malcovati) factum esse ambitum scitis omnes, et hoc uos scire omnes sciunt (vgl. auch fr. 25 Malc).- Die Interpunktion nach dicere hat schon Kießling vorgeschlagen (dem Malcovati folgt): ait enim: declamare est domi non mediocriter dicere. bene alterum etc
101)  Vgl. G.L. Hendrickson, „Cicero’s correspondence with Brutus and Calvus on oratorical style“, AJPh 47, 1926, 234-258.
102)  Man denke an die oben (S. 18) zitierte Äußerung des Demosthenes (or. 18, 280), offenbar Hauptvorbild des Calvus (Sen. contr. 7,4,8), Aischines missbrauche den Prozess zu einer 'Redeschau und Stimmübungen'.
103)  Nachdem, vor allem in augusteischer Zeit, Deklamationen nicht mehr nur zum Zweck der Übung, sondern besonders auch zur rednerischen Selbstdarstellung veranstaltet werden – zur Unterscheidung der beiden Typen s. bes. Sen. contr. 9 praef. 1 Montanus adeo numquam ostentationis declamauit causa ut ne exercitationis quidem declamauerit, Quint. inst. 2,10,9-11 -, stellt man häufig die auf praktischen Überredungserfolg gerichtete forensische Rede dem bloßen Ohrenschmaus der Deklamation gegenüber (Sen. a.O. qui declamationem parat, scribit non ut uincit, sed ut placeat; omnia itaque lenocinia conquirit [...]. cupit enim se approbare, non causam): Der Gegensatz von declamare ud dicere entspricht dann recht genau (wie schon Quintilian a.O. sieht) dem älteren von forensischer und epideiktischer Rhetorik (dazu bes. Neumeister, wie oben Anm. 74). Sollte Vergleichbares schon in der attizistischen Polemik gegen Cicero (also in den späten Fünfzigerjahren) eine Rolle gespielt haben? Nur allenfalls Cic. Planc. 83 könnte m.E in diese Richtung weisen. Im übrigen hat man zwar Cicero in der Tat 'Schönrednerei' im Sinne einer zu gefälligen compositio uerborum (bes. bezüglich des Prosarhythmus) vorgehalten (Tac. dial. 18, 4 f.; Quint. 9,4,1), nicht aber in dem Sinn, dass er (nicht auf  Überzeugung zielende) Prunkreden halte, ein Vorwurf, der ihm m.W. erst seit Fénélon (1718) gemacht wird (W. Stroh, „De Ciceronis Demosthenisque eloquentia quid Germani critici iudicauerint quaeritur“[zuerst 1988], in: Verf., Apocrypha, Suttgart 2000,  217-233, bes. 223-226). Cicero im Orator rechtfertigt sich speziell gegenüber diesem Vorwurf hauptsächlich dadurch, dass er einerseits das delectare an der Stelle des älteren (und aristotelischen) conciliare (so noch de orat. 2, 182 ff.) unter die Überzeugungsmittel bzw. officia oratoris einschwärzt (69 ff.) – eine, soweit ich sehe, kaum gewürdigte Neuerung -, andererseits von Anfang an seinen orator perfectus entschieden von der  epideiktischen Rhetorik der Sophisten und besonders des (den 'Attizisten' wohl eher missliebigen, vgl. orator 40) Isokrates, der nur auf die uoluptas aurium, nicht das iudiciorum certamen ziele, absetzt (orator 37-42). Nirgendwo wird aber in diesem Zusammenhang auf die 'Deklamation' abgehoben (obwohl gerade Isokrates, der nie als Redner auftrat, nur unterrichtete, als Urbild eines declamator gelten könnte), nicht einmal bei Behandlung des notorischen Schönredners Demetrios von Phaleron (orator 92, vgl. ganz bes. Brut. 37 f. ), der doch vielfach als Erfinder der 'Deklamation' angesehen wurde (vgl. Heldmann [wie Anm. 5], 107 ff., bes. 119-121). Auch von hier aus ist also unsere hypothetische Konstruktion eher unwahrscheinlich.

Wahrscheinlich war es also, trotz Senecas Zeugnis, doch nicht der Redner Calvus, der diesen Wandel bewirkt hat, sondern eher, möchte man vermuten, ein neuer lateinischer Rhetor. Es fällt doch auf, dass erst gerade in der hier in Frage kommenden Zeit nach 54 v. Chr. die Existenz eines lateinsprachigen104 Rhetorikunterrichts und Übungsbetriebs in Rom105 greifbarer wird: Nicht nur von den mit Cicero in den Jahren 46 und 44 trainierenden Hirtius, Dolabella und Pansa, sondern auch von den noch prominenteren Pompeius, Antonius und Octavian wird überliefert, dass sie in den Jahren 50 bis 43 (offenbar lateinisch) 'deklamiert' haben;106 und  Sueton gibt uns die Namen der Rhetoren M'.Otacilius Pitholaus,107 M. Epidius108 und des erwähnten Sextus Clodius109 als solchen, die die Studien dieser Politiker betreut und (außerdem) jeweils auch schulmäßigen Rhetorikunterricht gegeben hätten. Könnte also nicht einer dieser Redelehrer, um nicht wieder rhetor Latinus heißen zu müssen – ein seit dem Jahr 92, wie man weiß, belasteter Titel110 - und sich doch einen Namen zu geben, Ciceros abschätziges declamator, mit trotziger Ironie auf sich selber angewandt und zugleich  declamare und declamatio als neuen terminus technicus für das durchgesetzt haben, was im Zentrum seines Unterrichts stand? Die Sprachgeschichte böte für einen solchen raschen Wandel vom Schimpfwort zum Gattungsbegriff einige Analogien.111

104)  Mit Ausnahme des i.J. 92 zensorisch missbilligten Plotius Gallus (bzw. der mit ihm wohl identischen rhetores Latini) scheinen 'Deklamationen', sofern von Lehrern betreut und nicht im privaten Freundeskreis abgehalten (Cic. Brut. 310), lange Zeit immer nur in griechischer Sprache stattgefunden zu haben (so von Cicero a.O. bezeugt; vgl. Kaster [wie Anm. 5], S. 275 zu Suet. rhet.25,3: mit einem Versehen zu Cic. fam.16,21,5; zum ganzen Komplex jetzt mit ausführl. Lit.: Werner Suerbaum, in: W. S. [Hrsg.], Handbuch der lateinischen Literatur der Antike, hrsg. v. R. Herzog / P.L. Schmidt, Bd. 1: Die archaische Literatur, München 2002, 549-552). Jedenfalls dürfte der Grammatiker Antonius Gnipho (Suet. gramm. 7,1 nec minus Graece quam Latine doctus), der auch Rhetorikunterricht erteilte und bei dem Cicero noch bis ins Jahr seiner Praetur (66 v.Chr.) 'deklamierte', diese Übungen in Griechisch veranstaltet haben (a.O. 7,2 kombiniert mit 25,3); nach Suet. rhet. 25,4 (vgl. oben Anm. 55) hätten die ältesten lateinischen Rhetoriklehrer nur progymnasmata unterrichtet. Etwas anders hierzu Peter Lebrecht Schmidt in seinem vielfach grundlegenden Aufsatz (wie Anm. 66), besonders p. 214-216 (216: „Ciceros Bildungsideal in De oratore setzt die Institution der lateinischen Rhetorenschule als vollkommen üblich und normal voraus [...]“; noch kühner jetzt Richard L. Enos, Roman rhetoric, [Waveland Pr.] 1995, 51: „Greek and Latin schools of declamation gained widepread popularity in the Republic [...]“, ohne Belege). Das würde Ciceros i.J. 91 spielenden Dialog unnötigerweise anachronistisch erscheinen lassen; m.E. zeigt umgekehrt Ciceros Wahl gerade dieses Datums, dass die Verhältnisse sich, was den Rhetorikunterricht angeht, in den dazwischen liegenden dreieinhalb Jahrzehnten nicht ganz grundlegend geändert haben.
105)  Sogar in Athen: Cic. fam. 16,21,5, s. oben
106)  Vgl. außer den folgenden Anmerkungen bes. Suet. 25,3 (nach Erwähnung Ciceros): Cn. Pompeium quidam historici tradiderunt sub ipsum ciuile bellum, quo facilius C. Curioni [...]  contradiceret, repetisse declamandi consuetudinem, M.Antonium, item Augustum ne Mutinensi quidem bello omisisse; Suet. Aug. 84,1 Mutinensi bello [...] declamasse cotidie traditur.
107)  Suet. rhet. 27,2 [...] rhetoricam professus Cn. Pompeium Magnum docuit [...]. Schon das Epitheton Magnus legt es nahe, diese Lehre nicht auf einen Jugendunterricht, sondern auf die von Suet. rhet. 25,3 erwähnten Deklamationsübungen des Pompeius unmittelbar vor Ausbruch des Bürgerkriegs zu beziehen (so Kaster [wie Anm. 5], 298). So könnte auch die (offenbar vorausgegangene) Schulgründung erst Ende der Fünfzigerjahre erfolgt sein.
108)   Suet. rhet. 28,1 <M.> Epidius calumnia notatus ludum dicendi aperuit docuitque inter ceteros M. Antonium et Augustum. Da sich der im Folgenden überlieferte Scherz des T. Cannutius auf die Zeit nach dem Abschluss des Triumvirats (Ende 43) beziehen muss (warum Kaster [wie Anm. 5] z.St., S. 301 von „late 44“ spricht, ist mir nicht klar), dürfte (aus den von Kaster a.O. dargelegten Gründen) die Schulgründung erst in die (frühen) Vierzigerjahre gehören; der 'Unterricht' von Antonius und Octavian (an den wirklich so genannten 'Augustus' kann nicht gedacht sein) könnte sich auf private Deklamationsübungen  beziehen oder vor die Schulgründung zu datieren sein.
109)  Suet. rhet. 29,1 Sextus Clodius e Sicilia, Latinae simul Graecaeque eloquentiae professor [...]; vgl zu ihm die bei Kaster (wie Anm. 5), 307 f. angeführte Literatur: Ein früherer Rhetorikunterricht scheint nicht nachweisbar.
110)  Vgl. zum zensorischen Edikt dieses Jahres (Suet. rhet. 25,2), das die Latini rhetores missbilligte, wenn nicht aufhob, neben Kaster (s. Anm. 1) 273 f. den Aufsatz von Schmidt und jetzt bes. Suerbaum (wie Anm. 104): Diesen stimme ich darin zu, dass die Schule des Plotius Gallus keine 'popularen' Politiker ausbilden sollte (eine heute zu Recht durchweg aufgegebene Vorstellung von Friedrich Marx); aber dass durch in Schulform abgehaltene rhetorische Übungen in lateinischer Sprache – auf die Theorie, die ja noch Ciceros Sohn auf Griechisch lernt (part. or. 2), kam wenig an - dem nicht zum Amtsadel gehörigen (und griechischer Bildung  ferner stehenden) Volk, das ja mit den ihrerseits der Nobilität entstammenden Popularen durchaus nicht identisch war, ein rascherer Weg zu Forum und  politischem Einfluss eröffnet wurde, als dies der herrschenden und besitzenden Schicht lieb sein konnte, ist doch m.E. völlig evident, auch wenn davon begreiflicherweise nichts im Edikt stand. Es hat seinen sinnvollen Grund, wenn der Sieg des lateinischen Rhetorikunterrichts mit dem Ende der römischen Republik, also des Senatsregimes, zusammenfällt; die neue Militärdiktatur der Caesaren brauchte gegen ihn weniger Bedenken zu haben.
111)  Aus dem Bereich der Pädagogik bzw. Didaktik denke ich hier an das in den letzten Jahrzehnten in Deutschland aufgekommene und gern frequentierte 'Paukstudio' (das allerdings wohl von vornherein ironisch gemeint, nie echtes Schimpfwort war). Ein treffenderes und noch jüngeres Beispiel für dieses sprachgeschichtliche Phänomen (das man als umgekehrten Euphemismus bezeichnen könnte) ist das deutsche Wort 'Schwuler' (für den Homosexuellen), das im Lauf erst der letzten Jahre dadurch vom Schimpfwort zum Terminus geworden ist, dass die Betroffenen es mutig zu ihrer Selbstbezeichnung verwendet haben (Ähnliches versuchen z. Zt., vorläufig noch ohne Erfolg, die 'Huren'). Historisch wohl am berühmtesten sind die englischen 'Whigs', die ihren Schimpfnamen (ursprünglich 'Viehdiebe') schon im 17. Jahrhundert erfolgreich umfunktioniert haben.
 
Damit würde vielleicht auch ein wenig begreiflicher, wie Seneca zu seiner (immer noch überraschenden)112 Behauptung kommen konnte, sowohl controuersia als auch declamatio wären nicht nur dem Namen, sondern auch der Sache nach etwas Neues, die declamatio sogar 'nach ihm geboren' (contr. 1 praef. 12): modo nomen hoc113 prodiit; nam et studium ipsum nuper celebrari coepit. ideo facile est mihi nosse rem post me natam. So alt die Deklamation an sich war,114 das  s t u d i u m  declamandi mag sich in der Tat erst dann so richtig ausgebreitet (celebrari) haben, als sich nach Senecas Geburt (die etwa in die Zeit von De oratore fallen dürfte) zusammen mit der neuen, umfunktionierten Vokabel auch die Deklamation in lateinischer Sprache durchsetzte.
Aber wie dem auch sei: Dass declamatio überhaupt erst in dieser Zeit zum terminus technicus im Sinne der Kaiserzeit avanciert ist, hoffe ich gezeigt zu haben. Der späteren Wortgeschichte, bis hin zu Fausts Wagner, müssen andere nachgehen.115

112)  Sorgfältige Kritik an Seneca in diesen Punkten bietet Fairweather 1981 (wie Anm. 5), 119-126, zum ganzen Abschnitt Senecas:  S. 104- 131 („The history of declamation“); weniger glücklich Sussman (wie Anm. 9), 6-10.
113)  Sofern jedenfalls, wie allgemein angenommen, dies auf declamatio zu beziehen und nicht etwa auf controuersia zurückzubeziehen ist.
114)  In den Grundzügen lässt sie sich bekanntlich aufs fünfte Jahrhundert zurückführen.- Wenn Seneca meint, zur Zeit des Redners Aischines habe es noch kein studium declamandi gegeben – Fairweather 1981 (wie Anm. 5), 115 stellt das gut mit Petron. 2 zusammen -, so könnte diese Vorstellung  auf ein Missverständnis von Cic. de orat. 3,138  und ähnlichen Äußerungen zurückgehen.
115)  Wichtige Hinweise und Hilfen gibt der Artikel 'Exercitatio' von Kraus (wie Anm. 5)