Wilfried Stroh
DECLAMATIO
Verzeiht! ich
hört‘ Euch deklamieren;
Ihr last gewiß ein griechisch Trauerspiel?
In dieser Kunst möchte ich was profitieren,
Denn heut zu Tage wirkt das viel.
Ich hab‘ es öfters rühmen
hören,
Ein Komödiant könnt‘ einen Pfarrer lehren.
Dem Kenner der römischen Literatur ist bewusst, dass diese Verse,
mit denen Wagner, wissenschaftlicher Assistent beim Hochschullehrer Dr.
Faust, eine der berühmtesten Diskussionen über Rhetorik
eröffnet (Goethe, Faust, 1. Teil, 522-527), ihrem
Hauptgedanken nach aus Cicero und Quintilian stammt (mit denen der
Dichter seit Leipziger Studientagen wohl bekannt war):1
Der Redner – den man für Goethes Pfarrer einzusetzen hat -,
hieß es dort, müsse, um den guten Vortrag
2 zu erlernen, auch beim Komödianten (actor)
in die Schule gehen.3 Dieser
Kenner weiß dann aber wohl auch, dass der rhetorikbeflissene
Wagner das Wort „deklamieren“ nicht ganz im alten, korrekten Sinn von declamare
gebraucht: Erst in der Neuzeit werden auch Gedichte, wie die von
Wagner fälschlich supponierte griechische Tragödie,
„deklamiert“ – das Wort ist geradezu terminus technicus für den
Vortrag von Gedichten und und besonders
auch Liedtexten beim Gesang geworden -; in der Antike dagegen wird declamare
immer in Bezug auf Reden gebraucht;4
und man versteht unter declamatio, jedenfalls seit der
augusteischen Zeit,
über deren rhetorische Kultur wir dank dem älteren Seneca so
gut
informiert sind, jene Übungsreden über fiktive Themen bzw. causae
im Rhetorikunterricht, durch die der Schüler auf seine
Rednertätigkeit
in Politik und vor allem vor Gericht vorbereitet werden soll (suasoriae
und
controuersiae), Übungsreden, die daneben aber auch,
besonders wenn der
Lehrer spricht, der schieren Unterhaltung dienen können und oft
sogar
von einem größeren Publikum geradezu konzertmäßig
genossen werden.5
1) 1756 hört er eine Vorlesung des
berühmten Johnn August Ernesti „über Cicerons Gespräche
vom Redner“, also De oratore, nach späterer Erinnerung
„Cicero’s Orator“ (Zeugnisse bei Ernst Grumach, Goethe und die Antike,
Berlin 1949, Bd. 2,907 f.; dort S. 907-910: Beschäftigung mit
Quintilian, S. 895-897: intensives Studium der rhetorischen
„Technologien“ von J.A. Ernestis Neffen Johann Christoph Gottlob
Ernesti).
2) Allein der Vortrag macht des
Redners Glück (V. 546) ist Übersetzung von actio [...]
in dicendo u n a dominatur (Cic. de orat. 213); allein
ist also zu betonen.
3) Cic. de orat. 1,156 (vgl. Anton D. Leeman /
Harm Pinkster [Hrsg.], Cicero, De oratore, Kommentar Bd. 1,
Heidelberg 1981, S. 220 zu Cic. de orat. 1,118; Cicero selbst soll ja
mit
Roscius, dem bekanntesten Schauspieler seiner Zeit, seine Kräfte
in
Vortragsübungen gemessen haben: Macrob. sat. 3,14,12; vgl. Plut.
Cic.
5,3); Quint. inst. 1,11,1-14: Dandum aliquid comoedo quoque
[...]; aus dem
Folgenden ergibt sich, dass hier wohl an förmlichen Unterricht zu
denken
ist.
4) Unrichtig J.
Sandstede ('Deklamation', in: Historisches Wörterbuch der
Rhetorik, hrsg. v. G. Ueding, Bd.
2, Darmstadt 1994, 481-507, dort 481): „Schon in der Antike bezieht
sich
der Begriff D. sowohl auf den Vortrag dichterischer Werke als auch auf
eine Teilübung (dicendo) der exercitatio“. Auf solchen
Unklarheiten
beruht z.B. die gelegentlich zu lesende Vorstellung, Senecas
Tragödie
seien in Rhetorenschulen „deklamiert“ worden.
5) Die wichtigste allgemeine ältere Literatur (seit
1925) zur Geschichte der Deklamation nennt
Janet Fairweather, „The elder Seneca and declamation“, ANRW II 32.1
(1984)
514-556, dort 543 Anm. 124 (vgl. auch ihr wertvolles Buch Seneca the
elder,
Cambridge u.a. 1981, bes. 104 ff., vgl. Index ); mehr bei Lewis A.
Sussman:
„The elder Seneca and declamation since 1900: a bibliography“, ANRW II
32.1
(1984) 557-577 (Titel bis 1981); wichtig seitdem bes. (abgesehen von
reinen
Textausgaben): Michael Winterbottom, „Schoolroom and courtroom“, in: B.
Vickers (Hrsg.), Rhetoric revalued, New York 1982, 59-70; Konrad
Heldmann,
Antike Theorien über Entwicklung und Verfall der Redekunst,
München
1982; D.A. Russell, Greek declamation, Cambridge 1983; Michael
Winterbottom,
The minor declamations ascribed to Quintilian, Berlin / New York 1984
(mit
Komm.); Graham Anderson, Philostratus, London 1986; Lennart.
Håkanson
„Die quintilianischen Deklamationen in der neueren Forschung“, ANRW II
32.4
(1986), 2272-2306; Doreen C. Innes / M. Winterbottom (Hrsg.), Sopatros
the
rhetor, London 1988 (mit allg. Einl.); Joachim Dingel, Scholastica
materia:
Untersuchungen zu den Declamationes minores und der Institutio oratoria
Quintilians,
Berlin / New York 1988; G. Anderson, „The pepaideumenos in
action:
sophists and their outlook in the early empire“, ANRW II 33.1
(1989) 29-208, bes. S.89-104; Robert J. Penella, Greek philosophers and
sophists in the fourth century A.D.: Studies in Eunapius of Sardis,
Leeds
1990; Thomas Zinsmaier, Der von Bord geworfene Leichnam, Frankfurt/M.
u.a.
1993 (Komm. zu Ps. Quint. decl. 6, mit Einl.); G. Anderson, The second
sophistic, London 1993, bes. S. 55-68; Lewis A. Sussman (Hrsg.), The
declamations
of Calpurnius Flaccus, Leiden 1994 (mit Komm.); George A. Kennedy, A
new
history of classical rhetoric, Princeton, N.J. 1994 (s. Index); Malcolm
Heath, Hermogenes on issues, Oxford 1995 (Übers. u. Komm.), bes.
S.
12-18 (Lit.); Hans-Ulrich Wiemer, Libanios und Julian, München
1995;
Robert A. Kaster (Hrsg.), Suetonius, De grammaticis et rhetoribus,
Oxford
1995 (mit Komm.), mit Lit.; Klaus Sallmann / [Peter Lebrecht Schmidt],
„Redekunst“,
in: K. Sallmann (Hrsg.), Handbuch der lateinischen Literatur der
Antike,
hrsg. v. R. Herzog / P.L. Schmidt, Bd. 4, München 1997, 279-321;
D.H.
Berry / Malcolm Heath: „Oratory and declamation“, in Stanley E. Porter
(Hrsg.),
Handbook of classical rhetoric in the hellenistic period 330 B.C.- A.D.
400, Leiden u.a. 1997, 393-420, bes. 406 ff. (mit weiterer Lit.); M.
Korenjak,
Publikum und Redner: Ihre Interaktion in der sophistischen Rhetorik der
Kaiserzeit,
München 2000; Robert A. Kaster: „Controlling reason: Declamation
in
rhetorical education“, in: Yun Lee Too, Education in Greek and Roman
antiquity,
Leiden u.a. 2001, 317-337 (mit Lit.). Knappe und zuverlässige
Information
bietet: M. Winterbottom, „declamation“, in: Oxford Classical Dictionary
31996, 436-437; verwirrend (bes. zur Antike): Sandstede,
„Deklamation“ (s.
oben Anm. 4); umso wertvoller: Manfred Kraus, „Exercitatio“, in:
Historisches
Wörterbuch der Rhetorik, Bd.3, 1996, 71-123 (bes. auch zum
Fortleben
der antiken Traditionen).
Wie kam es dazu, dass man solche Reden gerade mit declamatio
bezeichnet hat, einem Wort, das seinem etymologischen Sinn nach ja
eigentlich so viel wie das „Herunterschreien“ bedeutet? Hatte es etwa
von Ursprung an auch jenen despektierlichen Sinn der „klangvolle(n),
aber inhaltsarme(n) Rede“, den ihm heute die Brockhaus Enzyklopädie6
attestiert und den wir meinen, wenn wir sagen, der oder jene Politiker
habe wieder einmal nichts als „Deklamationen“ geliefert? Dem hier
gesetzten wissenschaftlichen Problem, das umso dringender ist, als
dem lateinischen declamare (nicht etwa ein griechisches
kataboân, sondern)
das farblose meléte („Übung“) zu entsprechen scheint,7
ist vor allem Stanley F. Bonner in seinem grundlegenden
Buch über Roman declamation (1949)8
nachgegangen, und seine Darlegungen sind bis heute im wesentlichen
ohne Widerspruch geblieben.9
Danach
bezeichnete declamare bzw. declamatio ursprünglich
eine schiere 'Stimmübung',
entsprechend dem griechischen anaphónesis; daraus habe sich wohl
schon zu Anfang des ersten vorchristlichen Jahrhunderts,
spätestens
aber in der Zeit vor Ciceros De oratore (55 v.Chr.), die uns
bekannte,
oben skizzierte Bedeutung der 'Deklamation', also der Schulrede
über
fiktive Themen, entwickelt. Diese These Bonners ist, wie ich zeigen
möchte,
nur was den Ursprung der Vokabel angeht, zum großen Teil richtig;
im übrigen hat Bonner nicht gesehen, dass gerade Cicero weniger
Zeuge
als vor allem auch treibende Kraft einer sprachlichen Entwicklung war,
die
er, Bonner, zu früh beendet glaubte und deren innere Gründe
er
nicht eigentlich erfasst hat. Dazu brauchen wir kein neues Material,
sondern
können uns im wesentlichen auf die Belege stützen, die schon
Stöger
in den einschlägigen Artikeln des Thesaurus linguae Latinae10
gesammelt, freilich noch nicht ausreichend gesichtet
hat.
6) Wiesbaden, Bd. 4, 1968, 382; vgl. Gero
von Wilpert, Sachwörterbuch der Literatur, Stuttgart 51969,155:
„gelegentl. auch abwertend im Sinn von eingelerntes hohles Gerede“.
Auch schon Goethe gebraucht das Wort so, wenn er bei Seneca (dem
Philosophen) „leere, doch unnütze Declamationen“ gegen den Luxus
findet, die er, wie auch heute beliebt, damit in Zusammenhang bringt,
„daß die Redekunst aus dem
Leben sich in die Schulen und Hörsäle zurückgezogen hat“
(Geschichte der Farbenlehre II 3, 127, zitiert nach Grumach [s. oben
Anm. 1] 895.
7) Auf dieses sprachliche Problem ist offenbar
zuerst F.H. Colson („‘DECLAMARE‘ – KATHXEIN“, CR 36, 1922, 116
f.) aufmerksam geworden. Dass melete auf die lateinische Wortgeschichte
nicht eingewirkt hat – erst Quintilian scheint den griechischen t.t. zu
beachten, wenn er die declamatio bestimmt als forensium
actionum meditatio
(inst. 4,2,29) –, dürfte vor allem auch dadurch zu erklären
sein,
dass sich melete selber wohl erst spät terminologisch
verfestigt
hat; so Werner Hofrichter, Studien zur Entwickelungsgeschichte der
Deklamation von der griechischen Sophistik bis zur römischen
Kaiserzeit, Diss.
Breslau 1935, 11-13 (der früheste Beleg bei Strabon ist aber nicht
einschlägig); eine genauere Wortuntersuchung wäre
wünschenswert
(erst späte Belege bei Russell [s. oben Anm. 1] 9 ff.) Das von
Colson
als griech. Aequivalent zu declamare (was ursprünglich
„unterrichten“
geheißen hätte) vorgeschlagene katechein findet keinen
Anhalt
in dem Belegmaterial für declamare usw.
8) Voller Titel: Roman declamation in the
late republic and early empire, Liverpool 1949 (dort bes. S.17-31);
vieles daraus ist rekapituliert und weitergeführt in seinem
ebenfalls wertvollen Werk: Education in ancient Rome: from the elder
Cato to the
younger Pliny, London 1977 (dort bes. S. 72 f. zur Wortgeschichte von declamare).
9)
Explizit zustimmend Leeman / Pinkster (s. oben Anm. 3), Bd. 1, S. 248
f.
(mit allerdings vorsichtigen Formulierungen); Lewis A. Sussman, The
elder
Seneca, Leiden 1978, 5; Kaster (s. oben Anm. 5) 275; mit leichter
Einschränkung
Fairweather 1984 (s. oben Anm. 5) 550 Anm. 158, vgl. aber auch
Fairweather
1981 (s. oben Anm. 5) 128.
10) ‚declamatio‘, ‚declamo‘ usw., Bd. V 1(1910) 179-182
Die ältesten Belege für declamare –
sie stammen alle von Cicero - scheinen nicht im Zusammenhang der
eigentlich schulmäßigen Rhetorik zu stehen; wir wollen mit
ihnen beginnen. Als Grundbedeutung des Worts, wenn es in dieser Weise
untechnisch gebraucht wird, gibt Stöger an „i.q. clamare vel
vehementer dicere“ (ThlL V1,181,45), also das 'laute, heftige Reden'.
Aber was besagt hier de? Das früheste Zeugnis gibt
Auskunft. In seiner Rede für den angeblichen Vatermörder
Roscius (80 v.Chr.) sagt Cicero ( S.Rosc. 82) über sachfremd
scheinende Vorwürfe des Anklägers gegen seinen Mandanten:
[...] quae mihi iste uisus est ex alia oratione d e c l a m a
r e quam in alium reum commentaretur; ita neque ad crimen
parricidi neque ad eum qui causam dicit pertinebant. Durch de-
('von oben nach unten') wird – ganz ähnlich wie bei decantare
('absingen') 11
- die Vorstellung suggeriert, dass es sich um einen fertigen Text
handelt,
der quasi mechanisch 'aufgesagt' bzw. 'heruntergedonnert' wird; wie
hier
dient auch sonst im außerrhetorischen Gebrauch das Wort stets der
Abwertung, durchaus vergleichbar der, die wir im heutigen deutschen
Fremdwort
finden. Ähnlich ist (i.J. 70) Cic. Verr. II 4,149 ille autem
insanus, qui pro isto uehementissime contra me d
e c l a m a s s e t
[ ... ]. Der weitere Kontext zeigt, dass dieser
wahnwitzige'Deklamierer''
von dem, was er 'aufgesagt hat', innerlich nicht überzeugt war.
Diese
Nuance ist noch deutlicher im Substantiv declamatio, das von
Cicero zunächst so verwendet wird: Planc. 47 [i.J. 54]... ad
communem ambitus causam contulisti, in qua desinamus aliquando,
si uidetur, uolgari et peruagata d e c l a m a t i o n e
contendere. Hier, wo Cicero den Ankläger auffordert, seine
Vorwürfe endlich zu konkretisieren, verstärkt das de-
in declamatio das Formelhafte der „trivialen und überall
üblichen“ 12
Gemeinplätze, die der geübte Redner in Sachen ambitus parat
hat, um sie jeweils pro oder contra 'lautstark aufsagen' zu können.13
Schwieriger ist Cic. epist. 3,11,3 (i.J. 50), da der Text nicht
in Ordnung scheint: uerum tamen est maiestas, etsi Sulla uoluit ne
in quemuis impune d e c l a m a r i liceret,
<ambigua> [suppl. Lehmann, Shackleton Bailey]; ambitus
uero ita apertam uim habet ut aut accusetur improbe aut defendatur.
Gemeint muss sein, dass die Schuld in Fälle von maiestas-Prozessen,
offenbar wegen der relativen Unbestimmtheit des Begriffs, schwerer
festzustellen ist als bei dem klarer umgrenzten ambitus -
„obschon Sulla wollte, dass man nicht gegen jeden ungestraft
'deklamieren' dürfe“ – das dürfte dann wohl auf eine Klausel
der lex Cornelia de maiestate14
gehen, in der eine Strafe für den festgesetzt war, der sachfremde
Vorwürfe gegen einen Unschuldigen 'abspult' (die Vorstellung
scheint also ähnlich wie in S.Rosc.82).
Dies sind sämtliche15
Belege des ersten Jahrhunderts, in denen declamare bzw. declamatio
ohne eindeutige Beziehung auf Rhetorik oder rhetorischen Unterricht
gebraucht wird. Alle sind peiorativ, abwertend gemeint; alle betreffen
auffallenderweise das Reden eines Redners, nicht das eines sonstigen
Sprechers. Das letztere legt die Vermutung nahe, dass sie doch in einem
gewissen Verhältnis zur technischen Verwendung des Worts in der
römischen Rhetorik stehen.
11) Vgl. die von Gudeman zu decantare „in malam
partem“ zusammengestellten Belege (ThlL V 1, 118,14-38), zuerst Cic. de
orat. 2,75 nec mihi opus est Graeco aliquo doctore, qui mihi
peruulgata praecepta decantet.
12) E. Köpke / G. Landgraf (Cic., Planc., Leipzig 31887)
zu Planc. 47: „unbegründetes und leeres Zungengedresche, das sich
in trivialen Tiraden ergeht“. Zum Ausdruck vgl. Cic. orator 195 ... nimis
dissolutum, ut peruagatum ac uulgare uideatur
(über eine Rede ohne rhythmische Komposition).
13) Wie Cicero sagt noch (völlig untechnisch) Seneca, epist. 83,16
itaque declamationes istas de medio remoueamus [...].
14) Literatur zum juristischen Problem bei D.R. Shackleton Bailey
(Hrsg.), Cic., Epist. ad fam., Bd. 1, Cambridge 1977 z.St.
15) Weggelassen ist nur Cic. Mur. 44 non placet mihi
inquisitio candidati, praenuntia repulsae, non testium potius quam
suffragatorum comparatio, non minae magis quam blanditiae, non d
e
c l a m a t i o potius quam persalutatio [...]: declamatio,
nach Joachim
Adamietz (Cic., Pro Murena ,mit Komm., Darmstadt 1989, S. 179
) der „lautstarke Protest“, würde
überhaupt nicht zur sonstigen Verwendung des Worts passen;
wahrscheinlich ist mit
Bake und Clark denuntiatio zu lesen; vgl. Joh. Nicolaus
Madvig, Adversaria
critica, Bd. 2, Kopenhagen 1873, 208.
Wir studieren diese zunächst beim sogenannten Auctor
ad Herennium – dessen Datierung heute nicht mehr unumstritten
ist -,16 da er sich am
ausführlichsten äußert. Dort werden im Zusammenhang des
fünften Teils der Rhetorik, der pronuntiatio (3,11,19
ff.) – die er eingehender erörtern will als alle Rhetoriker vor
ihm -, drei Vorzüge der Stimme behandelt (3,11,20):17
magnitudo (Stärke),
firmitudo (Ausdauer), mollitudo (Modulationsfähigkeit).18
Die magnitudo sei vor allem ein Geschenk der
Natur, könne aber durch die adcuratio (Stimmpflege)
gebessert werden
; dagegen sei die firmitudo besonders Sache der Stimmpflege (cura),
sie lasse
sich aber nicht unwesentlich steigern und erhalten durch die exercitatio
d e c l a m a t i o n i s . Diese letztere dominiere vollends im
dritten
Punkt: mollitudinem uocis, hoc est ut eam torquere in dicendo
nostro commodo
possimus, maxime faciet exercitatio declamationis. Der ‚Auctor‘
gibt keine
Definition dessen, was er unter cura (bzw. adcuratio)
und declamatio verstehen
will, sagt aber: was natura und cura angehe, [...] nihil
nos attinet commonere,
nisi ut ab iis qui non inscii sunt eius artificii ratio curandae uocis
petatur.19 Unter diesen artifices
sind offenbar Schauspieler oder Ärzte zu verstehen, die sich
auf Pflege und Heilung der Stimme
verstehen (von den Römern z.T. phonasci genannt);20
wir kennen einschlägige Vorschriften bezüglich von
Medikamenten und Stimmübungen vor allem aus griechischen
Ärzten der Kaiserzeit21
(über die nachher noch kurz zu
sprechen sein wird). Deren Vorschriften scheinen also nicht gemeint,
wenn
der Auctor nun über den Aspekt (pars) der firmitudo
und mollitudo
sprechen will, der auf der ratio bzw. moderatio
declamationis, wie er mit
Variation des Ausdrucks sagt, beruhe.
16) Die immer noch vorherrschende Frühdatierung der
Herenniusrhetorik in die Achtzigerjahre (zuletzt bes. in der Ausg.
von Guy Achard, Paris 1989, Einl. S. VI-XIII: zwischen 86 und 83) ist
von
A.E. Douglas bestritten worden („Clausulae in the Rhetorica ad
Herennium
as evidence of its date“, CQ 54, N.S. 10, 1960, 65-78). Obwohl mich
dessen
Argumentation nicht wirklich überzeugt, halte ich es doch aus
anderen
Gründen, die hier nicht einmal angedeutet werden können,
für
sehr wahrscheinlich, dass das Werk nach Ciceros De oratore
anzusetzen
ist.
17) Geradezu irreführend ist die Wiedergabe
der Partie bei Josef Martin, Antike Rhetorik, München 1974, 353.
18) Diese wohl vom Verfasser selber (aus der
Medizin?) in die Rhetorik eingeführte Einteilung hat nichts zu tun
mit der des Aristoteles in „Stimmstärke, Harmonie (=
Sprachmelodie), Rhythmus“ (so unrichtig Georg Wöhrle, „Actio: Das
fünfte officium des antiken Redners“, Gymnasium 97, 1990, 31-46,
dort 43 Anm. 42). Sie
scheint aufgenommen und leicht variiert in der Ars rhetorica
des Fortunatianus (4. Jhdt.?) 3,15 (mit Komm. hrsg. v. Lucia Calboli
Montefusco, Bologna 1979, S. 158): bonitas uocis quibus constat?
claritate, firmitate, suauitate.
19) Im selben Sinn sagt Crassus in Cic. de orat. 3, 224
bei Behandlung der uox tuenda (m.E. das evidente Vorbild unserer
Partie, vgl. oben Anm. 16): de quo illud iam nihil ad hoc
praecipiendi genus, quem ad modum uoci seruiatur (equidem tamen magno
opere censeo seruiendum); sed illud uidetur ab huius nostri sermonis
officio non abhorrere, quod
[...] plurimis in rebus, quod maxime est utile, id nescio quo pacto
etiam
decet maxime etc. (der Gedanke, den der Auctor in 3,11,21
f. breit
ausführt).
20) Nach üblicher Auffassung der Lexika und
der Spezialisten heißen „Phonaskoi, phonasci [...]
im Altertum die berufsmäßigen Stimmbildner, die zuerst
für den Bühnenvortrag und weiterhin zur Anleitung des Redners
benötigt wurden“; so Johanna Schmidt im Artikel 'Phonaskoi', RE XX
1 (1941) 522-526; ebenso jetzt (mit neuerer Lit.) Gualtiero
Calboli, 'Phonaskoi', Der Neue Pauly, Bd. 9 (2000) 949 f.. Sieht
man genauer hin, so finden
sich Belege für phonascus im Sinne des
'Stimmbildners' offenbar
nur bei den Römern Tacitus (ann. 14,15,4: über Nero, Text
nach
Konjektur) und Sueton (Nero 25,3; Aug. 84,2). Bei Quintilian
dagegen
ist mit phonascus (zuerst 2,8,15; dann 11,3,19; 22;) immer
eindeutig der
Stimmvirtuose (Sänger oder Schauspieler, unrichtig Schmidt Sp.
524,34),
also offenbar derjenige gemeint, der die eigene Stimme trainiert
(phonaskei);
und dies scheint auch dem üblichen griechischen
Sprachgebrauch
zu entsprechen (etwa Epict. 1,4,20; Alexander Aphr. probl. 1,119; der
Stimmtrainer
heißt phonaskikos); überhaupt erst Römer dürften,
in
Analogie zum rhetor, den phonascus zum Lehrer gemacht
haben. Im übrigen
heißt phonaskein nicht nur „train one‘s voice, learn to sing or
declaim“
(Liddell / Scott s.v.) sondern auch 'schön reden, das große
Wort
führen' (offenbar schon seit Demades or. fr. 75, p.43 de Falco2;
dann
bei Dio Chrysostomos und Libanios). Die Terminologie müsste im
Zusammenhang
einer Neubearbeitung des ganzen Komplexes (unzulänglich: Armin
Krumbacher,
Die Stimmbildung der Redner im Altertum bis auf die Zeit Quintilians,
Paderborn
1920) geklärt werden.
21) Viel dazu bei Schmidt, „Phonaskoi“ und
Calboli (s. oben Anm. 20); am wertvollsten ist die Arbeit von Hermann
Schöne, „Peri hygieines anaphoneseos bei Oribasius Coll. Med. VI
10,
Hermes 65, 1930, 92-105.
Worin diese besteht, zeigen die folgenden
Vorschriften,22 zunächst
zur firmitudo: Man solle die Proömien (principia)
mit verhaltener Stimme sprechen,23
größere Pausen (interualla) einlegen, vom lautstarken
Reden (clamor) öfter zum Umgangston (sermo)
übergehen, plötzliche Ausrufe (exclamationes) meiden
und am Schluss der Rede
längere Partien auf einen Atem (uno spiritu continenter)
sprechen.
Zwar sind die hierfür gegebenen Begründungen zunächst
rein
medizinisch24 – so wird etwa
die erste
Vorschrift damit erklärt, dass ein zu lauter Redebeginn die
Luftröhre
(arteria) verletze -, aber seine 'Übung' selber ist, wie
angedeutet,
eine spezifisch rhetorische: Sie besteht offensichtlich im lauten
Vortrag
einer ganzen Rede, auf deren Teile ja sogar in der Reihenfolge der
Vorschriften,
zumindest bezüglich Anfang und Ende, Rücksicht genommen ist.
Dies ist kaum anders bezüglich der mollitudo, von der der Auctor
betont, dass sie gänzlich in den Bereich des rhetorischen
Unterrichts gehöre (11,13,23 omnis ad rhetoris praeceptionem
pertinet), d.h. dass die erwähnten Spezialisten für
'Stimmpflege' sich offenbar nicht mit ihr befassen (weswegen hier auch
Medizinisches fehlt). Wenn er, scheinbar nur systematisch, die drei
verschiedenen 'Grundtöne' des rednerischen Ausdrucks nennt (und
diese dann in acht Spezies zerlegt), so ist auch hier die Reihenfolge
offenbar am Redeablauf orientiert. Der zuerst genannte 'Alltagston' (sermo25)
entspricht den,
wie wir gehört haben, gedämpften Proömien (und ein
Spezies
von ihm ist der, den zweiten Redeteil betreffende, 'Erzählton', narratio).
Von der contentio ('Ton des Nachdrucks') sagt er
ausdrücklich, sie
sei ad confirmandum et ad confutandum geeignet, sie gehört
also zu
dem, was später zusammenfassend argumentatio heißen
kann (bei
ihm der vierte und fünfte Teil der Rede, confirmatio und confutatio
[1,3,4]). Und wenn es von der zuletzt genannten amplificatio ('Ton
der Steigerung')
heißt, sie die oratio quae aut in iracundiam inducit aut ad
misericordiam
trahit auditoris animum, so ist klar, dass hier besonders auf den
Redeschluss
(1,3,4 conclusio, gewöhnlich peroratio) abgehoben
ist, wo in der Gerichtsrede
– an die in der Rhetorik ja immer zuerst gedacht wird - der
Ankläger
auf den Zorn, der Verteidiger auf das Mitleid des Zuhörers
abzuzielen
hat. So ist also auch bei den Vorschriften für die stimmliche
Gestaltung
der verschiedenen ‚Töne‘ (3,22,14 f.) der Ablauf einer Rede im
Blick.
22) Nur wenig hilfreich zum Verständnis ist die
Arbeit von Krumbacher (s. oben Anm. 20), 42-44, 94-99, 101 f.;
einige Hinweise bei Gualtiero Calboli (Hrsg.), Cornifici Rhetorica ad
C.
Herennium, Bologna 1969 (mir unbekannt: 21993), 265 ff.
23) So auch Fortunatianus (vgl. oben Anm. 18) 3,17
[...] ut in principiis uox tua submissa sit, deinde paulatim se
intendat (dies aber bei ihm nur, wenn nicht die Möglichkeit
zu
stimmlicher Vorübung besteht).
24) Der Auctor dürfte hier eben die
medizinische Literatur benutzen, auf die er gerade angespielt hat.
25) OLD s.v. 'sermo' 6 b; vgl. unten Anm. 97
Natürlich hätte all dies Gesagte auch Gültigkeit
für eine wirkliche, auf dem Forum vor Richtern gehaltene Rede;
aber ebenso ist klar, dass der Auctor hier vor allem an eine
spezielle Übung des
rhetorischen Unterrichts (rhetoris praeceptio) denkt: Bei ihr
werden ganze
Reden vorgetragen, und zwar so, dass dabei nicht auf Inhalt und Form (inuentio,
dispositio, elocutio), sondern ausschließlich auf die
Vortragskunst (pronuntiatio) geachtet wurde. Wenn der Auctor
versichert, dass seine Lehre auf diesem Gebiet neu, in Rhetoriken
unüblich sei, so bezieht sich das nur auf seine speziellen
stimmpädagogischen Vorschriften (die firmitudo und mollitudo
fördern sollen), nicht auf die 'Übung der declamatio,
die eher als bekannt vorausgesetzt wird. Sie findet sich, der Sache
nach – von der Vokabel sehen wir einen Augenblick ab – im Kern auch
noch bei Quintilian, dessen Vorschriften zur Schulung der pronuntiatio
hier überhaupt den besten Kommentar geben. Der Redner, sagt er
(11,3,19 ff.), müsse ebenso die Stimme ausbilden wie der
phonascus, der Stimmvirtuose (als Sänger oder Schauspieler)26,
könne aber nicht dieselben Methoden anwenden wie jener (einiges
davon wird aufgezählt, worauf wir noch zurückkommen). Seine
Stimmübung bestehe vor allem im Vortrag von auswendig Gelerntem
(11,3,25 ediscere autem quo exercearis optimum), da man bei
dessen Wiedergabe, unabgelenkt vom Inhalt, nur auf die Stimme achten
könne: nam ex tempore dicentis auocat a cura uocis ille qui ex
rebus ipsis concipitur adfectus; im übrigen gelte es, Texte
auswendig zu lernen, die eine möglichst große Vielfalt von
Tönen enthielten, um so durch den Vortrag nur eines Texts
stimmlich für alle Anforderungen der Praxis gerüstet zu
werden (also was der ‚Auctor‘ die
mollitudo uocis nannte): et ediscere quam maxime uaria, quae et
clamorem et disputationem et sermonem et flexus habeant, ut simul in
omnia paremur.
Den einzigen Unterschied zum ‚Auctor‘ macht, dass bei Quintilian nicht
speziell an den Vortrag ganzer Reden, sondern allgemeiner an für
die Stimme dankbare Texte gedacht scheint.27
Jedenfalls ist evident, dass Quintilian hier nicht das im Auge hat, was
er sonst, dem später üblichen Sprachgebrauch entsprechend,
declamatio nennt, eben die zu fiktivem Thema gehaltene Übungsrede,
welche
die Krönung des Rhetorikunterrichts ist (inst. 2,10) und
unweigerlich suasorias iudicialesque materiae (2,10,1)
betrifft. Im übrigen gilt jedoch auch für die exercitatio
declamationis des Auctor, dass sie, obschon sie im Vortrag
ganzer Reden zu bestehen scheint, keine solche 'Deklamation' im
späteren Sinn von declamatio darstellt; es kommt in ihr
ja nicht auf
das schöpferische Erfinden von Argumentationsstrategien oder auf diuisiones
colores sententiae im späteren Sinne an, sondern
ausschließlich auf die Stimmschulung. Declamare – das
hat schon der Blick auf den unrhetorischen Sprachgebrauch nahegelegt –
bezeichnet eben das 'laute Aufsagen' eines vorgefertigten, in der Regel
wohl auswendig gelernten Textes; und exercitatio declamationis,
um es einmal auch ganz wörtlich zu übersetzen, heißt:
'die Übung, die im lauten Aufsagen besteht'.28
26) S. oben Anm. 20
27) Ähnlich beim Auswendiglernen von Texten
im Rahmen der Progymnasmata (inst. 2,7,2), wo es vor allem um die
Schulung des Stils geht.
28) Ich fasse also declamationis
als einen epexegetischen Genitiv; anders sind die objektiven
Genetive exercitatio uocis oder exercitatio dicendi
(etwa Cic. Arch. 1), auch Sen. contr. 2
praef. 4 declamandi exercitatio, wo gemeint ist dass man 'das
Deklamieren
(im späteren Sinn) übt'.
Wäre also dieser technische Gebrauch von declamatio eine
Festlegung nur des Auctor? Vor allem Cicero beweist, dass dies
nicht der Fall ist. In De oratore (55 v.Chr.) heißt es
über die Stimmschulung (1,251): quid est oratori tam
necessarium quam uox? tamen me auctore nemo dicendi studiosus Graecorum
more tragoedorum29 uoci
seruiet, qui et annos compluris sedentes d e c l a m i t a n
t et cotidie, antequam pronuntient, uocem cubantes sensim
excitant eandemque, cum egerunt, sedentes ab acutissimo sono usque ad
grauissimum sonum recipiunt et quasi quodam modo conligunt. Hier
sind mit declamitare eindeutig Stimmübungen tragischer
Schauspieler bzw. Sänger gemeint, und zwar Übungen, die zur
habituellen Stimmpflege durchgeführt und
offenbar von denen unterschieden werden, die dem aktuellen 'Ein- und
Aussingen'
vor und nach der vokalen Darbietung dienen.30
Spätestens in den Fünfzigerjahren scheint hier also ein
technisch fester Begriff, der möglicherweise aus dem Bereich
des Schauspielunterrichts stammt, vorzuliegen. In dieselbe
Richtung weist Ciceros Verwendung von declamare später
(i.J. 45), also zu einer Zeit, wo sonst declamare im Sinn der
spätere 'Deklamation' terminologisch festgelegt ist (wie wir
noch sehen werden): Cic. fin. 5,5 quo in loco ad fluctum
aiunt d e c l a m a r e solitum Demosthenem, ut fremitum
assuesceret uoce uincere (bei den berühmten Übungen des
phonetisch behinderten Redners, kam es nur auf die Schulung der Stimme
an); ebenso auch noch Val. Max. 8,7, ext. 1: (Demosthenes) litoribus
insistens d e c l a m a t i o n e s fluctuum fragoribus
obluctantibus edebat.31 Ja
sogar noch Quintilian, der declamare sonst
ausschließlich für die Schulrede (im Sinne von inst. 2,10)
gebraucht, scheint an
der vorher zitierten Stelle, wo er die Stimmübungen behandelt,
wenigstens einmal in diesen Sprachgebrauch zurückzufallen (inst.
11,3,27): nam crudum quidem aut saturum aut ebrium aut eiecto modo
uomitu [...] d e c l a m a r e neminem qui sit mentis
compos puto.32 Was also
der Auctor unter exercitatio declamationis versteht,
entspricht einem älteren, sich in Ausläufern aber noch bis in
die Kaiserzeit durchhaltenden Sprachgebrauch; für den Auctor spezifisch
ist offenbar nur, dass er an das Sprechen ganzer Reden denkt,33
während der Begriff sonst allgemeiner
im Sinn der 'Sprechübung' überhaupt zu fassen ist.34
Terminus ante quem für diese Bedeutung der Vokabel scheint aber
schon das Jahr 80 v. Chr.; denn es ist, wie im Kern schon Bonner
gesehen hat,35 unverkennbar,
dass Ciceros Spott über den Ankläger, der ihm ex alia
oratione quam in alium reum commentaretur zu 'deklamieren' (declamare)
scheine, auf eben diese Praxis des lauten, der Stimmschulung dienenden
Vortrags eines festen Textes anspielt. Auch an den übrigen
angeführten Stellen, wo declamare bzw. declamatio
untechnisch gebraucht wird, dürfte also dieser Begriff
mitzuhören sein; alle bezogen sich ja auf das 'Aufsagen' von
etwas, das schon gewissermaßen fertig ist und darum der jeweils
zu bewältigenden Situation nicht gerecht wird. Darum war auch die
untechnisch gebrauchte declamatio immer peiorativ gemeint,
während dies beim technischen Terminus natürlich nicht der
Fall ist: Erst die Übertragung des declamare in
Situationen außerhalb der Sprecherziehung, lässt das
'Aufsagen' deplatziert erscheinen.
Der terminus technicus dürfte hier einmal der Ursprung des
Begriffs
sein.36
29) K.F. Kumaniecki in seiner Ausgabe (Leipzig 1969) liest
mit einem Teil der Überlieferung: Graecorum more et tragoedorum,
wodurch der Brauch auch für griechische Redner bezeugt wäre;
aber der Einwand, den Antonius im Folgenden macht, wäre dann
weniger
schlüssig.
30) Vgl. zur sachlichen Erklärung außer
dem Kommentar von Leeman / Pinkster (wie Anm.3), Bd. 2 (1985) 169 f.
auch Krumbacher (wie Anm. 20), 83-85 und bes. Günther Wille,
Musica Romana, Amsterdam 1967, 481.
31) Stöger (ThlL V1, 180,42) hat dies
wunderlicherweise auf schriftliche Edition bezogen!
32) Dies entspricht der Beobachtung des Aristoteles, dass
„alle, die ihre Stimme üben (phonaskuntes), wie Schauspieler und
Choreuten [...] in der Frühe, wenn sie nüchtern sind, ihre
Übungen machen“ (probl. 901 B 1).
33) Da ich den Auctor spät datiere (s. oben
Anm.16) muss ich damit rechnen, dass er hier schon vom späteren
Begriff der declamatio beeinflusst ist.
34) Bonner hat diese von ihm zu Recht
ursprünglich angesetzte Bedeutung unzulässig
eingeschränkt, wenn er meinte (1949 [wie Anm. 8], 21): „[...] that
the rehearsal, either by the master for imitation or by the pupil for
criticism, of sections of speeches for this strictly limited purpose of
pronuntiatio was what declamatio originally meant“.
Inspiriert hat ihn dazu wahrscheinlich die oben angeführte Stelle
Cic. S.Rosc. 82; aber schon allein der Auctor, bei dem doch
eindeutig an ganze Reden gedacht ist, verbietet die Einschränkung
auf bloße Redeteile.- Vorsichtiger als Bonner unterscheidet A.E.
Douglas in seinem Kommentar zum Brutus (Oxford 1966, S. 222
f., zu § 310) zwei Grundbedeutungen von declamatio: „(I)
rehearsal of speeches which were to be delivered [so in der Tat wohl in
Cic. Phil. 5,19, s.unten], (II) voice-training ([...] de or. I.251)“;
nur an den übungsmäßigen Vortrag zu haltender Reden
denkt Domenico Bo, Scuola e retorica in Roma fino al Io sec.
d. c., Turin 1969, 151.
35) Bonner 1949 (wie Anm. 8), 28, unter Bezugnahme auf den
Kommentar von Gustav Landgraf.
36) Ich kann somit nicht glauben, dass declamare
ursprünglich ein „Spottwort“ war (so Adolf Kiessling / Richard
Heinze [Hrsg.], Horatius, Briefe, Berlin 41914, Ndr. 1961,
zu Hor.
epist. 1,2,2), ähnlich Hofrichter (wie Anm. 7) 11 („ fast
verächtlich, als sei es von Leuten geprägt, die sich
über die Schulübungen lustig machten“).
Höchst problematisch war es jedoch, wenn Bonner diesen Begriff
der declamatio (ohne genauere Begründung) von dem
griechischen Äquivalent anaphonesis herleiten wollte.37
Hierbei
handelt es sich um einen aus der (schon erwähnten) medizinischen
Stimmpflege stammenden Terminus, der griechisch zuerst im ersten
nachchristlichen Jahrhundert bei Aretaios38
und Plutarch belegt ist,39 und
eine Stimmübung bezeichnet, die von der, die wir bei Cicero, dem
‚Auctor‘ und Quintilian bezeugt fanden, beträchtlich abweicht. Der
Name selber scheint nämlich daher zu kommen, dass man die Stimme
allmählich von den tiefsten Tönen
beginnend in die Höhe steigen ließ (anagein) und sie dann
wieder
zurückbrachte.40 Er
führt also
auf eine andere Vorstellung als die, welche durch declamare evoziert
wird;
dagegen entspricht es der Vorstellung von anaphonesis, wenn Seneca und
der
ältere Plinius sie mit intentio41
uocis
übersetzen42 (was eine
ältere
Übersetzung mit declamatio weniger wahrscheinlich, wenn
auch nicht unmöglich,
macht).
37) Bonner 1949 (wie Anm. 8) 20 Anm. 3,
sicherlich angeregt durch Colson (wie Anm. 7, dort 117, Anm. 2) und
die Gleichsetzung der Vokabeln im Corpus Glossariorum III 351, 65
u.ö.
(Hinweis schon bei Stöger ThlL V1,179,73), auf die sich Bonner
sonderbarerweise
erst später (1977, 344 Anm. 50, wo ihm die Gleichsetzung
endgültig
gesichert scheint) beruft.
38) Er nennt sie die „geeignete Schulung des
Atems“ (8,13,10 = CMG II 170,1) und gebraucht sie für verschiedene
therapeutische Zwecke (7,3,8; 8,7,6 = CMG II 150,31; 166,27).
39) Plut. mor. 130 C (anaphonein neben anagignoskein als
körperkräftigende, besonders für „Philologen“
geeignete Stimmübung); 1071 C (anaphonesis neben anderen
diätetischen und therapeutischen Maßnahmen); dann zahlreiche
Belege bei Soranos, Archigenes, Galenos, Antyllos, Oreibasios, Aetios,
Paulos. Etwas verwirrend ist die
Zusammenstellung bei Krumbacher (wie Anm. 20), 105-107, da nicht genau
auf
die Terminologie geachtet wird..
40) So Oreibasios (nach Antyllos), coll. med.
6,9,5 (CMG VI 1,1, p. 160); die in 6,10 beschriebene anaphonesis ist
anderer Art und kann, wie von Schöne (wie Anm. 21) gezeigt, nicht
von Antyllos stammen.
41) intendere bezüglich der
Stimme bezeichnet nicht nur Verstärkung, sondern auch
Erhöhung
des Tons; z.B. Cic. orator 59 ergo ille princeps [...] omnes
sermonum tum
intendens tum remittens persequetur gradus.
42) Seneca, epist. 15,7 (bei Behandlung von
gesundheitsfördernden Übungen) nec tu intentionem uocis
contempseris, quam ueto te per gradus et certos modos extollere, deinde
deprimere. (Seneca hält es für überflüssig, die
anaphonesis in dieser
strengen Form durchzuführen, was imerhin zeigt, dass anaphonesis
auch
in weiterer Bedeutung verwendet werden kann.) Bei Plinius, nat. 28,53,
erscheint die intentio uocis neben anderen therapeutischen
Maßnahmen
(in ähnlichem Zusammenhang wie die anaphonesis
regelmäßig
bei griechischen Ärzten; vgl. etwa Galen X 251,13; XIII 167,14
Kühn):
his adnumeratur exercitatio, intentio uocis, ungui, fricari cum
ratione
[...]. im primis uero prodest ambulatio, gestatio [...].- Die
Zusammenstellung
der Belege für intentio uocis u.ä. bei Nielsen, ThlL VII
2121,57ff.
wird dem technischen Gebrauch an diesen beiden Stellen nicht gerecht.
Diese spezielle Übung deckt sich, wie man sieht, zum Teil mit der
bei Cicero für die Tragöden, aber nur für diese,
bezeugten Übung zur Vor- und Nachbereitung des vokalen Auftritts;
auch Quintilian kennt sie, meint aber ebenfalls, dass sie für den
Redner, aus Gründen der Zeitökonomie, nicht in Frage komme
(inst. 11,3,22): [...] nec praeparare ab imis sonis uocem ad summos
nec semper43 a
contentione condere licet, cum pluribus iudiciis saepe dicendum sit.
Erst der in müßigeren Verhältnissen lebende
spätantike Rhetor Fortunatianus44
schreibt die anaphonesis dem Redner als regelmäßige
vormittägliche Übung, zur Verbesserung der Stimmstärke,
vor (3,16)45: ut sedentes
uersus (!) paucos pronuntiemus lenta et graui uoce, deinde per
gradus paulatim extollamus46
ut quantum potest surgat; tunc rursus per eosdem gradus eam paulatim
reuoluamus, donec sine damno ad murmur usque perueniat.47
Wie man aber sieht, hat diese anaphonesis fast nichts zu tun mit der
vom ‚Auctor‘ beschriebenen oder vorausgesetzten declamatio,48
obschon auch bei ihr offenbar gewöhnlich ein fester Text, jedoch
wohl meist ein dichterischer,49
zugrunde gelegt wird. Allerdings verwendet man bisweilen den Terminus
anaphonesis auch für andere, nicht in diesem Auf und Ab bestehende
Stimmübungen; diese sind dann aber nicht für den
Stimmkünstler, sondern für die allgemeine Gesundheitspflege
oder die Therapie bestimmter Krankheiten gedacht.50
Nichts weiter dazu! Terminologie und Praxis der antiken Sprecherziehung
im Verhältnis zur rhetorischen pronuntiatio würden
gewiss einmal eine gründlichere Erforschung verdienen;
vorläufig können wir aber doch sagen, dass anaphonesis kaum
das Vorbild für declamatio gewesen sein kann.
43) Statt semper, was an dieser Stelle
keinen rechten Sinn ergibt, ist vielleicht zu lesen sensim; so
formulieren bei der Beschreibung der Abwärtsbewegung, die nicht zu
schnell gehen dürfe, Oreibasios, coll. med. 6,9,5 (kata brachy)
und Fortunatianus 3,16 (paulatim).
44) Ihm folgend dann auch Martianus Capella, 5, 540 (p.
270 Dick).
45) Die etwas undeutliche Struktur seiner
Darlegungen, die auch aus dem Kommentar von Calboli Montefusco (wie
oben Anm. 18) nicht klarer wird, scheint die folgende: Die Stimme muss
(1)
clara, (2) firma, (3) suauis sein (cap. 15).
Für (1) uox clara ist
zuständig die anaphónesis (cap. 16), die die Stimme
„nährt“ (alere); (2) uox firma bewirkt der usus,
der die Stimme erhält (custodire) und im vernünftigen
Vortrag beim Reden (declamare im kaiserzeitlichen Sinn!) sowie
gewissen diätetischen Maßnahmen (beschrieben in cap.
17) besteht; für (3) uox suauis gibt es ebenfalls
diätetische Maßnahmen, die auf obseruantia cibi et potus
et Veneris continentia (cap. 15) beruhen sollen (und, was Speise
und Trank angeht, offenbar mit den in cap. 17 beschriebenen identisch
sind). Dazu kommen schließlich therapeutische Maßnahmen (restituere)
bei Stimmschäden. Das stimmt zum größeren Teil mit dem
‚Auctor‘ überein, der für die magnitudo (1) der
Stimme
nur die (ärztliche) cura für zuständig
erklärt (wozu
die anaphonesis gehören dürfte), für firmitudo (2)
dagegen
neben der cura auch die rhetorische exercitatio für
wichtig erklärt
(hier sind auch seine Vorschriften z.T. dieselben wie diejenigen, die
später Fortunatianus gibt); bei der mollitudo (3)
allerdings sind die Auffassungen verschieden.
46) Formuliert wie bei Sen.
epist. 15,7 (wie Anm. 42)
47) Dass mit dieser Übung die früher (3,15)
erwähnte anaphonesis gemeint ist, wird an dieser Stelle nicht mehr
ausdrücklich gesagt, ergibt sich aber aus der Systematik des
Gedankens (wie Anm. 45).
48) Dies kann mit ein Grund dafür sein, warum er auf
die ratio curandae uocis als Ergänzung zu seiner rhetoris
praeceptio ausdrücklich verweist.
49) So ausdrücklich beim Arzt Oreibasios, coll. med.
6,9 (wie Anm. 40), dessen Formulierungen sehr ähnlich sind; er
empfiehlt zum Vortrag am besten Episches, dan , als zweitbestes usw.,
Jambisches, Elegisches, Lyrisches (wahrscheinlich weil der
Singvers, der nach eigener Melodie verlangt, am wenigsten gerade
für eine Gesangsübung dieser Art geeignet ist).
50) Immerhin nimmt Caelius Aurelianus (um 400
n.Chr.), der sich auf Soranos (2. Jhdt. n.Chr.) stützt, den
Vortrag, wenn ich recht verstehe, von rhetorischen Übungsreden
unter die Therapiemaßnahmen gegen Geisteskrankheiten auf und
verweist dabei auf die Lehren griechischer Ärzte über anaphonesis
(chron. 1,5,163 f., p. 526 Bendz): tunc proficiente curatione
erunt pro possibilitate meditationes adhibendae uel disputationes
[wohl nicht „Gedankenübungen oder Streitgespräche“, wie
Ingeborg
Pape in der Ausg. v. Gerhard Bendz, Berlin 1990, S.527 übersetzt
(im
Folgenden erscheinen nur Hörer, nicht Mitunterredner),
sondern
'Redeübungen (melétai) und Erörterungen', vgl. die bei
Plut. mor. 130 C in ähnlichem Zusammenhang erwähnten
dialéxeis], sed nunc quoque [d.h. wie bei den
vorausgehenden Leseübungen] similiter ordinatae, ut principia
leni [leui codd., vgl. Rhet. Her. 3,11,21] uoce
promantur, narratio uero et demonstrationes [entsprechen wohl der argumentatio]
extenta atque maiore, tunc epilogus dimissa [codd., demissa Bendz,
aber gemeint
scheint, dass man die Stimme 'gehen lässt'] et indulgenti,
sicut hi
qui de exercenda uoce, quam Graeci anaphonesin uocant, <praecepta
dant>
[suppleui ex. gr.] tradiderunt. Diese Vorschriften
erinnern in der
Tat an diejenigen für die exercitatio declamationis in der
Herennius-Rhetorik; aber schon die unrichtige Wiedergabe von exercenda
uox durch anaphonesis (richtig natürlich: phonascia)
erweckt Zweifel daran, dass die beschriebene Übung wirklich je
unter dem Namen anaphonesis gestanden hat (was auch nicht ganz
eindeutig gesagt wird).
Wenn man somit überhaupt eine griechische Entsprechung suchen
will, müsste man eher auf den allgemeinsten Ausdruck für
'Sprechübung' raten: phonaskein bzw. phonaskia.51
Dieser ist, für uns seit Platon und Aristoteles52
fassbar, fester Terminus (vor allem im Bereich des Schauspiels); und,
was noch wichtiger ist, schon Demosthenes hat ihn mehrfach polemisch
gegen seinen Prozessgegner, den auch als Tragöden ausgebildeten
Aischines, verwendet: Er machte sich mit dieser Vokabel nicht nur
über dessen 'Einsingen' vor der Rede lustig,53
sondern hält ihm an berühmter Stelle vor (or. 18 = de cor.
280),
er missbrauche den Prozess, indem er, statt auf die Bestrafung eines
Schuldigen
auszugehen, nur 'eine Redeschau und Stimmübungen (phonaskias)
veranstalten'
wolle. Sollte also diese Herleitung richtig sein, könnte sich
Cicero
auch in dem abwertenden Gebrauch, den er von declamare in
seinen Reden macht,
dem attischen Vorbild angeschlossen haben. Auf jeden Fall ist declamatio
von Hause aus die 'Stimmübung', 'Übung im lauten Reden',
bei der
ein Text nicht eigentlich gesprochen, sondern 'aufgesagt' wird.
Wie kommt es nun zur Weiterentwicklung der Vokabel? Entscheidend
dürfte zunächst vor allem Cicero gewesen sein, der in De
oratore nicht nur, wie wir gesehen haben, von declamitare im
älteren Sinn sprach, sondern die Wörter declamator und
declamatorius in der Weise neu bildete, dass er dem declamare
in ihnen metonymisch eine veränderte bzw. erweiterte Bedeutung
gab. Wir behandeln die beiden entscheidend wichtigen Stellen in der
Reihenfolge des Auftretens.
In de orat. 1,73 sagt Crassus: Wie sich das sportliche Training
in der Palaestra auch außerhalb dieser zeige, so sei es beim
universal gebildeten Redner: [...] in orationibus hisce ipsis
iudiciorum contionum senatus, etiam si proprie ceterae non adhibeantur
artes, tamen facile declaratur, utrum is qui dicat tantummodo in
hoc d e c l a m a t o r i o sit opere iactatus an ad
dicendum omnibus ingenuis artibus instructus accesserit. Klar ist,
dass mit declamatorium opus sachlich nicht so sehr die declamatio als
'Stimmübung' als vielmehr der gesamte Rhetorikunterricht mit
dessen Übungsbetrieb gemeint ist; indem jedoch Crassus dafür
eine Vokabel wählt, die von declamator, als dem
gewissermaßen berufsmäßigen 'Stimmtrainer' abgeleitet
ist - auch oratorium oder rhetoricum opus wäre ja
hier durchaus sinnvoll und verständlich gewesen –, unterstellt er
mit gezielter Boshaftigkeit, dass es in der üblichen rhetorischen
Ausbildung nur darum ginge, gewissermaßen die Gurgel stark und
geläufig zu machen. Er lässt absichtlich unbeachtet, dass -
vom Unterricht in rhetorischer Theorie ganz abgesehen – gerade in den
(ihm wohlbekannten 54)
Übungsreden zu fiktiven Themen (also den später sogenannten controuersiae
et suasoriae)55 ja
doch auch die Fähigkeiten von inuentio, dispositio usw.
trainiert werden, nicht nur die Zungenfertigkeit.56
Das steht natürlich in Zusammenhang mit dem Bildungsideal, das
Cicero
seinem Protagonisten in den Mund legt und von dem das ganze Werk
durchtränkt und geprägt ist.57
Gegenüber dem durch alle ingenuae artes und besonders die
Philosophie gebildeten Redner, wie Cicero ihn propagiert, soll die
Ansicht derer, die glauben (de orat.
1,5) (eloquentiam) ab elegantia doctrinae segregandam
[...] et in quodam
ingenii atque exercitationis genere ponendam (esse), als
möglichst banausisch hingestellt werden.
51)
Die lateinische Wortbildung, die Composita in Vergleich zum
Griechischen
nur sehr beschränkt zulässt, verbot hier eine wörtliche
Übersetzung.
52) Plat. leg. 665 E, Aristot. probl. 901 B (wie
Anm. 32).
53)
or. 19, 255: Bei seiner Gesandtschaft in Mazedonien habe er 'sich
einige
unglückliche Phrasen einstudiert (meletedas) und seine Stimme
geübt
(phonaskesas)'; 336: Wenn die Richter auf ihn aufpassten, werde er
'nichts
zu sagen wissen, sondern umsonst seine Stimme erheben und seine
Stimmübungen
veranstaltet haben (pephonaskekos estai)'; or. 18, 308: Wenn es der
Stadt schlecht gehe, trete er 'plötzlich als Redner auf mit
schön geübter Stimme (pephonaskekos)
und allerlei zusammengerafften Ausdrücken und Wendungen'.
54) S. unten zu de orat. 1,149
55) Zum Übungsbetrieb gehören
natürlich immer auch die progymnasmata, die allerdings zu
einem Teil nur schriftlich sind; wenn Suet. rhet. 25,4 zu trauen
ist, haben sie im lateinischen (!) Rhetorikunterricht zunächst
geradezu ausschließlich dominiert, [...] donec sensim haec
exoluerunt et ad controuersiam uentum est (vgl. dazu den
vorzüglichen Kommentar von Kaster [wie Anm. 5], S. 269-271,
279-283); allgemein jetzt: Ruth Webb, „The progymnasmata as practice“,
in: Y.L. Too, Education (wie Anm.5), 289-316.
56) Crassus gibt das selber implizit zu, wenn er
in Bezug auf die 'Deklamationen' später polemisch sagt (de orat.
1,149) [...] plerique [!] in hoc uocem modo
[...] et uires exercent suas et linguae celeritatem incitant
uerborumque frequentia delectantur. Leeman nimmt diese
Äußerung in Bezug auf die Römer (von denen Crassus hier
nicht speziell spricht) historisch ernst und meint, die später so
genannten declamationes seien „vor allem im Dienste der
pronuntiatio und der
Wortfülle“ zunächst „in Rom eingebürgert“ worden (Komm.
[wie
Anm. 3] Bd. 1, S. 254). Nach Bonner (Education 73) würde Crassus
hier
speziell an die Schule des Plotius Gallus denken, die nach Ansicht des
Crassus
gemeingefährliche Schreier ausgebildet hätte. Dagegen
wähnt Sussman (wie Anm. 9), 8 hier ein Zeugnis für
einen auch sonst von ihm angesetzten Übergang zwischen einer
älteren und einer neueren Form der controuersia (die
schon kaiserzeitliche Gestalt annähme) erkennen zu können.
57) Noch immer fundamental ist Karl Barwick, Das
rednerische Bildungsideal Ciceros, Leipzig 1963, der gezeigt hat, dass
die
Art und Weise, wie Cicero Rhetorik und Philosophie verbindet, „sein
persönliches
Eigentum“ (S. 38) ist.
Ähnlich in Tendenz und sprachlichem Ausdruck äußert
sich Cicero ein Jahr später (54 v.Chr.), unter fast
ausdrücklichem Bezug auf De oratore, zu seinem Bruder
Quintus, dessen Sohn sich seinen rhetorischen Studien fast allzu
begeistert hingebe (Cic. Q.fr. 3,3,4)58:
Cicero tuus nosterque summo studio est Paeoni sui rhetoris, hominis,
opinor, ualde exercitati et boni (sed nostrum instituendi genus esse
paulo eruditius et thetikóteron non ignoras59).60
quare neque ego impediri Ciceronis iter atque illam disciplinam uolo
et ipse puer magis illo
d e c l a m a t o r i o genere duci et delectari uidetur.
Obschon durch den Kontext etwas gemildert61,
ist
auch hier die Abwertung des gewöhnlichen rhetorischen
Übungsbetriebs spürbar.
58) Schon Bonner 1949 (wie Anm. 8),
29 hat die Stelle richtig verglichen.
59) Cicero denkt an die ihm durch Philon
vermittelte akademisch-peripatetische consuetudo de omnibus rebus
in contrarias partis disserendi, die er für nicht nur
philosophisch, sondern auch rhetorisch bildend hält (Tusc. 2,9),
weil sie es dem Redner ermöglicht, seinen Gegenstand in weitere,
auch rednerisch dankbarere Zusammenhänge zu stellen (orator 45);
sie fällt zusammen mit der rhetorischen Übung in
der thésis (a.O.46) und unterscheidet den orator perfectus vom
declamator de ludo (a.O. 47), s. unten; vgl. bes. Fairweather
1981 (wie Anm. 5), 118 und Barwick (wie Anm. 57), 37-39; speziell zu
Cic. Q.fr. 3,3,4:
E.G. Sihler, THETIKOTERON, AJP
23, 1902, 283-294 (gegen ältere Missverständnisse).
Durch diesen Ausdruck ist hier stärker als in de orat. 1,73 (oben)
auf die später so genannten declamationes, die
Übungsreden zu fiktiven Themen, die ja immer hypotheseis sind,
abgehoben.
60) So, mit Parenthese, ist zu interpungieren,
denn quare im folgenden Satz muss sich auf Ciceros Bewertung
des Rhetors Paeonius (opinor), es kann sich gerade nicht auf
seine rhetorische Idealvorstellungen (nostrum instituendi genus)
beziehen.
61) In fühlbarem Gegensatz zu seiner
späteren Selbstdarstellung (orator 12 me oratorem [...] non
ex rhetorum officinis, sed ex Academiae spatiis exstitisse) gibt er
im Folgenden zu, dass er selber nicht so ganz ungern durch diese
rhetorische Schule gegangen ist.
Sie ist am deutlichsten zu erkennen an der Stelle,
wo Cicero in De oratore schließlich das Wort declamator
selber
einführt. Als Crassus dort unter den großen (und, wie er
meint,
immer auch universal gebildeten) Rednern Perikles rühmt,
heißt
es (3, 138): at hunc non d e c l a m a t o r aliqui ad
clepsydram
latrare docuerat, sed, ut accepimus, Clazomenius ille Anaxagoras, uir
summus
in maximarum rerum scientia. Sachlich ist hier mit declamator
nichts anderes
als der Redelehrer, rhetor, gemeint, aber durch die Wahl seiner
Bezeichnung,
wird er, durch latrare noch unterstrichen, im Kontrast mit dem
Philosophen
zu einem Lehrmeister des bloßen „Brüllens“ und „Bellens“
degradiert. Diese Stelle klingt noch nach im Orator (45 v.Ch.),
wo Cicero sein altes Programm 62
wieder aufnimmt und erweitert (§ 47): non enim d e c l a
m a t o r e m aliquem de ludo aut rabulam de foro, sed
doctissimum et perfectissimum quaero (sc. oratorem). Dem
angeblich nur 'brüllenden' Schulrhetor entspricht als sein
Gegenstück, wenn nicht gar Produkt, der 'rabulistische Schreier'63
auf dem Forum.
Bonner hat diese peiorative Absicht bei der Verwendung der Vokabel fast
durchweg verkannt oder geleugnet64
(und de orat. 3, 138 bezeichnenderweise aus seiner Wortgeschichte sogar
weggelassen); er erklärte die in den zitierten Cicerozeugnissen
konstatierbare Entwicklung der Vokabel aus einer von ihm postulierten
historischen Entwicklung des Rhetorikunterrichts z.Zt. von Crassus
(oder erst Cicero?), die sich bereits längst im allgemeinen
Sprachgebrauch niedergeschlagen hätte (Rom. decl. 29): „evidently
the declamatory elements [gemeint offenbar: die declamationes im
späteren Sinn] had become so characteristic of the whole
rhetorical training that
the term declamare had now extended to become a general term
for the whole
of that training“ (womit die Entwicklung damals bereits abgeschlossen
wäre)65. Aber selbst wenn
es richtig sein sollte, dass diese „declamatory elements“ vor 91 (oder
55) v.Chr. entscheidend zugenommen hätten,66
könnte dies nicht erklären, wieso man ausgerechnet die
Vokabel declamare, nach Bonner selbst ja bis dahin nur
der Vortrag zum Stimmtraining, für die Bezeichnung dieses
umgestalteten
Unterrichts gewählt hätte.67
Im übrigen gebraucht jedoch Cicero in De oratore, wenn er
wirklich von 'Deklamationen', also fiktiven Übungsreden spricht,
gerade nicht das Verb declamare bzw. die davon abgeleiteten
Vokabeln. So sagt Crassus
über die 'Deklamations'-Übungen der (durch Sulpicius und
Cotta
repräsentierten) jüngeren Generation (de orat. 1,149): equidem
probo ista [...] quae uos facere soletis,68
ut causa aliqua posita consimili causarum earum, quae in forum
deferuntur, dicatis quam maxime ad ueritatem accommodate. Er
weiß die offenbar erst
neu aufgekommene Übungspraxis zu schätzen, kennt aber noch
keinen
Namen dafür. Und auch Antonius, dem diese Übungen, jedenfalls
in
ihrer griechisch-schulmäßigen Form, minder wichtig scheinen,69
kann sie nur sehr allgemein benennen (de orat. 2,100): hoc in ludo
non fit; faciles enim causae ad pueros deferuntur: lex peregrinum uetat
in murum escendere; escendit; hostis reppulit; accusatur etc.70
Schon darum ist - wenn man nicht
etwa annehmen wollte, dass Cicero hier künstlich archaisiere -
Bonners
Erklärung unwahrscheinlich, ja unmöglich.71
Cicero kennt zur Zeit von De oratore noch keine declamatio zur
Bezeichnung der Übungsrede; er bildet sich nur einen declamator
zur
Herabsetzung des engstirnigen Redelehrers.
62) Es wird dann noch einmal erneuert in der Messallarede
des Dialogus de oratoribus von Tacitus (31,1), dort allerdings
unter terminologischer Verwendung von declamare, das explizit
abgelehnt, nicht wegen der Konnotationen der Vokabel herabgesetzt, wird
[...] (ueteres) ad hoc efficiendum intellegebant opus esse
non ut in rhetorum scholis declamarent nec ut fictis [...] controuersiis
linguam modo et uocem exercerent [...].
63) Rabula = clamator (hier
wegen des Gleichklangs gemieden). In De oratore gebraucht
Cicero, wenn er vom bloßen 'Schreien' des Redners, ohne Bezug auf
rhetorischen Unterricht, spricht, sonst bloßes clamare bzw.
clamator (wobei allerdings die Textüberlieferung nicht
immer eindeutig ist): 1,202 non enim causidicum nescioquem neque
clamatorem [edd. plerique, proclamatorem codd., declamatorem
Piderit, Klotz, vgl. Leeman/Pinkster (s. Anm. 1) z.St.] aut
rabulam hoc sermone nostro conquirimus (proclamatorem als
Augenblicksbildung scheint mir hier allenfalls möglich, nicht
dagegen declamatorem); 2,86 [...] clamare contra quam
deceat et quam possit, hominis est, ut tu, Catule, de quodam clamatore [so
die beste Überl., declamatore VR, Richard] dixisti,
stultitiae suae quam plurimos testes [...] colligentis;
3,81 quare Coracem istum uestrum patiamur nos quidem pullos suos
excludere in nido, qui euolent clamatores odiosi ac molesti [...].
64) Er konzediert sie nur bezüglich von
orator 47 (1949 [wie Anm. 8], 29 f.), hält sie also für
sekundär.
65) Vorsichtiger als Bonner meint Fairweather 1981
(wie Anm. 5), 128, der technische Gebrauch von declamare sei
erst „in the last years of Cicero’s life“ aufgekommen; sie findet
diesen zuerst gespiegelt in den Äußerungen des Jahres 54
(die Zeugnisse von De oratore sind, wie z.T bei Bonner,
übersehen). Ähnlich wie Bonner urteilte W. Kroll im Komm. zum
‚Orator‘ (Berlin 21913, Ndr. 1961), S. 54 zu § 47.
66) Richtig daran ist, dass nach Ciceros Ansicht
die (später so genannten) declamationes, deren Themen ihm
schon in De inuentione geläufig sind (vgl. etwa Bonner
1949 [wie Anm. 8], 27 f.), spätestens am Ende des
zweiten Jahrhunderts in Rom aufgekommen sein müssen; dies ergibt
sich aus den im Folgenden zitierten Äußerungen von Antonius
und Crassus. An anderer Stelle bezeugt er, dass schon Tiberius Gracchus
immer griechische Lehrer (zu Redeübungen, versteht sich) gehabt
habe (Cic. Brut. 104; allgemeiner zu dessen Zeit: de
orat. 1,14); auch für den älteren, privaten
Rhetorikunterricht vornehmer junger Römer (Beispiele bei Peter
Lebrecht Schmidt, „Die Anfänge der institutionellen Rhetorik in
Rom“, in: Eckard Lefèvre (Hrsg.), Monumentum Chiloniense
(Festschr. Erich Burck), Amsterdam 1975, 183-216, dort S. 191)
dürften griechische Deklamationsübungen
selbstverständlich sein.
67) Dies hat Russell (wie Anm. 5), 9 zu
erklären versucht: „But a natural semantic development led to its
[sc. declamatio] being used for the speech composed to be
delivered in training, not for the delivery of it.“ In der Tat
wäre das natürlich, aber es
würde voraussetzen, dass Stimmübungen immer schon in Form
eines Vortrags von 'Deklamationen' bestanden hätten.
68) Deutlich fühlt man, dass der der
Großvätergeneration Ciceros angehörige Crassus diese
Übungen selber (de orat. 3,74 cui disciplina fuerit
forum, magister usus et leges etc.) noch nicht praktiziert hat.
69) Gegenüber dem (auch) der Schulrhetorik
aufgeschlosseneren Crassus ficht er ja für eine traditionellere,
fast nur praktische Ausbildung des Redners (Cic. de orat. 2,85 ff.).
70) Das 'Deklamations'-Thema heißt hier
jeweils causa (was auch Ciceros Übersetzung für hypothesis
ist); aber erst ein Jahrzehnt später kann er sagen: declamitabam
causas (Tusc. 1,7), s.unten. Im allgemeinen verbirgt sich in De
oratore und sonst die 'Deklamation' hinter exercitatio (1,14
neque exercitationis ullam uim) bzw. exercitationes (1,19);
vgl. Hey-M., ThlL V 2, 1381, 17 ff..
71) Bonner selbst erkennt auf Grund von Cic. Brut.
310 (s. unten), dass Cicero „probably did not call his early exercises declamationes“
(1949 [wie Anm. 8], 30), scheint darin aber eine nur persönliche
Abweichung vom üblichen Sprachgebrauch zu sehen.
Am aufschlussreichsten aber ist die Verwendung von declamator in
einer schon erwähnten Rede wiederum des Jahres 54, Pro Plancio.
Ciceros jugendlicher Prozessgegner M. Iuventius Laterensis hatte sich
nämlich in seiner Anklagerede über Ciceros rhetorische
Übertreibungen und besonders seinen unmäßigen Einsatz
von Rührmitteln lustig gemacht – eine praemunitio gegenüber
dem auch in Sachen des Plancius zu erwartenden Großangriff auf
die Tränendrüsen –, und er hatte dabei die in der Tat witzige
Behauptung gewagt, Cicero habe nur darum in seiner lex Tullia de
ambitu das Exil als neue Strafe eingeführt,72
um in den perorationes seiner ambitus-Verteidigungen
wirkungsvoller an das Mitleid appellieren zu können (Planc. 83),
[...] ut miserabiliores epilogos possem dicere. Worauf Cicero
so kontert: nonne uobis uidetur cum aliquo declamatore, non cum
laboris et fori discipulo
disputare? D.h. er hält Laterensis vor, dieser behandle ihn
wie einen
declamator, nicht wie einen 'Schüler des mühseligen Forum'.
Dabei
behält das Wort declamator offenbar die herabsetzende
Kraft,73 die es auch in De
oratore hatte; es steht
aber nicht mehr, wie an den drei bisher behandelten Stellen, im
Gegensatz zu universaler Bildung, sondern erstmals – dies hat Bonner
richtig erkannt – zur lebendigen, 'forensischen Rhetorik'.74
Warum aber wäre Cicero, wenn Laterensis mit seinem Vorwurf Recht
hätte, ein solcher declamator? Wir müssen, ja wir
dürfen
nicht an 'Deklamation' im späteren Sinn denken, um Ciceros
Gedanken
zu verstehen. Der declamator ist im alten Wortsinn, den Cicero
schon seit
dem Jahr 80 bei seinem Publikum voraussetzt, derjenige, der seine
Stimme
schult, um im Vortrag laut glänzen zu können: Dazu geben die perorationes
mit ihrem Appell an das Mitleid natürlich die schönste
Gelegenheit; nirgendwo kann der Redner vor allem die
Modulationsfähigkeit seines Organs so ins Licht setzen wie hier,
wo die Rede mitunter bis fast zum 'Lied' (orator 57 in epilogis
paene canticum)75
entartet. Und diesem schnöden Erfolg, so Cicero, sollte er gar
durch
Reform des römischen Strafrechts nachgejagt haben - ohne
Rücksicht,
können wir uns dazu denken, auf das Wohl seiner ambitus-Klienten
(für
die eine solche lex ja gefährlich sein musste)? Nein, da
kenne man
ihn doch anders, eben nicht als einen solchen declamator,76
sondern als einen laboris ac fori discipulus!
72) Bis zu diesem Gesetz aus
Ciceros Konsulatsjahr, das (ein auf zehn Jahre befristetes) Exil als
förmliche Strafe vorsah (Berger, 'Lex Tullia 2', RE XII 2 [1925]
2416) war das Exil immer nur die durch die Sitte geheiligte
Möglichkeit gewesen, sich der kapitalen
Bestrafung zu entziehen (Th. Mommsen, Röm. Strafrecht, 1899, Ndr.
Darmstadt
1955, 68 ff., 941 f.; Neueres bei Richard Gamauf, 'Exilium', Der Neue
Pauly
4 [1998] 343 f.) ; ambitus wurde aber nicht kapital bestraft
(Mommsen a.O.
873 f.).
73) Bonner notiert diese auch
hier
nicht, sondern konstatiert z.St. (1949 [wie Anm. 8], 29) „the first
[falsch!] appearance of the noun declamator which seems to
suggest that
the declaimer was now becoming a notorious figure“.
74) Von ihr handelt bekanntlich Christoff
Neumeister in seiner schon geradezu klassischen Dissertation über
'Grundsätze der forensischen Rhetorik gezeigt an Gerichtsreden
Ciceros', München
1964, dort bes. S. 25-27, 146-148 (über den Gegensatz von
forensischer
und epideiktischer Rhetorik). Vgl. unten Anm. 103. Den Gegensatz
zwischen
bloßer Schulrhetorik und echter Rede kennt an sich schon De
oratore,
aber nur in Bezug auf die rhetorische Theorie (z.B. 1,105), nicht auf
die 'Deklamation'.
75) Vgl. z.St. unten Anm. 84. - Besonders auch auf die
mündliche pronuntiatio darf man beziehen, was Quintilian
über die peroratio sagt (inst. 6,1,51): at hic, si
usquam, totos eloquentiae aperire fontes licet.
76) Nicht unzutreffend ist darum hier bei Köpke /
Landgraf (wie Anm. 12) die Wiedergabe mit 'Zungendrescher'.
Während also Ciceros Gebrauch von declamator ohne Bezug
auf die später technisch so genannte Übungsrede
verständlich und sinnvoll ist, möchte ich es durchaus
für möglich halten, dass Laterensis – der das Wort ja eben
nicht verwendet haben kann, weil sonst Ciceros Entgegnung witzlos
wäre -, hier in der Tat auf die Praxis der 'Deklamation'
angespielt hat. Denn bei einer controuersia, wie sie
später
heißt, fingiert der die Aufgabe stellende Rhetoriklehrer ja nicht
nur den Fall (2), sondern zunächst auch das Gesetz (1). Wir haben
das Schulbeispiel schon gelesen: „lex peregrinum uetat in murum
escendere (1); escendit, hostes reppulit (2). accusatur“
(Cic. de or. 2,100). Klar, dass auch eine solche Gesetzesfiktion im
Hinblick auf die rhetorische Ergiebigkeit des Redethemas erfolgt. So
habe denn Cicero, konnte Laterensis geistreich argumentieren, genau wie
ein Rhetoriker bei der 'Deklamation', sich das passende
Gesetz allererst geschaffen, das ihm Gelegenheit geben würde,
seine
Fähigkeiten zur tränenreichen miseratio am
Redeschluss wirkungsreich zu entfalten!
Wie immer man aber über die Rekonstruktion einer solchen nicht
überlieferten Pointe denkt, sicher ist wohl - und das haben auch
schon
ältere Erklärer gesehen -,77
dass bereits Laterensis bei seinem Vorwurf ausdrücklich Bezug auf
den Rhetorikunterricht 78
genommen hatte79. Denn
im Anschluss an den erläuterten Satz
sagt Cicero: „Rhodi enim“, inquit, „ego non fui“ – me uolt fuisse
–, sed
fui“, inquit – putabam in Vaccaeis dicturum80
– „bis in Bithynia.“ Das enim im Zitat aus der Laterensisrede
verknüpft dieses mit seiner Pointe über Ciceros miserabiles
epilogi; wenn Cicero hier also nicht geradezu mutwillig den
Gedanken seines Gegners zerstört, dann hatte dieser Ciceros
rednerische Eigenart bzw. seinen Überschwang, den er ja zu
bespötteln versuchte, mit dessen Lehrjahr bei Molon auf Rhodos in
Zusammenhang gebracht: 'Kein Wunder, dass du so grandios bist, zumal in
Rühreffekten; du hast ja als junger Mann auf Rhodos studieren
dürfen – ich musste bisher zweimal in Bithynien Militärdienst
leisten.' Wir wissen, dass ähnliche Kritik an Cicero in diesen
Jahren
von einer Gruppe junger Redner, den sogenannten 'Attici' (unter
Führung
des C. Licinius Calvus), geäußert wurde:81
Ihnen schien Cicero vor allem durch ein Übermaß im Einsatz
rhetorischer Mittel von den als vorbildlich empfundenen attischen
Rednern
abzuweichen; und sie nannten ihn im Hinblick auf seine Lehrer aus
Kleinasien
(und Rhodos)82 geradezu Asianus.
83 Von eben dieser Kritik dürfte Laterensis
hier
ein Stück weit inspiriert worden sein:84
Er mokierte sich, ohne selber das Wort declamator zu
gebrauchen,
über Cicero als pathetischen Mustereleven kleinasiatischer
Schulmeister.
77) Vgl. das ausführliche Zitat von Ferratius im
Kommentar von Wunder (Cic. Planc., Leipzig 1830) S.207.
78) Dem Gegner seine rhetorischen Studien
vorzuwerfen, gehört übigens zum Standardrepertoire der
Rhetorik schon des vierten vorchristlichen Jahrhunderts (Anaximenes
36,39).
79) Dafür spricht vor allem auch der, wie ich
meine, auf Laterensis zurückgehende Gebrauch des Worts epilogus
statt peroratio (vgl. orator 57 u.ä.): Rhetorische
Übungen finden immer noch meist in griechischer Sprache statt
(vgl. unten Anm. 104). Im übrigen hat an dieser Stelle (non
uobis uideor ...) schon Eduard Wunder in seinem immer tief
dringenden Kommentar (wie Anm. 77), S. 206 partiell das Richtige
erkannt.
80) Die Pointe dieser Anspielung entgeht uns,
trotz mancher Erklärungsversuche.
81) Wertvoll hierzu sind noch immer die Einleitungen zu Wilhelms
Krolls Kommentaren zum Brutus und Orator sowie die
überall zitierte
(aber selten beherzigte) Abhandlung von Ulrich v.
Wilamowitz-Moellendorff,
„Asianismus und Atticismus“, Hermes 35, 1900, 1-52 (Ndr. in: Rudolf
Stark
[Hrsg.], Rhetorika, Hildesheim 1968, 350-401), wo jedoch gerade die
wichtige
Nachricht übersehen ist, dass Cicero selbst Asianus tituliert
wurde
(ich möchte annehmen, dass man dieses kurzlebige „Schlagwort“
[Wilamowitz]
überhaupt im Hinblick auf ihn erfunden hat). Von neuerer Literatur
scheinen mir bes. instruktiv: Alfons Weische, Ciceros Nachahmung der
attischen
Redner, Heidelberg 1972, 178-182, sowie die Beiträge von Thomas
Gelzer
und vor allem G.W. Bowersock in: Hellmut Flashar (Hrsg.): Le
classicisme
à Rome aux Iers siècles avant et après
J.-C., Genf
1979, 1 ff., 57 ff., außerdem der behutsam informierende Artikel
'Asianismus'
von J. Adamietz, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hrsg v.
Gert Ueding, Bd. 1 (1992) 1114-1120; Wie Weische, Bowersock und
Adamietz
meine ich, dass dieser (auf dem Studium der attischen Redner beruhende)
Attizismus von Römern ausgegangen ist; anders etwa Gelzer
(S.
18!) und zuletzt Martin Hose in dem (zur späteren Entwicklung
aufschlussreichen)
Beitrag 'Die zweite Begegnung Roms mit den Griechen oder: Zu
politischen
Ursachen des Attizismus', in: Gregor Vogt Spira / Bettina Rommel
(Hrsg.),
Rezeption und Identität, Stuttgart 1999, 274-288 (mit weiterer
Lit.),
dort 278-280 (gerade dass Xenophon und Thukydides als Stilvorbilder
auch
des Redners erscheinen – beim zweiten denke ich konkret an den jungen
Redner
Sallust -, scheint mir auf eine nicht von griechischen Rhetoren
stammende
Begeisterung für die Attiker zu weisen).
82) Dass Cicero im Brutus (§
51) und Orator (§ 25) die Rhodische Schule als
gemäßigt von den 'Asiaten' absetzt, hat, obschon man an
beiden Stellen die Absicht nicht merkt, taktische Gründe; ebenso
dass er an Molon gerade die seinen,
Ciceros, Stil mäßigende Wirkung hervorhebt (Brut. 316).
Besonders
verräterisch ist, wie er in ganz unverfänglichem Zusammenhang
(Brut.
314) herausstreicht, dass seine rhetorische Bildungsreise nur durch
seine
physischen Stimm- und Gesundheitsprobleme motiviert gewesen sei. Seine
Gegner
werden das alles recht anders dargestellt haben.
83) Quint. inst. 12,10,12; vgl. Tac. dial. 18,4 f.
(Stellen ausgeschrieben etwa bei Adamietz, wie Anm. 81).
84) Sprechend in diesem Zusammenhang ist, dass
Cicero selber, dessen miserabiles epilogi ja von Laterensis
belächelt wurden, später das (oben zitierte) in epilogis
paene canticum (orator 57) an den Rednern aus Karien und Phrygien
rügt. Aufschlussreich ist auch,
dass Laterensis wie die Attizisten Ciceros Sucht nach Witzen (Quint.
12,10,12
in salibus aliquando frigidum) kritisiert hat (Planc. 85 cupidior
dicti).
Auch gerade als Vertreter der konservativen Römerjugend und als
dezidierter Anticäsarianer (Münzer, RE X 2 [1919], 1367)
musste Laterensis
in diesen Jahren ebenso dem Calvus (und dessen Freund Catull)
nahestehen
wie Cicero gegenüber Groll empfinden (ihm warf er in der Tat vor,
dass
er sich an die Triumvirn verkauft habe, s. Planc. 91-94; vgl. auch
§
84 quod nimium multos defenderem).- Man vermisst in der
heutigen Diskussion
über den römischen Attizismusstreit den Hinweis sowohl auf
dieses
offenbar früheste Zeugnis wie überhaupt auf die politische
Dimension
der Auseinandersetzung.
Mit dem Jahr 54 reißt die Reihe der Belege für ein im
Zusammenhang der Rhetorik gebrauchtes declamare und seine
Derivate vorläufig ab. Fassen wir das Bisherige zusammen! Die
Vokabeln declam(it)are und declamatio, die wir in einer
vortechnischen bzw. volkstümlichen Verwendung nicht nachweisen
können, sind ursprünglich, vielleicht als Aequivalent zu
griech. phonaskein, -askia, gebildet worden, um das Stimmtraining des
Schauspielers und Redners zu bezeichnen; es findet an einem Text statt,
der 'laut aufgesagt' wird und bei dem es sich auch um eine Rede handeln
kann. Im übertragenen Sinn gebraucht Cicero die Wörter stets
abwertend und zwar in außerrhetorischem Zusammenhang mit der
Absicht, bestimmte Äußerungen eines Redners als sachfremd,
ihren Sprecher als unengagiert erscheinen zu lassen; im Zusammenhang
der Rhetorik (vor allem in De oratore) sollen sie, in den
Formen declamator und declamatorius, die Vertreter
einer bloßen Schulrhetorik, als wären diese nur
Stimmtrainer, gegenüber Ciceros Ideal des allseitig, besonders
philosophisch gebildeten orator disqualifizieren.. Nur einmal,
wo Cicero, selber als Schulrhetoriker angegriffen, in der Defensive
ist, stellt er dem lebensfremden declamator, der er nicht sein
will, den römischen
Prozesspraktiker, als den man ihn kenne, gegenüber (Planc. 83).
Aber
auch gerade für diese - im Hinblick auf die Zukunft wegweisende85
- Stelle gilt, dass die später so genannten declamationes zwar
als spektakulärster Teil des rhetorischen Schulbetriebs durchaus
und ganz besonders im Blick sein müssen – insofern bereitet Cicero
hier den späteren Sprachgebrauch vor -, dass declamator aber
noch kein Terminus speziell für den Produzenten solcher
Übungsreden ist, sondern ein Schimpfwort, um den Schulrhetoriker
überhaupt abzuwerten.
Wenn sich Cicero im Jahr 46 nach längerem, jedenfalls
literarischem Schweigen wieder zu Wort meldet, hat sich der
Sprachgebrauch inzwischen merklich gewandelt. Über seine eigene
jugendliche Ausbildung sagt er nun (Brut. 305 ff.), dass er sich einige
Jahre nach seiner ersten Begeisterung für Philosophie (306) beim
Stoiker Diodotos besonders auch mit Dialektik befasst habe, jedoch
(309): [...] ita [...] ut ab exercitationibus oratoriis
nullus dies uacuus esset. (310) commentabar d e c l a m i
t a n s – sic enim nunc loquuntur – saepe cum M. Pisone et cum Q.
Pompeio aut cum aliquo cottidie idque faciebam multum etiam Latine, sed
Graece saepius [...]. Hier und hier erst wird mit declamito (zunächst
noch nicht declamo) wertfrei die rhetorische Übungsrede
bezeichnet; und damit, so konstatiert Cicero ausdrücklich,
entspreche er dem gegenwärtigen (nunc) Sprachgebrauch,
für den die Verantwortung aber anderen zugeschrieben wird (loquuntur)
- was unsere Auslegung der Belege aus den Jahren 55/54
nachträglich bestätigen mag.86
Cicero folgt ihm von nun an, zwar, mit der eben erwähnten
Ausnahme, nicht in seinen rhetorischen Schriften, wo er sozusagen
konservativ bleibt,87 wohl
aber in seinen sonstigen, mehr umgangssprachlichen
Äußerungen. Mitte Juli 4688
erwähnt er Redeübungen, die er mit Hirtius und Dolabella
abhält (fam. 9,16,7):
puto enim te audisse [...] illos apud me d e c l a m
i t a r e , me
apud illos cenitare.89
Diese Übungen heißen
nun ausdrücklich declamationes (fam. 7,33,1; noch Ende
Juli 46): Quod
d e c l a m a t i o n i b u s nostris cares, damni nihil facis.
In
den Tusculanae disputationes (abgeschlossen wohl noch i.J. 45)
überträgt
er den Begriff declamatio scherzhaft auf seine nun Graecorum
more abgehaltenen
philosophischen scholae90
(Tusc.1,7):
ut enim antea d e c l a m i t a b a m causas, quod nemo
me diutius
fecit, sic haec mihi nunc senilis est d e c l a m a t i o
(vgl. 2,26
postquam adamaui hanc quasi senilem declamationem).91
Im April 44 hat er die designierten Konsuln Hirtius und Pansa als
seine 'Deklamations'-Schüler (Att. 14,12,2): haud amo uel hos
designatos,
qui etiam d e c l a m a r e me coegerunt [...], sed
hoc meae
nimiae facilitatis (womit denn endlich auch das einfache Verbum declamare92
in dieser Bedeutung erscheint).93
Wie der Vater, so der Sohn. Im August 44 schreibt
der angeblich bildungsbeflissene junge Marcus aus Athen an Tiro (ap.
Cic.
fam. 16,21,5): praeterea d e c l a m i t a r e Graece apud
Cassium
institui, Latine autem apud Bruttium exerceri uolo; und später
(§
6): de Gorgia [...] erat quidem ille in cottidiana d
e c l a m a t
i o n e utilis [...]. In den Philippiken (i.J.44/43)
ist schließlich
von den 'Deklamationen' die Rede, mit denen sich Antonius auf seinen
großen Auftritt am 19. September gegen Cicero vorbereitet habe:
Cic. Phil. 2,42 haec ut conligeres, homo amentissime, tot dies in
aliena uilla d e
c l a m a s t i? quamquam tu quidem [...] uini exhalandi, non
ingeni acuendi causa declamitas;94
5,19 ipse interea XVII
dies de me in Tiburtino Scipionis d e c l a m i t a u i t , sitim
quaerens; haec enim ei causa esse declamandi solet. Gerade hier
scheint
allerdings kaum an eigentliche fiktive Übungsreden gedacht zu
sein;
Antonius dürfte sich zusammen mit seinem Mentor, dem
erwähnten Rhetor Sex. Clodius,95
vor allem seine Rede gegen Cicero (de me) laut einstudiert haben.
85) Vgl. unten Anm. 103.
86) Obwohl als Gegensatz zu nunc natürlich
weniger an die Fünfziger- als vielmehr die Achtzigerjahre (in die
Ciceros rhetorische Bildung fällt) zu denken ist.
87) Im Orator mit der Ausnahme von §
47 (s.
oben) fehlen Sache und Begriff; im Brutus wird declamitare
bzw. declamare
in der Regel durch commentari – commentatio, exercere
- exercitatio oder
meditari ersetzt (vgl. schon Kraus wie Anm. 5], 76; so Brut.
105 in
exercitationibus commentationibusque multum operae [...] ponere;
249 seseque
cotidianis commentationibus acerrime exercuit; 272 aut a
forensi dictione
aut a commentatione domestica; 302 quin aut in foro diceret aut
meditaretur
extra forum; 305 cottidie [...] et scribens et legens
et commentans oratoriis
tantum exercitationibus contentus non eram; vgl. auch 321 cum
omni genere
exercitationis tum maxime stilo.
88) Ich folge jeweils der Datierung bei D.R.
Shackleton Bailey, Cic., Epist. ad fam., Bd. 2, Cambridge 1977.
89) Vorher: Hirtium ego et Dolabellam dicendi
discipulos habeo, cenandi magistros (man fühlt leicht, dass
für Cicero das Schulmeisterspielen ein wenig peinlich ist, vgl.orator
144 ‚ 'at dignitatem docere non habet.'
certe si quasi in ludo [...]).
90) Zu Unrecht verknüpft Bonner (1949 [wie
Anm. 8], 30) dies mit dem bei Sen. contr. 1 praef. 12 erwähnten
späteren Terminus scholastica.
91) Bonner missversteht Ciceros Wortspiel, wenn er
aus der Stelle schließt (Rom. decl. 30): „In his later years,
Cicero
seems to have been particularly attracted to declaiming on
philosophical
themes“; bei den in Tusc. 3,81 angeführten Beispielen
handelt
es sich nicht um solche philosophischen Deklamationsübungen, wie
Bonner
meint (30 f.), sondern, wie Cicero ausdrücklich sagt, um
gewöhnliche philosophische Erörterungen (scholae bzw.
disputationes). Richtig allerdings ist, dass die Socratica
ratio contra alterius opinionem disserendi (Tusc. 1,8), die Cicero
in den Tusculanen praktiziert, dem genus thetikóteron
(Q.fr. 3,3,4, s. oben Anm. 59) entspricht, das er sich für die
rhetorische Ausbildung wünschen würde.
92) Irrig hierzu Hofrichter (wie Anm. 7), 13, Anm.
20.
93) Eine andere, aber ähnliche (und noch spaßigere)
Äußerung Ciceros referiert beiläufig Seneca, contr. 1
pr. 11 (ähnlich Suet. rhet. 25,3): alioqui in illo atriolo in
quo duos grandes praetextatos ait secum d e c l a m a s s e [sc.
Cicero] potui adesse [...]; vgl. auch Quint. inst. 8,3,54.- In
Cic. fat. 3, das sich auf das Zusammensein mit Hirtius
bezieht, ist statt des t.t. declamatio von oratoriae exercitationes
bzw.
oratoria studia (im Munde von Hirtius und Cicero) die Rede; vgl.
auch Quint.
inst. 12,11,6.
94) Das declamitare dient also nun
normalerweise geradezu der Geistesschulung, nicht, wie in De oratore,
angeblich dem bloßen Stimmtraining.
95) Vgl.zu ihm Suet. rhet. 29 mit weiterem Zitat
aus Cicero, Phil.2,42 f., das zeigt, dass Clodius offenbar auch als
Sparringspartner für einen Wortwechsel mit Cicero vorgesehen war;
vgl. Kaster im Komm. (wie Anm. 5) z.St.
Insgesamt aber hat sich offenbar, nach diesen
Zeugnissen aus Ciceros letzten drei Lebensjahren,96
der Sprachgebrauch bezüglich declamare – declamatio eindeutig
in
dem Sinn verfestigt, wie wir ihn später in der Augusteerzeit
(Hor. epist. 1,2,2 dum tu declamas Romae97)
und dann besonders beim älteren Seneca finden. Wer war dafür
verantwortlich? Nicht Cicero, wie schon festgestellt, obwohl er durch
seine
Verwendung von declamator und declamatorius die
entscheidenden Weichen
für die spätere Entwicklung gestellt hatte. Wer dann? Eine
Spur
scheint auf seinen schon erwähnten berühmten attizistischen
Widersacher,
den uns leider so wenig bekannten C. Licinius Calvus, zu führen.
Von
ihm bezeugt Seneca an einer bekannten Stelle, die wir wegen ihrer
sonstigen notorischen Unzuverlässigkeit bisher beiseite gelassen
haben, dass offenbar
er zuerst das declamare der rhetorischen Übung dem dicere
der rednerischen
Praxis gegenübergestellt hat. So viel scheint klar, auch wenn das
entscheidende
Zitat korrupt überliefert ist (contr. 1, praef. 12): [...] sicut
ipsa
‚declamatio‘ apud nullum antiquum auctorem ante Ciceronem et Caluum98
inueniri potest, qui declamationem <a dictione>
[suppl. Gertz]99 distinguit.
ait enim declamare
iam se [iam se edd.recc., iam ne uel est uel
iam uel est iam codd.] non
mediocriter, dicere bene; alterum putat domesticae exercitationis esse,
alterum uerae actionis. Dass sich Calvus hier selber das bene
dicere zuerkannt
hätte – was doch recht anmaßend klänge -, beruht auf
einer
(allerdings naheliegenden) Konjektur; vielleicht betraf seine
Äußerung
also einen anderen, oder sie ist sonstwie zu entschärfen.100
Auf jeden Fall ist diese Gegenüberstellung
von Schulrede und wahrer forensischer Beredsamkeit, derjenigen
ähnlich,
die Cicero in Planc. 83 zwischen dem declamator und dem laboris
et
fori discipulus gemacht hat, nur dass – und darin liegt der
für uns
entscheidende begriffsgeschichtliche Fortschritt - bei Calvus
hier
offenbar keine Abwertung dieses declamare mehr zu fühlen
ist. Der
Kontext von Ciceros Äußerung erinnerte uns an die seinerzeit
gegen ihn erhobenen Vorwürfe der sogenannten 'Attizisten', deren
Haupt Calvus war. Sollte also dessen Äußerung über declamare
und dicere etwa in seinem und Brutus‘ berühmten
Briefwechsel mit Cicero über den richtigen Redestil, der in die
zweite Hälfte der Fünfzigerjahre fallen muss,101
gestanden haben? Es
fällt zwar an sich nicht schwer, sich einen Kontext auszudenken,
in
dem man etwa dem 'Schönredner' und 'Asianus' Cicero sein declamare
vorgerückt und dieses dem bene dicere der
vorbildlichen attischen Redner102
gegenübergestellt hätte;103
wie aber gerade aus solcher Polemik ein wertfreies
declamare hätte entstehen sollen, ist nicht zu sehen.
96) In diese Zeit gehört demnach auch das
bisher undatierte Scherzwort Ciceros, das Quintilian überliefert
(inst.
6,3,73): redarguimus interim aperte, ut Cicero Vibium Curium multum
de annis
aetatis suae mentientem: „tum ergo cum una declamabamus natus non eras“.
Vibius Curius war Caesarianer und Kommandant im Bürgerkrieg (H.
Gundel,
RE VII A 2 [1958] 1951 f.); man wird am ehesten auf eine
Auseinandersetzung,
die Cicero mit ihm in einer Senatssitzung der Jahre 44/43 hatte,
raten.
97) Wo man ja nicht (mit manchen Kommentatoren) Homerum
supplieren darf, was dem antiken Sprachgebrauch zuwider wäre.-
Die unpoetische
Vokabel declamare fehlt in den Oden des Horaz und der
Liebeselegie, mit Ausnahme
von Ovids Ars amatoria (wo ein relistischerer Ton angestrebt
ist): 1, 465
quis nisi mentis inops tenerae declamat amicae? geht auf das die
Deklamation
kennzeichnende epideiktische Element (vgl. unten Anm. 103), durch das
die
für die forensische Beredsamkeit charakteristische dissimulatio
artis
(V. 463 sed lateant uires nec sis in fronte disertus)
eingeschränkt
wird (W. Stroh, „Rhetorik und Erotik“, WJA 5, 1979, 117-132, dort 120);
2,
507 sed neque declament medio sermone diserti heißt
nicht nur,
dass man nicht 'mitten in gewöhnlicher Alltagsrede' (richtig
Hermann
Tränkle, zitiert bei Markus Janka, Ovid: Ars amatoria,
Buch 2, Komm.,
Heidelberg 1997, 376) in den hohen Ton der Deklamation verfallen soll; sermo
bezeichnet auch den die Übungsdeklamation einleitenden, noch
ganz unrhetorisch
stilisierten Vorspruch des Lehrers, der uns vor allem aus den
quintilianischen Declamationes minores bekannt ist (Bonner 1977
[wie Anm. 8], 320 ff
.): Leicht vorstellbar also, dass ein übereifriger Rhetoriker
bisweilen
schon im sermo versehentlich ins Deklamieren kam...
98) Vgl. zum Text Fairweather 1981 (wie Anm. 5) 94 f.
(m.E. hier unnötig skrupulös).
99) Die Ergänzung macht den Gedanken klarer,
ist
sprachlich aber vielleicht nicht unbedingt nötig; vgl. etwa Cic.
orator
65 sophistarum [...] magis distinguenda similitudo uidetur
(sc. ab oratoribus).
100) Vorschlag: declamare <cupere> iam
se non
mediocriter oder (besser): ait enim declamare iam se non
mediocriter, <mediocriter>
dicere. bene alterum putat etc. Zur pointierten Wortwiederholung
vgl. Calvus
fr. 22 ap. Quint inst. 6,1,13 (p. 497 Malcovati) factum esse
ambitum
scitis omnes, et hoc uos scire omnes sciunt (vgl. auch fr. 25
Malc).- Die
Interpunktion nach dicere hat schon Kießling
vorgeschlagen (dem Malcovati
folgt): ait enim: declamare est domi non mediocriter dicere. bene
alterum
etc
101) Vgl. G.L. Hendrickson, „Cicero’s
correspondence
with Brutus and Calvus on oratorical style“, AJPh 47, 1926, 234-258.
102) Man denke an die oben (S. 18) zitierte
Äußerung
des Demosthenes (or. 18, 280), offenbar Hauptvorbild des Calvus (Sen.
contr.
7,4,8), Aischines missbrauche den Prozess zu einer 'Redeschau und
Stimmübungen'.
103) Nachdem, vor allem in augusteischer Zeit,
Deklamationen
nicht mehr nur zum Zweck der Übung, sondern besonders auch zur
rednerischen
Selbstdarstellung veranstaltet werden – zur Unterscheidung der beiden
Typen
s. bes. Sen. contr. 9 praef. 1 Montanus adeo numquam ostentationis
declamauit
causa ut ne exercitationis quidem declamauerit, Quint. inst.
2,10,9-11 -,
stellt man häufig die auf praktischen Überredungserfolg
gerichtete
forensische Rede dem bloßen Ohrenschmaus der Deklamation
gegenüber
(Sen. a.O. qui declamationem parat, scribit non ut uincit, sed ut
placeat;
omnia itaque lenocinia conquirit [...]. cupit enim se
approbare, non causam):
Der Gegensatz von declamare ud dicere entspricht dann
recht genau (wie schon
Quintilian a.O. sieht) dem älteren von forensischer und
epideiktischer
Rhetorik (dazu bes. Neumeister, wie oben Anm. 74). Sollte
Vergleichbares
schon in der attizistischen Polemik gegen Cicero (also in den
späten
Fünfzigerjahren) eine Rolle gespielt haben? Nur allenfalls Cic.
Planc.
83 könnte m.E in diese Richtung weisen. Im übrigen hat man
zwar
Cicero in der Tat 'Schönrednerei' im Sinne einer zu
gefälligen
compositio uerborum (bes. bezüglich des Prosarhythmus)
vorgehalten (Tac.
dial. 18, 4 f.; Quint. 9,4,1), nicht aber in dem Sinn, dass er (nicht
auf
Überzeugung zielende) Prunkreden halte, ein Vorwurf, der ihm m.W.
erst
seit Fénélon (1718) gemacht wird (W. Stroh, „De Ciceronis
Demosthenisque
eloquentia quid Germani critici iudicauerint quaeritur“[zuerst 1988],
in:
Verf., Apocrypha, Suttgart 2000, 217-233, bes. 223-226). Cicero
im Orator rechtfertigt sich speziell gegenüber diesem
Vorwurf hauptsächlich
dadurch, dass er einerseits das delectare an der Stelle des
älteren
(und aristotelischen) conciliare (so noch de orat. 2, 182 ff.)
unter die
Überzeugungsmittel bzw. officia oratoris einschwärzt
(69 ff.) –
eine, soweit ich sehe, kaum gewürdigte Neuerung -, andererseits
von
Anfang an seinen orator perfectus entschieden von der
epideiktischen
Rhetorik der Sophisten und besonders des (den 'Attizisten' wohl eher
missliebigen,
vgl. orator 40) Isokrates, der nur auf die uoluptas aurium,
nicht das iudiciorum
certamen ziele, absetzt (orator 37-42). Nirgendwo wird aber in
diesem Zusammenhang
auf die 'Deklamation' abgehoben (obwohl gerade Isokrates, der nie als
Redner
auftrat, nur unterrichtete, als Urbild eines declamator gelten
könnte),
nicht einmal bei Behandlung des notorischen Schönredners Demetrios
von
Phaleron (orator 92, vgl. ganz bes.
Brut. 37
f. ), der doch vielfach als Erfinder der 'Deklamation' angesehen wurde
(vgl.
Heldmann [wie Anm. 5], 107 ff., bes. 119-121). Auch von hier aus ist
also unsere hypothetische Konstruktion eher unwahrscheinlich.
Wahrscheinlich war es also, trotz Senecas Zeugnis, doch nicht der
Redner Calvus, der diesen Wandel bewirkt hat, sondern eher, möchte
man vermuten, ein neuer lateinischer Rhetor. Es fällt doch auf,
dass erst gerade in der hier in Frage kommenden Zeit nach 54 v. Chr.
die Existenz eines lateinsprachigen104
Rhetorikunterrichts und Übungsbetriebs in Rom105
greifbarer wird: Nicht nur von den mit Cicero in
den Jahren 46 und 44 trainierenden Hirtius, Dolabella und Pansa,
sondern
auch von den noch prominenteren Pompeius, Antonius und Octavian wird
überliefert,
dass sie in den Jahren 50 bis 43 (offenbar lateinisch) 'deklamiert'
haben;106 und Sueton
gibt uns die Namen der Rhetoren
M'.Otacilius Pitholaus,107 M.
Epidius108 und des
erwähnten Sextus Clodius109
als solchen, die die Studien dieser Politiker betreut und
(außerdem) jeweils auch schulmäßigen
Rhetorikunterricht gegeben hätten. Könnte also nicht einer
dieser Redelehrer, um
nicht wieder rhetor Latinus heißen zu müssen – ein
seit dem Jahr
92, wie man weiß, belasteter Titel110
- und sich doch einen Namen zu geben, Ciceros abschätziges declamator,
mit trotziger Ironie auf sich selber angewandt und zugleich declamare
und declamatio als neuen terminus technicus für das
durchgesetzt haben,
was im Zentrum seines Unterrichts stand? Die Sprachgeschichte böte
für einen solchen raschen Wandel vom Schimpfwort zum
Gattungsbegriff
einige Analogien.111
104) Mit Ausnahme des i.J. 92 zensorisch missbilligten
Plotius
Gallus (bzw. der mit ihm wohl identischen rhetores Latini)
scheinen 'Deklamationen',
sofern von Lehrern betreut und nicht im privaten Freundeskreis
abgehalten
(Cic. Brut. 310), lange Zeit immer nur in griechischer Sprache
stattgefunden
zu haben (so von Cicero a.O. bezeugt; vgl. Kaster [wie Anm. 5], S. 275
zu
Suet. rhet.25,3: mit einem Versehen zu Cic. fam.16,21,5; zum ganzen
Komplex
jetzt mit ausführl. Lit.: Werner Suerbaum, in: W. S. [Hrsg.],
Handbuch
der lateinischen Literatur der Antike, hrsg. v. R. Herzog / P.L.
Schmidt,
Bd. 1: Die archaische Literatur, München 2002, 549-552).
Jedenfalls
dürfte der Grammatiker Antonius Gnipho (Suet. gramm. 7,1 nec
minus Graece
quam Latine doctus), der auch Rhetorikunterricht erteilte und bei
dem Cicero
noch bis ins Jahr seiner Praetur (66 v.Chr.) 'deklamierte', diese
Übungen
in Griechisch veranstaltet haben (a.O. 7,2 kombiniert mit 25,3); nach
Suet.
rhet. 25,4 (vgl. oben Anm. 55) hätten die ältesten
lateinischen
Rhetoriklehrer nur progymnasmata unterrichtet. Etwas anders
hierzu Peter
Lebrecht Schmidt in seinem vielfach grundlegenden Aufsatz (wie Anm.
66),
besonders p. 214-216 (216: „Ciceros Bildungsideal in De oratore setzt
die Institution
der lateinischen Rhetorenschule als vollkommen üblich und normal
voraus
[...]“; noch kühner jetzt Richard L. Enos, Roman rhetoric,
[Waveland
Pr.] 1995, 51: „Greek and Latin schools of declamation gained widepread
popularity
in the Republic [...]“, ohne Belege). Das würde Ciceros i.J. 91
spielenden
Dialog unnötigerweise anachronistisch erscheinen lassen; m.E.
zeigt
umgekehrt Ciceros Wahl gerade dieses Datums, dass die Verhältnisse
sich,
was den Rhetorikunterricht angeht, in den dazwischen liegenden
dreieinhalb
Jahrzehnten nicht ganz grundlegend geändert haben.
105) Sogar in Athen: Cic. fam. 16,21,5, s. oben
106) Vgl. außer den folgenden Anmerkungen
bes.
Suet. 25,3 (nach Erwähnung Ciceros): Cn. Pompeium quidam
historici tradiderunt
sub ipsum ciuile bellum, quo facilius C. Curioni [...] contradiceret,
repetisse declamandi consuetudinem, M.Antonium, item Augustum ne
Mutinensi
quidem bello omisisse; Suet. Aug. 84,1 Mutinensi bello
[...] declamasse cotidie
traditur.
107) Suet. rhet. 27,2 [...] rhetoricam
professus Cn.
Pompeium Magnum docuit [...]. Schon das Epitheton Magnus legt
es nahe, diese
Lehre nicht auf einen Jugendunterricht, sondern auf die von Suet. rhet.
25,3
erwähnten Deklamationsübungen des Pompeius unmittelbar vor
Ausbruch
des Bürgerkriegs zu beziehen (so Kaster [wie Anm. 5], 298). So
könnte
auch die (offenbar vorausgegangene) Schulgründung erst Ende der
Fünfzigerjahre
erfolgt sein.
108) Suet. rhet. 28,1 <M.> Epidius
calumnia notatus
ludum dicendi aperuit docuitque inter ceteros M. Antonium et Augustum.
Da
sich der im Folgenden überlieferte Scherz des T. Cannutius auf die
Zeit
nach dem Abschluss des Triumvirats (Ende 43) beziehen muss (warum
Kaster
[wie Anm. 5] z.St., S. 301 von „late 44“ spricht, ist mir nicht klar),
dürfte (aus den von Kaster a.O. dargelegten Gründen) die
Schulgründung
erst in die (frühen) Vierzigerjahre gehören; der 'Unterricht'
von
Antonius und Octavian (an den wirklich so genannten 'Augustus' kann
nicht
gedacht sein) könnte sich auf private
Deklamationsübungen
beziehen oder vor die Schulgründung zu datieren sein.
109) Suet. rhet. 29,1 Sextus Clodius e
Sicilia, Latinae simul Graecaeque eloquentiae professor [...]; vgl
zu ihm die bei Kaster (wie
Anm. 5), 307 f. angeführte Literatur: Ein früherer
Rhetorikunterricht scheint nicht nachweisbar.
110) Vgl. zum zensorischen Edikt dieses Jahres
(Suet.
rhet. 25,2), das die Latini rhetores missbilligte, wenn nicht
aufhob, neben
Kaster (s. Anm. 1) 273 f. den Aufsatz von Schmidt und jetzt bes.
Suerbaum
(wie Anm. 104): Diesen stimme ich darin zu, dass die Schule des Plotius
Gallus keine 'popularen' Politiker ausbilden sollte (eine heute zu
Recht
durchweg aufgegebene Vorstellung von Friedrich Marx); aber dass durch
in
Schulform abgehaltene rhetorische Übungen in lateinischer Sprache
–
auf die Theorie, die ja noch Ciceros Sohn auf Griechisch lernt (part.
or.
2), kam wenig an - dem nicht zum Amtsadel gehörigen (und
griechischer
Bildung ferner stehenden) Volk,
das ja
mit den ihrerseits der Nobilität entstammenden Popularen durchaus
nicht
identisch war, ein rascherer Weg zu Forum und politischem
Einfluss
eröffnet wurde, als dies der herrschenden und besitzenden Schicht
lieb
sein konnte, ist doch m.E. völlig evident, auch wenn davon
begreiflicherweise
nichts im Edikt stand. Es hat seinen sinnvollen Grund, wenn der Sieg
des
lateinischen Rhetorikunterrichts mit dem Ende der römischen
Republik,
also des Senatsregimes, zusammenfällt; die neue
Militärdiktatur
der Caesaren brauchte gegen ihn weniger Bedenken zu haben.
111) Aus dem Bereich der Pädagogik bzw.
Didaktik
denke ich hier an das in den letzten Jahrzehnten in Deutschland
aufgekommene
und gern frequentierte 'Paukstudio' (das allerdings wohl von vornherein
ironisch
gemeint, nie echtes Schimpfwort war). Ein treffenderes und noch
jüngeres
Beispiel für dieses sprachgeschichtliche Phänomen (das man
als
umgekehrten Euphemismus bezeichnen könnte) ist das deutsche Wort
'Schwuler'
(für den Homosexuellen), das im Lauf erst der letzten Jahre
dadurch
vom Schimpfwort zum Terminus geworden ist, dass die Betroffenen es
mutig
zu ihrer Selbstbezeichnung verwendet haben (Ähnliches versuchen z.
Zt.,
vorläufig noch ohne Erfolg, die 'Huren'). Historisch wohl am
berühmtesten
sind die englischen 'Whigs', die ihren Schimpfnamen (ursprünglich
'Viehdiebe')
schon im 17. Jahrhundert erfolgreich umfunktioniert haben.
Damit würde vielleicht auch ein wenig begreiflicher, wie Seneca zu
seiner (immer noch überraschenden)112
Behauptung kommen konnte, sowohl controuersia als auch declamatio
wären nicht nur dem Namen, sondern auch der Sache nach etwas
Neues,
die declamatio sogar 'nach ihm geboren' (contr. 1 praef. 12): modo
nomen
hoc113 prodiit; nam et
studium ipsum
nuper celebrari coepit. ideo facile est mihi nosse rem post me natam.
So
alt die Deklamation an sich war,114
das s t u d i u m declamandi mag sich in der Tat
erst dann so
richtig ausgebreitet (celebrari) haben, als sich nach Senecas
Geburt (die
etwa in die Zeit von De oratore fallen dürfte) zusammen
mit der neuen,
umfunktionierten Vokabel auch die Deklamation in lateinischer Sprache
durchsetzte.
Aber wie dem auch sei: Dass declamatio überhaupt erst in
dieser Zeit zum terminus technicus im Sinne der Kaiserzeit avanciert
ist, hoffe ich gezeigt zu haben. Der späteren Wortgeschichte, bis
hin zu Fausts Wagner, müssen andere nachgehen.115
112) Sorgfältige Kritik an Seneca in
diesen Punkten bietet Fairweather 1981 (wie Anm. 5), 119-126, zum
ganzen
Abschnitt Senecas: S. 104- 131 („The history of declamation“);
weniger
glücklich Sussman (wie Anm. 9), 6-10.
113) Sofern jedenfalls, wie allgemein angenommen,
dies
auf declamatio zu beziehen und nicht etwa auf controuersia zurückzubeziehen
ist.
114) In den Grundzügen lässt sie sich
bekanntlich
aufs fünfte Jahrhundert zurückführen.- Wenn Seneca
meint,
zur Zeit des Redners Aischines habe es noch kein studium declamandi
gegeben
– Fairweather 1981 (wie Anm. 5), 115 stellt das gut mit Petron. 2
zusammen
-, so könnte diese Vorstellung auf ein Missverständnis
von
Cic. de orat. 3,138 und ähnlichen Äußerungen
zurückgehen.
115) Wichtige Hinweise und Hilfen gibt der Artikel
'Exercitatio'
von Kraus (wie Anm. 5)