Wilfried Stroh

Hyacinthus und Rufinus Widl – griechische Erotik auf der Salzburger Benediktinerbühne


Die Sage von Apollo und Hyacinthus gehört nicht zu den gängigen Stoffen des europäischen Theaters. Zu einfach war ihre Struktur, als dass sie sich für ein Drama oder eine Oper angeboten hätte. Erst der Benediktinerpater Rufinus Widl (1731-1798), Professor am Salzburger Gymnasium, hat daraus 1767 das Libretto einer dreiaktigen kleinen Oper gemacht und sich so dank der genialen Musik des elfjährigen Mozart eine kleine Unsterblichkeit verschafft. Um aber auch seine, Widls, Leistung zu würdigen, muss kurz die Vorgeschichte des Stoffs betrachtet sein.


Vom Sportunfall zur Eifersuchtstragödie

In die Blüten der „Hyazinthe“ (hyákinthos – wohl nicht ganz identisch mit unserer gleichnamigen Blume) sahen die alten Griechen die Buchstaben A und I eingeschrieben; AI AI aber war ein Klageruf, den wir auch in Tragödien hören. Was also gab es bei dieser Blume zu klagen? Wie oft ersannen die Griechen eine Verwandlungsgeschichte (Metamorphose), die schon Euripides kennt, wahrscheinlich auch schon Hesiod, und die uns Ovid im 10. Buch (162-219) seiner Metamorphosen wohl am getreuesten in ihrer Urgestalt erzählt. Hyacinthus (griech. Hyakinthos) war danach ein schöner Prinz aus Sparta gewesen. In ihn verliebte sich der jugendschöne Gott Apoll, der auch selbst für junge Männer empfänglich war. Hyacinthus wurde also sein heiß geliebter Freund, dem er kaum mehr von der Seite wich. Sie jagten zusammen, sie trieben auch nach Griechenweise Sport – mit fatalen Folgen. Als beim gemeinsamen Diskurswerfen Hyakinthos der von Apollon geschleuderten Wurfscheibe nachläuft, um sie aufzuheben, prallt sie vom Boden zurück und trifft ihn tödlich am Kopf. Auch der Gott kann die entweichende Seele des Geliebten nicht mehr aufhalten, und er wünscht mit ihm sterben zu können – was ihm als Gott aber verwehrt ist. So verwandelt er wenigstens das Blut des Sterbenden in eine purpurne Blume mit der passenden Inschrift und verspricht dem Geliebten ewige Gesänge. Und in der Tat feiert man in Sparta seitdem alljährlich Hyakinthia, ein dreitägiges Frühlingsfest. Ovids Erzählung begründet also auch einen real existierenden religiösen Brauch, sie ist, wie man sagt, dessen Aition.

Dieser rührende Unfall war soweit ein schöner Gegenstand für lyrische Lieder und Gemälde (wie man ja auch Apoll und den sterbenden Hyazinth bis in die Neuzeit als tragisches Freundespaar gerne gemalt und besungen hat; gegen 40 Bearbeitungen lassen sich nachweisen). Ein Drama war die Sage noch nicht. Sie näherte sich einem solchen erst, als man in die allzu geradlinige Liebesgeschichte ein Dreiecksverhältnis einführte. Schon in ältester Zeit wurde gerne als stürmischer Liebhaber des Hyakinthos auch Zephyros, der Westwind, abgebildet: wie er den Knaben verfolgt, zu umarmen sucht, ihn sogar mit sich in den Himmel reißt. Das ergibt nun beim Sagenerzähler Palaiphatos (Über Wunderdinge 46 F.), der aus Dichtern hellenistischer Zeit schöpfen dürfte, eine Eifersuchtsnovelle. Zephyros nämlich, so erzählt dieser, warb zugleich mit Apollon um die Liebe des schönen Prinzen, wurde aber zugunsten des prominenteren, mit Musik und tausend Künsten begabten Rivalen verschmäht (er selbst konnte ja nicht vielmehr als Wind machen). Und so sann er auf Rache. Zwar hätte es an sich näher gelegen, den lästigen Konkurrenten zu beseitigen, aber da dies bei einem Gott nicht anging, warf sich die ganze eifersüchtige Wut des Zephyros auf den unglücklichen Hyakinthos – und was in der Tradition bisher nur ein Unfall war, wird nun zur wütenden Vergeltungsmaßnahme. Nun war es also Zephyros, der – kein Problem für einen Wind – den von Apollon geschleuderten Diskus gegen die Schläfe des Jünglings lenkte. Worauf dieser, wie gehabt, Gelegenheit zu seinem kleinen Blumenwunder erhielt. So erzählt also Palaiphatos; so nach manchen anderen vier Jahrhunderte später auch der Spötter Lukian in seinen heiteren Göttergesprächen (14), dem vielgelesenen Werk eines beliebten Autors, wo sich Apollon persönlich bei Gott Hermes über sein Unglück in dieser Liebessache ausweint und barsch zurechtgewiesen wird.


Von der griechischen Knabenliebe zur christlichen Ehe

Auch in dieser Form konnte die Erzählung noch kein Glück bei den Dramatikern haben, die sich doch sonst, auch besonders in der Neuzeit, so gern ihre Stoffe aus der griechischen Mythologie holten. Sie war immer noch viel zu schlicht gebaut; sie endete überdies mit dem Mirakel einer Metamorphose, das auf der Bühne schwer zu realisieren war und vom Dramentheoretiker Horaz (ars 187) geradeswegs verboten wurde); und schließlich basierte sie auf der in Griechenland nicht nur geduldeten, sondern geradezu institutionalisierten Knabenliebe (Päderastie), die in Sparta wie in Athen mit der Jugenderziehung eng verknüpft war. Aber wer wollte das im christlichen Europa dulden? In jenen Zeiten, wo es trotz der vielberufenen Aufklärung noch keine progressiven Pfarrer gab, die „Homoehen“ einsegneten? Oder waren es am Ende gar eigene pädophile Neigungen, wie man sie neuerdings ja Priestern gerne zutraut, die den Benediktiner Rufinus Widl als ersten Dramatiker, soweit wir sehen, zu einer solchen Stoffwahl trieben? Nein, gerade Widls Art der Bearbeitung macht dies unwahrscheinlich.

Schon der Weg, auf dem er an den Stoff geraten ist, weist in eine andere Richtung. Er führte nämlich über Widls eigene Tragödie „Güte des Croesus“ (Clementia Croesi), die zusammen mit Apollo et Hyacinthus aufgeführt wurde. Letzteres von Mozart komponiertes Werk war ja kein selbständiges Musikdrama, sondern sollte bei seiner Uraufführung 1767 nur das musikalische Vorspiel und zwei Zwischenspiele zu jenem größeren, fünf Akte umfassenden lateinischen Sprechdrama abgeben, als ein sogenanntes Intermedium oder Interludium. Das erhaltene Textbuch der Uraufführung zeigt uns noch, wie die beiden Dramen miteinander verschränkt waren (AH1 - CC1 - CC2 – AH2 - CC3 - CC4 - AH3 - CC5), wobei von der Tragödie nur kurze Inhaltsangaben, vom musikalischen Intermedium dagegen die Texte vollständig abgedruckt wurden. (Gesprochenes Latein verstand man halt leichter als gesungenes). Widls Tragödie, das Hauptwerk also, ein dem Historiker Herodot (1,34-45) nacherzähltes Drama, handelt in seinem Kern von einem Jagdunfall: Lydiens König Croesus gibt seinem Sohn Atys, als dieser an einer gefährlichen Saujagd teilnimmt, seinen Gastfreund Adrastus als Beschützer mit. Ausgerechnet dieser aber tötet bei der Jagd den Sohn des Gastfreunds, ohne Schuld und aus schierem Missgeschick – wie sich aber so richtig erst am Ende des Stücks herausstellt. Der Hauptteil des Dramas besteht aus Intrigen eines Feinds des Adrastus, der Croesus zu strengster Bestrafung drängt, bis dieser, nach Erkenntnis der Wahrheit, seiner „Güte“ nachgeben kann und dafür gepriesen wird.

Natürlich muss es ursprünglich eben jenes Motiv des Unfalls gewesen sein, das Widl auf den aus Ovid wohlbekannten Hyacinthusstoff brachte: Wie Adrastus bei Herodot so war ja Apollo bei Ovid der unfreiwillige, schuldlose Mörder seines Freunds. Aber, und darin liegt die sonderbare Ironie in der Geschichte des Librettos, gerade diese Parallelität zwischen Atys und Hyacinthus hat Widl nicht ausgearbeitet: Sonst hätte ja auch bei ihm der fatale Diskuswurf von Apollo ausgehen und am Ende der gütige Vater des Hyacinthus, Oebalus, den unfreiwilligen Mörder begnadigen müssen. Quasi ein Rest dieser von Widl nicht ausgeführten Version scheint es zu sein, wenn Apollo am Ende unserer Oper zu Oebalus ausruft: Sic saecla te futura clementem sonent („So mögen dich künftige Jahrhunderte als gütig lobpreisen“); denn zu der jetzigen Oper passt dieser Schluss so gut wie überhaupt nicht mehr, da hier viel eher ein gütiger Apollo den reumütigen Oebalus, als umgekehrt Oebalus den Apollo begnadigt. Widl nämlich folgte gerade in diesem entscheidenden Punkt nicht Ovid, sondern ergriff mit gutem Grund die dramengerechtere, aktionsreichere Version des Lukian (dem er sie wohl verdankt), indem er diese sogar noch ein wenig radikalisierte: Zephyrus lenkt nicht nur den von Apollo geworfenen Diskus in die verhängnisvolle Richtung; er ist von Anfang an derjenige, der das tödliche Gerät schleudert. Nun galt es, aus diesem immer noch prekären Stoff, ein für das katholische Schultheater brauchbares Kriminalstück zu machen.

Ganz eliminieren konnte Widl die homoerotische Liebesaffäre nicht, in dieser Form noch weniger als in der ovidischen, da er ja ein Motiv für den Mord brauchte – aber er reduziert sie auf das fast Unanstößige. Nur der Schurke Zephyrus wird nämlich als ein Erotiker von tadelnswerter Leidenschaftlichkeit gekennzeichnet – gleich zu Beginn erklärt er seine Bereitschaft, für Hyacinthus wie für einen Gott seine innersten Eingeweide zu opfern (quam libenter offerrem ilia / pectusque!) –,  Apollo dagegen bietet Hyacinthus nur seine Freundschaft an (amicum semper addictum tibi / habebis in me), was zum gemeinsamen Sportstraining ja auch gut passt. Damit nun aber die Liebe in dem Stück nicht gar zu kurz kommt – seit dem siebzehnten Jahrhundert gilt als Regel, dass jedes Drama auch eine Liebeshandlung braucht –, und vor allem auch, damit die immer noch allzu simple Handlung komplexer und interessanter wird, verlagert Widl das Liebesmotiv zum größten Teil auf eine von ihm neu erfundene Person: Prinzessin Melia, die Schwester des Hyacinthus. Es ist eine Liebe auf den ersten Blick, die den Gott mit dem sterblichen Mädchen verbindet; sie führt jedoch nicht, wie das bei Götter-Amouren sonst der Fall ist, zu illegitimen Schäferstündchen mit eventuellem Kindersegen (aus dem dann Heroengeschlechter hervorgehen können): Wie ein braver Bürgersmann hält vielmehr Apollo bei Melias Vater, König Oebalus, um ihre Hand an, die dieser gerne gewährt; und als auch Melia mit begeisterter Jubelarie zustimmt, stünde dem gemeinsamen Glück, sprich der gut katholischen Hochzeit, schon am Anfang des 2. Akts nichts im Wege – käme nicht auch hier der böse Zephyrus in die Quere.


Vom Liebes- zum Intrigendrama

Die Erfindung Melias, der lebendigsten und sympathischsten Figur des Stücks, gibt nämlich Widl die Möglichkeit, die Handlung noch einmal in wirkungsvoller Weise zu erweitern, die Kabale der Liebe beizugeben. Denn da auch Zephyrus (ein erotischer Nimmersatt, wie man sieht) in Melia verliebt ist, so dass sich im zweiten Teil des Stücks die Dreieckskonstellation des ersten wiederholt – wobei Melia nun an die Stelle von Hyacinthus rückt –, erhält Zephyrus jetzt einen neuen, entscheidenden Grund zu seiner bösartigen Intrige: Er behauptet ja, vorerst mit Erfolg, nicht er selbst, sondern Apollo habe Hyacinthus umgebracht (wodurch das Happy End um anderthalb Akte aufgeschoben wird). Diese Lüge ist zunächst natürlich ersonnen, um den wirklichen Mörder Zephyrus selbst zu entlasten; dann aber, nachdem er zu seiner Überraschung von Apollos Heiratsplänen erfährt und zum zweiten Mal einen Eifersuchtsanfall erleidet, dient sie vor allem dazu, Melia ihrem neuen Bräutigam, dem vermeintlichen Mörder ihres Bruders, zu entfremden. Wobei das Liebeswerben des Zephyrus so ungestüm taktlos ist, dass ihn sogar die von ihm betrogene Melia zurechtweist: „Ich habe jetzt den Tod meines Bruders im Kopf, nicht die Hochzeitsfackeln des Zephyrus“ (Nunc fata fratris cogito, haud Zephyri faces).

So ist aber durch diese Intrige nun ein Knoten geschürzt, den es für den Dramatiker zu lösen gilt: Die Wahrheit muss ans Licht, und nach dem Prinzip der poetischen Gerechtigkeit muss Zephyrus bestraft werden. Widl, in manchen psychologischen Kleinigkeiten ungeschickt, zeigt hier als Dramaturg eine glückliche Hand. Während es nahe gelegen hätte, beides zu verbinden, d.h., wie im üblichen Kriminalfilm, auf die Aufdeckung der Wahrheit die Bestrafung des Schurken folgen zu lassen – beides müsste leicht sein für Apollo –, zieht Widl die Bestrafung vor die Aufdeckung des Frevels: Apollo, in begreiflicher Verärgerung über den Mörder seines Freunds und seinen eigenen Verleumder, verwandelt Zephyrus in den gleichnamigen Wind, der von der Bühne fortgeweht wird. (Das war eine wichtige, effektvolle Neuerung gegenüber dem früheren Mythos, nach dem Zephyros immer schon Wind war und als solcher leicht den fatalen Diskus in die gewünschte Richtung blasen konnte.) Für die Aufklärung aber ist diese Vorwegnahme der Strafe ebenso schädlich wie sie für den Dramatiker nützlich ist, da es nun zu einem, im modernen Sinn, geradezu „tragischen“ Irrtum kommt. Denn nun wähnt ja Melia, der Gott, ihr ruchloser Bräutigam, habe ihr nach dem Bruder jetzt auch noch den Freund rauben wollen, und entrüstet verweist sie Apollo, nachdem sie bisher an dessen Schuld noch immer leichte Zweifel hatte – sie ist überhaupt die Klügste im Stück – , im Auftrag ihres Vaters des Landes.

Auch das Folgende kann als echt tragisch gelten: Die Aufklärung, die Apollo hätte geben müssen, kommt nun zwar durch Melias Vater, der aus dem Mund seines sterbenden Sohns die Wahrheit erfahren hat, aber sie kommt zu spät. Der unschuldig verdächtigte, zürnende Gott scheint das Land bereits verlassen zu haben; und so sieht sich nicht nur Melia ihres Bruders und des Bräutigams beraubt, auch Oebalus und die ganze Familie müssen nun auf den Schutz des Gottes verzichten, ja wohl gar mit seinem Zorn rechnen. So hat Rufinus Widl Angst, Niedergeschlagenheit und tiefste Trauer in ein Duett gelegt, das den jungen Mozart zu einer Glanztat musikalischer Seelenschilderung begeistert hat: „Der Sohn stirbt – und der Gott, gegen mein Wollen, gegen mein Wissen, geht gekränkt.“ Zum Glück aber erscheint nun endlich wieder der Gott, um als Deus ex machina, wie in vielen antiken Tragödien, die Geschehnisse nicht, wie sonst, aufzuklären – das war hier nicht mehr nötig –, sondern ins Lot zu bringen: Hyacinthus wird zur ewig neu geborenen Hyazinthe; die Heiratsvereinbarung mit Melia wird bestätigt, dem Land und seinem König bleibt ewiger Schutz zugesagt.


Ein Heidengott auf christlicher Bühne

Aber hätte der Gott nicht all das Unglück, das sich in diesem Stück ereignet, von Anfang an verhindern müssen: den Tod seines jungen Freunds, die vom Rivalen angezettelte Intrige? Es musste nicht die Aufgabe eines christlichen Paters sein, die Schwierigkeiten aufzulösen, die sich aus dem antiken Polytheismus mit seinen einerseits allmächtigen, andererseits doch gar zu menschlichen Göttern ergeben. Widl bemüht sich aber doch, auch diese relative Ohnmacht Apollos verständlich zu machen. Nicht als strahlender Gott erscheint er bei seinem ersten Auftritt, wo nur Melia, wie in Ahnung des zukünftigen Bräutigams, seine wahre Schönheit wahrnimmt, sondern als schäbiger Hirte, der geradezu um Asyl bittet. Vor wem? Widl deutet es mit wenigen Worten an, wenn Apollo sagt, er müsse „sich als Verbannter dem Zorn des blitzenden Jupiter entziehen“. Und eben daran denkt er, als Melia ihn verbannt und er Jupiter in einem Stoßgebet bittet, doch endlich von seiner Wut gegen ihn ablassen. Offenbar verfolgt ihn ein Fluch des Göttervaters, der letztlich Ursache seines Unglücks ist. Der eifersüchtige Zephyrus erklärt dies bösartig so, dass Apollo ein Schuft sei, der auch im Himmel nur Unruhe gestiftet habe und darum verbannt worden sei. Aber das passt wahrlich nicht zu dem sanftmütigen Gott, den uns das Stück sonst zeigt.

Was dahinter steckt, können nur gute Kenner der griechischen Mythologie, wie es vielleicht Widls gewitzte Schüler waren, ahnen. Wir schlagen heute nach etwa beim Mythensammler Apollodor (3,122) und erfahren: Apollon hatte einst die Zyklopen getötet, mit deren Blitz Zeus (bzw. Jupiter) seinerseits Apollons aufsässigen Sohn Asklepios hatte erschlagen wollen. Zur Strafe dafür musste Apollon ein Jahr lang dem sterblichen König Admetos dienen – wobei man ihn in der Dichtung gerne als Hirtensklaven darstellte (und ihn auch noch in Admetos verliebt sein ließ). Widl hat dieses Motiv, das mit Hyacinthus von Hause aus nichts zu tun hatte, punktuell in sein Libretto hereingezogen, um die relative Ohnmacht seines Apollo zu erklären, und er hat dabei aus dem versklavten Apollo einen verbannten gemacht. Breit konnte er das Motiv nicht ausführen, da sonst ja auch diese Geschichte nach ihrer eigenen Lösung verlangt und somit das Stück gesprengt hätte.

Im Übrigen hatte der Benediktiner Widl, wie schon christliche Dramatiker vor ihm, mit den Göttern der Heiden weniger Schwierigkeiten als vor allem mit deren Erotik. Im barocken Bibliothekssaal des Dombergs von Freising, der urbs religiosissima, wo Widl vor seiner Salzburger Zeit doziert hat, steht noch heute ein recht unbekleideter, üppiger Apollo mit Lyra – als Schutzpatron, versteht sich, von Poesie, Musik und Bildung, wie sie an diesem frommen und gelehrten Ort seit über einem Jahrtausend gepflegt werden. Denn längst hatte man diese Götter, mit der Ausnahme von Venus und Cupido, im katholischen Bildungswesen eingemeindet und sozusagen getauft. Sie waren ja auch untrennbar mit den beliebten antiken Mythen verbunden und gaben Gelegenheit zu schönen Bühneneffekten, die sich gerade Widl nicht entgehen ließ. Das von Apollo inszenierte Blumenwunder gegen Ende der Oper ließ sich mit den Mitteln des maschinenfreudigen Barocktheaters wahrscheinlich leichter bewältigen als mit denen der antiken Bühne. Schwieriger, aber kaum weniger wirkungsvoll, war wohl die Verwandlung des Zephyrus in einen Wind, wobei eine Reihe personifizierter Winde den Delinquenten fortgewirbelt zu haben scheint, vielleicht mit Hilfe von Flugapparaten.

Gleich den Beginn seiner Oper markiert Widl mit einem effektvollen optisch-akustischen Paukenschlag, der uns auf eine Eigenart der antik-heidnischen Göttervorstellung zu führen scheint. Während man zum Opfer für Apollo rüstet, bemäkelt Zephyrus (als würde er in Apollo schon den zukünftigen Rivalen wittern) die Bevorzugung gerade dieses Gottes und wünscht sich, der geliebte Hyacinthus dürfte sein Apollo sein! Diese unbedachte, sehr unfromme Äußerung seiner „maßlosen Liebe“ (nimius amor) scheint alsbald bestraft zu werden. Ein Blitz und Donnerschlag lässt das schon entfachte Opferfeuer erlöschen und den Altar zerbersten. Welch ein Omen! Oebalus fürchtet für sein Land; Hyacinthus und Zephyrus dagegen ahnen, wer der Schuldige ist. Dennoch, fast wider besseren Glauben, versucht Hyacinthus in langer, fröhlicher Arie seinem Vater die Sorgen auszureden: Saepe terrent numina – „Oft schrecken die Götter“, sagt er, „um dadurch ihre Macht zu zeigen; dann aber war doch alles nur Spaß, sie lachen und scherzen“. Das Verblüffende ist, dass Hyacinthus mit dieser Ansicht, an die er gar nicht wirklich glaubt, Recht zu behalten scheint. Als nämlich Apollo auftritt, deutet dieser mit keiner Silbe an, dass der Donner irgend einem Frevel gegolten hätte, und so kann Hyacinthus ausrufen: Da sehe man es wieder, wie die Götter mit den Menschen oft nur Spaß trieben. Aber Widl lässt auch diese Deutung von Seiten Apollos unbestätigt. Und so könnte ein nachdenklicher Zuschauer durchaus auf die Idee kommen, es sei am Ende gar der erwähnte „blitzende Jupiter“ der hier seinem Unwillen über Apollos Besuch in Sparta Ausdruck verliehen habe. So weiß man eben, anders als beim wahren Gott, bei diesen unseriösen antiken Göttern nie so recht, wo man dran ist. Und als Dramatiker muss man es auch gar nicht so genau wissen: Der vieldeutige Donnerschlag war auf alle Fälle ein  spektakulärer „Theaterdonner“ – ein effektvoll lautes Präludium zu den feineren Verwandlungsmirakeln im zweiten und dritten Akt.


Ein Textbuch für den jungen Mozart

Hier und in manchem anderen hat der als Dramatiker sonst kaum erprobte Widl seinen Sinn für die Bühne gezeigt (weit mehr als in seiner etwas zähflüsssigen Clementia Croesi). Ebenso wichtig aber war sein Gespür für die noch zu schreibende Musik. Dies beweisen vor allem die Gesangstexte, mit denen er dem jungen Mozart die Gelegenheit gab, ein weites Spektrum menschlicher Gefühle auszudrücken: von der gespielten Gutgelauntheit des Hyacinthus bis zum fast peinlich outrierten Glücksüberschwang Melias, von der aufdringlichen Liebesnarretei des Zephyrus bis zur nobel-zärtlichen Liebeswerbung Apollos, von der schmerzlichen Wut des Oebalus bis zu der tiefen Trauer in jenem Duett von Vater und Tochter, das den musikalischen Höhepunkt bildet. Wie Mozart in zartestem Alter dieses alles in Tönen gestalten konnte, bleibt ein Rätsel und Wunder (das dem der Blumenmetamorphose kaum nachsteht). Aber Respekt verdient doch auch Mozarts Textdichter, der ihm die Möglichkeit dazu geschaffen hat.

Doch nicht nur dies, auch nicht nur die Buntheit und das märchenhaft Phantastische der Handlung musste den jugendlichen Komponisten reizen; dazu kam, dass es ein Stück so recht für junge Leute und Sportsfreunde war und dass eines seiner tragenden Motive in der Liebe von Vater und Sohn bestand. Nicht in Apollos Armen, wie in der Tradition (besonders bei Ovid), stirbt bei Widl der tödlich getroffene Hyacinthus, sondern in denen seines Vaters Oebalus; nicht Apollo, wie bei Ovid, sondern Oebalus trauert um ihn: erst in tobender Verzweiflung, dann, mit Melia, in schmerzlicher Klage. Erst als Oebalus in seinem Schwiegersohn Apollo einen neuen Hyacinthus findet, kann er sich über den Verlust des zur ewig neuen Blume Verwandelten beruhigen. Und besonders fein hat Widl gleich zu Beginn der Oper die tiefe Achtung des Sohns vor dem Vater angedeutet. Als Zephyrus missmutig dagegen protestiert, dass man in Sparta einseitig dem Apollo huldige, verzichtet Hyacinthus auf jede theologische Begründung: „Diesen großen Gott verehrt mein Vater, und nach dem Beispiel meines Vaters verehre auch ich ihn“ (Genitor hunc magnum Deum / veneratur, et ego veneror exemplo Patris.) Wie gerne muss Mozart das vertont haben, wenn er an seinen eigenen Vater, den doch auch namhaften und um die Bildung seines Sohns so hochverdienten Leopold Mozart, dachte: „Nach dem lieben Gott kömmt gleich der Papa“, soll er oft gesagt haben.

Der kinderlose Salzburger Benediktinerpater hatte auch für solche Empfindungen Sinn. Gratias agamus Rufino Widl.

 
Ausgewählte Literatur:

(Samson) Eitrem: „Hyakinthos“, in: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft IX 1, Stuttgart 1914, 7-16
Alfred Orel, Neue Mozart-Ausgabe II 5, Bd. 1: Apollo und Hyacinth, Kassel u.a. 1959, S. VII-XXII (fundamental)
Heiner Boberski: Das Theater der Benediktiner an der alten Universität Salzburg (1617-1778), Wien 1978
Jane Davidson Reid: The Oxford Guide to classical mythology in the Arts, 1300-1900 s, Bd. 1, Oxford 1993, 581-583 („Hyacinthus“)
Gerhard Petersmann; „‚Sic saecla te futura clementem sonent‘: Pater Rufin Widls ‚Clementia Croesi‘ und Wolfgang Amadeus Mozarts ‚Apollo et Hyacinthus‘ – Text und Kontext, in: G. Petersmann / V. Oberparleiter (Hg.), The role of Latin in early modern Europe, Graz / Salzburg 2005, 121-131
Thomas Lederer: „The Clemency of Rufinus Widl: Text and context of W. A. Mozart’s first opera“, Humanistica Lovaniensia 58, 2009, 217-373 (Ausgabe der Texte)
Franz Witek: Gestalten der antiken Historie im lateinischen Drama der Salzburger Benediktineruniversität, Graz / Salzburg 2009