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Aduenit genius natalis Michaelis ab Albrecht ad suas aras.
ades tu quoque, si quicquam ab illo distas, genius Latinitatis!
te precor quaesoque
uti omnium hic qui adsunt animos ad amorem tui inflammes,
mihi autem des ueniam
quod te laudando utar barbara lingua.
Hohe Festversammlung!
Das Latein zu loben hat man mich gerufen, aus München
nach Heidelberg, in meine alte akademische Heimat. Selber hätte
ich mir diese Aufgabe wohl nicht zugemutet, denn so leicht sie auf der
einen Seite zu sein scheint, so schwer ist sie wiederum auf der
anderen...
Quid facilius, quid expeditius quam Herculem laudare inter
Lacedaemonios, Theseum Athenis? Auch ich habe einen Heimvorteil,
wenn ich meine Preisrede auf das Latein gerade in Heidelberg halten
darf, in urbe et doctissima et Latinissima . Heidelberg hat ja
nicht nur eine der ersten und ehrwürdigsten Universitäten in
Europa, diese Stadt war, zumindest eine Generation lang, um die Wende
vom fünfzehnten zum sechszehnten 16. Jahrhundert das deutsche
Zentrum des Humanismus und damit der Lateinkultur. Hier hat zuerst der
zwar etwas anrüchige, aber als humanistischer Trendsetter, princeps
litterarum , höchst bedeutsame Peter Luder im Jahr 1456
versprochen, "das schon fast zur Barbarei verkommene Latein
wiederherzustellen (Latinam linguam iam paene in barbariem uersam
... restaurare ) und endlich die "Humanitätsbildung" (studia
humanitatis ) einzuführen. Mit dieser ciceronischen Vokabel, studia
humanitatis , die hier vielleicht zum ersten Mal nördlich der
Alpen gebraucht wird, beginnt in Heidelberg sinnfällig der
deutsche Humanismus, verkörpert in der neuen Freude an
Schönheit und Ausdruckskraft des klassischen Lateins, vor allem
Ciceros. In Heidelberg lebt dann auch der eigentliche Großvater
des deutschen Humanismus: Rudolf Agricola, der nicht nur ein
bedeutender Bildungsreformer, sondern (wie erst in neuester Zeit
richtig entdeckt) ein unverächtlicher lateinischer Dichter war.
(Er zuerst, so hieß es bei seinen Schülern, habe die Musen
aus Italien über die Alpen geführt, nach Deutschland - d .h.
zunächst nach Heidelberg.) Bei ihm in Heidelberg studiert auch der
Mann, der später als Poet, Redner, Editor, Musikdilettant und
lateinischer Vereinsgründer Deutschlands anerkannter 'Erzhumanist'
werden sollte: Conrad Celtis, als Professor in Ingolstadt mein
mittelbarer Amtsvorgänger und unmittelbares Vorbild (so daß
sich auch so der Bogen von Heidelberg nach München spannt). Er hat
als erster deutscher poeta laureatus , als vom Kaiser (1487 in
Nürnberg) mit dem Lorbeer gekrönter Dichter, den Anspruch
angemeldet, daß Deutschland nunmehr eine Poesie habe, eine
lateinische Poesie, versteht sich, die der des römischen Altertums
und Italiens grundsätzlich gleichwertig sei. Diesen Anspruch sucht
dann etwa auch der große Reuchlin einzulösen, wenn er in
Heidelberg 1497 als erster Deutscher mit seiner lateinischen
Komödie "Henno" ein modernes, d. h. wieder nach antikem Vorbild
gestaltetes, Drama aufführt.
Und Heidelberg bleibt urbs Latinissima , auch noch in den dem
Pioniergeschlecht folgenden, minder spektakulären Generationen.
Hier dichten, um mir nur zwei berühmte Namen von den Inschriften
an der Decke dieser herrlichen Festaula zurufen zu lassen, Jacobus
Micyllus, der auch als Gräzist überragende Philologe, und
Petrus Lotichius Secundus, der als Professor für Medizin hier jung
gestorben ist, berühmt vor allem als lateinischer Elegiker, der
deutsche Tibull. Erst als 1623 nach Eroberung Heidelbergs die
bedeutendste Büchersammlung Deutschlands, die Bibliotheca
Palatina, den Heidelbergern geraubt und nach Rom verschleppt wird -
unser frommer Münchner Kurfürst Maximilian war ja der
Meinung, daß solche Schätze besser beim Papst aufgehoben
seien (leider! - sonst hätten wir die Sachen heute in der
Münchner Staatsbibliothek), - erst da beginnt Heidelbergs
lateinischer Stern ein wenig von seinem alles überstrahlenden
Glanz zu verlieren, nicht aber ohne immer wieder auch kräftigst
aufzuflackern. Ich nenne, im Bereich der Vergangenheit bleibend, nur
den Namen des auch als Latinisten bedeutenden Johann Heinrich Voss und
den des jüngst verstorbenen Viktor Pöschl, der Heidelberg in
der res publica litterarum wahrlich zu neuem Glanz verholfen
hat. Wie könnte es nicht ein Leichtes sein - quid facilius,
quid expeditius , als in dieser Stadt das Latein zu preisen!
Dazu kommen auch noch Sie, meine illustren, hochgebildeten Hörer, auditores
illustrissimi et eruditissimi , unter denen gewiß keiner ist,
der nicht von der Liebe zum Latein, der regina linguarum ,
durchdrungen wäre, Latinitatis incensus amore ... Dazu
kommt vor allem das Geburtstags- und Jubelkind der heutigen Feier, mein
Lehrer Michael von Albrecht, der die Latinistik, die studia Latina
, in einer Weise verkörpert, wie es das in den vergangenen
Jahrzehnten weltweit kaum mehr gegeben hat, eben nicht nur als
Latinist, d. h. Lateinphilologe, sondern als umfassender Lateiner,
lateinisch redender Lehrer, lateinisch schreibenden Wissenschaftler,
Romancier und Dichter ... Gäbe es in Heidelberg noch einmal einen
Bibliothekar, wie den berühmten Janus Gruterus, der in der
Glanzzeit der Bibliotheca Palatina die Paradestücke deutscher
Dichter römischer Zunge in seinen Deliciae poetarum Germanorum
gesammelt hat (1612 in sechs Bänden), dann würden,
wie schon der Neulateinerpapst Jozef IJsewijn in Löwen
festgestellt hat, die Poemata Michaelis ab Albrecht darin einen
beträchtlichen Raum einnehmen. Er hat wie kaum ein anderer immer
wieder dafür gesorgt, daß die Latinistik humanistisch und
das heißt mit Musen und Musik verbunden bleibt und nicht zur
schieren Wissenschaft degeneriert. Quid facilius, quid expeditius
quam coram tali uiro laudare linguam Latinam! Und doch liegt gerade
hierin natürlich auch die Schwierigkeit meines Unternehmens. Die
anerkannt herrlichsten Gegenstände sind ja eben darum am
schwersten zu loben, weil über sie alles Wichtige schon von
Früheren gesagt scheint, weil es, wie dies einst Isokrates bei
seinem Lob der schönen Helena festgestellt hat, fast
unmöglich ist, hier noch etwas Eigenes beizutragen und nicht nur crambe
repetita zu servieren. Was das Latein betrifft, so geht der Chor
seiner Lobredner ja durch die ganze Neuzeit, beginnend mit Petrarca,
über Lorenzo Valla und Melanchthon bis in die Gegenwart ... Wobei
freilich festzustellen ist - und das weist auf eine weitere
Schwierigkeit, aber auch eine Chance für mich-, daß die
Jubeltöne in den vergangenen zwei Jahrhunderten merklich
gedämpfter, verhaltener, um nicht zu sagen: verdruckster geworden
sind. Wer würde es heute noch wagen, mit dem erwähnten
Lorenzo Valla auszurufen, daß die lateinische Sprache ein
großes Numen habe und von sämtlichen Nationen
verehrt werde "wie ein Gott, der vom Himmel herabgesandt ist" (quasi
Deum quendam a Coelo demissum ). Sehen wir uns die neueren
Lobredner des Lateins näher an, so machen wir dieselbe Erfahrung
wie wiederum Isokrates, der, als er das Lob der schönen Helena
seines Lehrers Gorgias genauer in Augenschein nahm, feststellen
mußte, daß Gorgias überhaupt überhaupt keine
Lobrede (enkómion ), sondern eine Verteidigung (apología
) geschrieben habe, ohne es zu merken. Wie Gorgias mit Helena geht es
uns mit dem Latein: Statt seine Herrlichkeit ins Licht zu setzen,
verteidigen wir es gegen den Zeitgeist, der es als "nutzlose" und
"tote" Sprache denunziert. Nun, diese Angriffe auf das Lateinische, die
ihm sein Lebensrecht, vor allem im heutigen Bildungswesen bestreiten,
mögen zwar banausisch sein - und sind es auch! -, sie sind aber
nicht unbegründet. Solange Latein noch die praktizierte
Universalsprache der gebildeten Welt war, wie zur Blütezeit des
Heidelberger und deutschen Humanismus, brauchte es keine Verteidigung.
Erst als es im Laufe des 17. Jahrhunderts allmählich seine
Bedeutung als die führende Sprache der Poesie verlor, als es dann
im 18. Jahrhundert aufhörte, die verbindliche Sprache der
Wissenschaft zu sein - zu mächtig war damals der Nationalismus von
Volk und Volkssprache - da verlor es gewissermaßen seinen 'Sitz
im Leben' und seine unbestrittene Existenzberechtigung. Wenn, wie um
1800, nur noch gut fünf Prozent aller wissenschaftlichen
Bücher lateinisch sind, stellt sich in der Tat die Frage, ob man
diese Sprache noch lernen solle, und so werden aus den frohen
Enkomiasten des Lateinischen leicht verbissene Apologeten. Jetzt erst,
an der Wende zum neuzehnten Jahrhundert, entsteht die beliebte, uns
allen wohlvertraute, für das humanistische Gymnasium geradezu
unentbehrlich gewordene Theorie der "formalen Bildung", wonach wir
Latein lernen, weniger, um es selbst zu können, als vor allem, um
daran unseren Geist zu schulen, Kategorien der Sprache und des
Verstandes, ja vielleicht sogar das logische Denken zu lernen. Etwa das
soeben erschienene lateinapologetische Bändchen des Bochumer
Didaktikers Karl Wilhelm Weeber ("Mit dem Latein am Ende?") basiert
ganz auf diesem Konzept eines, wie Manfred Fuhrmann formuliert hat,
"Trimmpfad des Geistes". Ein schlüpfriger Pfad! Quam uia
lubrica! periculosa doctrina! Eine gefährliche Lehre, wie mir
scheint, nicht nur, weil es schwierig ist, diese formale Schulung
speziell durch den Lateinunterricht wirklich nachzuweisen - ein
berühmter Kritiker des humanistischen Gymnasiums spottete vor
fünfundzwanzig Jahren über solche "exklusiven
Transferbehauptungen" (und sogar der unverdächtige Lateinfreund
Quintilian war der Ansicht, daß formale Bildung am besten durch
Geometrie stattfinde) -, sondern vor allem, weil bei einem einseitig
auf Geistesschulung angelegten Lateinunterricht, wie er in der Tat
vielfach praktiziert wird - sein Kernstück ist das Konstruieren,
heute genannt: "methodische Satzerschließungsstrategie", mit
"Suche das Prädikat" usw. -, weil bei einem solchen einseitig
formalbildenden Unterricht das eigentliche, auf der Gewöhnung an
die Sprache beruhende Lateinlernen fast notwendig zu kurz kommt und
damit selbstverständlich auch die Freude am Latein, die ja nicht
nur aus guten Noten (für methodisches Vorgehen), sondern vor allem
auch aus der Beherrschung der Sprache resultieren sollte ...
Auch aus diesem Grunde möchte ich den heute gängigen Weg der
Apologetik in dieser meiner Lobrede nicht beschreiten, ja
überhaupt, im gut heidelbergisch-humanistischen Sinn, das Latein
weniger verteidigen als preisen: ex abundantia cordis os loquatur
... Freilich, bei der Einteilung dieses meines Enkomions, zu dem ich
nun endlich nach langer, aber notwendiger, Vorrede übergehe,
möchte ich doch wenigstens ex negativo die heutigen
Vorwürfe gegen das Latein zugrundelegen. Ich halte mich also nicht
etwa an ein antikes Lobschema, wonach ich wohl zunächst die Heimat
des Lateinischen, also die Landschaft Latium, zu loben hätte, dann
seine Erfinder (ich nehme an: die Fauni, als älteste latinische
Götter - uorsibus quos olim Fauni uatesque canebant ),
schließlich seine Benutzer, die alten Römer, die
späteren Päpste und die heutigen Schüler Michael von
Albrechts - diese klassischen Topoi wären in unserer
gegenwärtigen Lage vielleicht doch nicht so angebracht. Ich halte
mich vielmehr, wie gesagt, an die Punkte, in denen die Herrlichkeit des
Lateinischen (Latinitatis decus ac dignitas ) heute vor allem
ins Licht gesetzt werden muß: Weil man sagt, daß das
Lateinische tot sei, will ich erstens beweisen, daß es nicht nur
lebendig, sondern die lebenskräftigste aller Sprachen ist (lingua
uiuacissima ). Weil das Lateinische als hart und trocken beschimpft
wird, zeige ich zweitens, daß es die schönste Sprache ist (lingua
uenustissima ); und aus diesem sowie aus vielem anderem folgt
schließlich, daß das Lateinische nicht, wie behauptet,
nutzlos, sondern in höchstem Maße nützlich ist (linga
utilissima ). Demonstrare igitur pro uirili parte conabor
sermonem Latinum ceteris omnibus esse et uiuaciorem et uenustiorem et
utiliorem ... audite!
Zum ersten: Wie kann ich es wagen, dem Latein eine besondere
Lebendigkeit und Lebenskraft zuzusprechen? Sehr einfach: weil es die
Sprache ist, die es fertiggebracht hat, ihren eigenen Tod dauerhaft zu
überleben. Was meinen wir denn damit, wenn wir sagen: Latein sei
tot? Und wenn es tot ist, wann ist es dann gestorben? Wenige stellen
diese Fragen, und fast niemand scheint die Antwort zu wissen. Die
minder Informierten werden wohl glauben, das Latein sei am Ende des
Altertums gestorben; die Gebildeteren werden seinen Tod vielleicht eher
ins späte 18. Jahrhundert - über die Bedeutung dieser
Epochengrenze sprach ich schon -, also etwa in die Zeit der
Französischen Revolution, verlegen. Die Klassische Philologie hat
sich seit längerer Zeit auf ein anderes Sterbedatum geeinigt: die
Zeit des Renaissancehumanismus. Trotz dem hoffnungsfroh stimmenden
Namen "Renaissance", "Wiedergeburt", renascentia literarum ,
seien es, meint man, gerade die Renaissancehumanisten gewesen, die dem
im Mittelalter noch fröhlich blühenden, ja wuchernden Latein,
dem 'Mittellatein', durch ihre fatale Neuorientierung an den
Klassikern, vor allem durch ihre Fixierung auf Cicero, den - so sagt
man mit stereotyper Formulierung - "Todesstoß gegeben"
hätten: Das lebendige Mittellatein sei durch die
verhängnisvolle Scheinrenaissance des Altertums erstarrt zum toten
Neulatein.
Aber nichts könnte falscher, handgreiflich verkehrter sein, als
dieser Satz, mit dem wir uns an unseren größten Vorbildern
versündigen! Durch ihn wird ja zunächst einmal suggeriert,
Mittellatein sei eine "Sprachstufe" des Lateinischen, so wie jeweils in
ihren Sprachen Mittelhochdeutsch oder Mittelenglisch. Durchaus nicht!
Auch wenn zur Zeit ein auf zehn dicke Bände angelegtes Handbuch
der Mittellateinischen Sprache in Erscheinung tritt, so gilt doch
unverändert die Feststellung, die mein zweiter Heidelberger
Lateinlehrer, der unvergeßliche Walther Bulst, schon 1946
getroffen hat: "Das Lateinische des Altertums und des Mittelalters
[...] ist eine und dieselbe Sprachstufe und Sprache; es gibt in diesem
Sinne kein Mittellatein." Es gibt nur ein Latein des Mittelalters
(Bulst sprach von der "mittleren Latinität des Abendlandes"), das
in der Tat von vielen (nicht allen) Autoren etwas lässig
praktiziert wurde und das in der knöchern-abstrakten Sprache der
Scholastik, nach dem Empfinden der gegen sie (nicht gegen ein
'Mittellatein') rebellierenden Humanisten, geradezu entartet war. Aber
auch dieses "entartete" Latein war noch substantiell Latein, mit
denselben Flexionsformen, derselben Syntax wie es die der Sprache
Ciceros war. Wenn jemand lässigerweise ein Verbum des Sagens mit quod
verband und zum Beispiel dico quod deus est sagte (o horrible, most
horrible indeed! ), so war dies zu jeder Zeit eine Lässigkeit,
entsprang nicht etwa der Befolgung einer mittlerweile herausgebildeten
Regel. Keine mittellateinische Entwicklung der Sprache hinderte einen
Autor am Gebrauch des klassischen Accusativus cum infinitivo: dico
deum esse ... (was immer korrekt war und von den Humanisten nur
wieder genauer beachtet wurde). Schon damals war also das Latein
längst erstarrt, im strengen Sinn nicht mehr lebendig; und das ist
auch kein Wunder: Niemand lernte ja, auch im Mittelalter niemand,
Latein von seiner Mutter; Latein lernte man beim Lateinlehrer, beim grammaticus
(dem custos linguae ), der dafür Sorge trug, daß es
nach unumstößlicher Regel gesprochen und geschrieben wurde: discite
Donatum, pueri ... Klar, daß dabei das Vokabular erweitert
oder umfunktioniert werden mußte, um neueren, besonders auch
philosophischen und theologischen Bedürfnissen zu entsprechen: Das
gilt aber nicht nur im Mittellatein, sondern in allen Zeiten: von
Cicero, der das Adjektiv moralis erfindet, um das griechische
Wort "ethisch" wiederzugeben, bis zu dem neuerdings üblichen interrete
für "Internet" (was zwar nicht besonders schön, aber
praktisch und mittlerweile eben einmal etabliert ist). Alle solche
Vokabularerweiterungen ändern nichts daran, daß Latein im
eigentlich linguistischen Sinn eine tote Sprache ist, im Mittelalter
grundsätzlich nicht anders als heute.
Und seit wann? Bereits in der frühen Kaiserzeit, im ersten
Jahrhundert nach Christus, in der Zeit nach Cicero und Vergil, beginnt
diese Erstarrung des Lateinischen, die rein linguistisch gesehen ein
Tod ist. Während in den rund fünfhundert erkennbaren Jahren
lateinischer Sprachgeschichte bis zur augusteischen Zeit, das
Lateinische eine deutliche Entwicklung durchmacht, eine Entwicklung,
die wir am klarsten in den letzten zweihundert Jahren der Republik, von
Plautus bis Cicero, beobachten und beschreiben können, bleibt nun,
bereits um die Zeitwende, das Latein auf der einmal erreichten Stufe
stehen. Als Merkspruch formuliert: Christus wird geboren und das Latein
stirbt - Christus nascitur, lingua latina moritur ; was
bedeutet, daß es von nun an zwei Arten lateinischer Sprache gibt:
ein Vulgärlatein, dessen erste Spuren wir auf pompeianischen
Inschriften finden, dann bei Petron und anderen, eine lebendig
gesprochene, sich weiterentwickelnde Sprache, die schließlich in
die romanischen Sprachen mündet; und zweitens ein gehobenes
Schriftlatein, Hochlatein, das eigentlich klassische Latein, das etwa
der Kirchenvater Hieronymus im vierten Jahrhundert vom selben
Grammatiker Donat leibhaftig lernt, wie dann die Schüler nach ihm
mehr als tausend Jahre lang aus der von Donat verfaßten
Grammatik: discite Donatum, pueri ... Es gibt eine romantische
Tendenz, etwas von dieser Dichotomie zwischen vulgärem und
gehobenem Latein schon in die klassische Zeit zurückzutragen -
schon Dante etwa meinte, die Römer hätten zu Hause
italienisch gesprochen, und auch heute glauben manche, der
gewöhnliche römische Plebejer hätte etwa eine Rede
Ciceros mit ihren Satzperioden und Rhythmen, ihren Metaphern und
Metonymien gar nicht recht verstehen und schon überhaupt nicht
würdigen können -, aber dagegen sprechen alle Zeugnisse. Erst
nach Cicero beginnt sich erst allmählich, dann stärker in der
eigentlichen Spätantike, dieser Graben zwischem vulgärem und
klassischem Latein herauszubilden - ausdrücklich von zwei
Sprachen, Französisch und Latein, ist erst im neunten Jahrhundert
die Rede -; von dieser Zeit an, von Cicero an, datiert denn auch der
Tod des Lateinischen.
Aber - und dies ist für unsere Lobrede entscheidend - dieser Tod
des Lateinischen ist nur ein linguistischer, nicht ein literarischer,
nicht ein künstlerischer! Latein überlebt seinen Tod nicht
nur so, daß es museal die Formen der Klassik, Ciceros und
Vergils, reproduziert, sondern indem es immer neue Stile und
Sprechweisen schöpferisch generiert. Die Vorbildhaftigkeit Ciceros
hindert Seneca nicht daran, seinen ganz andersartigen funkelnden
Pointenstil hervorzubringen, sie hindert Tacitus nicht an seiner oft
dunkeln, andeutend abrupten und gedankentiefen Redeweise ... Neben dem
selbstverständlichen Ciceronianismus gibt es auch noch in der
Neuzeit die verschiedensten Stiltendenzen, wie etwa den (mehr
amsogenannten Silberlatein orientierten) Lipsianismus um 1600, der
sogar bis heute seine Anhänger hat. Und im Bereich der Poesie
bildet sich in Spätantike und Mittelalter sogar die ganz neue Form
einer akzentrhythmischen Poesie heraus, eine Form, die so modern und
eingängig ist, daß es einem ist (um wenigstens einmal Josef
Eberles "Lob des Lateins" zu zitieren), als würde man einen
schwäbischen "Remstäler" im attischen Skyphos kredenzen.. Der
linguistische Tod des Lateinischen hindert also nicht die
künstlerische Produktivität: Latein, lingua uiuacissima
, überlebt seinen Tod. Es hat das Imperium Romanum, wie das
Heilige Römische Reich Deutscher Nation überlebt; es wird,
trotz dürftiger Zeit, sogar einmal EU und Euro überdauern: Eurone
uiuacior ... Hierin scheint ihm nicht einmal das Griechische ganz
gleichzukommen: Wer altgriechische Verse schreibt, wie vor
fünfhundert Jahren Angelo Poliziano in Florenz, wer altgriechische
Tagebücher führt, wie im letzten Jahrhundert Heinrich
Schliemann, oder Colloquia Attica veranstaltet, wie heute in
Heidelberg Herwig Görgemanns, der treibt punktuell Wiederbelebung
- eine schöne und höchst nützliche Wiederbelebung einer
herrlichen Sprache, quis dubitet? quis dubitare audeat? Latein
dagegen lebt, das heißt es lebt aus einer ununterbrochenen
Kontinuität heraus. Wer es als "tote" Sprache denunziert, hat zwar
nicht völlig Unrecht, aber das Wichtigste, Entscheidende, hat er
nicht verstanden. Dies war mein erster und wichtigster Punkt.
Ich komme, dies war ja das zweite, zur Schönheit des Lateinischen (lingua
pulcherrima et uenustissima ). Haben Sie keine Angst, daß ich
Ihnen jetzt Cicero oder Vergil vortrage und nach jedem Satz oder Vers
O! und A! rufe: Tityre, tu patulae recubans sub tegmine fagi
... ("Welche Sprache könnte Verse solcher Süßigkeit
hervorbringen!") siluestrem resonare doces Amaryllida siluas
("Das gibt's nur einmal, das gibt's nur auf Latein.")
Selbstverständlich läßt sich auch die überragende
Schönheit des Lateinischen streng wissenschaftlich und exakt
nachweisen. Sie ergibt sich nämlich bereits zwingend aus dem
bisher Festgestellten.
Woran ist denn das Lateinische gestorben? Ja doch nicht daran,
daß, wie bei irgendeiner Indianer- oder Eskimosprache, die native
speakers ausgestorben wären oder sich, eine andere Sprache zu
gebrauchen, entschlossen hätten - die native speakers
leben ja fort und hören eben nur ganz allmählich im Lauf der
Jahrhunderte auf, noch echte native speakers zu sein -;
vielmehr zeigt schon das bloße Todesdatum des Lateinischen,
daß es an nichts anderem als an seiner eigenen Schönheit
gestorben sein kann. Nachdem nämlich diejenigen literarischen
Werke entstanden waren, die von den Römern selbst als klassisch
empfunden wurden (und noch heute dafür gelten) - ich meine
natürlich die Kunstwerke vor allem von Cicero und Vergil (zu denen
an zweiter Stelle dann Terenz, Sallust, Horaz und Ovid treten) -, zu
eben diesem Zeitpunkt beginnt das Lateinische als Bildungs- und
Schriftsprache zu erstarren. Warum? Ich weiß nur eine einzige
Antwort auf diese meines Wissens nie klar gestellte Frage: Weil das
Erlebnis dieser klassischen Kunstwerke so stark und
überwältigend war, daß der sprachsensible und
kunstsinnige Römer instinktiv, tacito quodam sensu , eine
Weiterentwicklung seiner, durch die Klassiker gewissermaßen
geheiligten, Sprache nicht mehr zulassen wollte. Nach Ciceros
Philippiken und Vergils Aeneis war es, als ob der Weltgeist dem Genius
der Latinitas zuriefe: "Latein, bleib stehen! consiste,
Latinitas ! Du kannst nicht mehr schöner werden. Du darfst
dich nicht mehr ändern." Und so gilt von der lateinischen Sprache,
in bestimmter Weise, was Aristoteles von der Tragödie bei
Sophokles gesagt hat, daß sie "zu ihrer eigenen Natur gekommen"
war.
Freilich, so sicher mir scheint, daß Latein auf diese Weise
gestorben ist - ein Sterben in Schönheit und an Schönheit -,
so wenig fühle ich mich in der Lage, das Wesen dieser
Schönheit, die in Cicero und Vergil offenbar am deutlichsten
manifest wurde, wissenschaftlich zu bestimmen; und im Rahmen meiner
heutigen Lobrede kann ich nur ganz bescheidene Andeutungen machen
(wobei ich mich gerne auch vom Einleitungskapitel der Römischen
Literaturgeschichte Michael von Albrechts inspirieren lasse). Die
Römer selbst, sonst wahrlich ohne Selbstzweifel, waren gerade im
Lob ihrer Sprache eher zurückhaltend, ja sprachen wohl gar,
allerdings nur im Verhältnis zum Griechischen, von einer gewissen
Armut (patrii sermonis egestas ), mangelnder Anmut (uenus
), Feinheit (subtilitas ), Lieblichkeit (iucunditas ).
Wir empfinden das in der Neuzeit meist anders: Der Italiener Petrarca,
der zur neuzeitlichen Lateinbegeisterung mehr beigetragen hat als sonst
einer, ließ sich schon als Knabe verzaubern von der lateinischen dulcedo
et sonoritas uerborum ; und für uns Sprecher eines
konsonantenharten Deutschen scheint Latein eine ideale Mitte zu halten
zwischen der schieren Vokalseligkeit des Italienischen und der Herbheit
unserer eigenen Lautung (wobei Latein freilich dem Italienischen
nähersteht). Was die Römer an ihrer Sprache vor allem
rühmen, mit Stolz gerade im Hinblick aufs Griechische, ist Kraft
und Mächtigkeit, pondus und potentia . Diese
spüren wir ausgedrückt ebenso im altcatonischen Rem tene,
uerba sequentur wie im neuzeitlichen Roma locuta, causa finita
. Das eine, worin sich (wie in diesen Beispielen) die lateinische Kraft
zeigt, ist die Knappheit, breuitas , die mit ihrem Verzicht auf
das sprachliche Rankenwerk von Artikeln, Pronomina und allerlei
Hilfsverben die Sprache prädestiniert für Sinn- und
Kraftsprüche wie Sapere aude (was nach Kant heißt:
"Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen"), für
Monumentalinschriften, Kurzepigramme und vor allem auch Drohungen: Vae
uictis! Oder (in der Aposiopese noch schrecklicher): Quos ego!
Ich zitiere aus einem neuen, sehr bekannten Roman des Holländers
Cees Nooteboom: "Nie wird es wieder eine Sprache wie Latein geben, nie
mehr werden Präzision und Schönheit und Ausdruck eine solche
Einheit bilden. Unsere Sprachen haben allesamt zu viele Wörter,
man sehe sich nur die zweisprachigen Ausgaben an, links die wenigen,
gemessenen Worte, die gemeißelten Zeilen, rechts die volle Seite,
der Verkehrsstau, das Wortgedränge, das unübersichtliche
Gebrabbel."
Diese breuitas ist aber, wie angedeutet, nur die eine
Eigenschaft, in der sich die Kraft des Lateins darstellt.
(Verabsolutiert man sie, kommt man zu einem so einseitigen Urteil, wie
dem Heinrich Heines, der sagte, die Sprache der Römer sei "eine
Kommandosprache für Feldherrn, eine Dekretalsprache für
Administratoren, eine Justizsprache für Wucherer, eine
Lapidarsprache für das steinharte Römervolk".) Die andere
Wurzel, aus der das Lateinische seine Kraft zieht, ist nämlich das
Gegenteil der breuitas , die in der Sprache ebenso angelegte copia
, die Wortfülle, ja Abundanz. Sie zeigt sich schon in den
ältesten lateinischen Wortdoppelungen, wie sanus ac saluus,
laetus libensque, do dico dedico , meist wie hier mit Alliteration
(die etwa im Griechischen gar keine Rolle spielt), aber auch ohne
diese: sciens uolensque, quaeso precorque, fundi terrae agrique
. Vor allem die urtümlich religiöse Sprache ist voll von
diesen Pleonasmen, die dem Gedanken ebenso viel an Nachdruck
zufügen, wie sie ihm an Bestimmtheit und Eindeutigkeit nehmen. Der
unbestrittene Meister dieser copia , Ausdrucksfülle, ist
dann natürlich Cicero, den Caesar geradezu als den princeps
copiae et inuentor bezeichnet hat. Man muß nur etwa an den
berühmten Eingang der ersten Catilinarie denken (Quousque
tandem abutere ...), wo in drei Sätzen, mit wachsendem Pathos,
dreimal daselbe gesagt wird (ohne daß auch nur ein Wort
wiederholt würde) - ein Beispiel, das nebenbei auch zeigt,
daß diese copia nicht der Freude am Wort bzw. der
Redseligkeit entstammen muß, sondern daß sie einer (bei
Cicero zumindest gespielten) seelischen Erregtheit entspringen kann.
Um diese copia ging dann auch eine der ersten lateinischen
Stilkontroversen, von denen wir wissen. Die sogenannten Attici
, "Attizisten", junge Redner, angeführt von dem genialen
Demosthenesnachahmer Licinius Calvus, lehnten Ciceros copia ,
besonders auch das fast Maßlose seines Figuren- und
Metaphernschmucks, entschieden ab; sie versuchten die lateinische
Rhetorik wieder zu verschlanken, Intensität durch Knappheit zu
erzielen. Bezeichnenderweise warfen sowohl die Attizisten Cicero, als
auch Cicero ihnen, einen Mangel gerade an Kraft (uis) vor. Der
frühe Tod des Calvus hat diesen Streit zwischen Kürze und
Fülle, der auch später immer wieder ausbricht, nicht
entschieden. Lateinisch war an sich beides. Wenn wir gerade Ovid, dem
die Festschrift für Michael von Albrecht gilt, als einen so
besonders lateinischen Autor empfinden, so liegt ein Hauptgrund
dafür wohl in der bei ihm sich findenden Vereinigung von Knappheit
und Breite, scharfer Pointierung und ausladender Wiederholung.
Eine dritte und letzte Wurzel der spezifischen Schönheit des
Lateinischen, die in der Kraft besteht, ist schließlich die
architektonische Spannkraft der Konstruktion. Sie zeigt sich sowohl in
der üblichen Endstellung des Verbs (das ganz zum Schluß erst
den eigentlichen Aufschluß gibt), als auch in der vor allem von
Cicero entwickelten hypotaktischen Satzperiode, besonders in ihrer
steigenden Gestalt, wo dem Hauptsatz Nebensätze verschiedenen
Grades vorgeschaltet werden, daneben aber auch - auf die innere
Zusammengehörigkeit dieser Dinge hat von Albrecht aufmerksam
gemacht - in der Figur des Hyperbaton, der zuerst von Catull
systematisch praktizierten "Sperrung" des Adjektivs bzw. Attributs von
seinem Substantiv: Peliaco quondam prognatae uertice pinus - a
b A B. Auch hier entsteht Spannung durch eine Verzögerung der
wichtigsten Information; das Griechische kennt dergleichen kaum, es ist
hier unangestrengter, lässiger. Man erklärt diese Dinge,
besonders die untergeordnete Satzperiode, gerne mit einer Neigung der
Römer zur militärischen Subordination, zu klaren Befehls- und
Abhängigkeitsverhältnissen; aber das dürfte allzu
geistreich sein, mehr Gedankenspiel als Erkenntnis: Die richtigere
Erklärung steht wohl bei Horaz, der es als Prinzip einer
schönen dichterischen Disposition bezeichnet, wenn der Dichter
"immer nur jeweils das sagt, was jeweils schon gesagt werden
muß...", ... ut iam nunc dicat iam nunc debentia dici, /
pleraque differat et praesens in tempus omittat . Es ist vielleicht
bezeichnend, daß der einzige antike Dichter, der ein Drama
geschrieben hat, das fast ganz auf der stofflichen Spannung beruht (wie
ein Kriminalroman vom Typ des Whodunit) gerade ein Römer war:
Terenz mit seiner Hecyra, einem Lieblingsstück übrigens von
Michael von Albrecht. Wer darum eine ciceronische Periode in der Weise
übersetzt, daß er von dem in Endstellung befindlichen
Prädikat (beziehungsweise Verbum) ausgehend, sich das Ganze, von
links nach rechts, von rechts nach links, herauf, herab und quer und
krumm zusammenkonstruiert - dieser vermeintliche Musterschüler des
formalbildenden Lateins versündigt sich an Cicero und dem Genius
der eigentlichen Latinitas so sehr, wie ein Leser von Agatha
Christie, wenn er zuerst im Schlußkapitel nach der Person des
Mörders sucht. Armes Latein!
Nirgendwo hat der Rückgang des Lateinschreibens, Lateinsprechens
und vor allem Lateinhörens in den letzten zweihundert Jahren (mit
ihrer einseitigenVorherrschaft der formalen Bildung) so fatale Folgen
gehabt wie in der zunehmenden Empfindungslosigkeit für die
Schönheit des Lateinischen. Während die Werke der
älteren Humanisten von Petrarca bis ins 18. Jahrhundert voll sind
von Ausdrücken der Bewunderung für die Herrlichkeit der
Sprache, so daß man gar glaubte, es gäbe überhaupt
keine größere menschliche Leistung als die
äußerste Vervollkommnung im lateinischen Ausdruck (gloriam
Latine et polite scribendi inter humanos conatus omnes summum tenere
locum , sagte etwa ein gewisser Joachim Fortius Ringelberg), finden
wir heute selbst bei den engagiertesten Didaktikern und Apologeten des
Lateinunterrichts kaum mehr ein Wörtchen über diese
Schönheit der Sprache, die sie letztlich doch ihren Tod hat
überleben lassen. Und der Lateinunterricht wird dann am Ende wie
ein Musikunterricht, bei dem man nicht das richtige Singen und
Hören, sondern nur noch das stumme Notenlesen lernt. Armer Mozart!
Armes Latein!
Ich bin damit längst zu meinem dritten Punkt gekommen, der utilitas
, Nützlichkeit, des Lateinischen. Zu ihm will ich mich besonders
kurz fassen, und das meiste einfach weglassen. Ich weiß,
daß Latein das Erlernen der romanischen Sprachen und des
Englischen erleichtert; ich weiß, daß es die
Fremdwortbeherrschung steigert, wenn man erkennt, daß der
Mikroprozessor z. T. von procedere , der Computer von computare
kommt und daß hinter e-mail, die Elektronik steckt, die
ihrerseits auf electrum , den griechisch-römischen
Bernstein, zurückgeht - aber von all diesem herrlichen Nutzen
schweige ich ebenso wie von der mittlerweile genugsam geschmähten
formalen Bildung, durch die man es ja doch immerhin lernt (was in der
Tat nicht unnütz ist), ein konsekutives Verhältnis von einem
finalen und beides von einem bloß temporalen zu unterscheiden ...
Auch das ist zu bekannt und evident, als daß man es noch
ausführen müßte. Der wahre Nutzen des Lateinischen aber
und der geheime Grund, warum immer wieder Latein gelernt wird, liegt
meine ich, nicht in dieser Denkschulung, die uns etwa auch im Zeitalter
der industriellen und digitalen Revolution dazu befähigt,
effizienter unsere Brathendl zu verpacken und diverse Software zu
programmieren und um deretwillen, wie man mit Freuden hört, gerade
auch Vertreter der Wirtschaft des öfteren nach dem Lateiner mit
seinen beliebten Sekundärtugenden, Sorgfalt, Sitzfleisch und so
weiter, verlangen - den wahrsten Nutzen des Lateinischen hat Ovid
genannt, als er in Bezug auf seine Dichtung im Exil feststellte: ... magis
utile nil est / artibus his, quae nil utilitatis habent . Wenn wir
heute Latein treiben, ohne es in der Regel zur internationen
Kommuniktion zu verwenden (denn daß etwa meine
Privatkorrespondenz zur Hälfte lateinisch ist, dürfte auch
unter Philologen nicht die Regel sein), sind wir um so mehr auf die
schiere Schönheit des Lateinischen verwiesen, eine Schönheit,
die ihren Nutzen vor allem auch in sich selber hat. In einer Welt, in
der mit dem sogenannten Nützlichkeitsstreben, unter dem
größtenteils nur das Geld- und Gewinnstreben zu verstehen
ist, die schiere Häßlichkeit überall ihre
unbestrittenen Triumphe feiert - wie sah Heidelberg, wie sah
München noch aus vor 150 Jahren? - in einer solchen Welt von
Häßlichkeit und Nützlichkeit kann nichts wichtiger und
in Wahrheit nützlicher sein, als in uns die Kräfte des
Schönheitsstrebens zu stärken. Die Römer können
uns, was manchen überraschen mag, gerade hier ein Vorbild sein:
Sie haben ja nicht nur ein Weltreich erobert, sie haben auch die
schönsten Platzanlagen und proportioniertesten Villen geschaffen;
sie haben sich das unpraktischste und zugleich ästhetisch
schönste Kleidungsstück der Welt, die Toga, zum
Nationalgewand gemacht; sie haben schließlich auch, wie Cicero in
seinem 'Orator', der Bibel römischer Ästhetik, bezeugt,
wohlklingende Satzklauseln beklatscht und sogar im Theater bei einem
Versehen in der Vokalquantität gepfiffen. Cicero selber, der
große, bisweilen überragende Politiker, hat es sich in der
erregten Zeit vor Cäsars Ermordung nicht nehmen lassen, eben im
'Orator' die Gesetze des römischen Prosarhythmus zu erforschen -
in einer Gründlichkeit, wie es vor ihm kein anderer, übrigens
auch kein Grieche, versucht hat. Es gibt kein Latein, es darf kein
Latein geben, ohne daß wir uns von dieser Freude an Rhythmus und
Sprachschönheit anstecken lassen. Und den Bildungspolitikern, die
heute den Wert der Schul- und Universitätsbildung
ausschließlich, ich sage: ausschließlich, danach bemessen,
was sie zur Steigerung von technisch nutzbarem Wissen und damit zur
Konkurrenzfähigkeit Deutschlands auf dem Weltmarkt leistet, "um",
wie der schon erwähnte Lateinfreund Weeber jetzt sagt, "im
Zeitalter der Globalisierung nicht abgehängt zu werden" (d.h., um
unsererseits andere Nationen wirtschaftlich abzuhängen), diesen
Politikern müssen wir entgegenhalten, nicht, meine ich, daß
gerade das Latein, wie Weeber formuliert,
"Schlüsselqualifikationen für künftige
Führungskräfte in Wirtschaft, Technik und Wissenschaft
liefert", sondern - wenn schon nicht, daß man nicht Gott und dem
Mammon dienen soll (was ja sowieso niemand tut, alle dienen nur dem
Mammon) - dann doch wenigstens, daß der Mensch nicht nur animal
oeconomicum ist, sondern z. B. bis zu einem Drittel seines Lebens
mit Freizeit verbringt, so daß sein Leben um so befriedigender
sein wird, je mehr er die Freuden des Geistes und der Schönheit
kennt. Denn so gewiß Geld nicht glücklich macht, so
gewiß machen Geist und Schönheit glücklich. Aber
offenbar sind wir halt, nach Meinung dieser Bildungsexperten, wie schon
Bismarck wußte, "nicht auf der Welt, um glücklich zu sein,
sondern unsere Pflicht zu tun", d. h. heute: mit aller Anstrengung das
Wirtschaftswachstum zu fördern (dies wagen ja mittlerweile kaum
noch die deutschen Grünen zu bestreiten, seitdem ihr einst
molliger Chef bedeutungsvoll zum Marathonlaufen übergegangen ist -
sic transit gloria mundi ).
Ein allerletztes zur utilitas des Lateinischen. Wir fordern mit
Recht die Kenntnis moderner Fremdsprachen, um uns über die Grenzen
unseres Landes hinaus übernational verständigen zu
können. Denken wir doch auch daran, daß Latein dasselbe in
Bezug auf die Grenzen der Zeit leistet: Eben weil es tot und damit
zeitlos ist, können wir mit den Lateinern aller Zeiten
mühelos kommmunizieren: Das Latein etwa Melanchthons zur Zeit der
Reformation ist ja seinem Wesen nach kein anderes als das von Alcuin im
Jahrhundert Karls des Großen, von Augustin in der Spätantike
oder von Kardinal Ratzinger im zeitgenössischen Vatikan. Käme
Cicero heute ins Colloquium Latinum nach Heidelberg oder
München, würde er zwar wohl - jetzt spreche ich
natürlich nur von München - über manches den Kopf
schütteln, er hätte aber keine eigentlichen
Verständigungsprobleme; käme dagegen unser eigener Landsmann,
der Römerfeind und Deutschlandretter Hermann der Cherusker, dann
könnten wir uns ihm nicht mitteilen: So weit hat sich das Deutsche
seit seinen Tagen fortentwickelt (wir haben ja schon Schwierigkeiten
mit Walther von der Vogelweide, mit Luther, ja bisweilen mit Gryphius).
Darum ist die Beschäftigung mit Latein, vor allem das
Lateinschreiben, auch im Hinblick auf unsere eigene Zukunft wichtig.
Der Tag wird unweigerlich kommen, wo selbst die Werke von Goethe und
Schiller so museal sein werden, wie heute in diversen Sprachen Edda,
Beowulf und Nibelungenlied (es sei denn, ein Genius der Germanitas
läßt bald auch das herrliche Deutsch einfrieren, wozu aber
im Augenblick wohl kein Anlaß ist). Lateinischen Werken kann dies
nicht geschehen. Michael von Albrechts köstlicher Roman 'Simius
liberator ' wird aller Wahrscheinlichkeit nach eine dauerhaftere
Nachwelt haben als sogar - wenn er sie nicht endlich auch ins
Lateinische übersetzt - seine Geschichte der römischen
Literatur. Als Jan Novák, der große Lateinkomponist,
einmal gefragt wurde, warum er als Musiker sich immer mit dem toten
Latein befasse, gab er zur Antwort: o bone, nil est. hoc fit tantum
immortalitatis causa.
So besteht m. E. auch eine gewisse Wahrscheinlichkeit, daß der
wohl fanatischste Lateinenthusiast seines Jahrhunderts, der Jesuit
Melchior Inchofer, wenigstens zum Teil Recht hatte, als er 1634 die
Vermutung wagte, daß sogar Jesus sich mitunter des herrlichen
Lateins bedient habe und daß jedenfalls die Seligen im Himmel nur
noch Latein reden würden (beatos in coelo Latine locuturos
). Das erste ist zwar so gut wie sicher falsch: Jesus muß mit
Pontius Pilatus in der Allerweltssprache Griechisch gesprochen haben;
die zweite Ansicht aber scheint doch zu erwägen. Jedenfalls
fällt auf, daß der liebe Gott selbst, nach der Heiligen
Schrift und den Vätern zu urteilen, zuerst Hebräisch, dann
Griechisch, dann Latein gelernt hat, um, wie es scheint, bei dieser
Sprache endlich stehen zu bleiben. Eine schönere, meinte er wohl,
werde es nicht mehr geben. Außerdem dürfte es auch
schwerfallen, sich im himmlischen Jerusalem auf irgend eine andere
Sprache zu einigen; überall wären ja sonst die native
speakers ihren Mitbrüdern überlegen: im Englisch die
Oxforder, im Französisch die Pariser (wenn nicht die Genfer), im
heiligen Hebräisch die heutigen Kinder Israel ... Nur Latein
scheint hier eine gerechte und wahrhaft demokratische Lösung zu
bieten: Latein können wir alle nicht.
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