Wilfried Stroh

Lob des Lateins

Festrede für Michael von Albrecht
am 28. 11. 1998
gehalten in der Alten Aula der Universität Heidelberg
Sodalitas LVDIS LATINIS faciundis e.V.


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Aduenit genius natalis Michaelis ab Albrecht ad suas aras.
ades tu quoque, si quicquam ab illo distas, genius Latinitatis!
te precor quaesoque
uti omnium hic qui adsunt animos ad amorem tui inflammes,
mihi autem des ueniam
quod te laudando utar barbara lingua.

Hohe Festversammlung!

Das Latein zu loben hat man mich gerufen, aus München nach Heidelberg, in meine alte akademische Heimat. Selber hätte ich mir diese Aufgabe wohl nicht zugemutet, denn so leicht sie auf der einen Seite zu sein scheint, so schwer ist sie wiederum auf der anderen...
Quid facilius, quid expeditius quam Herculem laudare inter Lacedaemonios, Theseum Athenis? Auch ich habe einen Heimvorteil, wenn ich meine Preisrede auf das Latein gerade in Heidelberg halten darf, in urbe et doctissima et Latinissima . Heidelberg hat ja nicht nur eine der ersten und ehrwürdigsten Universitäten in Europa, diese Stadt war, zumindest eine Generation lang, um die Wende vom fünfzehnten zum sechszehnten 16. Jahrhundert das deutsche Zentrum des Humanismus und damit der Lateinkultur. Hier hat zuerst der zwar etwas anrüchige, aber als humanistischer Trendsetter, princeps litterarum , höchst bedeutsame Peter Luder im Jahr 1456 versprochen, "das schon fast zur Barbarei verkommene Latein wiederherzustellen (Latinam linguam iam paene in barbariem uersam ... restaurare ) und endlich die "Humanitätsbildung" (studia humanitatis ) einzuführen. Mit dieser ciceronischen Vokabel, studia humanitatis , die hier vielleicht zum ersten Mal nördlich der Alpen gebraucht wird, beginnt in Heidelberg sinnfällig der deutsche Humanismus, verkörpert in der neuen Freude an Schönheit und Ausdruckskraft des klassischen Lateins, vor allem Ciceros. In Heidelberg lebt dann auch der eigentliche Großvater des deutschen Humanismus: Rudolf Agricola, der nicht nur ein bedeutender Bildungsreformer, sondern (wie erst in neuester Zeit richtig entdeckt) ein unverächtlicher lateinischer Dichter war. (Er zuerst, so hieß es bei seinen Schülern, habe die Musen aus Italien über die Alpen geführt, nach Deutschland - d .h. zunächst nach Heidelberg.) Bei ihm in Heidelberg studiert auch der Mann, der später als Poet, Redner, Editor, Musikdilettant und lateinischer Vereinsgründer Deutschlands anerkannter 'Erzhumanist' werden sollte: Conrad Celtis, als Professor in Ingolstadt mein mittelbarer Amtsvorgänger und unmittelbares Vorbild (so daß sich auch so der Bogen von Heidelberg nach München spannt). Er hat als erster deutscher poeta laureatus , als vom Kaiser (1487 in Nürnberg) mit dem Lorbeer gekrönter Dichter, den Anspruch angemeldet, daß Deutschland nunmehr eine Poesie habe, eine lateinische Poesie, versteht sich, die der des römischen Altertums und Italiens grundsätzlich gleichwertig sei. Diesen Anspruch sucht dann etwa auch der große Reuchlin einzulösen, wenn er in Heidelberg 1497 als erster Deutscher mit seiner lateinischen Komödie "Henno" ein modernes, d. h. wieder nach antikem Vorbild gestaltetes, Drama aufführt.
Und Heidelberg bleibt urbs Latinissima , auch noch in den dem Pioniergeschlecht folgenden, minder spektakulären Generationen. Hier dichten, um mir nur zwei berühmte Namen von den Inschriften an der Decke dieser herrlichen Festaula zurufen zu lassen, Jacobus Micyllus, der auch als Gräzist überragende Philologe, und Petrus Lotichius Secundus, der als Professor für Medizin hier jung gestorben ist, berühmt vor allem als lateinischer Elegiker, der deutsche Tibull. Erst als 1623 nach Eroberung Heidelbergs die bedeutendste Büchersammlung Deutschlands, die Bibliotheca Palatina, den Heidelbergern geraubt und nach Rom verschleppt wird - unser frommer Münchner Kurfürst Maximilian war ja der Meinung, daß solche Schätze besser beim Papst aufgehoben seien (leider! - sonst hätten wir die Sachen heute in der Münchner Staatsbibliothek), - erst da beginnt Heidelbergs lateinischer Stern ein wenig von seinem alles überstrahlenden Glanz zu verlieren, nicht aber ohne immer wieder auch kräftigst aufzuflackern. Ich nenne, im Bereich der Vergangenheit bleibend, nur den Namen des auch als Latinisten bedeutenden Johann Heinrich Voss und den des jüngst verstorbenen Viktor Pöschl, der Heidelberg in der res publica litterarum wahrlich zu neuem Glanz verholfen hat. Wie könnte es nicht ein Leichtes sein - quid facilius, quid expeditius , als in dieser Stadt das Latein zu preisen!
Dazu kommen auch noch Sie, meine illustren, hochgebildeten Hörer, auditores illustrissimi et eruditissimi , unter denen gewiß keiner ist, der nicht von der Liebe zum Latein, der regina linguarum , durchdrungen wäre, Latinitatis incensus amore ... Dazu kommt vor allem das Geburtstags- und Jubelkind der heutigen Feier, mein Lehrer Michael von Albrecht, der die Latinistik, die studia Latina , in einer Weise verkörpert, wie es das in den vergangenen Jahrzehnten weltweit kaum mehr gegeben hat, eben nicht nur als Latinist, d. h. Lateinphilologe, sondern als umfassender Lateiner, lateinisch redender Lehrer, lateinisch schreibenden Wissenschaftler, Romancier und Dichter ... Gäbe es in Heidelberg noch einmal einen Bibliothekar, wie den berühmten Janus Gruterus, der in der Glanzzeit der Bibliotheca Palatina die Paradestücke deutscher Dichter römischer Zunge in seinen Deliciae poetarum Germanorum gesammelt hat (1612 in sechs Bänden), dann würden, wie schon der Neulateinerpapst Jozef IJsewijn in Löwen festgestellt hat, die Poemata Michaelis ab Albrecht darin einen beträchtlichen Raum einnehmen. Er hat wie kaum ein anderer immer wieder dafür gesorgt, daß die Latinistik humanistisch und das heißt mit Musen und Musik verbunden bleibt und nicht zur schieren Wissenschaft degeneriert. Quid facilius, quid expeditius quam coram tali uiro laudare linguam Latinam! Und doch liegt gerade hierin natürlich auch die Schwierigkeit meines Unternehmens. Die anerkannt herrlichsten Gegenstände sind ja eben darum am schwersten zu loben, weil über sie alles Wichtige schon von Früheren gesagt scheint, weil es, wie dies einst Isokrates bei seinem Lob der schönen Helena festgestellt hat, fast unmöglich ist, hier noch etwas Eigenes beizutragen und nicht nur crambe repetita zu servieren. Was das Latein betrifft, so geht der Chor seiner Lobredner ja durch die ganze Neuzeit, beginnend mit Petrarca, über Lorenzo Valla und Melanchthon bis in die Gegenwart ... Wobei freilich festzustellen ist - und das weist auf eine weitere Schwierigkeit, aber auch eine Chance für mich-, daß die Jubeltöne in den vergangenen zwei Jahrhunderten merklich gedämpfter, verhaltener, um nicht zu sagen: verdruckster geworden sind. Wer würde es heute noch wagen, mit dem erwähnten Lorenzo Valla auszurufen, daß die lateinische Sprache ein großes Numen habe und von sämtlichen Nationen verehrt werde "wie ein Gott, der vom Himmel herabgesandt ist" (quasi Deum quendam a Coelo demissum ). Sehen wir uns die neueren Lobredner des Lateins näher an, so machen wir dieselbe Erfahrung wie wiederum Isokrates, der, als er das Lob der schönen Helena seines Lehrers Gorgias genauer in Augenschein nahm, feststellen mußte, daß Gorgias überhaupt überhaupt keine Lobrede (enkómion ), sondern eine Verteidigung (apología ) geschrieben habe, ohne es zu merken. Wie Gorgias mit Helena geht es uns mit dem Latein: Statt seine Herrlichkeit ins Licht zu setzen, verteidigen wir es gegen den Zeitgeist, der es als "nutzlose" und "tote" Sprache denunziert. Nun, diese Angriffe auf das Lateinische, die ihm sein Lebensrecht, vor allem im heutigen Bildungswesen bestreiten, mögen zwar banausisch sein - und sind es auch! -, sie sind aber nicht unbegründet. Solange Latein noch die praktizierte Universalsprache der gebildeten Welt war, wie zur Blütezeit des Heidelberger und deutschen Humanismus, brauchte es keine Verteidigung. Erst als es im Laufe des 17. Jahrhunderts allmählich seine Bedeutung als die führende Sprache der Poesie verlor, als es dann im 18. Jahrhundert aufhörte, die verbindliche Sprache der Wissenschaft zu sein - zu mächtig war damals der Nationalismus von Volk und Volkssprache - da verlor es gewissermaßen seinen 'Sitz im Leben' und seine unbestrittene Existenzberechtigung. Wenn, wie um 1800, nur noch gut fünf Prozent aller wissenschaftlichen Bücher lateinisch sind, stellt sich in der Tat die Frage, ob man diese Sprache noch lernen solle, und so werden aus den frohen Enkomiasten des Lateinischen leicht verbissene Apologeten. Jetzt erst, an der Wende zum neuzehnten Jahrhundert, entsteht die beliebte, uns allen wohlvertraute, für das humanistische Gymnasium geradezu unentbehrlich gewordene Theorie der "formalen Bildung", wonach wir Latein lernen, weniger, um es selbst zu können, als vor allem, um daran unseren Geist zu schulen, Kategorien der Sprache und des Verstandes, ja vielleicht sogar das logische Denken zu lernen. Etwa das soeben erschienene lateinapologetische Bändchen des Bochumer Didaktikers Karl Wilhelm Weeber ("Mit dem Latein am Ende?") basiert ganz auf diesem Konzept eines, wie Manfred Fuhrmann formuliert hat, "Trimmpfad des Geistes". Ein schlüpfriger Pfad! Quam uia lubrica! periculosa doctrina! Eine gefährliche Lehre, wie mir scheint, nicht nur, weil es schwierig ist, diese formale Schulung speziell durch den Lateinunterricht wirklich nachzuweisen - ein berühmter Kritiker des humanistischen Gymnasiums spottete vor fünfundzwanzig Jahren über solche "exklusiven Transferbehauptungen" (und sogar der unverdächtige Lateinfreund Quintilian war der Ansicht, daß formale Bildung am besten durch Geometrie stattfinde) -, sondern vor allem, weil bei einem einseitig auf Geistesschulung angelegten Lateinunterricht, wie er in der Tat vielfach praktiziert wird - sein Kernstück ist das Konstruieren, heute genannt: "methodische Satzerschließungsstrategie", mit "Suche das Prädikat" usw. -, weil bei einem solchen einseitig formalbildenden Unterricht das eigentliche, auf der Gewöhnung an die Sprache beruhende Lateinlernen fast notwendig zu kurz kommt und damit selbstverständlich auch die Freude am Latein, die ja nicht nur aus guten Noten (für methodisches Vorgehen), sondern vor allem auch aus der Beherrschung der Sprache resultieren sollte ...
Auch aus diesem Grunde möchte ich den heute gängigen Weg der Apologetik in dieser meiner Lobrede nicht beschreiten, ja überhaupt, im gut heidelbergisch-humanistischen Sinn, das Latein weniger verteidigen als preisen: ex abundantia cordis os loquatur ... Freilich, bei der Einteilung dieses meines Enkomions, zu dem ich nun endlich nach langer, aber notwendiger, Vorrede übergehe, möchte ich doch wenigstens ex negativo die heutigen Vorwürfe gegen das Latein zugrundelegen. Ich halte mich also nicht etwa an ein antikes Lobschema, wonach ich wohl zunächst die Heimat des Lateinischen, also die Landschaft Latium, zu loben hätte, dann seine Erfinder (ich nehme an: die Fauni, als älteste latinische Götter - uorsibus quos olim Fauni uatesque canebant ), schließlich seine Benutzer, die alten Römer, die späteren Päpste und die heutigen Schüler Michael von Albrechts - diese klassischen Topoi wären in unserer gegenwärtigen Lage vielleicht doch nicht so angebracht. Ich halte mich vielmehr, wie gesagt, an die Punkte, in denen die Herrlichkeit des Lateinischen (Latinitatis decus ac dignitas ) heute vor allem ins Licht gesetzt werden muß: Weil man sagt, daß das Lateinische tot sei, will ich erstens beweisen, daß es nicht nur lebendig, sondern die lebenskräftigste aller Sprachen ist (lingua uiuacissima ). Weil das Lateinische als hart und trocken beschimpft wird, zeige ich zweitens, daß es die schönste Sprache ist (lingua uenustissima ); und aus diesem sowie aus vielem anderem folgt schließlich, daß das Lateinische nicht, wie behauptet, nutzlos, sondern in höchstem Maße nützlich ist (linga utilissima ). Demonstrare igitur pro uirili parte conabor sermonem Latinum ceteris omnibus esse et uiuaciorem et uenustiorem et utiliorem ... audite!
Zum ersten: Wie kann ich es wagen, dem Latein eine besondere Lebendigkeit und Lebenskraft zuzusprechen? Sehr einfach: weil es die Sprache ist, die es fertiggebracht hat, ihren eigenen Tod dauerhaft zu überleben. Was meinen wir denn damit, wenn wir sagen: Latein sei tot? Und wenn es tot ist, wann ist es dann gestorben? Wenige stellen diese Fragen, und fast niemand scheint die Antwort zu wissen. Die minder Informierten werden wohl glauben, das Latein sei am Ende des Altertums gestorben; die Gebildeteren werden seinen Tod vielleicht eher ins späte 18. Jahrhundert - über die Bedeutung dieser Epochengrenze sprach ich schon -, also etwa in die Zeit der Französischen Revolution, verlegen. Die Klassische Philologie hat sich seit längerer Zeit auf ein anderes Sterbedatum geeinigt: die Zeit des Renaissancehumanismus. Trotz dem hoffnungsfroh stimmenden Namen "Renaissance", "Wiedergeburt", renascentia literarum , seien es, meint man, gerade die Renaissancehumanisten gewesen, die dem im Mittelalter noch fröhlich blühenden, ja wuchernden Latein, dem 'Mittellatein', durch ihre fatale Neuorientierung an den Klassikern, vor allem durch ihre Fixierung auf Cicero, den - so sagt man mit stereotyper Formulierung - "Todesstoß gegeben" hätten: Das lebendige Mittellatein sei durch die verhängnisvolle Scheinrenaissance des Altertums erstarrt zum toten Neulatein.
Aber nichts könnte falscher, handgreiflich verkehrter sein, als dieser Satz, mit dem wir uns an unseren größten Vorbildern versündigen! Durch ihn wird ja zunächst einmal suggeriert, Mittellatein sei eine "Sprachstufe" des Lateinischen, so wie jeweils in ihren Sprachen Mittelhochdeutsch oder Mittelenglisch. Durchaus nicht! Auch wenn zur Zeit ein auf zehn dicke Bände angelegtes Handbuch der Mittellateinischen Sprache in Erscheinung tritt, so gilt doch unverändert die Feststellung, die mein zweiter Heidelberger Lateinlehrer, der unvergeßliche Walther Bulst, schon 1946 getroffen hat: "Das Lateinische des Altertums und des Mittelalters [...] ist eine und dieselbe Sprachstufe und Sprache; es gibt in diesem Sinne kein Mittellatein." Es gibt nur ein Latein des Mittelalters (Bulst sprach von der "mittleren Latinität des Abendlandes"), das in der Tat von vielen (nicht allen) Autoren etwas lässig praktiziert wurde und das in der knöchern-abstrakten Sprache der Scholastik, nach dem Empfinden der gegen sie (nicht gegen ein 'Mittellatein') rebellierenden Humanisten, geradezu entartet war. Aber auch dieses "entartete" Latein war noch substantiell Latein, mit denselben Flexionsformen, derselben Syntax wie es die der Sprache Ciceros war. Wenn jemand lässigerweise ein Verbum des Sagens mit quod verband und zum Beispiel dico quod deus est sagte (o horrible, most horrible indeed! ), so war dies zu jeder Zeit eine Lässigkeit, entsprang nicht etwa der Befolgung einer mittlerweile herausgebildeten Regel. Keine mittellateinische Entwicklung der Sprache hinderte einen Autor am Gebrauch des klassischen Accusativus cum infinitivo: dico deum esse ... (was immer korrekt war und von den Humanisten nur wieder genauer beachtet wurde). Schon damals war also das Latein längst erstarrt, im strengen Sinn nicht mehr lebendig; und das ist auch kein Wunder: Niemand lernte ja, auch im Mittelalter niemand, Latein von seiner Mutter; Latein lernte man beim Lateinlehrer, beim grammaticus (dem custos linguae ), der dafür Sorge trug, daß es nach unumstößlicher Regel gesprochen und geschrieben wurde: discite Donatum, pueri ... Klar, daß dabei das Vokabular erweitert oder umfunktioniert werden mußte, um neueren, besonders auch philosophischen und theologischen Bedürfnissen zu entsprechen: Das gilt aber nicht nur im Mittellatein, sondern in allen Zeiten: von Cicero, der das Adjektiv moralis erfindet, um das griechische Wort "ethisch" wiederzugeben, bis zu dem neuerdings üblichen interrete für "Internet" (was zwar nicht besonders schön, aber praktisch und mittlerweile eben einmal etabliert ist). Alle solche Vokabularerweiterungen ändern nichts daran, daß Latein im eigentlich linguistischen Sinn eine tote Sprache ist, im Mittelalter grundsätzlich nicht anders als heute.
Und seit wann? Bereits in der frühen Kaiserzeit, im ersten Jahrhundert nach Christus, in der Zeit nach Cicero und Vergil, beginnt diese Erstarrung des Lateinischen, die rein linguistisch gesehen ein Tod ist. Während in den rund fünfhundert erkennbaren Jahren lateinischer Sprachgeschichte bis zur augusteischen Zeit, das Lateinische eine deutliche Entwicklung durchmacht, eine Entwicklung, die wir am klarsten in den letzten zweihundert Jahren der Republik, von Plautus bis Cicero, beobachten und beschreiben können, bleibt nun, bereits um die Zeitwende, das Latein auf der einmal erreichten Stufe stehen. Als Merkspruch formuliert: Christus wird geboren und das Latein stirbt - Christus nascitur, lingua latina moritur ; was bedeutet, daß es von nun an zwei Arten lateinischer Sprache gibt: ein Vulgärlatein, dessen erste Spuren wir auf pompeianischen Inschriften finden, dann bei Petron und anderen, eine lebendig gesprochene, sich weiterentwickelnde Sprache, die schließlich in die romanischen Sprachen mündet; und zweitens ein gehobenes Schriftlatein, Hochlatein, das eigentlich klassische Latein, das etwa der Kirchenvater Hieronymus im vierten Jahrhundert vom selben Grammatiker Donat leibhaftig lernt, wie dann die Schüler nach ihm mehr als tausend Jahre lang aus der von Donat verfaßten Grammatik: discite Donatum, pueri ... Es gibt eine romantische Tendenz, etwas von dieser Dichotomie zwischen vulgärem und gehobenem Latein schon in die klassische Zeit zurückzutragen - schon Dante etwa meinte, die Römer hätten zu Hause italienisch gesprochen, und auch heute glauben manche, der gewöhnliche römische Plebejer hätte etwa eine Rede Ciceros mit ihren Satzperioden und Rhythmen, ihren Metaphern und Metonymien gar nicht recht verstehen und schon überhaupt nicht würdigen können -, aber dagegen sprechen alle Zeugnisse. Erst nach Cicero beginnt sich erst allmählich, dann stärker in der eigentlichen Spätantike, dieser Graben zwischem vulgärem und klassischem Latein herauszubilden - ausdrücklich von zwei Sprachen, Französisch und Latein, ist erst im neunten Jahrhundert die Rede -; von dieser Zeit an, von Cicero an, datiert denn auch der Tod des Lateinischen.
Aber - und dies ist für unsere Lobrede entscheidend - dieser Tod des Lateinischen ist nur ein linguistischer, nicht ein literarischer, nicht ein künstlerischer! Latein überlebt seinen Tod nicht nur so, daß es museal die Formen der Klassik, Ciceros und Vergils, reproduziert, sondern indem es immer neue Stile und Sprechweisen schöpferisch generiert. Die Vorbildhaftigkeit Ciceros hindert Seneca nicht daran, seinen ganz andersartigen funkelnden Pointenstil hervorzubringen, sie hindert Tacitus nicht an seiner oft dunkeln, andeutend abrupten und gedankentiefen Redeweise ... Neben dem selbstverständlichen Ciceronianismus gibt es auch noch in der Neuzeit die verschiedensten Stiltendenzen, wie etwa den (mehr amsogenannten Silberlatein orientierten) Lipsianismus um 1600, der sogar bis heute seine Anhänger hat. Und im Bereich der Poesie bildet sich in Spätantike und Mittelalter sogar die ganz neue Form einer akzentrhythmischen Poesie heraus, eine Form, die so modern und eingängig ist, daß es einem ist (um wenigstens einmal Josef Eberles "Lob des Lateins" zu zitieren), als würde man einen schwäbischen "Remstäler" im attischen Skyphos kredenzen.. Der linguistische Tod des Lateinischen hindert also nicht die künstlerische Produktivität: Latein, lingua uiuacissima , überlebt seinen Tod. Es hat das Imperium Romanum, wie das Heilige Römische Reich Deutscher Nation überlebt; es wird, trotz dürftiger Zeit, sogar einmal EU und Euro überdauern: Eurone uiuacior ... Hierin scheint ihm nicht einmal das Griechische ganz gleichzukommen: Wer altgriechische Verse schreibt, wie vor fünfhundert Jahren Angelo Poliziano in Florenz, wer altgriechische Tagebücher führt, wie im letzten Jahrhundert Heinrich Schliemann, oder Colloquia Attica veranstaltet, wie heute in Heidelberg Herwig Görgemanns, der treibt punktuell Wiederbelebung - eine schöne und höchst nützliche Wiederbelebung einer herrlichen Sprache, quis dubitet? quis dubitare audeat? Latein dagegen lebt, das heißt es lebt aus einer ununterbrochenen Kontinuität heraus. Wer es als "tote" Sprache denunziert, hat zwar nicht völlig Unrecht, aber das Wichtigste, Entscheidende, hat er nicht verstanden. Dies war mein erster und wichtigster Punkt.
Ich komme, dies war ja das zweite, zur Schönheit des Lateinischen (lingua pulcherrima et uenustissima ). Haben Sie keine Angst, daß ich Ihnen jetzt Cicero oder Vergil vortrage und nach jedem Satz oder Vers O! und A! rufe: Tityre, tu patulae recubans sub tegmine fagi ... ("Welche Sprache könnte Verse solcher Süßigkeit hervorbringen!") siluestrem resonare doces Amaryllida siluas ("Das gibt's nur einmal, das gibt's nur auf Latein.") Selbstverständlich läßt sich auch die überragende Schönheit des Lateinischen streng wissenschaftlich und exakt nachweisen. Sie ergibt sich nämlich bereits zwingend aus dem bisher Festgestellten.
Woran ist denn das Lateinische gestorben? Ja doch nicht daran, daß, wie bei irgendeiner Indianer- oder Eskimosprache, die native speakers ausgestorben wären oder sich, eine andere Sprache zu gebrauchen, entschlossen hätten - die native speakers leben ja fort und hören eben nur ganz allmählich im Lauf der Jahrhunderte auf, noch echte native speakers zu sein -; vielmehr zeigt schon das bloße Todesdatum des Lateinischen, daß es an nichts anderem als an seiner eigenen Schönheit gestorben sein kann. Nachdem nämlich diejenigen literarischen Werke entstanden waren, die von den Römern selbst als klassisch empfunden wurden (und noch heute dafür gelten) - ich meine natürlich die Kunstwerke vor allem von Cicero und Vergil (zu denen an zweiter Stelle dann Terenz, Sallust, Horaz und Ovid treten) -, zu eben diesem Zeitpunkt beginnt das Lateinische als Bildungs- und Schriftsprache zu erstarren. Warum? Ich weiß nur eine einzige Antwort auf diese meines Wissens nie klar gestellte Frage: Weil das Erlebnis dieser klassischen Kunstwerke so stark und überwältigend war, daß der sprachsensible und kunstsinnige Römer instinktiv, tacito quodam sensu , eine Weiterentwicklung seiner, durch die Klassiker gewissermaßen geheiligten, Sprache nicht mehr zulassen wollte. Nach Ciceros Philippiken und Vergils Aeneis war es, als ob der Weltgeist dem Genius der Latinitas zuriefe: "Latein, bleib stehen! consiste, Latinitas ! Du kannst nicht mehr schöner werden. Du darfst dich nicht mehr ändern." Und so gilt von der lateinischen Sprache, in bestimmter Weise, was Aristoteles von der Tragödie bei Sophokles gesagt hat, daß sie "zu ihrer eigenen Natur gekommen" war.
Freilich, so sicher mir scheint, daß Latein auf diese Weise gestorben ist - ein Sterben in Schönheit und an Schönheit -, so wenig fühle ich mich in der Lage, das Wesen dieser Schönheit, die in Cicero und Vergil offenbar am deutlichsten manifest wurde, wissenschaftlich zu bestimmen; und im Rahmen meiner heutigen Lobrede kann ich nur ganz bescheidene Andeutungen machen (wobei ich mich gerne auch vom Einleitungskapitel der Römischen Literaturgeschichte Michael von Albrechts inspirieren lasse). Die Römer selbst, sonst wahrlich ohne Selbstzweifel, waren gerade im Lob ihrer Sprache eher zurückhaltend, ja sprachen wohl gar, allerdings nur im Verhältnis zum Griechischen, von einer gewissen Armut (patrii sermonis egestas ), mangelnder Anmut (uenus ), Feinheit (subtilitas ), Lieblichkeit (iucunditas ). Wir empfinden das in der Neuzeit meist anders: Der Italiener Petrarca, der zur neuzeitlichen Lateinbegeisterung mehr beigetragen hat als sonst einer, ließ sich schon als Knabe verzaubern von der lateinischen dulcedo et sonoritas uerborum ; und für uns Sprecher eines konsonantenharten Deutschen scheint Latein eine ideale Mitte zu halten zwischen der schieren Vokalseligkeit des Italienischen und der Herbheit unserer eigenen Lautung (wobei Latein freilich dem Italienischen nähersteht). Was die Römer an ihrer Sprache vor allem rühmen, mit Stolz gerade im Hinblick aufs Griechische, ist Kraft und Mächtigkeit, pondus und potentia . Diese spüren wir ausgedrückt ebenso im altcatonischen Rem tene, uerba sequentur wie im neuzeitlichen Roma locuta, causa finita . Das eine, worin sich (wie in diesen Beispielen) die lateinische Kraft zeigt, ist die Knappheit, breuitas , die mit ihrem Verzicht auf das sprachliche Rankenwerk von Artikeln, Pronomina und allerlei Hilfsverben die Sprache prädestiniert für Sinn- und Kraftsprüche wie Sapere aude (was nach Kant heißt: "Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen"), für Monumentalinschriften, Kurzepigramme und vor allem auch Drohungen: Vae uictis! Oder (in der Aposiopese noch schrecklicher): Quos ego! Ich zitiere aus einem neuen, sehr bekannten Roman des Holländers Cees Nooteboom: "Nie wird es wieder eine Sprache wie Latein geben, nie mehr werden Präzision und Schönheit und Ausdruck eine solche Einheit bilden. Unsere Sprachen haben allesamt zu viele Wörter, man sehe sich nur die zweisprachigen Ausgaben an, links die wenigen, gemessenen Worte, die gemeißelten Zeilen, rechts die volle Seite, der Verkehrsstau, das Wortgedränge, das unübersichtliche Gebrabbel."
Diese breuitas ist aber, wie angedeutet, nur die eine Eigenschaft, in der sich die Kraft des Lateins darstellt. (Verabsolutiert man sie, kommt man zu einem so einseitigen Urteil, wie dem Heinrich Heines, der sagte, die Sprache der Römer sei "eine Kommandosprache für Feldherrn, eine Dekretalsprache für Administratoren, eine Justizsprache für Wucherer, eine Lapidarsprache für das steinharte Römervolk".) Die andere Wurzel, aus der das Lateinische seine Kraft zieht, ist nämlich das Gegenteil der breuitas , die in der Sprache ebenso angelegte copia , die Wortfülle, ja Abundanz. Sie zeigt sich schon in den ältesten lateinischen Wortdoppelungen, wie sanus ac saluus, laetus libensque, do dico dedico , meist wie hier mit Alliteration (die etwa im Griechischen gar keine Rolle spielt), aber auch ohne diese: sciens uolensque, quaeso precorque, fundi terrae agrique . Vor allem die urtümlich religiöse Sprache ist voll von diesen Pleonasmen, die dem Gedanken ebenso viel an Nachdruck zufügen, wie sie ihm an Bestimmtheit und Eindeutigkeit nehmen. Der unbestrittene Meister dieser copia , Ausdrucksfülle, ist dann natürlich Cicero, den Caesar geradezu als den princeps copiae et inuentor bezeichnet hat. Man muß nur etwa an den berühmten Eingang der ersten Catilinarie denken (Quousque tandem abutere ...), wo in drei Sätzen, mit wachsendem Pathos, dreimal daselbe gesagt wird (ohne daß auch nur ein Wort wiederholt würde) - ein Beispiel, das nebenbei auch zeigt, daß diese copia nicht der Freude am Wort bzw. der Redseligkeit entstammen muß, sondern daß sie einer (bei Cicero zumindest gespielten) seelischen Erregtheit entspringen kann.
Um diese copia ging dann auch eine der ersten lateinischen Stilkontroversen, von denen wir wissen. Die sogenannten Attici , "Attizisten", junge Redner, angeführt von dem genialen Demosthenesnachahmer Licinius Calvus, lehnten Ciceros copia , besonders auch das fast Maßlose seines Figuren- und Metaphernschmucks, entschieden ab; sie versuchten die lateinische Rhetorik wieder zu verschlanken, Intensität durch Knappheit zu erzielen. Bezeichnenderweise warfen sowohl die Attizisten Cicero, als auch Cicero ihnen, einen Mangel gerade an Kraft (uis) vor. Der frühe Tod des Calvus hat diesen Streit zwischen Kürze und Fülle, der auch später immer wieder ausbricht, nicht entschieden. Lateinisch war an sich beides. Wenn wir gerade Ovid, dem die Festschrift für Michael von Albrecht gilt, als einen so besonders lateinischen Autor empfinden, so liegt ein Hauptgrund dafür wohl in der bei ihm sich findenden Vereinigung von Knappheit und Breite, scharfer Pointierung und ausladender Wiederholung.
Eine dritte und letzte Wurzel der spezifischen Schönheit des Lateinischen, die in der Kraft besteht, ist schließlich die architektonische Spannkraft der Konstruktion. Sie zeigt sich sowohl in der üblichen Endstellung des Verbs (das ganz zum Schluß erst den eigentlichen Aufschluß gibt), als auch in der vor allem von Cicero entwickelten hypotaktischen Satzperiode, besonders in ihrer steigenden Gestalt, wo dem Hauptsatz Nebensätze verschiedenen Grades vorgeschaltet werden, daneben aber auch - auf die innere Zusammengehörigkeit dieser Dinge hat von Albrecht aufmerksam gemacht - in der Figur des Hyperbaton, der zuerst von Catull systematisch praktizierten "Sperrung" des Adjektivs bzw. Attributs von seinem Substantiv: Peliaco quondam prognatae uertice pinus - a b A B. Auch hier entsteht Spannung durch eine Verzögerung der wichtigsten Information; das Griechische kennt dergleichen kaum, es ist hier unangestrengter, lässiger. Man erklärt diese Dinge, besonders die untergeordnete Satzperiode, gerne mit einer Neigung der Römer zur militärischen Subordination, zu klaren Befehls- und Abhängigkeitsverhältnissen; aber das dürfte allzu geistreich sein, mehr Gedankenspiel als Erkenntnis: Die richtigere Erklärung steht wohl bei Horaz, der es als Prinzip einer schönen dichterischen Disposition bezeichnet, wenn der Dichter "immer nur jeweils das sagt, was jeweils schon gesagt werden muß...", ... ut iam nunc dicat iam nunc debentia dici, / pleraque differat et praesens in tempus omittat . Es ist vielleicht bezeichnend, daß der einzige antike Dichter, der ein Drama geschrieben hat, das fast ganz auf der stofflichen Spannung beruht (wie ein Kriminalroman vom Typ des Whodunit) gerade ein Römer war: Terenz mit seiner Hecyra, einem Lieblingsstück übrigens von Michael von Albrecht. Wer darum eine ciceronische Periode in der Weise übersetzt, daß er von dem in Endstellung befindlichen Prädikat (beziehungsweise Verbum) ausgehend, sich das Ganze, von links nach rechts, von rechts nach links, herauf, herab und quer und krumm zusammenkonstruiert - dieser vermeintliche Musterschüler des formalbildenden Lateins versündigt sich an Cicero und dem Genius der eigentlichen Latinitas so sehr, wie ein Leser von Agatha Christie, wenn er zuerst im Schlußkapitel nach der Person des Mörders sucht. Armes Latein!
Nirgendwo hat der Rückgang des Lateinschreibens, Lateinsprechens und vor allem Lateinhörens in den letzten zweihundert Jahren (mit ihrer einseitigenVorherrschaft der formalen Bildung) so fatale Folgen gehabt wie in der zunehmenden Empfindungslosigkeit für die Schönheit des Lateinischen. Während die Werke der älteren Humanisten von Petrarca bis ins 18. Jahrhundert voll sind von Ausdrücken der Bewunderung für die Herrlichkeit der Sprache, so daß man gar glaubte, es gäbe überhaupt keine größere menschliche Leistung als die äußerste Vervollkommnung im lateinischen Ausdruck (gloriam Latine et polite scribendi inter humanos conatus omnes summum tenere locum , sagte etwa ein gewisser Joachim Fortius Ringelberg), finden wir heute selbst bei den engagiertesten Didaktikern und Apologeten des Lateinunterrichts kaum mehr ein Wörtchen über diese Schönheit der Sprache, die sie letztlich doch ihren Tod hat überleben lassen. Und der Lateinunterricht wird dann am Ende wie ein Musikunterricht, bei dem man nicht das richtige Singen und Hören, sondern nur noch das stumme Notenlesen lernt. Armer Mozart! Armes Latein!
Ich bin damit längst zu meinem dritten Punkt gekommen, der utilitas , Nützlichkeit, des Lateinischen. Zu ihm will ich mich besonders kurz fassen, und das meiste einfach weglassen. Ich weiß, daß Latein das Erlernen der romanischen Sprachen und des Englischen erleichtert; ich weiß, daß es die Fremdwortbeherrschung steigert, wenn man erkennt, daß der Mikroprozessor z. T. von procedere , der Computer von computare kommt und daß hinter e-mail, die Elektronik steckt, die ihrerseits auf electrum , den griechisch-römischen Bernstein, zurückgeht - aber von all diesem herrlichen Nutzen schweige ich ebenso wie von der mittlerweile genugsam geschmähten formalen Bildung, durch die man es ja doch immerhin lernt (was in der Tat nicht unnütz ist), ein konsekutives Verhältnis von einem finalen und beides von einem bloß temporalen zu unterscheiden ... Auch das ist zu bekannt und evident, als daß man es noch ausführen müßte. Der wahre Nutzen des Lateinischen aber und der geheime Grund, warum immer wieder Latein gelernt wird, liegt meine ich, nicht in dieser Denkschulung, die uns etwa auch im Zeitalter der industriellen und digitalen Revolution dazu befähigt, effizienter unsere Brathendl zu verpacken und diverse Software zu programmieren und um deretwillen, wie man mit Freuden hört, gerade auch Vertreter der Wirtschaft des öfteren nach dem Lateiner mit seinen beliebten Sekundärtugenden, Sorgfalt, Sitzfleisch und so weiter, verlangen - den wahrsten Nutzen des Lateinischen hat Ovid genannt, als er in Bezug auf seine Dichtung im Exil feststellte: ... magis utile nil est / artibus his, quae nil utilitatis habent . Wenn wir heute Latein treiben, ohne es in der Regel zur internationen Kommuniktion zu verwenden (denn daß etwa meine Privatkorrespondenz zur Hälfte lateinisch ist, dürfte auch unter Philologen nicht die Regel sein), sind wir um so mehr auf die schiere Schönheit des Lateinischen verwiesen, eine Schönheit, die ihren Nutzen vor allem auch in sich selber hat. In einer Welt, in der mit dem sogenannten Nützlichkeitsstreben, unter dem größtenteils nur das Geld- und Gewinnstreben zu verstehen ist, die schiere Häßlichkeit überall ihre unbestrittenen Triumphe feiert - wie sah Heidelberg, wie sah München noch aus vor 150 Jahren? - in einer solchen Welt von Häßlichkeit und Nützlichkeit kann nichts wichtiger und in Wahrheit nützlicher sein, als in uns die Kräfte des Schönheitsstrebens zu stärken. Die Römer können uns, was manchen überraschen mag, gerade hier ein Vorbild sein: Sie haben ja nicht nur ein Weltreich erobert, sie haben auch die schönsten Platzanlagen und proportioniertesten Villen geschaffen; sie haben sich das unpraktischste und zugleich ästhetisch schönste Kleidungsstück der Welt, die Toga, zum Nationalgewand gemacht; sie haben schließlich auch, wie Cicero in seinem 'Orator', der Bibel römischer Ästhetik, bezeugt, wohlklingende Satzklauseln beklatscht und sogar im Theater bei einem Versehen in der Vokalquantität gepfiffen. Cicero selber, der große, bisweilen überragende Politiker, hat es sich in der erregten Zeit vor Cäsars Ermordung nicht nehmen lassen, eben im 'Orator' die Gesetze des römischen Prosarhythmus zu erforschen - in einer Gründlichkeit, wie es vor ihm kein anderer, übrigens auch kein Grieche, versucht hat. Es gibt kein Latein, es darf kein Latein geben, ohne daß wir uns von dieser Freude an Rhythmus und Sprachschönheit anstecken lassen. Und den Bildungspolitikern, die heute den Wert der Schul- und Universitätsbildung ausschließlich, ich sage: ausschließlich, danach bemessen, was sie zur Steigerung von technisch nutzbarem Wissen und damit zur Konkurrenzfähigkeit Deutschlands auf dem Weltmarkt leistet, "um", wie der schon erwähnte Lateinfreund Weeber jetzt sagt, "im Zeitalter der Globalisierung nicht abgehängt zu werden" (d.h., um unsererseits andere Nationen wirtschaftlich abzuhängen), diesen Politikern müssen wir entgegenhalten, nicht, meine ich, daß gerade das Latein, wie Weeber formuliert, "Schlüsselqualifikationen für künftige Führungskräfte in Wirtschaft, Technik und Wissenschaft liefert", sondern - wenn schon nicht, daß man nicht Gott und dem Mammon dienen soll (was ja sowieso niemand tut, alle dienen nur dem Mammon) - dann doch wenigstens, daß der Mensch nicht nur animal oeconomicum ist, sondern z. B. bis zu einem Drittel seines Lebens mit Freizeit verbringt, so daß sein Leben um so befriedigender sein wird, je mehr er die Freuden des Geistes und der Schönheit kennt. Denn so gewiß Geld nicht glücklich macht, so gewiß machen Geist und Schönheit glücklich. Aber offenbar sind wir halt, nach Meinung dieser Bildungsexperten, wie schon Bismarck wußte, "nicht auf der Welt, um glücklich zu sein, sondern unsere Pflicht zu tun", d. h. heute: mit aller Anstrengung das Wirtschaftswachstum zu fördern (dies wagen ja mittlerweile kaum noch die deutschen Grünen zu bestreiten, seitdem ihr einst molliger Chef bedeutungsvoll zum Marathonlaufen übergegangen ist - sic transit gloria mundi ).
Ein allerletztes zur utilitas des Lateinischen. Wir fordern mit Recht die Kenntnis moderner Fremdsprachen, um uns über die Grenzen unseres Landes hinaus übernational verständigen zu können. Denken wir doch auch daran, daß Latein dasselbe in Bezug auf die Grenzen der Zeit leistet: Eben weil es tot und damit zeitlos ist, können wir mit den Lateinern aller Zeiten mühelos kommmunizieren: Das Latein etwa Melanchthons zur Zeit der Reformation ist ja seinem Wesen nach kein anderes als das von Alcuin im Jahrhundert Karls des Großen, von Augustin in der Spätantike oder von Kardinal Ratzinger im zeitgenössischen Vatikan. Käme Cicero heute ins Colloquium Latinum nach Heidelberg oder München, würde er zwar wohl - jetzt spreche ich natürlich nur von München - über manches den Kopf schütteln, er hätte aber keine eigentlichen Verständigungsprobleme; käme dagegen unser eigener Landsmann, der Römerfeind und Deutschlandretter Hermann der Cherusker, dann könnten wir uns ihm nicht mitteilen: So weit hat sich das Deutsche seit seinen Tagen fortentwickelt (wir haben ja schon Schwierigkeiten mit Walther von der Vogelweide, mit Luther, ja bisweilen mit Gryphius).
Darum ist die Beschäftigung mit Latein, vor allem das Lateinschreiben, auch im Hinblick auf unsere eigene Zukunft wichtig. Der Tag wird unweigerlich kommen, wo selbst die Werke von Goethe und Schiller so museal sein werden, wie heute in diversen Sprachen Edda, Beowulf und Nibelungenlied (es sei denn, ein Genius der Germanitas läßt bald auch das herrliche Deutsch einfrieren, wozu aber im Augenblick wohl kein Anlaß ist). Lateinischen Werken kann dies nicht geschehen. Michael von Albrechts köstlicher Roman 'Simius liberator ' wird aller Wahrscheinlichkeit nach eine dauerhaftere Nachwelt haben als sogar - wenn er sie nicht endlich auch ins Lateinische übersetzt - seine Geschichte der römischen Literatur. Als Jan Novák, der große Lateinkomponist, einmal gefragt wurde, warum er als Musiker sich immer mit dem toten Latein befasse, gab er zur Antwort: o bone, nil est. hoc fit tantum immortalitatis causa.
So besteht m. E. auch eine gewisse Wahrscheinlichkeit, daß der wohl fanatischste Lateinenthusiast seines Jahrhunderts, der Jesuit Melchior Inchofer, wenigstens zum Teil Recht hatte, als er 1634 die Vermutung wagte, daß sogar Jesus sich mitunter des herrlichen Lateins bedient habe und daß jedenfalls die Seligen im Himmel nur noch Latein reden würden (beatos in coelo Latine locuturos ). Das erste ist zwar so gut wie sicher falsch: Jesus muß mit Pontius Pilatus in der Allerweltssprache Griechisch gesprochen haben; die zweite Ansicht aber scheint doch zu erwägen. Jedenfalls fällt auf, daß der liebe Gott selbst, nach der Heiligen Schrift und den Vätern zu urteilen, zuerst Hebräisch, dann Griechisch, dann Latein gelernt hat, um, wie es scheint, bei dieser Sprache endlich stehen zu bleiben. Eine schönere, meinte er wohl, werde es nicht mehr geben. Außerdem dürfte es auch schwerfallen, sich im himmlischen Jerusalem auf irgend eine andere Sprache zu einigen; überall wären ja sonst die native speakers ihren Mitbrüdern überlegen: im Englisch die Oxforder, im Französisch die Pariser (wenn nicht die Genfer), im heiligen Hebräisch die heutigen Kinder Israel ... Nur Latein scheint hier eine gerechte und wahrhaft demokratische Lösung zu bieten: Latein können wir alle nicht.