Recht so! Nachdem die Wissenschaft in den vergangenen zwei Jahrzehnten zunehmend zu der Überzeugung gelangt ist, dass Senecas z.T. grausige Tragödien für das Theater, nicht für Rezitation oder gar stille Lektüre, bestimmt waren, hat sich ein früherer Student unseres Münchner Seminars, Udo Segerer, jetzt Studienrat in Rosenheim, mutig dazu aufgeschwungen, die „Medea“ des großen Dramatikers neu zu übersetzen und auf die Bühne zu bringen. Das Junge Schauspiel Ensemble München unter der Leitung seines Gründers Michael Stacheder hat sich für das Projekt begeistern lassen. Am 27. April war Premiere in der Münchner Reithalle, eine Tag später erhielten auch die Teilnehmer des Deutschen Altphilologenkongresses Gelegenheit, sich in einer Sondervorstellung von Senecas Bühnenqualitäten zu überzeugen.
Entgegen einer immer noch verbreiteten Auffassung, wonach die Stücke des Dichterphilosophen vor allem auf dem Wort beruhen würden, hat sich Seneca bemüht, die verbale Auseinandersetzung so viel als möglich in szenische Aktion zu verwandeln. So hat er vor allem, gegen das ausdrückliche Verbot des Horaz, den Kindermord der Medea nicht von der Bühne verbannt (Hor. ars 185 ne pueros coram populo Medea trucidet), sondern ihn als eine von Rachefurien inspirierte Wahnsinnstat blutig in Szene gesetzt. Regisseur Stacheder geht in dieser Richtung szenischen Verdeutlichens noch weiter. Nachdem bei ihm die Furien persönlich aufgetreten sind, um Medea zur Erdolchung ihres ersten Kinds zu hetzen, wirft diese das Messer von sich und beißt in irrwitziger Verzückung ihrem zweiten Spross, einem Säugling, die Kehle durch (sich selber, gut barock, mit Bühnenblut den Mund besabbernd). Diesem Seneca übersteigernden Bühnenschlussgräuel wird in der Inszenierung ökonomisch vorgearbeitet. Während ihres ersten Monologs nämlich bringt Medea, unter Assistenz ihrer Amme, eben das Kindlein zur Welt, das diesen Geburtstag dann nicht mehr überleben soll. Freilich bietet der Wortlaut des Monologs keinen eigentlichen Anhaltspunkt für dieses Spektakel; und die Aufmerksamkeit des Zuschauers wird durch Medeas Kreißen von der Hauptsache, Medeas Rachebrüten, abgelenkt.
Manche solcher szenischen Regieeinfälle dienen aber tatsächlich dem Verständnis und degradieren die Aufführung nicht zu einem willkürlichen (und letztlich langweiligen) Regietheater. Zum Beispiel: Medea, einstige Prinzessin von Colchis, versucht, sich die Solidarität des Königs Creo zu erschleichen, indem sie ihn, während ihrer Rede, zu einem griechischen Tänzchen animiert. Oder: Der für Jason und Creusa bestimmte Hochzeitschor wird als Schwarm alkoholseliger Zecher vorgeführt, die die verstoßene Medea auf offener Szene verhöhnen. Besonders schön gelingt die (allerdings stark gekürzte) Zauberszene, wo die barbusige und zum Zwecke der Magie hier sogar einmal Latein sprechende Medea ihr eigenes Blut verspritzt, um der Rivalin Creusa damit das Brautkleid zu verhexen. Wie nicht anders zu erwarten, ist die szenische Aktion umso besser, je mehr sie sich mit Senecas Absichten deckt. Und so geht, umgekehrt, eine andere, wichtige Szene daneben. Medeas große Auseinandersetzung mit Jason, in der sie einen letzten, gescheiterten Versuch macht, ihn doch noch für eine gemeinsame Flucht zu gewinnen, wird von Stacheder zur Verführungs- ja Knutschszene (à la Samson und Dalila) umgestaltet. Dadurch wird der dramatische Eckpunkt des ganzen Stücks beseitigt. Während bei Seneca Medea aus Jasons Sorge um den Eindruck, den er bei seinem künftigen Schwiegervater machen könnte (V. 530 suspecta ne sint, longa colloquia amputa), plötzlich erkennt, dass dieser längst überhaupt kein Gespräch mehr will, und während sie darum in völliger Desperation Jupiter um Vernichtung anruft (V. 531 f. nunc summe toto Iuppiter caelo tona, intende dextram), geht dieser für das Stück in jeder Hinsicht zentrale Wutausbruch in der neuen Inszenierung verloren: Medea mit ihrem Wunsch nach einem gemeinsamen Tod feiert hier nur einen kleinen genüsslichen Zwischentriumph im Vollgefühl ihrer weiblichen Reize – was für das Drama dann völlig bedeutungslos bleibt.
Die Fehlinterpretation dieser Szene dürfte auch mit der Person der Hauptdarstellerin zusammenhängen. Mit Suzanna Abel stand eine hochintelligente, junge und schöne Schauspielerin zur Verfügung. Wo sie etwa Gelegenheit hat, in witziger Argumentation ihren überlegenen Geist zu zeigen, weiß sie zu beeindrucken: Sie spielt ihre Souveränität so geschickt aus, dass es durchaus glaubwürdig wirkt, wenn sie von der Ermordung des alten Pelias oder der Zerstückelung ihres eigenen Bruders vergnügt wie von famosen Leistungen einer kriminellen Erfolgskarriere spricht: eine charmante Hexe. Aber Senecas Medea ist auch ein zutiefst leidendes Weib mit einer Vergangenheit, die sie selber quält: Nachdem sie aus Liebe zu allem fähig war, wächst sie nun in ihrem Hass noch über sich hinaus und wagt das Furchtbarste: Medea nunc sum ... (V. 910). Dieser Satz kann, bei allem Respekt, für die hochbegabte Darstellerin noch nicht gelten. Sie muss eine wirkliche Medea erst werden: Medea – fiam (V. 171).
Sonst wäre an dieser
durch und durch ernsthaften, um das Stück bemühten Aufführung noch
vieles zu rühmen: das einfache, aber sehr geschickte Bühnenbild, die
lebendige Einstudierung des Chors, der ungenierte Einsatz von
Bühneneffekten (ganz im Sinne Senecas). Man erlebt insgesamt einen
nicht
nur interessanten, sondern fesselnden Theaterabend. Vielleicht gelingt
es, bei einer späteren Inszenierung, den Ausdruckswillen des Regisseurs
noch besser mit Senecas Aussagewillen zu vereinen. Weiter so!