Vorwort zur Neuausgabe von V. v. Marnitz (Übers.), Ovids
erotische
Dichtungen, Stuttgart (Kroener)
Tantum se nobis elegi debere fatentur
quantum Vergilio nobile debet opus.
"So viel verdankt mir, wie sie zugibt, die Elegie,
wie dem Vergil die vornehme Gattung (das Epos) verdankt."
Mit diesen Worten (rem. 395 f.) rühmt Ovid, im ersten oder zweiten Jahr nach Christi Geburt, also vor nun genau zweitausend Jahren, sein Verdienst um die römische Literatur: Was Vergil zwanzig Jahre zuvor für das Epos geleistet habe – seine Aeneis war ja zum Nationalgedicht Roms geworden -, das habe er für die Elegie getan, die Gattung also, deren konstitutives Metrum, der Wechsel von Hexameter und Pentameter, in Rom seit beinahe einem halben Jahrhundert auf den Bereich der Liebesdichtung festgelegt war. Ovid wäre also, so sein stolzer Anspruch, der elegische oder, was fast dasselbe besagt, der erotische Nationaldichter der Römer. Was berechtigte ihn dazu? Wir müssen sein bisheriges Leben, sein Werk und seine Zeit betrachten.
Politisches und literarisches Umfeld
Als Publius Ovidius Naso am 20. März 43 v.Ch. als Sohn eines vermögenden römischen Ritters im Abruzzenstädtchen Sulmo, dem heutigen Sulmona, geboren wurde, war Rom in dem, seit der Vertreibung der Könige, kritischsten Jahr seiner Geschichte. Zur Entscheidung stand, ein Jahr nach dem Attentat auf den Diktator Caesar, ob der römische Staat wieder Republik werden, d.h. ob er im wesentlichen von der im Senat vertretenen Besitzaristokratie regiert werden oder ob er sich endgültig zu einer auf Militärmacht beruhenden Monarchie entwickeln sollte. Das Ende des turbulenten Jahres, das Ovid in seiner späteren Autobiografie treffend als das bezeichnet, "in dem beide Consuln (Hirtius und Pansa) vom selben Todesgeschick getroffen fielen" (trist. 4,10,6: cum cecidit fato consul uterque pari), markierte in der Tat den Tod auch republikanischer Freiheit. Der nachgewählte Consul, Caesars jugendlicher Adoptivsohn und Erbe Octavian, damals selbst Caesar genannt, der spätere Kaiser Augustus, hatte sich mit seinem bisherigen Erzfeind Marcus Antonius zu einem für den Senat fatalen Bündnis vereinigt (die Antonius zuliebe durchgeführte Liquidierung des Republikaners Ciceros, der Octavian publizistisch aufgebaut hatte, gab einen Vorgeschmack davon, wie der künftige Machthaber mit lästig gewordenen Intellektuellen umzuspringen gedachte); von jetzt an ging es vor allem noch darum, wer von den beiden einmal Roms zukünftiger Monarch sein sollte. Dies wurde dann im Jahr 31 – Ovid war gerade zwölf Jahre alt und las beim Grammatiklehrer z. B. den griechischen Komödien- und Liebesdichter Menander (vgl. trist. 2,370) – durch die Schlacht bei Actium blutig entschieden. Nun war Augustus, also der "Erhabene", wie er sich bald nennen ließ, so gut wie Herr der Welt, dem Senat und Volk um die Wette huldigten, obwohl er selbst, die eigene Macht herunter spielend, nur als princeps, d.h. ein "führender Bürger" gelten wollte und offiziell im Jahre 27 die Republik wiederherstellte.
Bald wollten sich auch Roms Schriftsteller, die in den
Dreißiger
Jahren, wohl durch Ciceros Ermordung eingeschüchtert, meist
vorsichtig
geschwiegen hatten, dem Allmächtigen nicht mehr versagen. Augustus
hatte es wohl gar nicht nötig, sie, wie man heute zu Unrecht
annimmt,
zum Preis seiner Taten anzuhalten bzw. seinen Freund Maecenas damit zu
beauftragen, durch sie die öffentliche "Meinung zu organisieren"
(so
eine berühmte, aber irreführende Formulierung des
großen
Historikers Ronald Syme aus dem Jahr 1939); man war schon von sich aus
erbötig, dem Mann zu huldigen, der Rom ja immerhin nach einem
Jahrhundert
schwerster innerer Unruhen und zwei Jahrzehnten akuten
Bürgerkriegs
Frieden und Ruhe gebracht, der alle, wie später Tacitus (ann. 1,2)
sagte, "mit der Süßigkeit der Muße geködert"
hatte.
Vergil widmete ihm hurtig sein großes neues Lehrgedicht über
die Landwirtschaft (die Georgica), durch deren Arbeitsethos er
das
im Bürgerkrieg verrohte Italien wieder moralisch zu heben hoffte;
hier stellte er Augustus, offenbar von sich aus, ein großes
diesen
verherrlichendes Werk in Aussicht (georg. 3,16 ff.), das dann
später
zur (nur noch indirekt huldigenden) Aeneis abgemildert wurde.
Und
Horaz, der zweite der großen, d.h. bis heute klassischen Dichter
dieser Zeit, schrieb, nachdem er noch unmittelbar nach Actium in einem
Gedicht Roms baldigen Untergang prophezeit hatte (epod. 16), nunmehr an
einer Sammlung von Liedern (den dann im Jahr 23 veröffentlichten
so
genannten "Oden"), in denen die Versmaße der größten
griechischen
Lyriker unter anderem dazu verwendet wurden, den Caesar, wie er
sich oft immer noch nannte, als Retter und Heiland seines Volkes zu
feiern,
ja ihm nach seinem Tod eine Zukunft neben Halbgöttern wie Hercules
und Romulus zu verheißen. Und sogar der noch weiter
republikanisch
gesonnene Historiker Livius dekorierte das erste Buch seines etwa vom
Jahr
27 an geschriebenen großen Geschichtswerks mit feinen
Schmeicheleien;
wenn er dort im übrigen altrömische Tugenden und Religion
feierte,
so war auch das durchaus im Sinne des nach außen hin mittlerweile
so konservativen, ja restaurativen Kaisers, der alte Bräuche
belebte,
Tempel- und Priesterschaften wiederherstellte, bald sogar eine
Sittenreform
ins Auge fasste.
Römische Liebeselegiker
Etwas widerstandfähiger waren die römischen Liebeselegiker, zu denen Ovid bald zählen sollte. Erwachsen war ihre Gattung – eine spezifisch römische Gattung, ohne genaueres griechisches Vorbild - aus der Not der Zeit von Caesars Diktatur, wo es der heranwachsenden Generation erstmals verwehrt war, nach den Spielregeln der alten Republik durch politische und rednerische Bewährung an die legale Macht zu kommen. Ein junger Dichter, C. Cornelius Gallus, ein Freund Vergils, provozierte und entzückte Rom (schon in den Vierzigerjahren) mit elegischen, heute leider verlorenen, Gedichten auf eine Libertine, Schauspielerin und Edeldirne mit Künstlernamen Cytheris, vorher Geliebte des Antonius, worin er dieser berühmten, aber gesellschaftlich zweitrangigen Dame als seiner domina, "Herrin", huldigte und seine Elegien – vier Bücher, wahrscheinlich unter dem Titel Amores - nur zu ihrem Gefallen zu schreiben behauptete; wohl wegen dieser ihrer musischen Kennerschaft nannte er sie auch, mit einem Beinamen des Musengotts Apollon, Lycoris, die "Apollinische". Wenn er hier, wie es scheint – ein Papyrusfund vor zwanzig Jahren hat einigen Aufschluss gebracht – politischem und militärischem Ruhm entsagte, um ganz seiner Liebe leben zu können, so entsprach dem allerdings keineswegs seine spätere Karriere: Gallus, den sein Freund Vergil schon etwa im Jahr 39 literarisch "an Liebe" hatte "sterben" lassen (ecl. 10,10), wurde ein General Octavians bei Actium und danach sogar Präfekt von Ägypten. Als er sich einige Jahre später, wegen unvorsichtiger Äußerungen im Weinrausch (Ov. trist. 2,446), mit Augustus überwarf, zwang ihn dieser, auch hier ohne Gnade, zum Selbstmord (im Jahr 26) – und der loyale Vergil hatte, wie überliefert ist, sein Lob des Gallus im vierten Buch der Georgica zu tilgen bzw. durch eine minder verfängliche Partie zu ersetzen.
Die Erben des Gallus waren um fast eine ganze Generation jünger und sie blieben, wie schon angedeutet, dem neuen Machthaber gegenüber zurückhaltender. Properz (Sextus Propertius), später ein Freund Ovids, der wohl erst etwa im Jahr 28 sein erstes, ganz meisterhaftes Liebeselegienbuch veröffentlichte, in dem er sich selbst als den willenlos ergebenen Sklaven einer Cynthia (wieder ein apollinisches Pseudonym) hinstellte, der in der Hölle der Liebe gepeinigt werde, ohne sich doch ein anderes Leben auch nur wünschen zu dürfen, ja sogar ohne die Aussicht, selbst durch den Tod davon loszukommen – dieser, wie wohl nie ein Dichter vor ihm, der Liebe zu einer, einer einzigen Frau ergebene Properz verweigerte sich nicht nur explizit einer politischen Laufbahn, die mit entsprechender Einschränkung auch unter Augustus möglich und erwünscht gewesen wäre; er deutete auch an, dass seine eigene Familie durch Octavians perusinischen Krieg – der Name Perugia signiert dessen blutigste Gräueltat – getroffen worden war (Prop. 1,22, vgl. 1,21). Auch als später Maecenas in ihn drang, mit gewichtigeren literarischen Werken, vor allem wohl einem Epos, zum Ruhm des augusteischen Roms beizutragen, entzog er sich dieser Zumutung (2,1; 2,10; 3,9), wie er auch, so sagte er kecklich, an eine rechtmäßige Ehe nebst Zeugung römischer Soldaten nicht denken wolle (2,7) -, nicht ohne dabei aber doch auch einige vorsichtige Huldigungen an den bzw. die Mächtigen einfließen zu lassen. In seinem vierten und letzten Elegienbuch schloss er schließlich einen gewissen Kompromiss, indem er das Liebesthema zwar nicht völlig aufgab, es aber nunmehr doch als seine Hauptaufgabe hinstellte, im Sinne der kaiserlichen Restaurationspolitik römische Kulte und Feste in Elegien zu erläutern, und dabei auch dem Sieger von Actium (4,6) und der mittlerweile staatlich geförderten römischen Ehe (4, 11) kräftig huldigte.
Etwas entschiedener als er hielt sein etwa gleichaltriger Dichterkollege, der mit dem Messalla, einem dem Kaiser etwas ferner stehenden Politiker, befreundete Tibull, Albius Tibullus, an der alten Aufgabe der Elegie fest, für die "Herrin" und nur für sie geschrieben zu sein (neben zwei Frauen, Delia und Nemesis, erscheint bei ihm auch ein umworbener Knabe, Marathus): ad dominam faciles aditus per carmina quaero: / ite procul, Musae, si nihil ista valent (2, 4,19 f.: "Einen leichten Zugang zur Herrin suche ich durch die Gedichte: / Geht fort, ihr Musen, wenn sie das nicht leisten!"). Als er im Jahr 19 v.Chr. starb, war, wie ein Epigrammatiker, Domitius Marsus (unter Nichtbeachtung, inzwischen zu Recht, des Properz) formulierte, keiner mehr da, der wie er "um zarte Lieben in Elegien hätte weinen können" (elegis molles qui fleret amores).
Denn der vierte Elegiker, Ovid, um nun auf ihn zu kommen, war gewiss
kein Mann einer solchen klagenden, vor allem durch Weinen und
Unterwürfigkeit
die Geliebte rührenden Elegie, wie sie es bei Tibull, beim
frühen
Properz und wohl auch schon bei Gallus gewesen war. Wenn er sich,
entschiedener
noch als die anderen Dichter in den beiden Jahrzehnten nach Actium,
schon
in seinem ersten Werk, den Amores von Augustus und darüber
hinaus von einem konventionellen römischen Lebensideal
distanzierte,
so nicht, wie z.T. Properz, durch den Hinweis auf sein düsteres
Lebensschicksal,
das ihm keine andere Wahl lasse, sondern durch das freudige Bekenntnis
zu einem Dasein, das ihm eben durch die Liebe lohnend und genussreich
schien.
Ein neuer Klang in der Liebesdichtung der Römer!
Ovids literarische und rhetorische Bildung
Aber noch wichtiger als die Liebe scheint ihm, nach eigenem, späteren Zeugnis, die Dichtung gewesen zu sein. Schon als Knabe, so erzählt er, d.h. als er noch beim erwähnten grammaticus (Sprach- und Literaturlehrer) die römischen und vor allem auch griechischen Klassiker las, habe ihn "die Muse verstohlen zu ihrem Werk gezogen" (trist. 4, 10, 20); er schrieb Verse. Natürlich absolvierte er dennoch die übliche, sich an den Grammatikunterricht anschließende Ausbildung beim Redelehrer, rhetor – der heute übliche Ausdruck "Rhetorenschule" ist insofern etwas irreführend, als er verschiedene Lehrer an einer kollektiven Einrichtung suggeriert -, wo vor allem das "Deklamieren" in suasoriae (beratenden Reden) und controversiae (Gerichtsreden) geübt wurde. Zufälligerweise kennen wir noch aus einem Werk des älteren Seneca die beiden berühmten Hauptlehrer Ovids mit Namen: Arellius Fuscus und Porcius Latro (dem Ovid später sogar durch wörtliche Zitate huldigte); und vor allem kennen wir aus ihm den Prosastil, der damals und auch in der folgenden Kaiserzeit in der rhetorischen Ausbildung gepflegt wurde und der in Rom etwas völlig Neues war. Es kam nicht mehr nur darauf an, durch Einwirkung auf Verstand und Gefühl überzeugend zu sprechen (obwohl dies immer Aufgabe der Rhetorik blieb); vom Redner wurde darüber hinaus erwartet, überraschende Gedanken in ungewöhnlicher Weise, möglichst knapp und zugespitzt zu formulieren, mit wenigen Worten viel zu sagen oder erraten zu lassen. Das Ergebnis hieß: sententia, was so viel bedeutete wie "Pointe", "Concetto", "Highlight" (lumen) der Formulierungskunst. Wie die Werke des jüngeren, des Philosophen Seneca eben dadurch von Ciceros philosophischen Schriften fühlbar verschieden sind, dass in ihnen ständig der Gedanke zu solchen sententiae verdichtet wird, so unterscheidet sich auch Ovid von sämtlichen früheren römischen (und wohl sogar griechischen) Dichtern durch eben diesen dem zeitgenössischen Rhetorikunterricht verdankten Pointenstil (dem Ovid heute die an sich nicht unrichtige, aber nichtssagende Charakterisierung als "rhetorisch" verdankt).
Sogleich der Beginn seines ersten Werks, der Amores, bietet ein instruktives Beispiel. Ovid teilt mit, dass er sein früher in fünf Büchern (d.h. Papyrusrollen) erschienenes Werk auf drei redigiert bzw. verkürzt habe, indem er – darin altem Epigrammstil folgend - seine Bücher selber reden lässt:
Qui modo Nasonis fueramus quinque libelli,
tres sumus: hoc illi praetulit auctor opus.
"Die wir eben noch fünf Bücher Nasos (Ovids) gewesen
waren,
wir sind nun drei: Diesem Werk hat der Verfasser vor jenem den Vorzug
gegeben."
Als Begründung erwartet man, dass Ovid durch diese Verschlankung eine höhere poetische Dichte und Qualität habe erziehen wollen (und so mag es ja auch gewesen sein). Aber mit köstlicher Ironie tut Ovid, als habe er aus ganz anderen Absichten heraus schier mechanisch gekürzt:
ut iam nulla tibi nos sit legisse voluptas,
at levior demptis poena duobus erit.
"Sollte es dir also schon kein Genuss sein, uns gelesen zu haben,
so wird die Pein doch, nachdem zwei Bücher fort sind, geringer
sein."
Das ist gerade nicht, wie man neuerdings geglaubt hat, der Gedanke des hellenistischen Dichters Kallimachos, wonach grundsätzlich "ein großes Buch ein großes Übel" wäre –
auch sonst bekennt sich Ovid durchaus nicht zu dessen Kunstprinzipien -, sondern eine eigene und ironisch originelle Pointe.
Die meisten Gedichte der Sammlung enden mit solchen sententiae (die aber auch schon innerhalb der Gedichte eine wichtige Rolle spielen). Nur noch die nächsten beiden Beispiele seine erwähnt. Nachdem sich Ovid im ersten Gedicht der Amores (1,1) zur Elegiendichtung entschlossen hat, spricht er im letzten Vers (30) von seiner "Muse" als einer, die nunmehr "in elf Füßen musiziert werden muss" (Musa per undenos emodulanda pedes: weil der Hexameter aus sechs und der Pentameter aus fünf Versfüßen nach Adam Riese eben zusammen elf Füße ergeben). Und am Ende des zweiten Gedichts (1,2), wo er sich dem Liebesgott Amor feierlich unterwirft, mahnt er seinen neuen Patron, sich nunmehr an die außenpolitischen Grundsätze des Augustus zu halten (V. 51 f.):
aspice cognati felicia Caesaris arma:
qua vicit, victos protegit ille manu.
"Sieh an die erfolgreichen Waffen des dir verwandten Caesar:
Mit der Hand, mit der er gesiegt hat, schützt er auch die
Besiegten."
Den im Krieg Unterworfenen alsbald als Schutzbefohlenen zu behandeln, ist ein schon altrömisches Prinzip ehrbarer Kriegsführung, dem Augustus wieder besonders huldigte. Es war überraschend genug, gerade diese Maxime auf den leichtsinnigen, stets als Kind dargestellten griechischen Liebesgott (Eros bzw. Amor oder Cupido) übertragen zu sehen; vollends paradox aber war dabei Ovids ingeniöse Entdeckung, dass Augustus und Amor ja sogar blutsverwandt seien, indem der römische Monarch als Mitglied der gens Iulia, wenn auch sehr weitläufig (und per Adoption Caesars), von derselben Venus abzustammen behauptete, die auch unmittelbare Mutter des Amor war. Wie jeder gute Römer hat sich also der Liebesgott an die moralischen Grundsätze besonders der eigenen Familie zu halten!
Seneca, der Ältere, gibt uns auch das ausführliche
Beispiel
einer "Deklamation" (Schul- bzw. Übungsrede), durch die Ovid schon
während seiner Lehrzeit bei Arellius Fuscus auf sich aufmerksam
gemacht
und sogar seinen Lehrmeister übertroffen habe (sie betraf
interessanterweise,
obschon Gerichtsrede, ein vor allem erotisches Thema). Wie es der
rhetorische
Unterricht nahe legte, behielt der junge Ovid, trotz seiner frühen
Neigung zur Poesie, eine politische Karriere im Auge und bekleidete
erfolgreich
diverse öffentliche Ämter; erst als es darum gegangen
wäre,
sich, um in den Senat zu kommen, dem Wahlkampf um die Quaestur
auszusetzen,
strich er die Segel, um sich, wie er später sagte, der
"gefahrlosen
Muße zu widmen, die ich nach eigenem Urteil immer geliebt habe"
(trist.
4, 10,39 f.), d.h. ganz für die Literatur da zu sein. Er nennt uns
auch die Dichter, mit denen er in seiner Jugend befreundet war (a.O. 43
ff.). Properz, der dann für ihn als Liebeselegiker so wichtig
wurde,
pflegte ihm seine noch unveröffentlichten "feurigen Verse" (ignes)
vorzutragen; dazu kamen einige andere, uns heute weniger bekannte,
literarische
Größen. Horaz, den großen Lyriker, konnte er immerhin
persönlich hören (offenbar beim Gesang eigener Gedichte im
kleineren
Kreis); bei Vergil und besonders bei Tibull stellt Ovid
ausdrücklich
fest, dass die Zeit für eine Bekanntschaft oder gar Freundschaft
gefehlt
habe. Beide starben, als Ovid erst vierundzwanzig Jahre alt war –
immerhin
schon damals ein durch veröffentlichte Werke bekannter Dichter.
Das erste Werk: Amores
Als ernsthafter Literat weist man sich im augusteischen Rom dadurch aus, dass man in "Rezitationen" (recitationes) – nicht zu verwechseln mit unseren ganz anders gearteten Dichterlesungen – die eigenen, regelmäßig noch unpublizierten Werke vor einem Publikum vorträgt, um sie so gewissermaßen auf ihre Wirkung hin zu testen. Ovid tat das, als ihm "der Bart ein oder zwei Mal gestutzt war" (trist. 4,10,58), d.h. im Alter von etwa achtzehn Jahren – weder das erste Rasieren noch die spätere depositio barbae ("Bartablegung") ist gemeint, sondern das Trimmen des Bärtchens, das reifere römische Teenager tragen, bevor sie sich als endgültig Erwachsene glatt rasieren -, also ungefähr im Jahr 25 (als Tibull gerade sein erstes, Properz sein zweites Buch veröffentlichte). Es war offenbar die erste Fassung der schon erwähnten Liebeselegien, die er später als Amores herausbrachte, denn (a.O. 59 f.):
moverat ingenium totam cantata per urbem
nomine non vero dicta Corinna mihi.
"Inspiriert hatte mich die Frau die dann überall in der ganzen
Stadt gesungen wurde,
sie, die ich, nicht mit ihrem wahren Namen, Corinna nannte."
Daraus ergibt sich klar, dass Ovids Gedichte sofort in Rom Furore machten, von Mund zu Mund gingen, und, was sich von selber verstünde, wenn es nicht seit zwei Jahrhunderten hartnäckig geleugnet würde, dass Corinna, die Geliebte seiner Elegien, zunächst einmal eine lebendige Person war. (Früher bestritt man das aus einem romantischen Vorurteil der Empfindsamkeit: Ovids Gedichte seien zu wenig gefühlshaltig, als dass sie ‚erlebt‘ sein könnten; heute aus einem Vorurteil der antiromantischen Literaturwissenschaft, wonach Liebesdichter grundsätzlich nur Fiktion produzieren – die Literaturgeschichte straft auch dieses Dogma Lügen.) Wir kennen diese Gedichte heute nur noch in der Fassung, die ihnen Ovid wesentlich später gegeben hat. Nachdem nämlich seine Amores zunächst (wie die Elegien des Properz) offenbar Buch für Buch, insgesamt fünf Bücher, in wohl regelmäßigem Abstand erschienen waren – denn dass er sie in dieser Form, wie neuerdings vermutet, unveröffentlicht in der Schublade gelassen hätte, ist mehr als unwahrscheinlich; aber auch von einer "ersten Auflage" sollte man nicht sprechen -, entschloss sich der gereifte Dichter vielleicht schon ungefähr im Jahr 15, wahrscheinlich aber erst wesentlich später (vgl. unten
S. ?? ), zu einer Neuausgabe in drei Büchern, deren witziges Einleitungsepigramm wir bereits kennen gelernt haben. (Im allgemeinen gehen die Zeitanspielungen im jetzigen Werk auf die Jahre 19 bis 16; wenn wir aber in am.1,14,45-49 von einem "Triumph" über die germanischen Sygambrer lesen, die der Geliebten "nunmehr", nunc, eine blonde Perücke liefern, so scheint sich das, wie von Ronald Syme gezeigt, auf den Feldzug erst des Jahres 8 v.Ch. zu beziehen.) Formales Vorbild dieser Neuausgabe waren wohl die drei Odenbücher des Horaz (von 23 v.Ch.), in denen – erstmals in der antiken Literaturgeschichte, soweit wir sehen – Einzelgedichte vom Verfasser nicht nur zu einem in sich strukturierten Buch (wie Vergils Eklogensammlung oder dem ersten Buch des Properz), sondern zu einem mehrere Bücher umfassenden Corpus zusammengestellt waren. Und einfacher als Horaz, der seine Lieder in eine die äußeren Buchgrenzen (38+20+30 Gedichte) z.T. überspringende Ordnung eingeteilt hatte, disponiert Ovid nach Büchern, die pentadische Zählung ermöglichen: Buch 1: 15, Buch 2: 20, Buch 3: 15 Gedichte (am. "2,9" wäre nach ursprünglicher Zählung in 2,9 [= 2,9a] und 2,10 [= 2,9b] zu teilen; dasselbe gilt wohl für "3,11", was freilich voraussetzt, dass "3,5", wie meist angenommen, unecht ist).
Für Ovid hieß das, dass er, wie Horaz in den Oden, das chronologisch reihende Prinzip, das im Aufbau seiner Werke sonst eine große Rolle spielt, hier zurückdrängt. Insofern sind diese Elegien freilich noch einigermaßen romanhaft, als an ihrem Anfang der Beginn des Elegiendichtens (am. 1,1) und der Verliebtheit (am.1,1; 1,2) steht, sowie die erste Wendung an die Geliebte (am.1,3), die zunächst noch in fremden Händen scheint (1,4); auch liegt es im Sinn einer chronologischen Folge nahe, dass der Dichter am Ende der Sammlung "Corinna" verliert (3,12) und sich von Venus und den Liebeselegien verabschiedet (3,15), was schon am Anfang des dritten Buchs (3,1) angekündigt war. Im übrigen sind zwar gerne zwei nebeneinander stehende Gedichte auch zeitlich einander zugeordnet (wie 1,11/12; 2,2/3 usw.) aber größere zyklische Einheiten mehrer zeitlich-thematisch verbundener Elegien werden kaum hergestellt, vielmehr scheint hier eher eine gewisse Buntheit angestrebt, wobei die thematischen Bezüge (sofern sie ohne chronologische Implikation sind) gerne auch über die Buchgrenzen hinweg gehen: Ovids emphatischer Beteuerung seiner monogamen Ausrichtung auf die Eine in 1,3 steht das Bekenntnis unüberwindlicher Flitterhaftigkeit in 2,4 gegenüber; der halbironischen Mahnung an einen Rivalen, sein Mädchen besser zu bewachen in "2,19" (= 2,20), kontrastiert die gegensätzliche in 3,4, dass eben dieses Bemühen sinnlos und kontraproduktiv sei; dem (fast parodistischen ) Klagegedicht auf einen verstorbenen Papagei in 2,6 entspricht die (ergreifendere) Totenklage um Tibull in 3,9.
Am ehesten lassen sich noch einige Gedichte des ersten Buchs zyklisch miteinander verknüpfen. Wenn Ovid der (noch ungenannten) Geliebten in 1,3 ewigen literarischen Ruhm verheißt, so wird dieses Versprechen sinnvollerweise erst durch die Namensnennung und Lobpreisung in 1,5 eingelöst, weil sich dort "Corinna", indem sie sich Ovid hingibt, ihre Unsterblichkeit gewissermaßen verdient. Die böse Zuhälterin (lena – die heute gebräuchliche Übersetzung mit "Kupplerin" ist eher verwirrend), die dann in 1,8 dem Mädchen seinen Dichter zugunsten eines zahlungskräftigeren Rivalen ausreden will, sieht in seinen Versen nichts als wertlose "neue Lieder" (V. 57 nova carmina). Ovid muss also der Geliebten, die in 1,10 nun plötzlich von ihm – offenbar der Zuhälterin folgend – habhaftere Geschenke fordert, noch einmal klar machen, dass seine immaterielle Gabe eben darum unvergänglich ist (V.59-62). So weit düften also wenigstens vier in relativer Nähe befindliche Gedichte sachlich und zeitlich miteinander zusammenhängen. In der Großstruktur ist gerade auf sie Bezug genommen, wenn Ovid in am. 3,12, seinem hintergründigsten Gedicht überhaupt, darüber klagt, dass er eben wegen des Lobpreises von Corinna diese verloren habe (wo er sie doch damit hatte gewinnen wollen): die reductio ad absurdum eines für die römische Liebeselegie fast konstitutiven Topos.
Aber solche Bezüge sind, wie gesagt, eher ungewöhnlich. An manchen Stellen scheint die Stellung der Gedichte einer vernünftigen Abfolge geradezu zu widersprechen. Obwohl Ovid bereits in 1,1 durch einen Pfeilschuss Amors verliebt ist – dass von einer Geliebten dort noch nichts gesagt wird, hebt diesen Tatbestand nicht auf -, meint er in 1,2 zunächst, es könne doch wohl keine Liebe sein, die ihn schlaflos mache - bis er sich, erneut, vom Gegenteil überzeugt (hier könnte Ovid zwei Einleitungsgedichte ursprünglich verschiedener Bücher nebeneinander gestellt haben). Völlig überraschend kommt in der Mitte erst des zweiten Buchs der plötzliche Triumphjubel, dass "Corinna" soeben erobert worden sei (2,12) Und noch sonderbarer ist es, wenn sich in 3,1 Frau Tragoedia, die personifizierte Gattung der Tragödie, um Ovid als ihren zukünftigen Dichter bemüht (dem entspricht 3,15,17 f.), obwohl dieser nach dem vorausgehenden Zeugnis von 2,18 bereits eine Tragödie geschrieben hat (V. 13 f.; die genaue Interpretation ist allerdings umstritten). Klar sieht man, dass die Beziehung dieser Gedichte aufeinander nicht immer im Sinne eines Nacheinander verstanden werden darf.
Weithin unbestimmt bleibt, welche Elegien überhaupt auf "Corinna" (die im Lauf des Werks zunehmend weniger genannt wird, zuletzt 3,12,16) zu tun haben sollen. Während man die Gedichte des ersten Buchs ihr mit einiger Mühe noch alle zuordnen kann, ist klar, dass Ovid sowohl am Anfang des zweiten (2,2) als an dem des dritten (3,2) jeweils eine neue Liebschaft beginnt – ohne dass ebenso deutlich wäre, wie sich diese nun jeweils entwickelt, wo und wie sie endet, ja wie sich Corinna, die angeblich einzige Heldin von Ovids Dichtung (so frappanterweise noch in 2,17,33 f.) zu ihr und manchen anderen einstellt. Nur gerade in 2,7 hören wir einmal die nur allzu berechtigte Stimme ihrer Eifersucht, die Ovid in raffiniert sophistischer Argumentation für grundlos erklärt, um dann im nächsten Gedicht, das Corinna aber gar nicht lesen darf – ein Novum in der römischen Liebeselegie –, ausdrücklich zu widerrufen). Sonst sind Ovids Elegien in dieser Hinsicht fast ebenso wenig untereinander verknüpft wie die Liebesgedichte in den (strukturell ja vorbildlichen) Oden des Horaz, wo sich Liebesobjekte sogar verschiedenen Namens ohne Interferenz nebeneinander tummeln (auch Tibulls erstes Buch, mit den beiden Geliebten Delia und Marathus, ist hier z.T. vergleichbar).
Einheit schafft diesem ersten Meisterwerk Ovids nicht der thematische Zusammenhang eines auch nur fiktiven Handlungsfortschritts – obwohl zahlreiche Versuche in dieser Richtung gemacht wurden -, die Einheit resultiert aus der des Tons und des Charakters. Ovid – wir haben es schon angedeutet – ist nicht der schmachtende Liebhabertyp, den in verschiedener Ausprägung seine älteren Zeitgenossen Tibull und Properz verkörpern; er stellt einen normaleren, robusteren, humorvolleren, der römischen Realität wahrscheinlich mehr entsprechenden Charakter dar, einen jungen Mann, dem es in der Liebe vor allem auf den Genuss ankommt, nicht nur auf den krud sinnlichen, sondern vor allem auch den, der im Liebesspiel besteht und zu dem – variatio delectat - gerade auch vorübergehende Schmerzen gehören können. Am grundsätzlichsten äußert er sich in beiden Elegien, die wohl nicht zufällig arithmetisch genau in der Mitte des Corpus stehen: 2,9b (= 2,10) und 2,10 (= 2,11). Während er in 2,9a den ihn seit 1,1 und 1,2 beherrschenden Liebesgott bittet, ihn endlich von der Liebe zu befreien – wir kennen solche Töne aus Properz und Tibull -, bringt 2,9b sofort einen glatten Widerruf (V. 25 f.):
Vive deus posito, si quis mihi dicat, amore,
deprecer: usque adeo dulce puella malum est.
"Wollte mir einer sagen: ‚Lebe wie ein Gott, aber ohne Liebe‘,
so verbäte ich es mir: Das Mädchen ist doch ein gar zu
süßes
Übel."
Ohne Liebesleidenschaft zu leben, wäre nach (hierin übereinstimmender) Ansicht der Philosophen, Voraussetzung für ein seliges, damit göttergleiches Dasein – man muss also nicht, wie die Editoren, gegen die Wortstellung deus si quis mihi dicat, "wenn ein Gott mir sagen würde", verbinden -: Ovid aber ist nunmehr, fern dieser Weisheit, wie der Turridu in Mascagnis Cavalleria rusticana bereit, zur Hölle zu gehen, wenn er im Paradies sein Mädchen nicht findet. Und das ist weniger Schwäche, obwohl es auch Schwäche ist (V. 29-34), als vielmehr ein fast masochistischer Willensentschluss, wie sich in der Bitte an den bogenbewaffneten Cupido kund tut (V. 35 f.):
fige, puer: positis nudus tibi praebeor armis;
hic tibi sunt vires, hic tua dextra facit.
"Triff mich, Knabe! Waffenlos und nackt bin ich dir ausgesetzt:
Hier bist du stark; hier kann deine Rechte wirken."
Ein Leben ohne Liebe wäre wie ein frühzeitiger Tod: V. 39-42), meint Ovid, so weit in Übereinstimmung mit einem berühmten Ausspruch eines alten griechischen Elegikers, Mimnermos von Kolophon; neu ist, dass dazu gerade auch die Frustrationen und Leiden der Liebe gehören (43-46):
me modo decipiant uoces fallacis amicae
(sperando certe gaudia magna feram),
et modo blanditias dicat, modo iurgia nectat;
saepe fruar domina, saepe repulsus eam.
"Mögen mich bald die Worte der trügerischen Geliebten
täuschen
(schon das Hoffen wird mir jedenfalls große Freuden schenken),
und möge sie bald Schmeicheleien sagen, bald Streitereien
anfangen;
möge ich oft die Herrin genießen, oft auch
zurückgewiesen
von ihr gehen!"
Ovid liebt nicht nur die Geliebte, sondern auch besonders die Liebe selber, egal was sie bringt. Sogar der Liebestod, hören wir im folgenden Gedicht (2,10, eigentlich 2,11) -, dem "Herzstück der ganzen Sammlung" (Michael von Albrecht) - wäre Ovid erwünscht, freilich ein Liebestod auf ganz ovidische Weise (anders jedenfalls als Properz ihn sich gedacht hat). Wie der ruhmgierige Soldat auf dem Feld der Ehre sein Leben lässt, der geldgierige Handelskaufmann auf dem Meer, so soll sein Tod auf dem Lotterbett der Venus stattfinden (2,10,29-34); V. 35-38:
at mihi contingat Veneris languescere motu,
cum moriar, medium solvar et inter opus;
atque aliquis nostro lacrimans in funere dicat:
‚conveniens vitae mors fuit ista tuae.‘
"Mir aber sei es vergönnt, in der Bewegung der Venus zu
vergehen,
wenn ich einmal sterbe, und mitten beim Akt zu erschlaffen;
und es sage dann einer mit Tränen bei meiner Bestattung:
‚Das war ein Tod, der deinem Leben entsprochen hat.‘"
Welch ein Nachruf! Das Anstößige, das die römische Liebeselegie wohl von ihren Anfängen her hatte, hat in diesem krass sinnlichen Hedonismus eine neue Dimension gewonnen. Man denke, dass einige Jahre zuvor der (mittlerweile staatsfromme römische) Horaz den "Tod für die Vaterstadt" als "süß und ehrenvoll" verherrlicht hatte (carm. 3,2,13 dulce et decorum est pro patria mori).
Und noch in anderer Weise provozierte Ovid seine Leser und vor allem den römischen Monarchen. Im Jahre 18 v.Ch. hatte Augustus zur Hebung der laxen Sexualmoral seine berühmten Sitten- bzw. Ehegesetze erlassen, deren eines, die lex Iulia de adulteriis ("über Ehebruch"), zum ersten Mal in der europäischen Rechtsgeschichte den "Ehebruch" (d.h., nach antiker Einschränkung, den geschlechtlichen Verkehr der verheirateten Frau mit einem anderen als ihrem Ehemann) zu einem strafrechtlichen Vergehen – wie im Deuteronomium der Juden – machte: eine die Öffentlichkeit erregende Neuerung, um so sensationeller, als darin empfindliche Strafen nicht nur für die beteiligten Ehebrecher vorgesehen waren, sondern etwa auch für den Ehemann, der ein einschlägiges Vergehen seiner Gattin toleriert hatte (lenocinium mariti, "Zuhälterei durch den Gatten", hieß das juristische Stichwort). Vielfach und mit Bosheit kommentiert Ovid schon in den "Amores" diesen neuartigen Eingriff des Staats in das Privatleben. Zwar spielt sein Werk außerhalb des eigentlichen Bereichs der römischen Ehe, denn Corinna, wie auch die sonstigen Damen der römischen Liebeselegie (seit Lycoris), sind nicht als Ehefrauen, sondern als Angehörige niederen Standes, vor allem als unverheiratete Libertinen, freigelassene Sklavinnen, zu denken –aus ihnen rekrutieren sich ja herkömmlicherweise die Objekte der "freien Liebe", die man in Rom der vornehmen männlichen Jugend konzediert (vgl. unten S. 16 ??) -; da aber diese Liebesbeziehungen zu Libertinen eben doch in der Regel zu dauernderen Verhältnissen führten, bei denen ein Mädchen einen vir ("Mann") hatte, mit dem sie sich auch in der Öffentlichkeit zeigte und der sie als die "Seine" (sua), als domina ("Herrin", was zu Ovids Zeit schon abgegriffen war), ja sogar als coniunx ("Geliebte", in der Regel allerdings: "Ehefrau") reklamieren konnte, gab es auch in dieser Welt der außerehelichen Liebe zumindest Analogien zu ehelicher Treue und Ehebruch, und etwa Tibull konnte seine Delia geradezu zur "Keuschheit" mahnen (1,6,67 sit modo casta ..., auch wenn sie, wie hier sogar ausdrücklich gesagt, keine Ehefrau sei).
Vor allem wohl aus diesem Grund geht es in Ovids "Amores" vom vierten Gedicht, besonders aber vom zweiten Buch an sehr häufig um das Thema des Betrugs, und zwar in einer Weise, die fast notwendig Erinnerungen an das Ehebruchsgesetz wachrufen muss. Bald ist das Mädchen, um das Ovid wirbt - Corinna oder eine andere - selber in der Hand eines vir, den es mithin auszutricksen gilt (so deutlich im erwähnten Gedicht am. 1,4, dann in 2,2; 2,3 usw.) oder aber er selber ist der vir, der vor Seitensprüngen der Geliebten Angst haben muss (so zuerst in 2,5). Die kühnsten Anspielungen auf das Gesetz finden sich in den Elegien 2,19; 3,4 und 3,14. Betrachten wir nur die erste davon! In 2,19 (eigentlich 2,20), dem Schlussgedicht des zweiten Buchs, beklagt sich Ovid beim "Mann" des Mädchens (nicht mehr Corinnas) paradoxerweise darüber, dass dieser sein Mädchen nicht besser bewache, da er, Ovid, dann die Lust an der Eroberung verliere! Das hier zugrundeliegende psychologische Gesetz, wonach gerade die verbotenen Kirschen die süßeren sind, lässt sich leicht in dem Sinn auf das Ehebruchsgesetz anwenden, dass die staatlich verordnete Bewachung der Ehefrauen die Begehrlichkeit präsumptiver Ehebrecher nur steigern müsse. Ovid erinnert daran, indem er, scheinbar fahrlässig, von uxor, "Gemahlin" (statt korrekt von puella) spricht (ohne dabei allerdings explizit das in Frage stehende Mädchen als uxor zu bezeichnen), V. 45 f.:
ille potest vacuo furari litore harenas,
uxorem stulti si quis amare potest.
"Der bringt es fertig, am herrenlosen Ufer die Sandkörner zu
stehlen,
der es fertig bringt, die Gattin eines Dummkopfs, zu lieben."
Dann protestiert er gegen den vir, indem er ihn als Quasi-Ehemann an seine gesetzlichen Hüterpflichten erinnert, V. 51: lentus es et pateris nulli patienda marito ("du bist gleichgültig und duldest, was kein Ehemann erdulden darf" – wobei auch hier die Formulierung es unbestimmt lässt, ob der Angeredete selbst maritus, "Ehemann", ist oder nicht); und völlig unzweideutig ist die Anspielung auf das Gesetz, wenn Ovid in geradezu juristischer Terminologie auf das erwähnte lenocinium mariti abhebt, V. 57: quid mihi cum facili, quid cum lenone marito? ("Was soll ich mit einem gefälligen Gatten, was mit einem der den Zuhälter macht?"). Obwohl sich Ovid dem äußeren Anschein nach wie Augustus gegen die falsche Toleranz der "Männer" wendet, konnte jener hier nicht amüsiert sein – noch weniger, wenn er im folgenden Buch einmal las (3,4,37 f.):
rusticus est nimium quem laedit adultera coniunx,
et notos mores non satis urbis habet,
in qua Martigenae non sunt sine crimine nati
Romulus Iliades Iliadesque Remus.
"Der ist ein Tölpel, der sich über die Ehefrau
ärgert,
die fremd geht,
und wenig vertraut ist er mit den Sitten der Stadt,
in der auch die Marsssprösslinge nicht ohne Sünde geboren
wurden,
Romulus, Sohn der Ilia und, Sohn der Ilia, Remus."
Hier erinnert Ovid den die adultera coniunx bekämpfenden
römischen Monarchen daran, dass sogar Gott Mars, der
göttliche
Stammvater Roms, indem er durch Schwängerung der Jungfrau Ilia den
Stadtgründer Romulus samt seinem Bruder zeugte, sich gegen das
Gesetz
des Augustus vergangen hatte, in welchem nämlich auch der
Geschlechtsverkehr
mit dem unbescholtenen Mädchen (als stuprum) unter Strafe
gestellt
war. Es fehlte nicht viel, Ovid hätte frecherweise auch noch
angedeutet,
dass sich die Familie des Augustus, die gens Iulia, von
einem
förmlichen Ehebruch der Göttin Venus, mit Anchises,
herleitete
(denn daran, dass der Tugendwächter Augustus selbst ein
notorischer
Ehebrecher war, dachten Ovids Leser schon von allein).
Die Epistulae (heroidum)
In der Elegie 2,18 (eigentlich 2,19), einem Gedicht, das man mit gutem Grund meist erst der endgültigen Ausgabe der Amores in drei Büchern zuschreibt, spricht Ovid, wie schon erwähnt, von einer Tragödie, die er verfasst habe, was er als zeitweiligen Ausbruch aus dem Bereich der Liebesdichtung interpretiert (13 f.). Es handelt sich dabei um die für Ovid bezeugte, uns leider verlorene Medea, die in der Antike als ein Meisterwerk der römischen Literatur gegolten hat (Quint. inst. 10,1,98; Tac. dial. 12,6). Der von Euripides für die Bühne erschlossene Stoff, den schon der alte Tragiker Ennius lateinisch bearbeitet hatte, gab Ovid erstmals Gelegenheit, die dämonische Seite der Liebe, die, in Rachezorn verwandelt, eine Frau zur Mörderin ihrer Kinder machen kann, darzustellen; das lag weit ab von der insgesamt heiteren Welt der Amores und zeigt die Spannweite seiner Begabung und seines dichterischen Interesses (dass er "dieser Gattung völlig gewachsen war", sagt er an der zitierten Stelle selber) . Wenn Ovid später beiläufig einmal feststellt (trist. 5,7,27): nil equidem feci – tu scis hoc ipse - theatris ...("Ich habe nichts – das weißt du selber – für die Theater geschrieben"), so heißt das nicht, dass seine Medea, wie oft angenommen, ein bloßes Lesedrama gewesen wäre – eine der Antike unbekannte Gattung -, noch viel weniger, dass er, wie man jetzt vermutet hat, das von ihm auch sonst bezeugte Werk (trist. 2,553 f.)überhaupt nicht verfasst hätte (so dass also Quintilian und Tacitus, die es ja bewunderten, auf eine Fälschung hereingefallen wären, die wir Nachgeborenen, ohne sie auch nur zu kennen, entlarven könnten), vielmehr, wie der nachfolgende Vers eindeutig klar macht, dass es ihm nicht auf den unmittelbaren Erfolg beim großen Publikum ankam (5,7,28): Musa nec in plausus ambitiosa mea est, "meine Muse ist nicht ehrgeizig auf Applaus versessen" (theatrum bezeichnet jede Art von Publikum, auch etwa bei einer öffentlichen Rezitation, und darf nicht etwa mit scaena, der "Bühne", verwechselt werden).
Der Medea folgten, offenbar noch vor der endgültigen Redaktion der Amores, zwei weitere Werke, von denen Ovid zu verstehen gibt, dass sie gewissermaßen im Rahmen der Liebesdichtung geblieben seien (ohne doch zu den Amores selber zu gehören), 2,18,17-22:
hinc quoque me dominae numen deduxit iniquae
deque cothurnato vate triumphat Amor.
quod licet, aut artes teneri profitemur Amoris
(ei mihi! praeceptis urgeor ipse meis)
aut quod Penelopes verbis reddatur Ulixi
scribimus et lacrimas, Phylli relicta, tuas ...
"Auch von hier [vom Stelzschuh der Tragödie] brachte mich die
Gottheit
meiner
ungnädigen Herrin herunter,
und Amor triumphiert über den Sänger auf dem Kothurn.
Was mir noch möglich bleibt, ich lehre entweder die Künste
des zarten Amor
(weh mir!, man setzt mir zu mit meinen eigenen Vorschriften),
oder ich schreibe, was mit den Worten der Penelope dem Ulixes
(Odysseus)
überbracht werden soll, und deine Tränen, verlassene Phyllis
...
Mit artes Amoris können nicht, wie immer wieder behauptet wurde, die vorliegenden Amores gemeint sein (von denen schon vorher im Text die Rede gewesen war); vielmehr ist eindeutig angespielt auf das Proömium von Ovids Ars amatoria ("Liebeskunst"), wo es heißt (ars 1,7): me Venus a r t i ficem t e n e r o praefecit A m o r i ("mich hat Venus zum Kunstlehrer des zarten Amor gemacht"); der nachfolgende Pentameter, der nur so einen Sinn ergibt, bezieht sich darauf, dass man die Lehren des dritten Buchs der Ars amatoria, die ja für die Mädchen bestimmt sind und ihrem Vorteil dienen, gegen Ovid selber, den Lehrmeister, anwendet (für einen Bezug auf am.1,4, woran man gedacht hat, gibt es keinen Anhaltspunkt). Noch klarer markiert ist das folgende Werk, das wir uns als offenbar zeitgleich entstanden denken sollen: Die "Worte der Penelope" beziehen sich auf den ersten der sogenannten "Heroidenbriefe", die "Tränen der Phyllis" auf den zweiten; auch in den folgenden Versen werden, unvollständig und ohne strenge Reihenfolge, weitere Stücke (5, 11, 6/12, 10, 4, 7, 15) aus diesem dritten (oder vierten) großen Werk Ovids angeführt, das in drei Büchern die insgesamt Briefe meist verlassener Frauen an ihre Ehemänner oder Liebhaber enthielt. Mit diesem Corpus haben wir uns nunmehr zu befassen.
Auch hier geht es um Liebe, aber diesmal spricht, oder genauer: es schreibt die Frau. Nur Epistulae hieß das Werk ursprünglich, wie ein vorausgegangenes Werk des Horaz – so zitiert Ovid selbst (ars 3,345) und so steht es in der Regel auch in den Handschriften -, aber als später der verbannte Ovid Epistulae ex Ponto geschrieben hatte, nannte man wohl zur besseren Unterscheidung das ältere Werk Heroides – denn es waren ja heroides, "Heldinnen" aus der alten Sagengeschichte, die ihm zu Wort kamen -; und die neuzeitliche Philologie hat dann beide Titel zu dem heute üblichen "Epistulae heroidum" (Heroidenbriefe) vermengt. Dass es sich um Episteln, Briefe, handelt, ist dabei nichts ganz Äußerliches. Die Elegie fingiert in der Regel ein unmittelbares Sprechen des Ichs, meist zu einem Adressaten, seltener auch einmal als Selbstgespräch: Wenn der Ovid der Amores Corinna oder eine andere bzw. einen anderen anredet, hat man sich diesen Angesprochenen in der Regel als beim Dichter präsent vorzustellen. Hier dagegen geht es um Abwesende; und schon in dieser Sorge auch um den Entfernten drückt sich etwas aus vom Wesen der liebenden Frau, wie Ovid sie sieht. In der Ars sagt er ausdrücklich, dass die Liebe der Frauen sinnlich leidenschaftlicher (1,281 ff.), vor allem aber, dass sie – zu Unrecht hat man hier neuerdings Ironie sehen wollen - treuer und beständiger sei (3,29 ff.):
femina nec flammas nec saevos discutit arcus;
parcius haec video tela nocere viris.
saepe viri fallunt, tenerae non saepe puellae
paucaque, si quaeras, crimina fraudis habent.
"Nicht schüttelt die Frau so leicht die Flammen und wilden
Pfeile
des Bogens ab;
nur mäßiger schaden, wie ich sehe, diese Geschosse den
Männern.
Oft trügen die Männer, nicht oft die zarten Mädchen,
und, wenn du nachfragst, selten trifft sie der Vorwurf des Betrugs."
Und dies illustriert er bezeichnenderweise an vier Beispielen aus seinen Heroidenbriefen, wobei die Reihenfolge hier in der Ars chronologisch scheint: Jason verstößt um einer anderen Frau willen Medea (epist. 12: das Thema auch von Ovids Tragödie); Ariadne wird von Theseus, dem Stiefsohn Medeas, am einsamen Strand von Naxos zurückgelassen (epist. 10); Phyllis läuft neun Mal zum Meer, um nach ihrem ungetreuen Demophoon, dem Sohn des Theseus, Ausschau zu halten (epist. 2); die verlassene Dido gibt sich, einige Generationen später, wegen Aeneas den Tod (epist. 7). Dass darum unsere 15 Heroidenbriefe, an die Ovid unzweifelhaft denkt, auch seinem Leser schon bekannt sein müssten, muss man daraus aber nicht zwingend schließen. Bei diesen vier Fällen handelt es sich nämlich gerade um diejenigen, wo das Thema der verlassenen Frau schon in vorovidischer Literatur behandelt bzw. akzentuiert worden war: Medea bei Euripides, Ariadne bei Catull, Phyllis bei Kallimachos, Dido bei Vergil. Ovid gibt also eher eine Liste seiner literarischen Vorbilder als Specimina der eigenen Heroidendichtung.
Mit diesen vier Beispielen ist auch schon die Normalsituation der ovidischen Heroide angegeben: Regelmäßig ist sie es, die von ihrem Liebes- bzw. Ehepartner verlassen oder im Stich gelassen ist. Dass sie in dieser Lage zu Feder und Papyrus greift – Schreibtafeln verwandte man zur Korrespondenz nur innerhalb einer Stadt -, ist dabei zwar ein gewisser Anachronismus, da man in alten, mythischen Zeiten nach der üblichen Vorstellung überhaupt nicht zu schreiben pflegte (Homer kennt nur ein einzige, überdies umstrittenes Beispiel dafür); im übrigen ist jedoch das Briefschreiben von Ovid gut motiviert worden. Die Penelope des ersten Briefs kennt zwar die Adresse ihres Ulixes nicht, und überstrenge Philologen haben darum ihr wie anderen das Briefschreiben untersagen wollen; hätten sie genauer hingesehen, hätten sie entdeckt, dass es durchaus nicht unvernünftig und (im insgesamt doch überschaubaren Mittelmeerraum) auch nicht unrealistisch war, denselben Brief, wie Penelope ausdrücklich sagt (V. 59-62), in immer neuen Kopien verschiedenen Besuchern bzw. Durchreisenden auf Ithaka auf gut Glück mitzugeben wenn sie ihren dringend benötigten Gatten irgendwie erreichen wollte. Auch die übrigen Heroiden dieses ersten Buches schreiben in guter, wenn auch objektiv z.T.unberechtigter, Hoffnung, ihren Partner zu sich zurück zu holen, wobei ihre Motive, bei gemeinsamer Verliebtheit, durchaus nicht ganz identisch sind: Während Penelope (1) in Ulixes den schützenden Familienvater sucht und braucht, geht es der betrogenen thrakischen Königin Phyllis (2) vor allem um die Wiederherstellung ihrer durch Demophoon geraubten jungfräulichen Ehre; Briseis (3), die Brüder und Mann bei der Eroberung ihrer Stadt verloren hat – ein traumatisches Erlebnis -, sieht in Achill, dessen Beute und Concubine sie wurde, die einzige Kompensation für alles Verlorene; Oenone (5), die am reinsten, also ohne Nebenmotive, Liebende - eine besonders sympathische Gestalt -, wäre zwar als göttliche Nymphe auf den sterblichen Paris nicht angewiesen, aber die süße Umarmung im Heu durch den einstigen Hirtensklaven scheint sie leider abhängig gemacht zu haben. Ganz aus dem Reigen sämtlicher Heroiden fällt Phaedra (4) heraus: Sie versucht nämlich nicht, ein früheres Verhältnis zu erneuern, sondern trägt sich aus freien Stücken mit aller Gerissenheit und Lüsternheit einer reiferen, spät und zum ersten Mal verliebten Frau ihrem eigenen Stiefsohn, dem frauenscheuen Sportsmann Hippolytus, an. Da in bildlichen Darstellungen dieser von Euripides in zwei Tragödien behandelten Sage - nur eine davon ist erhalten - ein dem Hippolytus von Phaedras Amme übergebener Brief eine Rolle spielt, könnte hier überhaupt, was noch nicht erwogen scheint, für Ovid der Archetyp der erotischen Epistel im Reich des Mythos gelegen haben.
Im Gegensatz zu diesen fünf Heroiden schreiben diejenigen des zweiten Buchs schon aus einer gewissen (allerdings nur teilweisen) Resignation bzw. Desperation heraus. Nur am Anfang ihres Briefs hofft Hypsipyle (6), rechtmäßige Gattin Jasons und sein erstes Opfer, den Ungetreuen wieder zu gewinnen; sie endet mit finsteren Flüchen auf ihn und seine Medea. Umgekehrt wähnt Dido (7) zwar am Anfang ihres Schreibens, dem geliebten Aeneas schon entsagt zu haben - sie schreibe nur, heißt es, wie sich der sterbende Schwan sein Totenlied singt -, aber im Lauf des Schreibens ergreift sie die Leidenschaft wieder so, dass sie kein Mittel unversucht lässt, den Geliebten umzustimmen. Hermione (8), die ihrem Orest entrissene Verlobte, verwendet wiederum nur den ersten Teil ihres Briefs darauf, den lethargischen Bräutigam zu Rückholungsmaßnahmen anzustacheln, im zweiten verfällt sie in Selbstbemitleidung, fast ohne Adressatenbezug.
Dieser fehlt vor allem im berüchtigten neunten Brief, wo Deianira, die Frau des Hercules, nachdem sie versucht hat, diesen von einer neuen Liebschaft abzubringen, Nachricht von seinem durch sie selbst bewirkten Tod erhält - und trotzdem ihren Brief weiterschreibt! Hier hat man einen sicheren Beweis entweder dafür sehen wollen, dass Ovid die Briefform nur als äußerlichste Einkeidung tragischer Monologe verwende oder dass er sie - literarischer Spaßvogel, der er nun einmal sei - gar mutwillig ad absurdum führen wolle. Aber Deianiras Weiterschreiben ist mitnichten sinnlos. Sie dokumentiert durch ihren nunmehr schriftlich festgelegten und begründeten Selbstmordbeschluss vor ihren Angehörigen und ihrem Sohn Hyllus (die sie am Schluss auch anredet), dass sie erstens - als Witwe sozusagen indischen Zuschnitts - die echte Gemahlin des Hercules ist und an seinem Ruhm teilhat (ein Motiv, das schon im ersten Teil des Briefs eine wichtige Rolle spielt) und zweitens dass sie seinen Tod durch das vergiftete Nessushemd nicht willentlich verursacht hat.
Ähnliches gilt für den Brief der Ariadne (10), den man ebenfalls für absurd erklärt hat: Wo soll der Postbote herkommen, der vom verlassenen Strand von Naxos ein Schreiben nach Attika expediert? Aber eben dieses Unrealistische ist für den Charakter Ariadnes, wie Ovid selber ihn im Brief schildert, höchst bezeichnend: Sie wird dargestellt als eine Frau, die, völlig überrascht und verstört durch das ihr ganz unbegreifliche Verschwinden des Theseus (dem sie doch Leben und Heimat gerettet hat), kein Mittel unversucht lässt, um irgendwie in eine Kommunikation mit dem Treulosen einzutreten. So ruft sie mit lautester Stimme dem schon unsichtbar entschwundenen Schiff nach und schwenkt, auf einem Stab befestigt, ein weißes Tuch (V. 35-42) - als würde Theseus sich, selbst wenn er es sähe, darum scheren. Eben die Ungereimtheiten der Briefsituationen tragen also bei zu Ovids feiner Charakterzeichnung. Es ist das große Verdienst des Amerikaners Howard Jacobson (1974), trotz einigen eklatanten Fehlinterpretationen insgesamt doch überzeugend gezeigt zu haben, dass Ovids Heldinnen nicht, wie man früher oft leichtfertig behauptet hat, austauschbare und nur durch verschiedene Drapierung differenzierte römische Lebedamen sind - dass sie die gemeinsame Sprache der augusteischen Rhetorik beherrschen, ist allerdings richtig -, sondern dass es sich um individuelle Charaktere, die durch ganz verschiedene Schicksale oft traumatisch geprägt sind, handelt. Zu Recht hat hier das früher oft (nicht ohne Grund) geschmähte Psychologisieren wieder seinen Einzug in die Ovidphilologie gehalten.
Während die beiden ersten Bücher der Epistulae in ihrem Aufbau (1-5, 6-10), wie sich leicht zeigen lässt, aufeinander bezogen waren - die verlassene Gattin Hypsipyle (6) entsprach der Penelope (1), die karthagische Fürstin und Gastgeberin Dido (7) der thrakischen Phyllis (2) usw. - folgt Ovid im dritten Buch (11-15), das später entstanden und veröffentlicht sein könnte (nicht muss), einem anderen, z.T. geradezu kontrastiven Plan. Gemeinsam haben diese Heroiden, dass sie - mit Ausnahme ausgerechnet der letzten – ihre Briefe nicht mehr eigentlich schreiben, um den Partner zurückzugewinnen. Canace (11), die von ihrem Bruder Macareus ein Kind empfangen hat - das perverseste Gegenstück zu den konventionellen Ehefrauen Penelope und Hypsipyle - schreibt in sicherer Erwartung ihres vom Vater bestimmten Tods, um, nach langem, von diesem erzwungenem Schweigen, endlich einmal ihre Empörung über ihn loszuwerden (ihre Liebe spielt dabei kaum noch eine Rolle). Medea (12) möchte gegenüber dem ungetreuen Jason, den sie entschieden nicht mehr liebt, nur noch ihrer Wut Luft verschaffen (statt sich selbst, wie die korrespondierenden Ausländerinnen Phyllis und Dido, zu töten, wird sie, was sich schon andeutet, aber noch nicht beschlossen ist, die eigenen Kinder umbringen). Die Ehefrau Laodamia (13), von sinnlicher Liebesleidenschaft beherrscht wie keine andere der Heroiden – sie hat sogar eine Wachspuppe in Gestalt ihres Protesilaus im Bett –, verfasst ihren Brief doch nicht in der Absicht, ihren Mann vom trojanischen Krieg zurückzuholen, sondern um ihn zur Vorsicht im Kampf zu ermahnen – tragische Ironie, wie öfter: Protesilaus fällt als erster, wie dem Leser bekannt, schon beim Verlassen des Schiffs. Wie sie ist auch die treue Ehefrau Hypermestra (14), die als einzige von fünfzig Schwestern ihren Gatten, Lynceus, in der Hochzeitsnacht nicht getötet hat – ein Gegenstück zu den jeweils für den Partner todbringenden Phaedra und Deianira -, von Furcht beherrscht, diesmal nicht um ihn, den sie in Sicherheit weiß, sondern um sich selbst, die vom Vater bedroht wird; ihr Brief dient vor allem dazu, ihr selber, indem sie sich der Sittlichkeit (pietas) ihrer Tat vergewissert, Mut zuzusprechen und ihr Durchhaltevermögen zu stärken.
Je weiter sich diese Briefe – die Entwicklung begann schon im zweiten Buch – von der persuasiven Normalabsicht des Liebesbriefs entfernen, um so reicher sind sie an Elementen, die für einen Brief eigentlich untypisch sind (ohne doch ganz unmöglich zu sein): Anreden an Abwesende, Reden vom Adressaten in der dritten Person, ausführliche Erzählung auch von Dingen, die dem Adressaten schon bekannt sein müssen. Dies gilt auch noch für den letzten Brief der Sappho (15), in dem aber das persuasive Element, die Absicht, den Geliebten zurückzugewinnen, wieder stark dominiert. Im übrigen ist dieser Brief singulär dadurch, dass in ihm nicht nur eine eine postmythische, historische Frau spricht, sondern sogar eine Dichterin, eben Sappho von Lesbos (hier einmal nicht "Lesbe" wie sonst, s. V. 17-20, 201, sondern verliebt in den schönen Phaon, der sie verlassen hat): So ist in ihrem, nur in ihrem Brief die poetische Form etwas zum Inhalt selber Gehöriges, nichts vom Dichter (der etwa auch einen Don Carlos in Blankversen reden lassen kann) um der Gattung willen Hinzugefügtes. Sappho wäre eigentlich "Lyrikerin", d.h. Sängerin von Liedern zur Lyra, aber ihr Liebesunglück, sagt sie, hat ihr Saitenspiel verstummen lassen und sie – hier schlägt eine alte Theorie über das "Elegische" als eigentlich klagende Dichtung durch – zur Liebeselegikerin gemacht (V.7). So kehrt im letzten Brief, der auch in seiner Laszivität und Schamlosigkeit (bes. V. 121 ff.) aus den übrigen herausfällt – darin ähnlich dem Schluss der Ars amatoria – Ovids Versepistel wieder in den Kreis der typisch römischen, von einem explizit als Dichter redenden Verfasser stammenden Liebeselegie zurück. Nur der Kuriosität halber sei erwähnt, dass viele Philologen heute gerade diesen Sapphobrief Ovid als seiner unwürdig absprechen (obwohl ihn dieser in am. 2,18,26, vgl. dort V. 34, ausdrücklich zu bezeugen scheint). Er ist nämlich gesondert überliefert. Aber wenn dieses ingeniöse Werk nicht von Ovid, sondern einem Fälscher X stammen sollte, dann wünschte man, X hätte mehr und Ovid vielleicht sogar weniger geschrieben.
Amores und Epistulae waren zwei als
komplementär
gedachte Werke. In jenen sprach der moderne Römer, mit viel Witz
und
Sinnlichkeit, ohne übermäßige Emotion, die meist durch
Ironie temperiert war – bei aller Unmut über die
Liebesknechtschaft
insgesamt doch ein Festival der guten Laune -; diese dagegen brachten
die
großen liebenden Frauen des Altertums mit einer
Leidenschaftlichkeit
zu Wort, die keinen Vergleich selbst mit der griechischen
Tragödie,
der Ovid seine Stoffe vielfach verdankt, zu scheuen brauchte: Zumindest
was die psychologische Einfühlungskraft in die so individuell
konzipierten
Heldinen angeht, dürften sie als das schönste, ohne
Einschränkung
jedenfalls als das rührendste Werk Ovids gelten. Dessen
Originalität
hat er sich sogar von seinen Leserinnen bestätigen lassen: Wenn
sie
einmal, wie er hofft, eine seiner Epistulae mit fein
modulierender
Stimme vortrügen (ars 3, 345 f.), dann werde man auch sagen: ignotum
hoc aliis ille novavit opus, "diese Gattung, die anderen unbekannt
war, hat er neu geschaffen" – ein, trotz mancher partieller Vorbilder
(in
Poesie und Prosa), insgesamt berechtigtes Urteil. Erst die Nachwelt hat
dann vergleichbare Werke geschrieben, dafür in Fülle: Der
"heroische
Brief", wie man ihn später nannte, war ansatzweise schon in
Spätantike
und Mittelalter, vor allem dann aber in Renaissance und Barockzeitalter
eine florierende, von den besten Dichtern aller Sprachen gepflegte
Gattung
(deren Geschichte der fleißigste aller Ovidforscher, Heinrich
Dörrie,
zu schreiben versucht hat). Noch die vom späteren Papst Johannes
Paul
I. geschriebenen fiktiven Briefe an berühmte Persönlichkeiten
der Vergangenheit gehören in diesen Traditionszusammenhang.
Die Ars amatoria
Wenn Amores und Epistulae einander kontrastiv ergänzen, heißt dies nicht, dass sie ursprünglich auch in enger zeitlicher Nähe entstanden sein müssten. Vielmehr spricht manches dafür, dass Ovid seine mit den Amores eingeschlagene Linie zunächst in der "Liebeskunst", Ars amatoria, seinem bis heute ja berühmtesten Werk – um dessentwillen er später sogar in die Verbannung musste -, fortgesetzt hat (sie wurde auch in dem zitierten Gedicht am. 2,18 nach der tragoedia, vor den Epistulae genannt). Zwar kann die uns überlieferte Fassung dieses Werks, das wiederum, wie Epistulae und Amores letzter Hand, aus drei Büchern besteht, so erst im Jahr 1 v. Chr. fertiggestellt worden sein; aber längst hat man festgestellt, dass die für diese Datierung entscheidende Partie ars 1,171-228 (mit Erwähnung der künstlichen Seeschlacht im J. 2.v.Ch.und vor allem des i.J. 1 v.Ch. bevorstehenden Partherfeldzugs) glatt auslösbar ist, ja wie zugedichtet wirkt (das erstere gilt auch für die Erwähnung der Epistulae in ars 3, 345 f.); wenn Ovid also später von der Ars sagt, er habe sie als iuvenis geschrieben, so hat daraus wieder Ronald Syme den naheliegenden Schluss gezogen, dass sie schon früher, bevor Ovid immerhin 42 Jahre alt war, in einer ersten Fassung (die aber dann nicht, wie Syme glaubt, aus nur den ersten zwei Büchern bestanden haben muss) veröffentlicht war. Dafür spricht m.E. vor allem auch, dass sich die Ars fast noch deutlicher und boshafter als die Amores mit den Ehegesetzen des Augustus befasst – die hier sogar geradezu zitiert werden -, während die Epistulae von derartigen Anspielungen ebenso frei sind wie die mit der Ars so eng verbundenen Remedia amoris, übrigens auch die späteren sogenannten "Doppelbriefe" und die Erotica der "Metamorphosen" (gerade die Ars zeigt, dass der Mythos Ovid in dieser Hinsicht nicht hätte hemmen müssen). Offenbar hat der Anstoß, den die Ars aus diesem Grund erregte und der sich schon darin offenbart, dass sie noch im Jahr 8 n.Ch., also acht Jahre nach ihrer endgültigen Fassung, als offizieller Grund für Ovids Verbannung herhalten konnte (trist. 2,211 f.), Ovid bewogen, in seinen folgenden Werken, auch den erotischen, politisch vorsichtiger zu sein. Auch die Verherrlichung des Kaiserenkels ist hier einzuordnen.
Bleiben wir gleich beim politischen Thema! Augustus wollte durch seine Gesetzgebung nicht nur die Ehemoral heben, er wollte auch der Ehemüdigkeit seines Zeitalters entgegen wirken. Jenem diente das erwähnte Gesetz de adulteriis, diesem ein Gesetz de maritandis ordinibus, "über die Verheiratung der Stände", in dem eine Heiratspflicht für die beiden höchsten Gesellschaftsklassen, die Senatoren und die Ritter (denen Ovid angehörte), in der Weise festgelegt war, dass Unverheiratete und vor allem Kinderlose (im Alter von 25-50 Jahren, was die Männer anging) gravierende Rechtsnachteile zu gewärtigen hatten. Wie wichtig Augustus diese Gesetze waren, hatte er besonders in seinen ein Jahr nach dieser Gesetzgebung stattfindenden "Jahrhundertspielen" (ludi saeculares) signalisiert, bei denen feierlich der griechischen Geburtsgöttin Eileithyia geopfert wurde und zu denen der Staatslyriker Horaz die von einem Kinderchor gesungene Festkantate (carmen saeculare) geschrieben hatte, in der eben diese Ilithyia in dürren Versen (den schlechtesten übrigens, die Horaz je verfasst hat) aufgefordert wurde, "den Nachwuchs zu vermehren und die Beschlüsse der (senatorischen) Väter über die Vermählung der Frauen und das neuer Nachkommenschaft förderliche Ehegesetz zu begünstigen" (V. 17-20) – damit auch in hundertzehn Jahren wieder ebenso schöne Saecularspiele stattfinden könnten.
Dies war also das moralisch-politische Klima, in dem der junge Ovid die Stirn hatte, nach seinen bedenklichen Amores nun auch noch ein förmliches "Lehrbuch" – denn das heißt ars - der freien, nicht der ehelichen Liebe zu schreiben: zwei Bücher für die Männer, eines für die Mädchen. Zwar sicherte er sich zu Beginn seines Werks volltönend ab vor dem Verdacht, etwa zum mittlerweile staatlich geahndeten Ehebruch anleiten zu wollen, indem er versicherte, dass "zarte Haarbinden" und "tiefe Rocksäume", die Insignien ehrbarer Mädchen und verheirateter Matronen, aus dem Kreis seines Werks (natürlich nicht als potentielle Leserinnen) ausgeschlossen sein sollten, in welchem er nur "von straflosem Liebesgenuss und erlaubten Diebstählen singen" wolle (ars 1,33 nos venerem tutam concessaque furta canemus), mit anderen Worten, dass er vor allem an Libertinen denke (so ausdrücklich ars 3,615, vgl. 2,599 f., 3,58 und 3,483); aber dies hinderte ihn überhaupt nicht daran, seine Form der Liebe geradezu auf Kosten der ehelichen anzupreisen: Ehefrauen, die nur an Wolle und Hausarbeiten dächten, seien ja doch minderwertige Liebespartner (2,685 f.); man könne sie, weil sie immer zur Verfügung stünden, überhaupt nicht lieben (3,585 f.), zumal die Ehe im wesentlichen auch nur aus Streit und Zank bestehe (2,151-156). Zum Glück gilt dies aber nicht für die Kunden der Ars amatoria (2,157 f.):
non legis iussu lectum venistis in unum:
fungitur in vobis munere legis amor.
"Ihr seid nicht auf Gesetzes Geheiß zusammen ins Bett
gekommen:
bei euch versieht die Liebe die Aufgabe des Gesetzes!"
Direkter und frecher ließ sich die lex de maritandis ordinibus nicht verspotten. Dabei wusste Ovid, wovon er sprach: Er war, wie wir aus anderer Quelle wissen, volle drei Mal verheiratet, das letzte Mal sogar glücklich. (Woraus man wieder einmal sieht, was sich auch im Lehrgedicht ein lyrisches bzw. didaktisches Ich alles leisten kann.)
Aber auch das andere Gesetz, das über Ehebruch, wurde noch einmal verspottet, vor allem indem Ovid nunmehr den Schutzraum des Mythos dazu verwandte, das verbotene Delikt zu bagatellisieren, ja fast schon anzupreisen. Wie töricht sei doch Pasiphae, dass sie ihren Minos, statt mit einem Mann, mit einem Rindvieh betrüge (ars 1,310)! Wie völlig begreiflich, dass sich die schöne Helena die "Gefälligkeit ihres humanen Mannes" Menelaus zu nutze mache, der sie mit seinem Gastfreund allein ließ (ein leno maritus im Sinne des Gesetzes, wie Ovid andeutet: ars 2,367-372)! Wie dumm vom Sonnengott Sol, dass er die ehebrecherische Venus bei ihrem Gemahl Vulcanus verpfeife, statt sich, mit einer kleinen Erpressung, von ihr angemessen entschädigen zu lassen (2,575 f.)! Wie albern von Vulcanus selber, dass er, statt die Augen zu verschließen – was, nota bene, mittlerweile verboten war – den Ehebruch der Gemahlin mit Mars aufdecke, die beiden im wörtlichen Sinn bloß stelle und damit letzlich eine Illustration zu Wilhelm Busch liefere: "Ist der Ruf erst ruiniert,/ lebt man gänzlich ungeniert" – was auf lateinisch heißt (2,589 f.):
hoc tibi perfecto, Vulcane, quod ante tegebant,
liberius faciunt, et pudor omnis abest.
"Nachdem dass du dies vollbracht hast, Vulcan, tun sie das, was sie
früher
verheimlichten, nun ungehemmter, und alle Scham ist dahin."
Hier war, allen Humor zugestanden, Ovid in der Tat für einen Augenblick das, was ihm der Kaiser später vorwarf (und was er selbst immer in Abrede stellte): obsceni doctor adulterii, "Lehrer des unanständigen Ehebruchs" (trist. 2,212: offenbar eine Formulierung aus dem Verbannungsedikt).
Man würde aber dem Meisterwerk der Ars, das nicht umsonst zwei Jahrtausende überstanden hat, ohne je an Glanz und Lebendigkeit zu verlieren, nicht gerecht, wenn man es nur als zeitgebundenes Spottgedicht auf die Sittengesetze des Augustus lesen wollte. Es war, was es zu sein behauptete, ein echtes, zeitloses Lehrgedicht der Liebe, nicht in dem Sinne, dass man daraus hätte lernen sollen, wie man sich verliebt – das erledigen heute wie damals höhere Mächte, vor allem Gott Amor -, wohl aber, wie man es macht, in der Liebe zu bestehen oder, wie man heute, im Zeitalter der grassierenden Psychologie, sagt, mit ihr "umzugehen" und vor allem dafür zu sorgen, dass man ihr nicht erliegt. War der Liebhaber in den Amores trotz allen Humors doch immerhin äußerlich ein seinem Affekt Unterworfener (zuerst 1,1,26 uror et in vacuo pectore regnat Amor, "ich brenne, und in meiner zuvor herrenlosen Brust herrscht Amor"), so soll dies nun von Grund auf anders werden. Einige Verse veranschaulichen die Absicht sehr klar. In den Amores ermahnte sich Ovid, es den gezähmten Ochsen und Pferden nachzutun (1,2,13-17).
verbera plura ferunt, quam quos iuvat usus aratri,
detractant prensi dum iuga prima, boves.
asper equus duris contunditur ora lupatis:
frena minus sentit quisquis ad arma facit.
acrius invitos multoque ferocius urget
quam qui servitium ferre fatentur, Amor.
"Weniger Hiebe bekommen die Ochsen, die am Umgang mit dem Pflug
Freude
haben,
mehr die, welche, wenn sie gerade unters Joch gebracht sind, dieses
ablehnen.
Das widerspenstige Pferd zerreibt sich das Maul am scharfen
Wolfsgebiss,
wer sich dem Gerät anbequemt, spürt das Zaumzeug weniger.
So setzt Amor den Widerstrebenden heftiger und viel gewalttätiger
zu
als denen, die sich zu seinem Dienst bereit erklären.
Sieh her, ich gebe es zu, ich bin deine neue Beute, Cupido ...."
[und so kann denn Amors Triumphzug beginnen]
Nun, in der Ars, wird das Verhältnis zwischen Gott und Mensch handgreiflich umgekehrt: Ovid als Liebeslehrer (praeceptor amoris oder Amoris – "der Liebe" oder "des Liebesgotts", im Lateinischen kann das Schriftbild nicht differenzieren) will mit Gott Amor fertig werden wie der Mann, der Ochsen und Rosse zähmt (ars 1,19-22):
sed tamen et tauri cervix oneratur arato,
frenaque magnanimi dente teruntur equi:
et mihi cedet Amor, quamvis mea vulneret arcu
pectora iactatas excutiatque faces.
Indes lässt sich doch auch der Nacken des Ochsen mit dem Pflug
beschweren,
und das edle muss mit dem Zahn das Zaumzeug scheuern:
So wird sich auch mir Amor fügen, mag er auch noch so sehr
meine Brust
verwunden, seine Fackeln schleudern und schütteln.
Sieht es soweit noch aus, als könne auch der unterworfene Amor seine Aggression mit Pfeilen und Fackeln irgendwie fortsetzen – angespielt ist immer noch auf am. 1,2, dort die Verse 7-12 -, so wird sogleich deutlich, dass dies nunmehr doch der Vergangenheit angehört (23 f.):
quo me fixit Amor, quo me violentius ussit,
hoc melior facti vulneris ultor ero.
"Je heftiger Amor mich traf und mit Bränden versengte,
ein um so besserer Rächer meiner Verwundung werde ich sein."
Ovid revanchiert sich also gewissermaßen für das, was er früher (auch in den Amores) erdulden musste: Je heftiger einst seine Qual, um so mehr könne man sich nunmehr auf seine Rache verlassen. (Im übrigen sei er durch die mit Amor gemachten Erfahrungen auch sachlich so gut mit der Materie vertraut, dass er keine göttliche bzw. musische Inspiration mehr brauche: V. 25-30.) Dasselbe wird, etwas weniger gewalttätig, schon zu Beginn dieses ersten Prooemiums ausgedrückt, wenn es heißt, dass Venus (die Göttin der Liebe und vor allem der physischer Liebeserfüllung) ihren Sohn Amor (den Gott vor allem der psychischen Liebesverwirrung) bei Ovid in die Schule schicke, so dass er dessen Lehrer in ihrem Auftrag ist. Hier wird eine alte, auf Euripides und Platon zurückgehende, auch uns nicht ungeläufige Auffassung der Liebe buchstäblich auf den Kopf bzw. vom Kopf auf die Füße gestellt. Nach ihr war "Amor Lehrer" des Menschen, und damit sollte gesagt sein, dass Liebe den Menschen erfinderisch, geistreich, wortgewandt, aber auch kühn und verwegen mache; jetzt dagegen ist der Gott in die Schülerrolle gedrängt, er muss parieren, ja bekommt sogar Tatzen, wie der junge Achill von seinem Musiklehrer Chiron (ein Bildmotiv, das die Römer kannten).
Was meint Ovid konkret mit diesem kühnen, neuen Bild? Dass die Liebeskunst in erster Linie nicht für den Verliebten, denn das heißt ja: der Liebe Unterworfenen, bestimmt ist, vielmehr für den, der, die Liebe selber möglichst meidend, beim Partner Liebe zu erwecken versucht. Unvergleichlich drückt dies Ovid schon aus, wenn er im ersten Teil des Werks (1,41-262), wo es darum geht, ein geeignetes Mädchen als "Stoff" (1,49 materiam) für ein Liebesverhältnis zu finden, gleich zu Beginn den Rat gibt (41 f.):
dum licet et loris passim potes ire solutis,
elige cui dicas: ‚tu mihi sola places‘.
"Solange du es noch darfst und du der Fesseln ledig einhergehen
kannst,
wähle dir eine aus, der du sagst: ‚Du gefällst mir wie
keine.‘"
tu mihi sola places war die Formulierung, mit der die römischen Liebeselegiker sich der "Einen" erklärt hatten, um eben ihre Verfallenheit an sie auszudrücken; hier wird es, gegen den unterlaufenen Wortsinn, zur Formel, die man heuchlerisch nach freier Wahl einzusetzen hat: Die eigene Verliebtheit ist nicht vorgesehen. Wenn Ovid im Folgenden die verschiedenen Orte vorstellt, an denen man geeignete Mädchen finden kann – dies entspricht, wie längst bemerkt, der "Topik", der Lehre von den "Fundörtern" (loci) in der rhetorischen Lehre von der "Auffindung" (inventio) des Stoffs -, dann fällt ihm bei Behandlung der hier besonders geeigneten Theater ausgerechnet der berühmte Raub der Sabinerinnen als historisches Exempel für einen erfolgreichen Theaterflirt ein (und er erzählt die Geschichte ausführlichst): wahrlich eine Unternehmung von Männern, die zwar Frauen brauchten, aber nicht individuell verliebt sein konnten!
Deutlicher wird die Grundtaktik Ovids im zweiten Teil des Buchs, wo es, nach der Auffindung, um die Eroberung des Mädchens geht (1,263-772; vgl. die Inhaltsvorschau in 1, 35-40). Nachdem Ovid hier seinem Schüler, vor allem im Hinblick auf die (von uns schon erwähnte) notorische Sinnlichkeit der Frauen, Mut zugesprochen (269-346) und, nach den "Örtern", die nunmehr noch wichtigeren richtigen "Zeiten" (rhetorisch: die kairoí) behandelt hat (347-436), bringt nun der Liebesbrief die erste, noch tastende Liebeswerbung (der Verfasser der Epistulae müsste hier in seinem Element sein, aber es geht nun um recht andere Liebesbriefe, nicht nur im Hinblick auf das Schreibmaterial). Sogleich die erste Vorschrift macht klar, dass hier die Liebe nicht empfunden, sondern nur vorgetäuscht sein sollte (439 f.):
blanditias ferat illa (sc. cera) tuas imitataque
amantum
verba, nec exiguas, quisquis es, adde preces.
"Sie (die Wachstafel) bringe deine Schmeicheleien und Worte, die du
Liebenden
nachgeahmt hast, und, wer du auch bist, lass es nicht an vielen Bitten
fehlen!"
Ovid rät offen zur Aufschneiderei bei Versprechungen (443 ff.) und dann, mit besonderem Nachdruck zum Studium der Rhetorik (459 ff.): Wie Volk, Richter und Senat – eine echt römische Dreiteilung – so schmelze auch jedes Mädchen vor der Redekunst dahin, einer Redekunst, die freilich nicht aufdringlich wie bei Schuldeklamationen (V. 465) sein dürfe
– Ovid warnt hier vor der zeitgenössischen Pointenrhetorik, die er selber so brillant beherrscht -, sondern eher zurückhaltend und glaubhaft (ähnliches gilt auch für die männliche Kosmetik in 1,505 ff.). Klar dass auch hier die Liebe nur gespielt sein soll; Ovids Schüler hat sie so wenig zu empfinden wie der Redner in der Regel die Empfindungen, die er ausdrückt und die er vermitteln will (denn Affekterregung beruht auf einer Art Übertragung, wie schon in der antiken Rhetorik festgestellt wurde).
Den Generalangriff auf das Mädchen bringt dann die physische Nähe zur Erwählten beim Symposion (525 ff.), wo auch einige schon aus den Amores (1,4) bekannte Tricks verbaler und nonverbaler Kommunikation repetiert werden, vor allem dann aber das erste, in der Regel wohl dem Symposion sich anschließende, Beisammensein tête-à-tête, das Ovid, zur Steigerung von dessen Wichtigkeit, so dramatisch schildert, als fände es zeitgleich mit seiner Belehrung statt (V. 607 conloquii iam tempus adest, "Schon ist die Zeit der Unterredung da", vgl. schon oben V. 525 u.ö.). Hier nun besonders wird die Schauspielerhaltung des "den Verliebten spielenden und die Liebeswunden vortäuschenden" Freiers deutlich (V. 611 est tibi agendus amans imitandaque vulnera verbis); es wird aber auch das bekannte, später besonders im 18. Jahrhundert viel diskutierte Paradox erwähnt, dass der Simulant unter Umständen seiner eigenen Rhetorik zum Opfer fällt und die vorgetäuschten Empfindungen am Ende doch noch wirklich fühlt (615-618). Im übrigen ist aber Ovid hier moralisch so skrupellos wie der sophistischste Rhetoriklehrer: Er geht vom falschen Lob über trügerische Versprechungen bis zur offenen Empfehlung des Meineids in Liebesdingen (freilich nur dort!). Am bedenklichsten, vor allem vom heutigen Standpunkt (nicht nur der Frauenbeauftragten) aus, ist Ovids Empfehlung einer gewissen Gewalt, die den Mädchen nicht unwillkommen sei (669 ff.), wie an der Geschichte von Deidamias Entjungferung durch Achill nachgewiesen wird. Letztes Vorbild für den erfolgreichen Liebhaber ist dann aber der Proteus, der Schauspielergott schlechthin (V. 761): Wie er, der unendlich Wandlungsfähige hat sich Ovids Schüler als "Liebhaber in tausend Gestalten" (Goethe) den verschiedenen Charakteren der Mädchen anzupassen. Auch damit triumphiert der Geist über den Affekt, Ovid über den Liebesgott.
Im zweiten Buch, wo es, nach der nunmehr erfolgreich abgeschlossenen Eroberung, um die Erhaltung der Liebe geht (2,13 parta tueri, "das Gewonnene bewahren" ist bis heute sprichwörtlich geworden), tritt das Moment der Täuschung, wie jetzt Jula Wildberger (1998) fein beobachtet hat, zurück, ohne freilich ganz aufzuhören und ohne dass eine Änderung des Vorgehens deutlich markiert wäre. Wenn Ovid, zur Ergebenheit gegenüber dem Mädchen ratend, von der Empfehlung geistiger Bildung (2,111 ff.) über die der Sanftmut (indulgentia, 145 ff.) und der Willfährigkeit (obsequium, 177 ff.) bis zu schieren Sklavendiensten (209 ff., V. 228 pro servo, vgl. V. 216) kommt, so ist auch dem Mädchen ohnehin klar, dass es sich hier weniger um einen spontanen Ausdruck des Verliebtseins als um willentlich eingenommene Haltungen handelt – die z.T., in abgemilderter Form, denen des traditionellen elegischen Liebhabers entsprechen -, und Ovid kann es unbestimmt lassen, ob man dazu auch ohne Liebe (die er ja auch früher nicht geradezu verboten hat) fähig sei: Bei einem längeren Verhältnis ist wohl nach dem Prinzip nil adsuetudine maius (2,345) ein gewisses Maß an Liebe selbstverständlich; und so wird diese im ganzen Buch mehr und mehr vorausgesetzt. Wo nunmehr noch zur Heuchelei angeleitet wird, wie in dem entzückenden Abschnitt über die Geschenke (261 ff., dort 265 f.) oder über kostenlose Wohltaten (287 ff.) und besonders über die panegyrische Verherrlichung der Geliebten (295 ff., V. 311 ne pateas ... simulator!), geht es mehr um Übertreibung als um heuchlerischen Betrug: Das Verhältnis wird partnerschaftlicher, herzlicher. Dem entspricht es, dass der Liebesgott Amor, den Ovid im Prooemium des ersten Buchs im Auftrag der Venus erziehen, ja geradezu bestrafen wollte, nunmehr, im zweiten Prooemium, nur noch in seiner Flatterhaftigkeit eingeschränkt werden soll (2,19 f., 98; dies veranschaulicht auch, jedenfalls vorgeblich, die Erzählung von Daedalus und Icarus, 21 ff., die man im übrigen unwillkürlich als Illustration des Verhältnisses von Ovid und seinem Schüler liest). Bezeichnenderweise wird in disem Prooemium der Gott selbst neben seiner Mutter (vgl. 1,30) als Patron des Werks angerufen (2,15): nunc mihi, si quando, puer et Cytherea, favete... ("Jetzt, wenn je, seid mir gewogen, Sohn der Venus und Cytherea selber ..."; vgl. später 3,3 f.).
Die Vorschriften im zweiten Teil des Buchs (2,337 ff.) sind dann mit Absicht widersprüchlich, weil sie sich auf verschiedene Stadien in der Entwicklung des Liebesverhältnisses beziehen. Bald soll man ständig um die Geliebte sein, bald sie auch wieder – aber nicht zu lange! - allein lassen (337-372); bald alles tun, um ihre Eifersucht zu vermeiden, bald auch diese geradezu erregen, um das Mädchen dann vor allem mit dem untrüglichen Heilmittel der physischen Liebesfreuden zu besänftigen (373-492). Ein plötzlicher feierlich inszenierter Auftritt des nicht erbetenen und von Ovid sonst explizit (1,25) nicht benötigten Musengotts Apoll bringt nur hochtrabende Banalitäten zum Thema "Erkenne dich selbst" (493-509). Wichtiger ist es, wie Ovid aus eigener Erfahrung weiß, Leiden erdulden zu können (511-534) und besonders die eigene Eifersucht zu bezähmen – Ovids anspruchsvollste Vorschrift (V. 542) -, vor allem dabei die Geliebte nicht bloßzustellen (535-600: Vulcanus als Negativbeispiel!), sondern überhaupt in Liebessachen Heimlichkeit und Verschwiegenheit walten zu lassen (601-640) und so – die Übergänge sind meisterhaft assoziativ - auch die Geliebte ihre körperlichen Mängel nicht fühlen zu lassen (641-662). Höchst bezeichnend ist (im Hinblick auf die erwähnte Gesamtstruktur der Bücher), wie die hier eigentlich zur Beeinflussung der Geliebten gegebenen rhetorischen Vorschriften – man sage "grazil" statt "klapperdür", "voll erblüht" statt "Fettkloß" usw. – doch auch zugleich eine Anleitung zur Selbstbeschwichtigung über die vom Liebhaber immer weniger wahrgenommenen Fehler enthalten. So soll man die Geliebte auch nicht nach dem Alter fragen (663 ff.), nicht nur weil ihr das selber missfällt, sondern weil die gereiften Jahrgänge (Ovid denkt an die Zeit ab Mitte dreißig) überhaupt die besten sind.
Da Ovid hier vor allem auf deren Bettüchtigkeit abhebt (679 ff.), ist ein unwillkürlicher Übergang zum krönenden Abschluss der zwei Bücher gegeben. Wie das Werk von Frau Venus, die ja immer mehr Sexualität als Erotik im engeren Sinn verkörpert, in Auftrag gegeben wurde (1,7; 30), so endet es nun auch sinnreich mit der Behandlung der eigentlichen "Wonne der Venus" (Veneris ... voluptas, V. 717). Ovid, nicht anders als jedes moderne einschlägige Handbuch, aber unnachahmlich in der ihm so ganz eigenen galanten, feinlüsternen Diktion, legt vor allem darauf Wert, dass der Höhepunkt nicht zu schnell und gemeinsam erreicht werden soll. Hier ist, um des schieren eigenen Genusses willen, ein Höchstmaß an Rücksichtnahme und Partnerschaftlichkeit geboten. Wie weit sind wir entfernt von der am Anfang der Liebe noch gebotenen Gewalttätigkeit (1,669 ff.)! Ein dankbarer Lobspruch aus dem Mund von Ovids nunmehr in Liebesdingen erfolgreichen Schülers schließt ab: NASO MAGISTER ERAT (V. 744). Dann erfährt man, aus einem rasch und überraschend angehängten Distichon (745 f.), dass nun auch die Mädchen Vorschriften bekommen wollen und sollen.
Das Prooemium des dritten, letzten Buchs (3,1-58) gibt die Erklärung: Venus selber sei ihm erschienen, um nachträglich eine Belehrung auch der Mädchen anzumahnen. Die Vorstellung dabei ist, dass sich die beiden Geschlechter, wie Griechen und Amazonen vor Troia (3,1 f., vgl. schon 2,743) in einer Art Krieg, besser Kriegspiel gegenüberstehen; wie bei einem sportlichen Wettkampf gebiete es die Fairness, dass beide hierzu gleich ausgerüstet seien. So rufen, nach ausführlicher Belehrung, am Ende des Buchs schließlich auch die Mädchen: NASO MAGISTER ERAT (3,812). War diese Dublette tatsächlich das Ergebnis eines erst sekundären Plans? Während die frühere Ovidforschung seit etwa hundert Jahren Ovids Fiktion soweit ernst nahm, dass man meist glaubte, Ovid habe sein drittes Buch in der Tat erst nachträglich erdacht und konzipiert, mehren sich in jüngster Zeit nicht ohne Grund die Stimmen derer, die hier eine einheitliche, von vornherein geplante Konzeption sehen wollen. Dem entspricht z.B. auch, dass die drei Prooemien der Bücher – was bisher noch nicht beachtet scheint – insofern eine geplante Einheit sind, als sie auf den drei seit alters klassischen Attributen des Liebesgotts Amor aufbauen (vgl. Prop. 2,12; Quint. inst. 2,4,26): dass er Kind (puer) ist, dass er Flügel (alae) hat und über Waffen (arma) verfügt. Buch 1: Weil Amor Kind ist, ist eine Ars amatoria möglich (bes. V. 9 ff. mit Chiron-Achill-Exempel); Buch 2: Weil Amor Flügel hat, ist der zweite Teil der Ars so schwierig (bes. V. 19 ff. mit Daedalus-Icarus-Exempel); Buch 3: Weil die Männer Waffen bekommen haben – auf Amor ist hier allerdings weniger abgehoben -, ist der dritte Teil der Ars notwendig (V. 1 ff. mit Griechen-Amazonen-Exempel). Aber auch wenn dies richtig ist, Ovid also immer auch schon an die Mädchen gedacht hatte, wäre es um der Fiktion der Venusepiphanie (3,43 ff.) willen effektvoll gewesen, das dritte Buch erst eine gewisse Zeit nach den beiden ersten, in einer Gesamtausgabe (mit der neuen Überleitung 2,745 f.) erscheinen zu lassen. Auch diese müsste dann übrigens keineswegs mit der wohl viel späteren, uns vorliegenden Letztfassung identisch sein.
Während in diesen chronologischen Fragen eine Unsicherheit bleibt, liegt der sachliche Zusammenhang der Ars zu den anderen erotischen Werken auf der Hand. Die beiden ersten Bücher der Ars zeigen, wie der in den Amores immer wieder auch scheiternde Liebhaber, indem er über die Liebe Herr wird, dauernden Erfolg hat. In genau analoger Weise bezieht sich nun das dritte Buch auf die Epistulae zurück. Denn es heißt ausdrücklich, dass der Misserfolg der von ihren Partnern treulos verlassenen Heroiden Medea, Ariadne, Phyllis, Dido (3,31 ff., s. oben S. 12?? ) davon herrühre, dass sie das dritte Buch der Ars noch nicht gekannt hätten (41 f.): quid vos perdiderit, dicam: nescistis amare; / defuit ars vobis ... ("Was euch ins Verderben gestürzt hat, will ich sagen: Ihr habt die Liebe nicht verstanden,/ die Kunst hat euch gefehlt ...") – das ist ja auch das Motiv des Venusauftritts (43 ff.). So hat Ovid selbst, vielleicht erst von letzter Hand, seine Werke deutlich aufeinander bezogen. Dass dabei die Männer in der Ars zwei Bücher, die Frauen nur eines bekommen, könnte auch damit zusammenhängen, dass die Amores ursprünglich mehr Bücher (5) als die Epistulae (3) hatten.
Ein besonderer Reiz dieses Buches, in dem Ovid naturgemäß nicht im selben Maß wie in den früheren aus der eigenen "Erfahrung" schöpfen kann (1,29 usus opus movet hoc), sondern sich auf eine Inspiration durch Venus berufen muss (3,55-57), besteht darin, dass er auf der einen Seite hier die Interessen der Mädchen zu vertreten hat und somit gewissermaßen zu einem Verräter an der Sache des eigenen Geschlechts wird (vgl. bes. 3,7 f.; 577 f.; 667-672), auf der anderen Seite es aber auch nicht über sich gewinnen kann, den Vorteil des eigenen Geschlechts gänzlich außer Acht zu lassen. So besonders deutlich, wenn er gleich zu Beginn den Mädchen (mit traditionellen erotischen Topoi) unter Hinweis auf die Vergänglichkeit der Jugend Mut zur Liebe macht (59-98) oder wenn er, noch eigennütziger, in einer Partie pro domo die Dichter als besonders geeignete Liebhaber anpreist und – die Ironie ist hier deutlich markiert – vor Geschenkforderungen an sie warnt (533-554). Die neuere, feministisch angehauchte Forschung neigt dazu, diesen zweiten Gesichtspunkt einseitig zu übertreiben: Ovid verfolge überhaupt im wesentlichen das eigene, männliche Interesse. Wenn er z.B. im ersten Teil seiner Unterweisung Vorschriften zur Kosmetik gibt (101 ff.), wolle er nur maskuline Wunschvorstellungen von weiblicher Schönheit durchsetzen – als wäre das von Alice Schwarzer empfohlene Aussehen das einzig wahrhaft vorteilhafte – oder sein (mehrfacher) Hinweis darauf, dass die meisten Frauen wegen körperlicher Unzulänglichkeiten Kosmetik nötig hätten, solle den Stolz seiner Leserinnen brechen und sie so zu willfährigeren Partnerinnen für die Männer machen! Frühere Leser haben hier unbefangener geurteilt und in Ovids Lobpreis der – sich auch in der Verfeinerung der Kosmetik niederschlagenden – augusteischen Lebenskultur ein echtes, dem damals üblichen Preis altrömischer Schlichtheit entgegengesetztes Credo gesehen (3,121 f.):
prisca iuvent alios, ego me nunc denique natum
gratulor: haec aetas moribus apta meis.
"An dem Alten mögen andere sich freuen! Ich gratuliere mir,
dass
ich jetzt erst
geboren wurde: Diese Zeit entspricht meinem Charakter."
Nicht wegen des Luxus (hier ist sich Ovid mit Zeit- und Zivilisationskritikern wie Sallust, Livius und Horaz einig), sondern ...(127 f.):
... quia cultus adest, nec nostros mansit in annos
rusticitas priscis illa superstes avis.
"... weil es jetzt Kultur gibt und weil die ungepflegte frühere
Art
nicht bis auf unsere Zeit geblieben ist und die Urväter
überlebt
hat."
Ernst Zinn hat hier mit Recht, in Umkehrung von Freuds berühmter Formulierung, von einem im antiken Rom ungewöhnlichen "Behagen an der Kultur" gesprochen.
Grundsätzlich folgt die Liebesunterweisung bei den Frauen wie bei den Männern ungefähr einem chronologischen Prinzip. Nachdem sich die Frauen durch Schönheitspflege (101-250) und Körperschulung (251-310) attraktiv gemacht haben, wird ihnen die Pflege von Gesang und Literatur – zum Auftritt beim Symposion versteht sich – ans Herz gelegt; dazu kommen Tanz und diverse Gesellschaftsspiele (311-380). So zugerüstet soll sich nun die Frau – Ovid denkt ja vor allem an die selbständig lebende Libertine – in der Öffentlichkeit blicken lassen, ja diese geflissentlich aufsuchen (381-432). Dies ist der richtige Ort, um vor gewissen allzu geschniegelten Casanovas, die sich nun aufdrängen mögen, zu warnen (die Beispiele von Theseus und Demophoon, V. 457-460, erinnern wieder an die Heroidenbriefe): Ovid rät – hier nun doch wirklich ein vernünftiger Anwalt der Frauen -, leeren Versprechungen (wie er sie den Männern selber empfohlen hatte!) mit eben solchen zu begegnen und echte Geschenke abzuwarten (433-466). Sehr fein sind die Vorschriften für die Beantwortung der Liebesbriefe, die, wie bei den Männern ausgeführt (1,437 ff.), in der Regel den ersten Kontakt herstellen; dazu gehören auch erste Vorschriften, wie man den eigenen vir, den bisherigen Liebhaber also, hintergehen kann (467-498). Auf den unmittelbaren Umgang mit den Männern beziehen sich dann die überraschenden Ratschläge zur Arbeit am eigenen Charakter (499-524) und zur diversen Behandlung diverser Liebhaber (525-576).
Das somit als etabliert zu denkende neue Liebesverhältnis muss nun durch gelegentliche Sprödigkeit, ja Erregung von Eifersucht belebt werden (577-610); das führt assoziativ zu den Methoden, den eigenen "Mann" – hier ist im Gegensatz zu vorher an den vollendeten Seitensprung gedacht – zu betrügen (612-666, eingeleitet durch ein ausdrucksvolles Loyalitätsbekenntnis zum augusteischen Ehebruchsgesetz). Als ein besonders uneigennütziger, ja geradezu männermordender (V. 672!) Rat erscheint überraschenderweise der, dass die Frau Liebe vortäuschen soll (667-682). Was Ovid den Männern also eigentlich nur für den Anfang des Verhältnisses empfohlen hatte, gilt hier durchweg. Überhaupt durchzieht das Prinzip der Simulation des dritte Buch in stärkerem Maß als die beiden ersten, wo es ja später zurücktrat: von der Körperpflege (101 ff.), die, wie es fast ausdrücklich heißt, eine nicht vorhandene Schönheit vortäuscht (251 ff.), bis zum gespielten Orgasmus (797-804), dessen ausführliche Behandlung fast den Schluss des Werks ausmacht! Das kann nicht bedeuten, dass Ovid die Frau, die er ja für treuer hält als den Mann, charakterlich abwerten wollte (wie Schopenhauer in seiner berühmten Tirade über die Verstellungskraft des Weibes), eher dass sie als die letztlich doch Schwächere sich Offenheit weniger leisten kann.
Zu der letztgenannten Vorschrift passt es, dass Ovid nun eingehend vor ernstlicher Eifersucht, die ja Verliebtheit voraussetzt, warnt (683 ff.): Die große Erzählung von Cephalus und Procris (685-746), ein Glanzstück von Ovids bis zur Simultanreportage (735 f.) gehender narrativer Kunst und Pointenrhetorik (737-742!), gibt zum letzten Mal das Negativbeispiel einer sich durch Liebe tödlich gefährdenden Frau. Völlig unvermittelt folgen dann die Vorschriften zum Symposion. Wie sie bei den Männern dem ersten intimeren Kontakt zur Geliebten präludiert hatten, so leiten sie nun über zur zweiten, noch ausführlicheren Behandlung der Bett- und Venusfreuden (769-804), denen, wie in der Wirklichkeit, eine kurze Ernüchterung folgt (erstaunlich: 805-808, die Antiklimax bereitet sich schon vor in 797 ff.). Ovid, die normale elegische Dezenz hier weit übersteigend – Venus selber, die noch einmal in Erscheinung tritt, deutet das an, wenn sie sagt, dass just, wessen man sich schämt, ihr Gebiet sei (V. 770) -, gibt hier eine regelrechte venerische Figurenlehre, wobei das Hauptaugenmerk darauf liegt, dass jede Frau diejenige Position wählen soll, bei der sie auf den Mann je den vorteilhaftesten Eindruck macht. Feministen müssen natürlich auch hier, wie bei der schon erwähnten Orgasmussimulation, die Frau abgewertet sehen: Ovid dagegen rechnet mit Leserinnen, die ihm dankbar sind und, wie schon erwähnt, nunmehr in den Chor der Männer einstimmen: NASO MAGISTER ERAT (V. 812).
Niemand wäre im Altertum auf die Idee gekommen, die heute, wie
selbstverständlich, vorherrscht; dass die Ars als
natürlich
nicht ernst gemeint, als bloße, wie man gern sagt, Parodie eines
Lehrgedichts zu verstehen sei. Dafür könnte höchstens
sprechen,
dass Ovid gerne mit heiterer Übertreibung von seinen didaktischen
bzw. erotischen Triumphen spricht; aber dieses ein wenig
Marktschreierische
ist eher Teil seines guten, das Gesamtwerk durchziehenden
selbstironischen
Humors, der gerade die Ars amatoria wohltuend von
neueren
"Liebeskünsten", wie etwa dem Bestseller "The Art of Loving"
(1956)
des Seelenkundlers Erich Fromm unterscheidet und sie bis heute zum
Standardwerk
ihres Gebiets macht. Bei aller guten Laune und spaßhaften
Aufschneiderei
meint Ovid doch im Kern durchaus, was er sagt. Sonst hätte sich
auch
Augustus weniger ärgern müssen.
Die ergänzenden Werke: Remedia amoris und "Doppelbriefe"
Im Jahr 2 v.Ch. wurde das Kaiserhaus durch einen ersten schweren Sittenskandal erschüttert: Augustus verbannte seine eigene Tochter, Julia, damals Gattin des späteren Kaisers Tiberius, wegen Ehebruchs und sexueller Ausschweifungen; auch andere in den Skandal Verwickelte wurden relegiert oder getötet. Da war es keck von Ovid, sogleich ein Jahr später durch eine Neubearbeitung (die meisten Philologen meinen sogar: durch das Verfassen) seiner Ars amatoria den sonst schon etwas angestaubten Spott über die Ehegesetze neu zu beleben; gut beraten war er jedenfalls darin, dass er dem Werk die erwähnte Huldigung an den jungen, im Jahr 1 v.Ch. gegen die Parther aufbrechenden C. Caesar beigab (die man ja nicht als ironisch lesen darf). Es ist verführerisch anzunehmen, wenn auch leider nicht beweisbar, dass er erst damals sein elegisches Werk auch dadurch arrondierte, dass er, wie dargelegt, die fünf Bücher Amores in drei Büchern neu fasste. Sogar an eine Neufassung der Epistulae in dieser Zeit ließe sich eventuell denken; jedenfalls fällt auf, dass nur im letzten Brief, dem der Sappho, neben der Möglichkeit der Liebeserfüllung (durch Rückkehr Phaons) am Ende auch die einer Heilung von der Liebe (161-184, 217-220) ins Auge gefasst wird. Das weist ja auf die in Ovids Werk bald folgenden Remedia amoris hin. Sollte etwa gerade dieser besonders laszive Brief, der ja in unserer handschriftlichen Überlieferung des Heroidencorpus fehlt (erst damals zugedichtet worden sein?
Genug der Spekulation. Wie immer man über Entstehung und Chronologie von Ovids erotischem Jugendwerk im einzelnen urteilt – ein beliebtes Feld der Forschung – sicher ist, dass nunmehr im Jahr 1 v.Ch. von Ovid ein Corpus erotisch-elegischer Dichtung in dreimal drei Büchern vorlag, das schon für sich eine – auch der formalen Struktur nach – in der Antike beispiellose Enzyklopädie der Liebe darstellte. In den Amores war die Liebe des Manns, in den Epistulae die recht andersartige der Frau dargestellt worden; die Ars amatoria zog aus beiden Werken ein Fazit, indem sie zeigte, wie man die in diesen früheren Gedichten dargestellten Fehler vermeiden und – mit freilich starker Einschränkung – glücklich lieben könne. Eine Fülle z.T. ausdrücklicher intertextueller Referenzen bezog die Werke aufeinander. In den Amores ordnete die neu verfasste Elegie 2,18 (s. oben) Ars und Epistulae letztlichin die Geschichte der Liebeselegie ein (während die Medea daraus entfernt wurde); im 3. Buch der Ars wurde die Neufassung der Amores und die Epistulae – neben der Ars selber und anderen notorischen Meisterwerken der (nicht nur erotischen) Literatur – zum geselligen Vortrag beim Symposion empfohlen (ars 3,339-346) . Ein anderes kleines Lehrgedicht, die Medicamina faciei ("Kosmetische Hilfsmittel"), von denen uns nur der erste Teil erhalten ist, erwähnt er dagegen nur wegen des sachlichen Interesses, nicht wegen seines literarischen Werts (der auch in der Tat nicht groß ist). Wichtiger war, dass die Ars ihre Eigenart immer wieder durch implizite Verweise auf die beiden älteren Werke ins Licht setzte.
Während Ovid sein erotisches Großcorpus abrundete, muss er schon an Erweiterung gedacht haben. Ein oder zwei Jahre später, 1/2 n.Ch. – der junge Caesar ist bereits im Osten (rem. 155 f.) –, veröffentlicht Ovid sein nächstes Lehrwerk: Remedia amoris ("Heilmittel gegen die Liebe"), durch die das didaktische Binnencorpus der drei Bücher Ars auf die Maßzahl des besten römischen Lehrgedichts, der Georgica Vergils in vier Büchern, angehoben wird. Mit diesen in der Regel unterschätzten Remedia verbinden sich in der üblichen Ansicht der Literaturgeschichten zwei kaum ausrottbare Fehlurteile: 1. dass es sich um eine Palinodie, also eine Art Widerruf der Ars handle, wobei deren Vorschriften weithin ins Gegenteil verkehrt würden, 2. dass Ovid selbstverständlich gewusst und auch zu verstehen gegeben hätte, dass Liebe nicht heilbar sei.
Das erste wird von Ovid selbst im Prooemium klar und schlüssig widerlegt. Ovid, der sich, wie am Anfang der Amores mit dem Liebesgott persönlich auseinandersetzt – diesmal geht die Initiative bezeichnenderweise vom Dichter aus - macht diesem Gott, Amor, klar, zum einen, dass schon seine Ars letztlich zu seinem Vorteil gewesen sei, indem er ja gelehrt habe, wie man "ihn", amor (die Liebe), errege, und wie er dabei bloßen "Trieb" in "Methode" verwandelt habe (V. 10 et, quod nunc ratio est, impetus ante fuit), und zum andern, dass jetzt seine "neue Muse die alte nicht aufdrösle" (V. 12 nec nova praeteritum Musa retexit opus), da er ja nur die Mittel zur Heilung hoffnungslos unglücklicher Liebe lehren wolle. Dies aber sei im Interesse Amors selbst, der ja als "Knabe" – dieses vierte didaktische Prooemium argumentiert also bezeichnenderweise wieder mit dem Attribut des Gottes, das schon im ersten entscheidend war – kein Interesse an für ihn rufschädigendem Selbstmord und Blutvergießen haben könne, sondern nur an harmloseren Schäden wie erbrochenen Türen und hintergangenen Männern ... Wieder bezieht sich Ovid, wie schon im 3. Buch der Ars auf unglückliche Fälle seiner Heroiden (V. 55 ff.): zunächst Phyllis (2), Dido (7), Medea (12), die unglücklich Verlassenen (im jeweils zweiten Gedicht der drei Bücher der Epistulae), dann neben Phaedra (epist.4) und Pasiphae (ars 1,289 ff.) auch auf Tereus und Scylla (die beide auf die "Metamorphosen" deuten, an denen Ovid bereits arbeitet) sowie auf Paris ("Doppelbriefe", epist. 16). Sachlich gemeint sind zum einen Fälle, wo die Mittel der Ars nicht rechtzeitig eingesetzt wurden (Phyllis usw., vgl. ars 3,33 ff.), zum andern Fälle pathologischer (Pasiphae) oder verbrecherischer Liebe (Tereus, Paris, Scylla). Klar: Nur wenn die Mittel der Ars nicht erfolgreich angewendet wurden oder aus moralischen Gründen gar nicht angewendet werden dürften, haben die Remedia ihre Aufgabe, sie sind also in keiner Weise eine Palinodie der Ars.
Was ferner die angebliche Umkehr der Vorschriften betrifft, so ist dieser Ausdruck falsch gewählt, da es sich meist um Fälle handelt, wo ein Mittel, das einst in der Ars dazu bestimmt war, beim andern Liebe zu erregen, umgestaltet wird zu einem, durch das man sich selbst, nicht etwa den andern, von der Liebe zu heilen sucht. Wenn etwa der schlaue Liebhaber sein übergewichtiges Mädchen "voll erblüht" nennt (s. oben S. 21??), will er vor allem ihr schmeicheln; wenn der Liebesheilung Suchende umgekehrt die attraktiv Üppige "Fettwanst" schimpft (rem. 327), will er selbst von ihr loskommen. Oder: Wenn der werbende Liebhaber der Freundin den Verliebten vorspielt, will er sie gewissermaßen anstecken oder entzünden; wenn der zu Entwöhnende sich als bereits gleichgültig geriert, hofft er, dass die äußerlich eingenommene Haltung auf sein Inneres wirkt (rem. 491-504) usw. Hier werden also Methoden rhetorischer Suggestion nicht plump umgekehrt, sondern geistreich umfunktioniert.
Zweitens: Dass es unmöglich wäre, Liebe zu heilen, ist nicht einmal heute die Meinung z.B. derer, die durch Therapie von Liebeskummer nebst anderen Fehlhaltungen ihr Geld verdienen; in der Antike haben besonders die Stoiker alle Affekte für grundsätzlich heilbar gehalten (wir denken an Chrysipps Therapeutikos sowie Senecas Consolationes und De ira), und was sie gegen die Liebe wussten, hat Cicero im vierten Buch der Tusculanae disputationes (74 f.) zusammengestellt (einiges verrät auch die stoische Amme in Senecas Tragödie Phaedra,129 ff., epikureische Ratschläge referiert Lucrez : 4,1141 ff.). Dagegen besagt es letztlich nichts, wenn die Liebeselegiker regelmäßig meinen, dass gegen die Liebe kein Kraut gewachsen sei (so besonders Properz , aber auch etwa der Medizingott Apoll selbst im ersten Buch der "Metamorphosen", V. 524), denn dieses Fehlurteil ist ein Teil ihrer Krankheit. (In den Remedia ist Apoll kuriert und Schutzpatron des Werks: 75-78, 489 f., 703-706). Wir haben somit allen Grund, die Remedia, trotz der auch hier lustig übertriebenen Selbstreklame und einigem zugestandenen Ulk (467 ff.: Agamemnon als Entdecker der Zweitfreundin!) grundsätzlich ebenso ernst zu nehmen wie die Ars, in der ja ebenfalls Grundvorstellungen der Liebeselegie widersprochen wurde. Sie sind Teil eines Programms, das den Menschen von der unwürdigen Beherrschung durch einen anderen (V. 15 indignae regna puellae) bzw. durch einen ihm verderblichen Affekt befreit. Kein anderer als ausgerechnet der romantische Dichter August Graf von Platen hat aus eigener Erfahrung bezeugt, dass Ovids Vorschriften "alle probat" seien.
In der Anlage folgt Ovid auch hier, jedenfalls was die Groß- und Grobstruktur betrifft, einer Art von chronologischem Faden, indem er zunächst die unglückliche Liebe schon im Keim zu ersticken rät (79-114) – von da stammt das sprichwörtlich gewordene Principiis obsta ("Widerstehe den Anfängen") - , dann Vorschriften gibt für den Fall, dass das nicht geschehen ist. Grundlage ist hier, dass die Liebe sich erst einmal austobt, damit der Kranke überhaupt behandlungsfähig wird (115-134). Durch die ersten grundlegenden Ratschläge zu einer Beschäftigungstherapie auf dem Forum, dem Land oder mit Hilfe von Reisen (135-248) wird dann ein physischer und psychischer Abstand zur Geliebten hergestellt. Jetzt scheint der Patient in der Lage zu erkennen, dass ihm jedenfalls magische Mittel – in der Antike immer eine reale Möglichkeit – nicht helfen (249-290, köstlich: Zauberin Circes Versuche der Selbsttherapie!). Alle folgenden Vorschriften (291 ff.) gelten dann aber für den Fall, dass der Verliebte nicht die äußere Möglichkeit hat, Rom zu verlassen. Zunächst soll er sich dann allein und durch autosuggestive Monologe zu kurieren versuchen (299-330); dann muss er wenigstens lernen – Ovid setzt jetzt voraus, dass der Patient auch innerhalb der Stadt zu räumlicher Trennung noch nicht fähig ist -, die Partnerin unvorteilhaft in Szene zu setzen (331-356: diese Vorschläge wirken ausnahmsweise etwas erklügelt), was schließlich bis zum richtigen, d.h. liebesschädlichen Verhalten beim Intimverkehr führt. Die veneris voluptas steht also sinnvollerweise diesmal nicht am Ende (wie im zweiten und dritten Buch der Ars), sondern in der Mitte der Unterweisung. Nach einem hier, auch zur Steigerung der Spannung, eingeschobenen literarischen Exkurs (dazu sogleich) gibt Ovid dann recht überraschende und bis ins Fäkalische peinliche Anweisungen (361-440).
Auch im Folgenden bleibt der Patient in der Nähe seines Unglücks: Er soll sich aber immerhin eine zweite Freundin nehmen (441-488), der alten gegenüber die Gleichgültigkeit wenigstens simulieren (489-522) und – eine Konzession des milden Präzeptor – sich an der physischen Liebe übersättigen (523-548). Nachdem dann, ungerufen wie Phoebus im zweiten Buch der Ars, ein zuständiger Gott, Amor Lethaeus, erschienen ist und einen nicht sonderlich bedeutsamen Nachtrag geliefert hat (551-578), scheint der vorausgesetzte Liebhaber zur physischen Trennung wieder in der Lage – das Buch ist also in der Weise axialsymmetrisch, dass der schlimmste Zustand in der Mitte ist (331-548) und es in Richtung auf die Ränder sozusagen jeweils besser wird -; nun wird er zur Geselligkeit, d.h. Meidung der Einsamkeit, ermahnt (579-608: Negativbeispiel ist wieder einmal Phyllis), und, wieder bei seinen Freunden, scheint er nunmehr schon vorläufig kuriert. Ovid behandelt also jetzt bereits Möglichkeiten des Rückfalls (609-698), wobei besonders seine Warnung vor einem Ende mit Zank (655-672) schön und human (V. 655!) ist. Am Schluss stehen, zur Verhinderung des Rückfalls, wieder meditative Übungen, wozu auch eine symbolische Verbrennung, die Meidung erotischer Lektüre und ein Bewusstseinstrainig im Hinblick auf potentielle Rivalen gehört (673-794). Die Banalität der Schlussvorschriften (795-810: Tipps zu Ernährung und Alkohol) – eine Antiklimax ähnlich wie am Ende des dritten Buchs der Ars – zeigt handgreiflich, dass das Wichtigste erreicht ist: Mann und Frau – auch sie war ja mit ins Auge gefasst (49-52) – sind geheilt und bringen dem "heiligen Dichter" statt Arzthonorar ein Dankopfer ex voto dar (811-814).
Im Hinblick auf das Ganze von Ovids erotischer Dichtung ist besonders der Mittelexkurs (361-396) von Interesse, da Ovid ja hier den eingangs zitierten (und durch sein Corpus amatorium in der Tat gerechtfertigten) Anspruch erhebt, ein "Vergil der Elegie" zu sein. Hier – und das ist gerade im Jahr 1 oder 2 v.Ch. begreiflich – hören wir auch zum ersten Mal davon, dass Ovids erotische Dichtung ernstlichen Anstoß erregt hat (denn die Apologie seiner Dichtung in am. 1,15 betraf das Dichten an sich, nicht die Erotik). Dabei spricht Ovid aber auffallenderweise nicht von der Anstößigkeit seiner Behandlung der Sittengesetze: Dieses heikelste Problem dissimuliert er bzw. erledigt es nur implizit und teilweise, indem er, wie schon erwähnt (oben S. 16??) , in den Remedia keine einschlägigen Anspielungen mehr macht (und wie hätten sich diese angeboten!). Dafür behandelt er den nun offenbar ebenfalls erhobenen Vorwurf, seine Dichtung sei schlüpfrig und "frech" (V. 362 Musa proterva), was sich, wie der Kontext eindeutig beweist, auf die Behandlung des Sexuellen am Ende des zweiten und des dritten Buchs der Ars beziehen muss. In der Tat hatte Ovid hier etwas Neues in die Sprache der Elegie, ja der lateinischen Literatur gebracht – denn die derben Ferkeleien des Satirikers Lucilius und des Jambikers Catull waren ganz anders -, was er selber freilich mit holder Unschuld und Entschiedenheit leugnet, indem er behauptet, nur der (von Kallimachos hergeleiteten) Gattungstradition der Elegie zu folgen (379 ff.). Es fällt auf, dass diese Kritik an Ovid, die sich ja bis in die Gegenwart fortsetzt, erst damals laut wird, wo doch einschlägige Partien der Amores, wie etwa die Scheltrede an das impotente Mannesglied in der grandios obszönen Elegie 3,7, nicht weniger bedenklich gewesen waren. Es dürfte wohl auch hier die heikle Situation der Zeit gewesen sein – Historiker sprechen (auch im Hinblick auf einen mit dem Juliaskandal verbundenen Putschversuch) geradezu von einer "Staatskrise" des Jahres 2 v.Ch. -, die Augustus und seine Freunde hier nervöser, weniger tolerant gegenüber einem so unbekümmerten Dichter wie Ovid gemacht haben. Der nächste Sittenskandal im Kaiserhaus führte dann ja zur Verbannung Ovids – der schon hier gut daran getan hätte, weniger aufzutrumpfen (363 f.):
dummodo sic placeam, dum toto canter in orbe,
qui volet, impugnent unus et alter opus.
"Wenn ich denn so Erfolg habe, wenn ich so auf der ganzen Welt
gesungen
werde,
dann soll doch ruhig der eine oder andere, der will, mein Werk
bekämpfen!"
Noch fehlten aber zum vollen "Vergil", der ja immerhin zwölf Gesänge Aeneis geschrieben hatte, zwei Bücher; und Ovid dürfte sie bereits, als er die zitierten Verse der Remedia formulierte, im Auge gehabt haben (vor allem die als Musterheldin der Elegie in rem. 381 genannte Cydippe legt dies nahe): die sogenannten "Doppelbriefe", sicherlich wiederum Epistulae genannt, die, wie die metrische Technik zeigt, zwischen den Remedia (1/2 n. Ch.) und der Verbannung (8 n. Ch.) verfasst sein müssen. Die Motivation ihrer Entstehung kennen wir zufälligerweise genau, aus am. 2,18,27 ff.: Ein Dichterfreund Ovids, Sabinus, hatte nach Erscheinen der ersten Epistulae, der nachträglich so zu nennenden "Einzelbriefe", Antwortschreiben der angeschriebenen Liebhaber bzw. Ehemänner verfasst: eine schöne, gerade für Rhetorenzöglinge lohnende Aufgabe! Davon inspiriert krönte nun also Ovid sein elegisches Gesamtwerk, inden er, wie er die männlichen, in der Gegenwart spielenden Amores durch zwei für beide Geschlechter bestimmte didaktische Werke, Ars und Remedia, ergänzt hatte, so nun auch die weiblichen, in die Vergangenheit gehörenden Epistulae durch eine Sammlung vollendete, in der ebenfalls beide Geschlechter zu Wort kamen: eben die "Doppelbriefe", welche insgesamt drei Briefpaare in der Weise enthalten, dass jeweils der Mann – wie auch in der Ars vorgesehen - den ersten Brief schreibt, die Frau dann antwortet: Paris (16) – Helena (17), Leander (18) – Hero (19), Acontius (20) – Cydippe (21). Die Stoffe waren Ovids Lesern vertraut: Paris vor allem aus der Tragödie (und, bei Gebildeteren, der Ilias), Leander aus einer uns unbekannten, neueren Quelle (vielleicht in Prosa), Acontius aus den berühmten Aitia des Kallimachos (die Geschichte mag, wie die berühmte "Locke der Berenike", auch als Einzelstück tradiert und vorgetragen worden sein). Dabei dürften, wie Martin Pulbrook plausibel gemacht hat, die männlichen Briefe im einen, die weiblichen Antworten im anderen Buch, das Werk also in zwei Buchrollen, gestanden haben, womit für das elegische Gesamtwerk die Zahl der Aeneisbücher erreicht war. (Diese Aufteilung legte sich darum nahe, weil es ja, nach der Publikation des Sabinus, ein weibliches Epistelcorpus von Ovid und ein männliches eben von Sabinus gab: Ovid schuf jetzt dazu die Umkehrung.) Der Leser musste also, wenn diese Annahme richtig ist, die Bücher bei der Lektüre abwechselnd zur Hand nehmen (und, was die Buchhändler gefreut haben wird, er musste gleich zwei kaufen).
Nicht nur formal waren diese Briefpaare, Ovids bis heute am wenigsten bekanntes und verstandenes Meisterwerk, eine Novität im Schaffen des Dichters. Hier müssen wenige, mehr äußerliche Bemerkungen genügen. Die Briefpaare exponierten vor allem einen neuen Typ des Liebhabers: den leidenschaftlich Verliebten (den die bisherigen Epistulae gar nicht, die Ars nur in bescheidenen Ansätzen und die Remedia in der Unglücksgestalt des Patienten gekannt hatten). Alle drei Helden sind, ohne nennenswertes Vorleben, einzig von der Liebe bzw. ihren Göttern, Amor und Venus, im Sinne des (in der Ars schon umgekehrten) Amor-magister-Topos zu ersten spektakulären Taten begeistert (die Liebhaber der Einzelbriefe waren zwar meist auch prominent, hatten aber nichts gerade aus Liebe geleistet). Paris lässt sich von einem Versprechen der Venus (16,15 ff.) dazu hinreißen, eine ganze Flotte zu bauen, um die Frau, in die er sich, noch ohne sie zu kennen, verliebt hat, eine verheiratete ausländische Königin (man denke!), zu entführen und dabei im Vertrauen auf die Göttin, das Risiko eines Weltkriegs einzugehen. Leander, schon bei Vergil (georg. 258-263) Sinnbild pathologischer Liebesleidenschaft, wird vom "unvorsichtigen Liebesgott" (18,190 non cautus ... Amor) jede Nacht ins kalte Meerwasser getrieben, um den Bosporus zu seiner Hero zu durchschwimmen, eine erotisch-sportliche Leistung ohnegleichen. Den verliebten Acontius bringt der "erfinderische Amor" (20,30 ingeniosus Amor), der auch sein "Rechtsberater" (V. 32) ist, dazu, sich mit einem Trick der geliebten Cydippe zu bemächtigen: Er wirft ihr einen Apfel mit der Inschrift "Bei der Diana, ich werde den Acontius heiraten" vor die Füße, das arglose Mädchen liest das, laut natürlich, wie‘s in vorchristlich antiken Zeiten Brauch ist, und so ist sie – denn Diana hat eine gut römisch formalistische Rechtsauffassung - an den Verfasser eidlich gebunden: welch geniale Idee! Gleich groß ist bei den dreien die Liebe, verschieden der äußere Erfolg: Paris hat zur Hälfte Erfolg, da Helena ihm folgt, in der Hauptsache aber Pech, weil er letztlich sein Vaterland ins Verderben stürzt; Leander bringt sich, wie vorauszusehen war, selber den Tod, indem er eines Tags bzw. Nachts ertrinkt; nur Acontius siegt auf der ganzen Linie, da Cydippe ihn heiraten muss.
Verschieden sind die drei Briefpaare durch den Status der jeweils dargestellten Liebe, die sich sozusagen zunehmend bessert. Bei Paris und Helena handelt es sich, wie beide wissen und, im Gegensatz zur Ars (wir ahnen, warum), nicht beschönigen, um bösen Ehebruch (adulterium). Leanders und Heros Verhältnis ist das des bloßen stuprum ("Unzucht"): Beide sind aus gutem Hause, können aber aus irgendwelchen (nicht näher ausgeführten) Familienrücksichten ihre Liebe nicht bekannt machen (18,13 f.) oder gar einander heiraten. Bei Acontius und Cydippe haben wir ein zumindest nach seiner Auffassung legitimes Verlöbnis, das dann jedenfalls zur Ehe (matrimonium) führt. (Wieder einmal gilt, dass die für Amores und Ars konstitutive Beziehung zur Halbweltdame bzw. "Hetäre" in den Epistulae keine Rolle spielt.) Auch das Alter der dargestellten Frauen lässt eine Linie erkennen: Helena ist ein reife Matrone mit Kind, Hero eine noch nicht eheerfahrene junge Frau, Cydippe ein schieres Kind im ersten (nach antikem Brauch sehr frühen) heiratsfähigen Alter. Im übrigen scheint diesmal sogar die Chronologie, anders als bei den Einzelbriefen, zu stimmen: Paris und Helena gehören in die homerische, eigentlich schriftlose Zeit; die andern beiden Paare leben in schon litteratem Zeitalter: Hero treibt Dichterlektüre (19,137 f.), bei Acontius gehörte das Schreiben schon vor Ovid zur Story (eine Analogie zur professionell schreibenden Sappho im letzten Einzelbrief).
Formal am interessantesten ist, dass die drei Briefpaare grosso modo den drei Büchern der Ars amatoria entsprechen. Der Parisbrief ist das Muster einer erfolgreichen Werberhetorik im Sinne des ersten Buches (ars 1,437 ff.) - obwohl Paris, im Gegensatz zum dort nur simulierenden Liebhaber, heftig verliebt ist -: er verspricht, bittet, schmeichelt, lässt unverhüllt und bis an die Grenzen der Peinlichkeit (zu Theseus in 16, 149-162!) sein sinnliches Begehren durchblicken (vgl. ars 1,610) und suggeriert vor allem das eine, was die Frau am liebsten hört: tu mihi sola places (sinngemäß). Damit bringt er in der Tat Helenas Tugend in Bedrängnis; ihre Antwort ist nicht kokett (wie man sonderbarerweise meist glaubt) im Sinne der Vorschriften des dritten Buchs der Ars, sondern spiegelt ihr zunehmendes Verfallen an den sie bedrängenden Liebhaber.
Der Leanderbrief, nicht persuasiv (zu einem Handeln überredend) im Sinne der beiden anderen Männerbriefe, hat vor allem die Aufgabe, den Fortbestand der Liebe (im Sinne des zweiten Buchs der Ars) dadurch zu sichern, dass Leander, der den Liebesbeweis durch sein Schwimmen diesmal aus Witterungsgründen nicht antreten kann, die geliebte Hero von der unverminderten Stärke seiner Gefühle überzeugt; er praktiziert vor allem, z.T. wiederum bis an die Grenzen der Peinlichkeit (aber doch nie völlig simulierend), das Prinzip der zur Erhaltung der Liebe bestimmten Rhetorik im zweiten Buch der Ars (299-314): attonitum forma fac putet esse tua (dort V. 296), "Lass sie glauben, du seiest verzückt von ihrer Schönheit!" Auch dieser Brief ist, wie die Antwort zeigt, im Hinblick auf seine Hauptabsicht erfolgreich.
Im dritten Männerbrief, dem des Acontius, geht es wiederum um Liebeswerbung, aber völlig anders als bei Paris oder im ersten Buch der Ars. Nicht angebandelt wird hier, nichts findet sich von Begehren und Versprechen, vielmehr macht der Freier hier nur seine alten Rechte auf Grund des Eheversprechens geltend – natürlich: Das erfolgreiche Werbeschreiben hat Acontius mit seiner famosen Apfelinschrift ja schon hinter sich. Diesmal verhält sich Cydippe instinktiv den Regeln der Ars amatoria für weibliche Antwortbriefe (3, 469 ff.) entsprechend: Man solle, hieß es dort, erst nach einer kleinen Verzögerung schreiben, weder zu schnell zusagen noch gänzlich abwinken, vielmehr den Bewerber zwischen Hoffen und Bangen in der peinlichen Schwebe halten, dabei aber, ganz sachte, die Hoffnung immer stärker werden lassen . Helena konnte das nicht: Hingerissen vom schönen Ungestüm des Paris schwamm sie in einem Wechselbad der Gefühle und wusste bis zuletzt nicht, was sie wollte. Wie schafft es ausgerechnet die junge unerfahrene Cydippe, einer für Libertinen erdachten Regel zu entsprechen? Weil sie das eine, Entscheidende, mit ihnen gemeinsam hat: Sie liebt nicht. Was bei jenen die Berechnung des Vorteils, bewirkt bei ihr die schiere Jugendlichkeit. Sie ist emotional, jedenfalls was das Erotische angeht, noch unbeteiligt, nur empört über die Kränkung durch den Trick des Acontius und verwettert durch alles, was über sie in den vergangenen Monaten hereingestürmt ist: Verlöbnis mit einem andern, plötzliche Krankheit, wiederholter Aufschub der Hochzeit ...: Für die Liebe hat dieses Kind noch gar keine Zeit und keinen Kopf gehabt; eben darum ist ausgerechnet sie, versehentlich, Ovids beste Schülerin.
Niklas Holzberg hat darauf aufmerksam gemacht, dass die Doppelbriefe insgesamt einem griechischen Liebesroman entsprechen, der mit dem Anfang der Beziehung (hier Paris) beginnt und mit dem Happy End der Hochzeit (hier Cydippe) aufhört. Ob Ovid nun gerade daran dachte oder nicht: Sein Gesamtplan in dieser Sammlung war sicherlich auch ein Politicum. Nachdem er durch die Neuauflage von Amores und Ars den angeschlagenen Princeps verärgert hatte, schuf er nun wenigstens ein Werk, in dem das einzige glückliche Liebesverhältnis in die staatlich gewünschte, anerkannte Ehe mündete, während adulteria und stupra Unglück brachten. (Seinen alten Anhängern gab Ovid freilich immer noch zu verstehen, dass es in der Liebe am besten ist, wenn man nicht oder nicht zu sehr liebt.)
Ovids Vorsichtsmaßnahmen in seinen letzten Werken halfen ihm
nichts
mehr. Zwar konnte es der Kaiser nicht wagen, den Dichter wegen seiner
Poesie
allein zu bestrafen – in Sachen der Literatur wollte er als tolerant
gelten
-: als aber Ovid im Jahr 8 n.Ch. sich, wie es scheint – die Sache wurde
ja schon damals offenbar nicht recht aufgeklärt – in den neuen
Ehebruchskandal,
diesmal der Kaiserenkelin Iulia, verwickelt war, da verbannte ihn
Augustus
in einem juristisch recht innovativen Verfahren, und im
begründenden
Edikt stand dann doch der alte, ja nicht völlig unberechtigte
Vorwurf:
doctor
adulterii, "Lehrer des Ehebruchs". Unsere Betrachtung seiner
Enzyklopädie
der Liebe, die in der antiken Literatur einzig dasteht, hat aber
gezeigt,
dass er jedenfalls weit mehr gewesen ist als dies: ein Dichter, der die
Liebe in fast all ihren Erscheinungsformen und Spielarten dargestellt
hat,
und der sich dabei vor allem, wir denken besonders an die
Heroidenbriefe,
in die Empfindungen der Frau wie kein anderer Römer versenkt
hatte.
Nur gerade die Liebe des älteren Mannes konnte er, zu früh
verbannt,
nicht mehr darstellen (einen Hinweis gab immerhin ars 3,565 ff.);
dafür
erschlossen seine Elegien aus dem Exil noch einmal überraschendes
Neuland der menschlichen Seele, aber das ist ein anderes Thema.
Literaturhinweise:
Ovids Amores, Ars, Remedia sind vorzüglich ediert von E.J. Kenney (Oxford 1961, verb. 2. Aufl. 1994); für die Epistulae muss man noch die kritisch unbefriedigende große Ausgabe von H. Dörrie (Berlin/New York 1971) verwenden, eine Neuausgabe von M. Pulbrook ist angekündigt; vorläufig gibt einen guten Text G. Rosati (Mailand 1989). Als deutsche Gesamtübersetzung (in Versen) des erotischen Werks ist die hier neu vorgelegte von V. v. Marnitz z.Zt. wohl ohne Konkurrenz; einzelne zweisprachige Ausgaben gibt es in den bekannten Reihen von Reclam und Tusculum (Artemis), wovon bes. die geniale Versübersetzung der Amores durch W. Marg / R. Harder (München, 7. Aufl. 1992) hervorgehoben sei. An Kommentaren sind am wertvollsten: zu den Amores der von J.C. McKeown (Liverpool 1987 ff., noch unvollständig), zu den Remedia der von P. Pinotti (Bologna 1988, 2. Aufl. 1993), zu den Doppelbriefen der von E.J. Kenney (Cambridge 1996). Zur Ars gibt es befriedigende Kommentare nur zu Buch I von A.S. Hollis (Oxford 1977) und bes. zu Buch II von M. Janka (Heidelberg 1997); für das dritte Buch hat man nur den problematischen, immerhin wissenschaftsgeschichtlich interessanten Gesamtkommentar von P.Brandt (Leipzig 1902, oft nachgedruckt). Für die Heroides stammt der letzte (heute ungenügende) Gesamtkommentar von A. Palmer (Oxford 1898); unter den wertvollen neueren Einzelkommentaren verdienen besondere Erwähnung die von P.E. Knox (Cambridge 1995: epist. 1; 2; 5; 6; 7; 10; 11; Sapph.) und von A Barchiesi (Florenz 1992: epist. 1-3).
Die Literatur zu Ovid, wie die Popularität des Dichters, hat seit etwa zwei, drei Jahrzehnten einen förmlichen Boom erlebt, der durch Christoph Ransmayrs Erfolgsroman Die letzte Welt (1988) nur noch angeheizt wurde. Die älteren gelehrten Positionen zum Gesamtwerk Ovids sind aufgearbeitet von E. Martini, Einleitung zu Ovid, Brünn u.a. 1933 (Nachdr. 1970); bahnbrechend war dann der ebenfalls resümierende, aber schon ganz originell urteilende und bis heute wertvolle Artikel "P. Ovidius Naso" von W. Kraus, in Pauly/Wissowas Realenzyklopädie (RE XVIII, 2a [1942], 1907-1986), verbessert nachgedr. in: Ovid, hg. v. M. v.Albrecht / E. Zinn (Darmstadt 1968, mit anderen wichtigen Arbeiten wie einem Essay des Herausgebers Ernst Zinn). Noch stimulierender war das Buch des genialen Gräzisten H. Fränkel, Ovid: A poet between two worlds (Berkeley / Los Angeles 1945, dt. Übers. 1970), dessen Hauptthese allerdings durchweg abgelehnt wurde. Eine geschmackvoll ausgewogene, insgesamt konventionellere Gesamtdarstellung gab dann L.P. Wilkinson, Ovid recalled (Cambridge 1955, leider nicht ins Deutsche übersetzt); seine Darstellung der Rezeptionsgeschichte scheint insgesamt noch nicht ersetzt (vgl. immerhin Ovid renewed, hg. v. Ch. Martindale, Cambridge u.a. 1988). Einen repräsentativen Einblick in die seitdem geleistete Forschungsarbeit gibt Aufstieg und Niedergang der römischen Welt,Band II 31, 4 (Ovid, hg. v. W.Haase, Berlin / New York 1981) und jetzt die monumentale Festschrift für den um Ovid vielfach verdienten M. v.Albrecht: Ovid: Werk und Wirkung, 2 Teile, hg. v. W. Schubert, Frankfurt/M. 1999; gerade die neuesten Wege und Irrwege der Forschung erschließt das launig geschriebene, einfallsreiche Buch von N. Holzberg, Ovid: Dichter und Werk, München 1997, 2. Aufl. 1998). Eine gediegene Einführung geben M. Giebel, Ovid, mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek 1991 und (partieller) S. Döpp, Werke Ovids: Eine Einführung, München 1992. Mehr Beachtung von Seiten der Philologen würde verdienen der oben öfter zitierte R. Syme, History in Ovid (Oxford 1978).
Für Ovids Amores ist besonders wertvoll das Nachwort zur zitierten Ausgabe von Marg/Harder (ebenfalls nachgedruckt im Sammelband von v.Albrecht/Zinn) und ein Aufsatz von I.M.Le M. Du Quesnay, "The Amores", in Ovid, hg. v. J.W. Binns (London/Boston 1973); inhaltsreich bes. die Vorrede zum Kommentar von McKeown (mit Verw. auf ältere Lit.). Die neueste Literatur und Diskussion vermittelt jetzt das oft problematische Buch von G. Bretzigheimer, Ovids Amores: Poetik in der Erotik (Tübingen 2000). Zum umstrittenen Aufbau hat soeben M. v.Albrecht in einer oben zitierten Abhandlung (in Wiener Studien 113, 2000, leider fast ohne Lit.) Vernünftiges gesagt.
Für die Epistulae (heroidum) ist überragend das erwähnte hochgelehrte Buch von H. Jacobson, Ovid’s Heroides (Princeton 1974: auch zur Chronologie der erotischen Gedichte insgesamt), wohl das Wichtigste, was, neben Fränkel (1946), im vergangenen Jahrhundert zu Ovid geleistet wurde. Für die Einordnung in die Gattung war wichtig E. Oppel, Ovids Heroides: Studien zur inneren Form und Motivation (Diss. Erlangen 1968) und neuerdings F. Spoth, Ovids Heroides als Elegien (München 1992). Grundlegend zur Bucheinteilung: M. Pulbrook, "The original published form of Ovid’s Heroides" (zuerst 1977) in: Verf., Studies in Greek and Latin authors (Maynooth 1987). Zur Rezeption (oben erwähnt): H. Dörrie: Der heroische Brief: Bestandsaufnahme, Geschichte, Kritik einer humanistisch-barocken Literaturgattung, Berlin 1968.
Die Ars amatoria hat in neuerer Zeit wertvolle Monografien erhalten: M. Labate, L’arte di farsi amare (Pisa 1984); M. Myerowitz, Ovid’s games of love (Detroit 1985, geistreich, mit schönen Übersetzungen, aber überzogener Hauptthese); beachtlich ist jetzt die einem Gesamtkommentar gleichwertige, in der Widerlegung tradierter Irrtümer oft geradezu brillante Arbeit von Jula Wildberger, Ovids Schule der "elegischen" Liebe, Frankfurt/M. u.a. 1998. Abwegig scheint dagegen A. Sharrock, Seduction and repetition in Ovid’s Ars amatoria 2 (Oxford 1984, folgt der heutigen Mode poetologischer Allegorese).
Für die Remedia dringt wohl am tiefsten G.B. Conte, "L’amore senza elegia" (zuerst 1986), jetzt in Verf., Generi e lettori (Mailand 1991). Die Doppelbriefe sind insgesamt noch nicht wirklich befriedigend behandelt; oft ungeschickt im Psychologisieren ist die sonst verdienstvolle Untersuchung von C.M. Hintermeier, Die Briefpaare in Ovids Heroiden: Tradition und Innovation (Stuttgart 1993, mit älterer Lit.)
Die oben dargelegten Aufassungen sind z.T. näher begründet in folgenden Arbeiten des Verfassers: Die römische Liebeselegie als werbende Dichtung (Amsterdam 1971); "Rhetorik und Erotik" (in Würzburger Jahrbücher f. d. Altertumswiss. N.F. 5, 1979; muss nach der Arbeit Wildbergers jetzt in einem Punkt modifiziert werden); "Ovids Liebeskunst und die Ehegesetze des Augustus" (in Gymnasium 86, 1979); "Heroides Ovidianae cur epistulas scribant" (zuerst 1991), in: Verf., Apocrypha, hg. v. J. Leonhardt / G. Ott (Stuttgart 2000)