Wilfried Stroh

Ein Hoch der Peinlichkeit!


Von allen Emotionen ist die Peinlichkeit vielleicht die menschlichste. Ein liebendes, wütendes, sogar ein neidisches oder hochmütiges Tier können wir uns vorstellen: aber ein Tier, das peinlich berührt wäre? Nur der Mensch hat die Scham; nur ihm kann es darum peinlich werden, wenn diejenigen Dinge zum Vorschein, oder, wie Freud scherzte, zum Vorschwein, kommen, die er, vor allem weil sie seiner Moral- und Geistesnatur widerstreben, gerne im Verborgenen ließe.
Aber trotz ihrer tiefen Verankerung im Allgemeinhumanen scheint die Peinlichkeit, vom linguistischen Standpunkt aus, ein speziell neudeutsches Phänomen zu sein. Weder alte noch neuere Sprachen haben offenbar eine besondere Vokabel für das spezifisch Peinliche (obwohl sie natürlich sehr wohl im Stande sind, die Sache unter wechselnden Bezeichnungen auszudrücken); und noch im siebten Band von Grimms Wörterbuch aus dem Jahr 1895 wird gerade diese heute doch vorherrschende Bedeutung von „peinlich“ noch nicht registriert. Ist uns im vergangenen Jahrhundert immer mehr peinlich geworden?
Natürlich waren es nicht diese letzten Überlegungen, die das Literareon und seine Berater dazu bestimmten, „peinlich, peinlich“ zum Motto seines vierten Kurzgeschichtenwettbewerbs zu machen. Die potentiellen Literaten sollten irgendwie menschlich berührt und zu einem Erzählen möglichst frisch von der Leber weg animiert werden. Und dies ist aufs Ganze gesehen auch wohl gelungen. Seelenbekenntnisse der tieferschürfenden Sorte waren selten, dafür wurde mit viel Phantasie fabuliert, und mit Humor. Zum Glück ist nämlich – jetzt könnte man noch einmal Freud bemühen – wo das Peinliche ist, die Heiterkeit nicht ferne. Ein Hoch der Peinlichkeit!