Wilfried Stroh
Pindar: zur Einführung
Zum Konzert „Pindar – Dichtung und Musik“ der Bayerischen Akademie der
Schönen Künste, am 15.10.02
Gut hundert Jahre nach Sappho, der berühmten, berüchtigten
Dichterin von Lesbos, im Jahrhundert schon der Perserkriege und der
Seeherrschaft Athens, von etwa 518 bis 438 vor Christus, lebte im
böotischen Theben der Lyriker Pindaros, deutsch: Pindar, dessen
Name von einem Sappho vergleichbar großen Nimbus umflossen ist.
Er ist, bei allen unbestritten, das, was wiederum
fünfhundert Jahre später der römische Rhetoriker
Quintilian
formuliert hat: lyricorum longe princeps, „bei weitem der erste
unter den Lyrikern“. Und in seinem Fall sind – anders als bei Sappho,
der
so gut wie völlig Verlorenen – die Gründe des Ruhms auch
für
uns noch überprüfbar. Nicht nur einzelne Gedichtfetzen,
sondern
neben vielen, oft umfangreichen Fragmenten vor allem von
religiösen Dichtungen, haben wir von Pindar an vollständigen
Texten einen stattlichen modernen Band mit dem, was einmal vier antike
Buchrollen gefüllt hat: vier Bücher mit Lobgedichten,
Preisliedern, nicht auf erfolgreiche Feldherrn
oder mächtige Könige, sondern - überraschend für
uns,
nicht für Griechen - auf siegreiche Sportler, Wagenlenker,
Wettläufer, Boxer usw. Das ist immerhin ein knappes Viertel von
insgesamt siebzehn Büchern, die freilich nicht er selber in dieser
Form ediert hat, sondern die gelehrten Philologen von Alexandrien.
Ihnen verdanken wir also insgesamt fünfundvierzig sogenannte
„Epinikien“, d.h. Preislieder auf Siege, die sich darum erhalten haben,
weil sie wegen ihrer noch relativ großen Verständlichkeit in
der antiken Schule am beliebtesten waren, darum auch in Byzanz bzw.
Konstantinopel noch gelesen wurden und so von dort im Jahrhundert, als
auch der Buchdruck erfunden wurde, ins Abendland kamen, wo ihnen selber
Lob, Preis und Bewunderung in Fülle zuteil wurde.
Freilich, um es mit Lessing zu sagen:
Wer wird nicht einen Klopstock loben?
Doch wird ihn jeder
lesen? Nein.
Wie Klopstock, dem Bewunderer Pindars, so ähnlich geht es auch
Pindar selber. Während auch heute noch kein Schüler ein
humanistisches Gymnasium verlässt, ohne vom Epiker Homer und vom
Tragiker Sophokles große Stücke kennengelernt zu haben,
bleibt der dritte dieser ganz Großen, der Lyriker Pindar, auch
dort fast immer ungelesen. Und das gilt nicht nur für den
griechischen Urtext, sondern auch für die deutschen
Übersetzungen. Seit über zweihundert Jahren sind deutsche
Philologen und Dichter um die Wette bemüht, Pindar in
Versmaß oder Prosa ihren Landsleuten nahezubringen – die Reihe
geht von Wilhelm von Humboldt bis zu unserem Münchener Kollegen
Dieter Bremer und seinem Lehrer,
dem unvergesslichen Uvo Hölscher, aus dessen Nachlass in diesen
Tagen
elf deutsche Pindaroden erschienen sind -, aber diese Versuche
erreichen doch
alle nur einen relativ kleinen Kreis von Enthusiasten. Wobei immerhin
die
professionellen Pindarforscher ihrem Idol mit besonderer Hingabe
ergeben scheinen.
Der jüngste Pindarkommentar braucht, um nur gerade vier der
fünfundvierzig
Oden zu erläutern, ganze siebenhundert Seiten; und das neueste
Pindarbuch,
verfasst von einem Philosophen, ergründet auf sogar eintausend
stolzen
Seiten das Denken des Dichters. Man darf, trotz einiger bewundernder
Rezensionen,
diesem Werk prophezeien, dass es noch weniger gelesen werden wird als
Pindar
selber.
Warum ist gerade Pindar, der berühmteste antike
Lyriker, so unpopulär? Ich sehe vor allem zwei Gründe.
Erstens: Pindar ist, anders als Homer und Sophokles, sehr schwer
verständlich (ein Punkt, den ich zunächst zurückstellen
möchte). Zweitens: Pindar entspricht nicht ganz unseren
Vorstellungen von dem, was Lyrik ist. Hiermit ist zu beginnen. Was
überhaupt ist Lyrik? Nach einer praktischen Einteilung, die
allerdings erst aus dem achtzehnten Jahrhundert stammt,
gibt es drei Grundgattungen oder, wie Goethe gesagt hat, „Naturformen“
der
Dichtung: Epos, Drama und Lyrik. Im Epos tritt der Dichter, etwa Homer,
zurück hinter den Menschen, von denen er berichtet; hier herrscht
die
dritte Person . Im Drama, tritt der Dichter, etwa Sophokles,
zurück
hinter den Personen, die er auftreten und agieren lässt; hier
herrscht
die zweite Person der Anrede. In der Lyrik aber spricht der Dichter
selbst
von sich; in ihr herrscht die erste Person. Der Dichter verbirgt sich
nicht,
sondern sagt sich selber aus: Lyrik, so hat es meines Erinnerns der
Germanist
Emil Staiger in einem berühmten Buch formuliert, ist die
„Selbstaussage
der gestimmten Innerlichkeit“. Wenn man also nach einem ebenfalls seit
dem
achtzehnten Jahrhundert beliebten Schema der Literaturgeschichte bei
den
Griechen auf das epische Zeitalter das lyrische und dann das tragische
oder
dramatische folgen lässt, dann lässt man dieses zweite,
lyrische
Zeitalter meist mit einer „Entdeckung des Ichs“ oder „des Individuums“
zusammenfallen:
Vater der Lyrik scheint dann etwa der in der Tat höchst
subjektive,
ichbetonte Archilochos von Paros, der im 7. Jahrhundert gelebt hat. Von
ihm
hieß es ja schon in der Antike, er habe im Gegensatz zu anderen
Dichtern
das eigene Leben zum Gegenstand der Dichtung gemacht
Nun, dieser heutige Begriff von Lyrik, der uns fast
selbstverständlich scheint, deckt sich durchaus nicht mit dem der
Antike, die zum Beispiel gerade den Archilochos, trotz anerkannter
Subjektivität, nie zu den Lyrikern gerechnet hat. Warum nicht?
Weil ihm das Kennzeichen des eigentlichen Lyrikers fehlt: Er schreibt
nicht für den Gesang, nicht
für den musikalischen Vortrag mit einem Instrument. Lyrik ist
nämlich
dem Wortsinn nach „Dichtung zur Lyra“, d.h. zum Gesang, wobei in der
Regel
der Dichter selbst wohl auch Komponist seiner Texte ist. Demnach kann
es
auch Lyrik geben, die rein erzählend ist, wie etwa die Chorlieder
des
Stesichoros (die vom Inhalt her sozusagen ganz episch waren, aber eben
gesungen
wurden); Lyrik gibt es selbstverständlich auch in Tragödie
und
Komödie, immer dort, wo Chorgesänge oder auch Soloarien den
nur
gesprochenen Text unterbrechen, was auch am Versmaß sichtbar wird.
Im Rahmen dieses antiken Lyrikbegriffs, der
übrigens noch bis in die Poetik des siebzehnten Jahrhunderts geht,
ist es natürlich durchaus möglich, dass der Dichter einmal
von sich oder, wie etwa die Lyriker Goethe, Eichendorff und
Mörike, von seinen Gefühlen spricht, aber nötig ist dies
durchaus nicht. Die Lyrikerin Sappho etwa hat, wie wir sehen, mit
größter Intensität ihre Empfindungen ausgedrückt;
aber nicht das, sondern ihr Gesang machte sie zur Lyrikerin. Und so
redet zwar auch Pindar, um wieder auf ihn zu kommen, durch den Mund des
Chors,
den er singen lässt, durchaus gerne von sich selber, aber, im
Gegensatz
zu Sappho, nicht so, dass er ein eigentliches Fühlen
ausspräche, jedenfalls nicht in der Weise, dass er uns, seine
Hörer oder Leser, zu
einem sympathischen Mitfühlen, Mitempfinden einladen würde.
Bei
aller lyrischen Begeisterung und Erhabenheit sind seine Oden doch
eigenartig kühl, distanziert und auf jeden Fall von einer
gesuchten Künstlichkeit. Nicht einmal die Sportereignisse, deren
Sieger er besingt, reißen ihn hin zu eigentlich sympathischer
Teilnahme, wie wir sie doch sogar von jedem Fußballreporter
erwarten und wie sie z.B. jüngst der Münchner Lyriker Albert
Ostermaier in seiner trefflichen „Ode an Kahn“ (gemeint natürlich:
Oliver Kahn, der berühmte Torwart) gezeigt hat – ich zitiere nur
wenige Verse aus diesem (in der Süddeutschen Zeitung
veröffentlichten) Meisterwerk moderner Sportlyrik, mit
Auslassungen:
wenn er beim eckball
wie eine blonde katze aus dem
tor stürmt auf einer welle
der begeisterung durch die
blauen lüfte fliegt [...]
dann
ist es für einen moment ach
könnte er doch verweilen als
wollte er die sonne aus ihrer
laufbahn fausten [...] als
wäre die
welt nur zwischen seinen zwei
handschuhen zu fassen [...]
seine arme sind wie skylla &
charybdis & wer könnte
diese
enge passieren ohne um sein
leben zu fürchten usw.
So ähnlich mitreißend hat sich etwa der junge Goethe den
Lyriker Pindar vorgestellt, als er, von ihm noch mehr begeistert als
mit ihm bekannt, Folgendes dichtete (es geht jetzt nicht um
Fußball, sondern um ein Wagenrennen):
Wenn die Räder rasselten Rad
an Rad
Rasch ums Ziel weg
Hochflog siegdurchglühter
Jünglinge Peitschenknall
Und sich Staub wälzt
Wie vom Gebirg herab sich
Kieselwetter ins Thal wälzt
Glühte deine Seele Gefahren
Pindar
Muth Pindar [...]
Das ist kühn, überkühn und vor lauter Enhusiasmus an den
Grenzen der deutschen Sprache formuliert. „Glühte deine Seele
Gefahren Pindar / Muth Pindar“, das heißt wohl: Pindars Seele
glüht den Gefahren (Dativ!), in denen sich die wagenlenkenden
Jünglinge zumal
bei Umrundung der Zielsäule befinden – also diesen Gefahren
glüht
Pindars Seele (mit einem inneren Akkusativ) Muth, sie glüht ihnen
also
gewissermaßen Mut zu, wie ein begeisterter Sportreporter die
Helden
der Arena selber anfeuert, als wäre er unter ihnen (ich verdanke
das
grammatische Verständnis dieser Verse, die offenbar pindarische
Dunkelheit
affektieren, den Erläuterungen des Germanisten Arthur Henkel). Die
Pindarforschung
hat längst festgestellt, dass diese Art hingerissener und
hinreißender
Teilnahme an Sportereignissen nichts mit dem echten, antiken Pindar zu
tun
hat, der viel mehr höchst abstrakt und unanschaulich den
jeweiligen
Sieg feiert, den Glanz, den dieser dem Bekränzten, seiner Familie
und
Vaterstadt verleiht. Und wenn er doch einmal wegen einer besonders
spektakulären
Leistung sich auf den Wettkampf selbst näher einlässt, dann
klingt
das so wie in dieser Ode auf einen Wagenrennsieger, der, schlimmer noch
als
bei Goethe, einen lebensgefährlichen Massenzusammenstoß heil
überstanden
hatte (ich zitiere nach der alten metrischen Übersetzung von
Donner):
Alexibios Sohn !
Wohl strahlen die
lockigen Chariten dich an.
Seliger, der du nach
Unendlichen Mühen zum
Preis
Ein Denkmal errangst
Im
stolzen Lied! Denn unter vierzig, die
Vom Rennwagen
stürzten, bewahrtest du
Furchtlosen Sinns dein Gespann unversehrt,
Kamest schon aus dem
gefeierten Kampf
In deiner Ahnen Stadt
zurück
Zur Eb’ne Libyas.
Von Müh’n ist
keiner der Menschen frei, noch
Wird er es je ...
Das ist höchst unpathetisch, was das sportliche Ereignis angeht:
Hier rollen nicht wie bei Goethe die alliterierend rasch rasselnden
Räder, hier glühen weder Naben noch Jünglinge noch
Odendichter; geradezu arithmetisch nüchtern wird der Erfolg
festgehalten: „Ganz“ (hólon ), so heißt es
wörtlich, habe er „den Wagen heimgebracht“,
als einziger „unter vierzig gefallenen Lenkern“. Der Reiz des Gedichts
liegt nicht im mitfiebernden Erleben, sondern in den prächtigen
Bildern und vor allem Sentenzen, die das Ganze einrahmen. Der Sieger
wird von den schönhaarigen Huld- oder Dankgöttinen (Chárites)
beleuchtet? Was soll das heißen? Das Folgende macht es zumindest
dem Pindarkenner klar: Für seine Anstrengung in Training und
Wettkampf bekommt der Sportsmann zum Dank (cháris) „aus
besten Worten ein Denkmal“ (lógon phertáton mnemeia),
nämlich eben die uns vorliegende Ode von
Pindar, die nunmehr im libyschen Kyrene, der „heimatlichen Stadt“
aufgeführt wird. Und zum Abschluss und Trost darf der siegreich
überlebende Held der Karambolage noch den Sinnspruch mit nach
Hause nehmen, dass „kein Mensch frei ist von einem zugeteilten Los an
Mühsalen noch je sein wird“, auf deutsch, dass jeder von uns
seinen Ärger hat. Wie reich ist so eine Ode
an kalt prunkenden Gedanken! Wie arm an sympathisch warmem Miterleben!
Nicht
vom Sportdichter Pindar hat sich Goethe zu seinen kühnen Versen
inspirieren
lassen, sondern – ich weiß nicht, ob man dies schon bemerkt hat –
vom
römischen Lyriker Horaz, der sich zu Beginn seiner berühmten
ersten
Ode ein wenig über die Griechen lustig macht, denen es
höchstes Lebensglück, ja göttergleiches Glück
bedeute, beim Wagenrennen „olympischen Staub aufzusammeln“, „die
Zielmarke mit glühenden Rädern (beim Umfahren) zu meiden“, um
dafür schließlich nur die „Palme des Ruhms“ zu ernten:
sunt quos curriculo
puluerem Olympicum
collegisse iuuat usw.
Aber diese Verse des Horaz betreffen das sportliche Erlebnis des
griechischen Wettkämpfers, gerade nicht seine Darstellung durch
Pindar (der seine Sportsieger übrigens auch immer daran mahnt,
sich ja nicht im Übermut des Sieges zu den Göttern erheben zu
wollen). So gilt auch für den jungen Goethe: Von Pindar
schwärmt man, den Horaz kennt man; den hat man ja in der Schule
auch gelesen und verstanden. Ich erwähne nur noch als Nachtrag,
dass Goethe, wie andere, auch darin Pindar missverstanden hat, dass er
glaubte, ihn in freien Rhythmen nachdichten zu müssen. Auch
hier ist er, wie längst bekannt, Horaz gefolgt, der von Rhythmen
Pindars
sprach, die sich ohne Gesetz ergießen: numerisque fertur lege
solutis (wie immer er das gemeint hat).
Wir sind inzwischen bereits bei einem anderen Punkt
angekommen, der uns Pindar heute eher befremdlich scheinen lässt;
ich meine die enge Verbindung von hoher Lyrik und Sport. Wie gesagt,
enthalten alle vier Odenbücher, die wir von Pindar haben, nur
Epinikien, Oden auf
Sportsieger, wobei diese nach den vier großen gesamtgriechischen
Sportfesten
gegliedert sind: Olympien, Pythien, Nemeen, Isthmien. Pindars Oden sind
nichts
anderes als die Texte für die jeweilige Festkantate, die dem
Sieger
gelegentlich schon am Ort des Geschehens, meist aber bei der
Rückkehr
in seine Vaterstadt dargeboten wurde. Wie die Aufführung eines
solchen
Epinikion vor sich ging, ist im einzelnen nicht ganz klar – unsere
Nachrichten
darüber sind spät und werden vielfach angezweifelt -, aber
man
nimmt an, dass wohl meistens ein Chor, chorós,
eigentlich „Reigen“,
die von Pindar oder anderen einstudierte Ode zur Instrumentalbegleitung
sang
und zugleich tanzte, gelegentlich wohl auch, dass die Ode von
Einzelsängern (vielleicht sogar einmal Pindar selber) zum Chortanz
als zu einer Art von pantomimischem Ballett vorgetragen wurde. Die
metrische Struktur scheint dabei
darauf hinzuweisen, dass der Chor jeweils in einer „Strophe“ (d.h.
Kehre)
in die eine Richtung tanzte, in der metrischen gleichen „Antistrophe“
(Gegenkehre)
in die andere, um bei der nachfolgend gesungenenen „Epode“ (Nachgesang)
dann,
natürlich nicht regungslos, am Standort zu verbleiben.
Aber das ist, wie gesagt, unsicher. Evident dagegen
ist, dass hier den griechischen Sportgrößen mit einer Kunst
von höchstem literarischem und wohl auch musikalischem Anspruch
gehuldigt wurde. Wo gäbe es so etwas heute! Die eingangs zitierte
Ode auf Torwart Kahn ist ja doch ein höchst rares Beispiel
moderner Lyrik, und sie ist,
bei aller Begeisterung, nicht frei von Ironie, die eben aus der
ungewohnten Zuordnung von höherer Lyrik und als trivial
empfundenem Sport entspringt und sich in mancherlei Übertreibungen
manifestiert. (So wird Kahn durch mythologische Anspielungen, die an
sich ganz der Art Pindars entsprechen, mit den großen Heroen
Perseus und Odysseus gleichgesetzt). Werden heute
dagegen Sportler ohne Ironie gefeiert – also wie bei Pindar --, dann
resultieren
daraus lyrische Abscheulichkeiten wie die Schlacht- und
Siegesgesänge unserer Fans:
So ein Tag, so wunderschön
wie
heute,
So ein Tag, der sollte nie
vergehn
–
diese Verse dürften in unseren Arenen, in denen doch ein auch
ästhetisch schöner Fußball gespielt wird, wohl so etwa
die poetische Höchstleistung darstellen.
Wie anders versteht es Pindar, einen solchen Gedanken – ich meine den
Gegensatz von Größe des sportlichen Glücks („so
wunderschön
wie heute“) und Hinfälligkeit alles Irdischen („der sollte nie
vergehn“) – dichterisch auszudrücken! Ich zitiere aus der achten
Pythie (diesmal nach der rhythmisch freien Übersetzung von Uvo
Hölscher):
Tagwesen! Was ist Sein ? Was ist
Nichtsein?
Eines
Schattens Traum ist der Mensch.
Aber wenn
gottgeschenkter Glanz kommt,
Liegt helles Licht auf den
Männern und freundliche Lebenszeit.
Berühmte, herrliche Verse! Man stelle sich vor: Der FC Bayern,
wider alles derzeitige Erwarten noch einmal vom Gewinn der Champions
League nach Hause kehrend, würde auf dem Marienplatz nicht von
gröhlenden Fans, sondern von einer lyrischen Darbietung dieser
Größenordnung empfangen, dargeboten von Chor und Ballett der
Bayerischen Staatsoper, vertont von
Wilhelm Killmayer persönlich. Das wäre lebendige Antike im
Isarathen
München!
Der exzessiven Liebe zum Sport bei den Griechen und
der daraus resultierenden Verknüpfung von Sport und Poesie (die
sich etwa auch darin zeigt, dass antike Epen regelmäßig die
Darstellung von Sportkämpfen, ja Sportfesten enthalten), verdankte
es Pindar, dass er ein nicht nur angesehener, sondern auch
vermöglicher Dichter war, der dem Gott Pan und der Kybele einen
Tempel bauen konnte und selber in einem Haus wohnte, das man noch
Jahrhunderte später bestaunte (Alexander der Große, auf
Theben sonst schlecht zu sprechen, stellte es sogar unter
Denkmalschutz). Pindar wurde nämlich, was in der antiken Literatur
ungewöhnlich war, für seine Werke bezahlt; er war ein im
modernen Sinn professioneller Literat, der seine Kunstleistung auf dem
freien Markt nicht nur seiner Heimat ausbot: Aus der ganzen
griechischen Welt, aus Sparta, Thessalien, Sizilien usw. konnte man
Pindaroden bestellen. Diese Tatsache wird aus dem Werk selber schon
daraus deutlich, dass Pindar immer wieder für seine lyrische
Leistung Werbung treibt (mehr als irgend ein anderer Dichter, den wir
kennen,
wohl nicht nur aus dem Altertum). Die große herrliche Tat, so
behauptet
er regelmäßig, bedeutet für sich noch wenig; sie bedarf
des
verewigenden Liedes. Ich zitiere wahllos (nach eigener, möglichst
wörtlicher Übersetzung):
Durch herrliche Gesänge wird die Tugend dauernd.
D i e Rede geht unsterblich einher, wenn einer etwas gut gesagt
hat.
Auch warmes Wasser ist nicht so mild für die Glieder [man denkt an
die Dusche nach dem Wettkampf] wie Preisrede verbunden mit dem
Saitenspiel; das Wort aber lebt dauernder als die Taten.
Ist aber ein Mann nach schöner Tat ohne Gesang ins Gehöft des
Hades gekommen, hat er umsonst geschnauft und sich durch seine
Mühsal nur kurze Freude verschafft.
Am grandiosesten sagt dies Pindar in der siebten Nemee, seinem
berühmtesten und umstrittensten Gedicht auf einen Sieger im
Fünfkampf der Knaben (wieder sehr wörtlich - eine
ästhetisch befriedigende Übersetzung finden Sie bei Uvo
Hölscher):
Hat einer aber glücklich
etwas
geleistet, so hat er einen süßsinnigen Grund
in die Flüsse der Musen
geworfen.
[Gemeint ist: Er hat
dem Dichter einen dankbaren Stoff zum Dichten geliefert.]
Denn große
Leistungen
bleiben tief in Finsternis, wenn
sie der Hymnen entbehren.
Für schöne Taten
aber wissen wir den Spiegel nur mit einer Weise,
wenn nämlich dank der
lichtbekränzten Mnemosyne [der Göttin der Erinnerung]
Lohn für die Mühsale
gefunden
wird.
So weit der übliche Gedanke, mit dem Pindar zeigt, was er für
die Unsterblichkeit seiner Auftraggeber leistet . Frappant ist dann
aber
das Folgende:
Weise aber verstehen, dass
am dritten Tag
der Wind kommt [gemeint
ist der Sturm des Vergessens, der das Gedenken an die Tat bedroht]
und lassen sich
nicht schädigen vom Gewinn [d.h. von Gewinnsucht].
Vermögender und Armer, zum
Ziel
des Todes
Kommen sie
gemeinsam...
Warum spricht Pindar gerade hier den banalen Gedanken aus, dass Reich
und Arm gleichermaßen sterben müssen? Ich meine, der antike
Kommentator hat es richtig verstanden wenn er hier einen Hinweis darauf
sah, dass der Reiche im Tod vor dem Armen nichts mehr voraus hat, also
von seinem Geld nicht mehr profitieren kann, wenn er es nicht zuvor
geschickt angelegt hat. (Ich zitiere wörtlich:) „Man dürfe
nicht geizig sein, sondern den Dichtern ihren Lohn geben, damit man ein
nicht aufhörendes Gedenken an
die eigene Tugend bekomme.“ Wohl nie, wenn diese Interpretation richtig
ist,
hat ein Dichter mit gewählteren Worten seine Honorarforderungen
angedeutet
und diese in die zu honorierende Ode auch noch gleich
eingearbeitet.
Freilich darf nicht der Eindruck entstehen, als sei
es Pindar selber nur ums Geld zu tun. Immer wieder betont er, dass, wie
die
große Tat von sich aus nach dem Lied rufe, so auch das Lied von
selbst
danach dränge, zu dem zu Ehrenden zu kommen. Und an einer Stelle
scheinen
ihm die eigenen Honorare sogar fast peinlich zu sein. In der zweiten
Isthmie
schwärmt er nämlich von den Zeiten, als die Muse noch nicht
geldgierig
und keine Lohnarbeiterin gewesen sei, vielmehr aus schierer Liebe
liebreizende
Knaben besungen habe – als hätte es einmal nur homoerotische
Liebesdichter
gegeben -; jetzt aber gelte das Wort chrémata
chrémat‘ anér , „Nur das Geld, das Geld macht den
Mann“ bzw. „Du bist, was du hast“,
ein Spruch den ein alter Argiver gesagt haben soll, als ihn zusammen
mit
seinem Geld auch die Freunde verließen. Ausgerechnet aus dieser
Ode
haben antike Erklärer herauslesen wollen, dass Pindar in ihr alte
Honorarforderungen eintreibe. Aber das ist, wie vieles bei Pindar,
höchst umstritten;
und die neuere Forschung möchte solche privaten, allzu privaten
Anliegen aus der Erklärung der Oden möglichst fernhalten und
in diesen
alles auf den Hauptzweck des Rühmens abgestellt sein lassen.
Werfen wir kurz noch einen Blick auf das Leben
dieses für uns so vielfach rätselhaften Dichters. Er wurde
wahrscheinlich im Jahr 518 in Theben, der Hauptstadt Böotiens, wo
ja auch Delphi liegt, geboren, sinnigerweise während der
pythischen Spiele, die ja dort in der Nähe stattfanden.
Böoter galten besonders den Athenern für dumm,
„böotische Sau“ war ein geflügeltes Wort; Pindar, der sich
offenbar früh zum professionellen Dichter berufen fühlt,
sucht solche Vorurteile zu widerlegen, indem er gerade in Athen bei den
besten Lehrern
Musikstunden nimmt, d.h. Instrumentalspiel, Metrik, Harmonielehre und
besonders
auch Notenschrift erlernt, um, zumal wenn er fürs Ausland
arbeitet,
die Musik zu seinen Liedern authentisch mitliefern zu können.
Sein frühestes erhaltenes Epinikion von 498 – Pindar ist also wohl
gerade erst zwanzig Jahre alt – geht nach Thessalien, an einen Sieger
im
Wettlauf der Knaben (die zehnte Pythie); und dieses Gedicht zeigt, wenn
ich
recht sehe, schon fast alle Eigentümlichkeiten Pindars
ausgeprägt.
Das Lob des Siegers, seiner Heimat und Familie, wird eingepackt in
viele
klangvolle Sentenzen bzw. Gnomen; es findet sich eine geographische
oder
ethnographische Digression über die Hyperboreer, die das Volk im
äußersten Norden sind (wie ja auch der Sportsieg das
Ä u ß e r s t e ist, was der Mensch erreichen kann);
gut passt zum Epinikion, dass diese Hyperboreer so viel Musik treiben
und an Mädchenchören Freude haben, auch dass sie gerade den
Apollon ehren, den Musengott (befremdlicherweise auch durch das Opfer
geiler Esel); aber höchst überraschend ist, dass Pindar in
diesem Zusammenhang ausgerechnet auf Perseus zu sprechen kommt – solche
mythologischen Einlagen gehören an sich zum festen Bestandteil der
Lyrik -, Perseus, der die Hyperboreer fast zufälligerweise
besucht, um der schrecklichen Meduse ihr bekanntes Haupt abzuschlagen,
mit er dann jeden Menschen in Stein verwandeln kann. „Nicht
unglaublich, wenn Götter so etwas vollenden“, versichert Pindar,
der sich also ganz treuherzig fromm und und gläubig gibt. Dann
wird ihm offenbar sein Gedicht selber zu bunt und er ruft sich
zurück (ich zitiere wieder die Übersetzung Uvo
Hölschers):
Halt ein das Ruder und schnell vom
Bugspriet wirf
Den Anker zum Grund, Rettung vorm
Felsenriff!
[Der Dichter hat Angst, dass er
kentert. Warum?]
Denn preisender Lieder Hochzier
Stürmt wie die Biene
Von einem Gedanken zum andern.
Besser konnte man es nicht sagen. Der Dichter, genauer: sein lyrisches
Ich verrennt sich geradezu im Irrflug der poetischen Assoziationen, die
ihn,
wie die Biene von Blüte zu Blüte, so von einer Idee oder
Vorstellung zur anderen treiben, in der Weise, dass der einzelne
Gedanke oft geradezu mehrdeutig ist, indem er auf etwas anderes hin
angelegt scheint, als das ist, zu dem er sich dann entwickelt. Es
versteht sich dabei, dass der holde Wahnsinn dieser lyrischen excessus,
wie später die Römer sagen, vom dichtenden Ich aufs genaueste
kalkuliert ist. Schon allein die Kompliziertheit der metrischen
Schemata, die zunächst fast frei erfunden werden, dann aber exakt
eingehalten werden müssen, verbietet jeden Gedanken daran, dass
diese Oden, wie später der schon erwähnte Pindarbewunderer
Klopstock formuliert hat, „gleich Zeus‘ erhabnem truncknem Sohne / frey
aus der schaffenden Seel‘ enttaumeln“ würden. Pindar weiß
genau, wohin er seine Biene lenkt, auch wenn diese planlos zu
stürmen scheint. Die „schöne Unordnung“ (beau
désordre) ist eben, wie schon der alte Boileau wusste, in
der Ode ein „Effekt der Kunst“ (effet de l’art).
Aber eben dieser Stil behagte offenbar Pindars
Auftraggebern. Bald wird der Dichter berühmt und griechenlandweit
gefragt. Besondere Beziehungen verbinden ihn, nach dem Ausweis der Oden
selber, mit der Insel Aigina und besonders mit Sizilien, dem Goldenen
Westen der Griechen. Dort schreibt er für den Tyrannen Theron von
Agrigent, dort vor allem für Hieron von Syrakus, an dessen
musischem Hof die konkurrierenden Lyriker Simonides und Bakchylides
sowie der Tragiker Aischylos verkehren. Die ersten drei
Oden der Olympien und der Pythien sind diesen beiden größten
Gönnern Pindars gewidmet. Dass er auch selbst in Sizilien gewesen
ist, findet man zwar nicht ganz ausdrücklich bezeugt, doch gilt es
heute für selbstverständlich. Von den späten Jahren
seines Lebens wissen wir dann wenig oder gar
nichts. Das letzte datierbare Gedicht, das im Jahr 446 zu einem Ringer
nach
Aigina geht, die achte Pythie, scheint etwas melancholisch zu klingen –
dort steht am Schluss das früher zitierte Wort von den Menschen
als
Eintagswesen (epaméroi) -, aber das mag Zufall sein und
muss
durchaus nichts über die Stimmung des alternden Dichters verraten.
Überhaupt sind Pindars Gedanken und Formen von einer erstaunlichen
Konstanz über mehr als fünfzig schöpferische Jahre
hinweg.
Als er mit achtzig Jahren, wie die antike Biographie sagt, starb - aslo
etwa sieben Jahre vor Ausbruch des Peloponnesischen Kriegs - , hatte
sich
die Welt weit mehr als Pindars Kunst verändert.
Wir haben sie in verschiedener Hinsicht schon zu
charakterisieren und mit einigen Versen zu illustrieren versucht; und
dabei war immer auch, wenigstens andeutungsweise, von dem die Rede, was
jedem Leser sogleich das Auffälligste ist: Pindars Dunkelheit,
Unverständlichkeit, von der zwar seine Lobredner in der Regel
nichts sagen, die aber auch schon den
antiken Kommentatoren manchen Seufzer abgezwungen, freilich zugleich
ihren
Scharfsinn gestachelt hat. Wollte er etwa gar ein Liebling der
Philologen werden, ihre Geisteskraft herausfordern? Der Gedanke ist
wohl nicht einmal s o abwegig, wie er auf den ersten
Blick scheint.
Dunkelheit in Dichtung kann verschiedene Ursachen
haben. Sie kann etwa daher kommen, dass man in unfreien Staaten besser
daran tut, manche Gedanken zu verbergen; Horaz bietetet dafür
gelegentliche Beispiele, bei Pindar sehen wir keinen Anlass. Auch das
Streben nach gedanklicher Tiefe kann den Dichter dunkel machen. So
quälen wir uns mit Schillers vertrackter Ideenlyrik; und auch bei
Pindar ist es eine beliebte Annahme, dass eben seine gedankliche Tiefe
ihn dem Uneingeweihten unzugänglich mache. Aber das ist bei ihm
doch wohl verkehrt. Pindars Gedanken, wo immer wir ihn
verstehen, sind äußerst einfach, ja geradezu banal – was ich
für
einen Ruhmestitel halte (lyrische Oden sind keine philosophischen
Oberseminare). Wenn Pindars neuester Interpret meint, ein Wort wie das
von Menschen als
Tagwesen oder „Tagwesen“ bzw. „Eintagswesen“ (epaméroi )
–
„was ist einer? was nicht?“ sei in seiner vollen Tiefe trotz
philologischer Bemühung noch immer unausgeschöpft, dann kann
man dem nicht leicht folgen. Es ist zwar durchaus schwierig und aller
geistigen Anstrengung würdig herauszufinden, was genau mit diesen
„Eintagswesen“ (epaméroi ) gemeint sein soll. Heißt
es, dass der Mensch in den Tag hinein
lebt, nur so von Tag zu Tag? Oder ist daran gedacht, dass sein Leben so
kurz
ist, dass es von höherer Warte aus nur wie ein einziger Tag zu
sein
scheint? Dieses und anderes mag man erwägen; aber worauf man auch
kommt,
der Gedanke ist zwar gewichtig, aber er bleibt wie vieles Wichtige
schlicht
und einfach.
Pindars Dunkelheit hat ihre Ursache eher in der
Freude am Dunkel, am Verrätseln des Einfachen und Klaren. Das
geschieht vor allem durch die sogenannten Tropen, Metapher und
Metonymie. Statt zu sagen, dass der Sportsieger dem Dichter
willkommenen Anlass zum Dichten gibt, sagt Pindar, wie wir gehört
haben, dass er „einen süßsinnigen Grund in die Flüsse
der Musen wirft“ (also ein höchst gesuchter metaphorischer
Ausdruck); statt zu sagen – ich nehme jetzt meine Beispiele nur aus dem
einen, zitierten Abschnitt der siebten Nemee -, dass der Geiz die
Menschen schädigt (die bei Dichterhonoraren knausern), spricht er
vom „Gewinn“ bzw. „Profit“ (kérdos), der dies tue,
gebraucht also das Wort für Profit im Sinne des „Profitstrebens“
(das ist eine kleine Metonymie, Ausdrucksverschiebung,). Bei den
Metaphern, den bildlichen Ausdrücken, fällt auf, dass Pindar
sie nicht fortsetzt bzw. zur Allegorie ausbaut, was das
Verständnis erleichtern würde. Der Dichter der ein Loblied
auf den Sieger schreibt, taucht jetzt nicht etwa ein in die
„Flüsse der Musen“ oder fischt aus ihnen die schönsten
Gegenstände heraus; er stellt vielmehr „für die schönen
Taten einen Spiegel“ auf (das Bild wechselt also abrupt). Und wer die
Dichter nicht ehrt, der ist
dann nicht einer, der diesen Spiegel schöner Taten verhüllt,
blind
macht oder gar zertrümmert, vielmehr einer, der nicht weiß,
dass
„nach dem dritten Tag der Wind kommt“, gemeint ist das Vergessenwerden
des
Unbesungenen (schon wieder hat sich also der bildliche Ausdruck
jäh geändert).
So fliegt denn Pindars Biene auch von einer Metapher zur andern; und
schon
aus diesem Grund kann ich nicht glauben, dass Pindar, wie viele
Philologen
meinen, in einer irgendwie urtümlichen Weise „in Bildern gedacht“
hätte,
meine vielmehr, dass er sie zur Erhöhung des Glanzes als immer
wieder
überraschendes Kunstmittel einsetzt.
Dieses abrupte Wechseln in den Metaphern hat sein
genaues Gegenstück in der dichterischen Syntax, wo Pindar seine
Gedanken gerade nicht so formuliert, dass das dem Sinn nach
Entsprechende auch im Ausdruck korrespondieren würde; vielmehr
meidet er aufs peinlichste allen bequemen sprachlichen Parallelismus,
und eben dies macht den vielleicht größten, jedenfalls ganz
unvergleichlich eigenartigen Reiz seiner Lyrik aus. Am Anfang der
ersten Olympie – wir hören sie heute abend in der Vertonung von
Peter Kiesewetter – will er die Olympischen Spiele dadurch aus allen
Festen herausheben, dass er sie mit anderem Herausragenden vergleicht.
Er sagt nun aber nicht, wie ein anderer rhetorisch fomulieren
würde: „Gleich wie das Wasser das nützlichste unter den
Elementen, gleichwie das Gold das wertvollste unter den
Reichtümern, gleich wie die Sonne das strahlendste unter den
Gestirnen ist, so sind auch die Olympischen Spiele die angesehensten
unter allen Sportveranstaltungen“, vielmehr heißt das bei ihm
folgendermaßen (jetzt übersetzt, recht wörtlich, Dieter
Bremer):
Am besten zwar ist
Wasser, und das Gold sticht hervor,
wie brennendes Feuer
bei Nacht, aus männererhebendem Reichtum;
wenn du aber
Kampfspiele anzustimmen
begehrst, mein
Herz,
spähe
nicht mehr neben der Sonne
nach einem
anderen Gestirn, wärmer leuchtend
bei Tag, durch den
einsamen Äther –
einen
Wettkampf, mächtiger als Olympia, werden wir nicht nennen!
So wechselt nicht nur das Bild, sondern ständig auch die
syntaktische Form in der Weise, dass der Hörer oder Leser nicht
einmal ahnen kann, welche Wendung der Gedanke demnächst
einschlagen wird (ähnlich wie sich in der Musik, je moderner sie
wird, umso weniger der jeweils folgende Takt vorausberechnen
lässt). Das ist ein Teil dessen (nicht alles), was ein antiker
Kunstkritiker, Dionysios von Halikarnass, die „harte Fügung“
(austerá harmonía) genannt hat, ein Teil des Schroffen,
Ungefälligen, was Pindar bei allem Glanz seiner Formulierung
charakterisiert und ihn etwa mit dem Historiker Thukydides verbindet.
Dieses Wort „harte Fügung“ ist in der Germanistik des zwanzigsten
Jahrhunderts dadurch wieder populär geworden, dass es der
Wiederentdecker Friedrich Hölderlins, Norbert von Hellingrath, in
seiner Münchner Dissertation über „Die
Pindarübertragungen Hölderlins“ von 1910 auf diesen Dichter
angewendet und dabei eben von Pindar hergeleitet hat. Hölderlin
hat, so lehrt man seit ihm, an Pindar, vor allem an der
eigenen Pindarübersetzung diese Kunst der harten Fügung
erlernt, die dann ein Hauptkennzeichen seiner späten Lyrik
darstelte. Da Hölderlins Übersetzungen heute Abend sowohl in
der Rezitation von Gisela Stein als auch in den Kompositionen, bei
Kieseweter und Bhagwati, eine große Rolle spielen, sei hierzu zum
Schluss noch ganz wenig gesagt.
Hölderlin hat Pindar früh verehrt, hat dessen Oden schon in
seiner Magisterarbeit von 1790 als „beinahe [...] ein Summum der
Dichtkunst“,
das Epos und Tragödie vereine und überbiete, bezeichnet.
Ungefähr zur Zeit seiner berühmten Sophoklesübertragung,
die bis heute die deutschen Bühnen beherrscht, befasst er sich
dann auch, im Winter 1800 auf 1801 (wie jetzt der neueste Herausgeber
vermutet), mit dem Übersetzen Pindars, wobei Hölderlin diesen
Wort für Wort in einer Art Interlinearversion wiedergibt, was
Pindars Dunkelheit beträchtlich steigert und jedenfalls die
deutsche Sprache z.T. über das Erträgliche hinaus
strapaziert. So schreibt Hölderlin etwa, statt des korrekten:
„Ohne aber die Charitinnen gebahr / ihm ein Erzeugniß
übermüthig / die Eine das Eine“, unter Beibehaltung der
griechischen Wortstellung das unverständliche: „Ohne aber ihm die
Charitinnen gebahr“, setzt also sprachwidrig zwischen Präposition
„ohne“ und Substantiv „die Charitinnen“ ein Pronomen, das erst zum
Verbum gehört. Man tut dieser Übersetzung, trotz mancher
Schönheiten, sicherlich Unrecht, wenn man sie als Sprachkunstwerk
bewundert – im Gegensatz zur Sophoklesübersetzung war sie nicht
zur Veröffentlichung gedacht – andererseits stellte sie aber auch
wohl nicht, wie man schon geglaubt hat, eine bloße Lesehilfe zum
privaten Textverständnis dar; vielmehr wollte, wie ein englischer
Germanist überzeugend dargelegt hat, Hölderlin, der nach
dichterischer Vervollkommnung dürstende, durch sie seine
Muttersprache auf ihre äußersten Möglichkeiten hin
erproben, um so die eigene Fähigkeit zu erweitern.
Als er einige Jahre später (man datiert
auf 1803 oder 1805) wieder Pindar übersetzt - diesmal handelt es
sich
um ausgewählte Fragmente – ist sein Stilwille ein gänzlich
anderer. Hier strebt Hölderlin nach einer zwar genauen, aber immer
noch eleganten und verständlichen Übersetzung. So wenn es in
einem ganz kurzen, suggestiven Fragment vom Delphin heißt:
Den in des
wellenlosen Meeres Tiefe von Flöten
Bewegt hat
liebenswürdig der Gesang –
so ist die an sich sprachwidrige, dem Griechischen nachgestaltete,
Trennung von Nomen („der Gesang“) und Attribut („von Flöten“)
durchaus noch zu verstehen und von großem ästhetischem Reiz.
Die berühmten Pindarkommentare allerdings, die Hölderlin
diesen Übersetzungen beigegeben hat, haben mit dem Text, den sie
kommentieren, kaum mehr etwas zu tun, bewegen sich vielmehr in freien
Assoziationen: Wortkunstwerke nach eigenem Gesetz.
Pindars Musik ist früh, vielleicht bereits im
Jahrhundert nach seinem Tod, wo sie der Mode nicht mehr entsprach,
verloren
gegangen (und auch in ihr muss doch einstens ein wesentliches Element
seines
Erfolgs gelegen haben). Nur wenige Musiker der Neuzeit haben sich, ganz
anders
als bei Sappho, daran gewagt, ihn zu vertonen, wobei auch angeblich
wiedergefundene Originalmelodien schon eine Rolle gespielt haben. Einen
Konzertabend jedenfalls wie den heutigen, wo vier Komponisten fast wie
im sportlichen Wetteifer den Lyriker Pindar der Musik und damit auch
der Lyrik im antiken Sinn zurückgeben, hat es sicherlich seit der
Antike nicht mehr gegeben; und mit Stolz dürfen wir feststellen,
dass ein solches Konzert wohl auch nirgendwo sonst in der Welt
stattfinden und sein Publikum erreichen könnte als nur hier in
München.
Die Zugänge der Komponisten zu Pindar sind
verschieden, und eine völlig historische Rekonstruktion seiner
Kunst hat keiner versucht.
Wilhelm Killmayer wird seine Vertonung der sechsten
Nemee, deren Noten ich noch nicht kenne, selber ansagen. Als
klassischer Philologe freue ich mich darüber, dass er, der humanissimus,
ganz im Griechischen bleibt und besonders auch Pindars Metrik
berücksichtigt.
Sandeep Bhagwatis anspruchsvolle „Pindar Excisen“
bestehen aus dreizehn recht verschiedene Teilen, wobei griechische
Pindarverse und deutsche Hölderlintexte kombiniert werden. Vier
davon [1, 6, 10, 13] geben, von einem tiefen Bass zur
Instrumentalbegleitung rezitiert – der Komponist spricht von
„schamanischer Rezitation“ und einer „Grunzstimme“–, kurze griechische
Stücke aus der ersten Olympischen, der zweiten, elften und zehnten
Pythischen Ode, wobei das Stück aus der zweiten Pythie [6] mit
einem
Pindarfragment Hölderlins kombiniert ist, die Partie aus der
elften
Pythie [10] mit einer deutschen Wortfürwortübersetzung des
Hölderlinherausgebers Sattler. Drei Excisen [3, 6, 11] enthalten
Pindarfragmente in Hölderlins Übersetzung, von einer tiefen
Frauenstimme gesungen; dabei ist einer der Teile [6] mit der
„schamanischen Rezitation“ eines griechischen Texts verbunden. Drei
weitere Teile [4, 8, 12] enthalten dann, zur Musik
rezitiert, Hölderlins Kommentare zu eben diesen
Übersetzungen.
Vier Excisen [2, 5, 7, 9] sind rein instrumentale Stücke, die den
ruhig
meditativen Charakter des ganzen Werks unterstreichen.
Peter Kiesewetters dreiteilige, auch durch wilde
Schlagzeugrythmik mitreißende, Kantate Áriston men
hýdor ..., die wir dann nach der Pause hören, bringt
den schon zitierten Anfang der ersten Olympie („Das Beste zwar ist
Wasser“), zunächst in der (metrisch recht frei behandelten)
griechischen Version, dann in einer frühen, noch vor der
eigentlichen Pindarübertragung liegenden, deutschen Fassung
Hölderlins („Das Erste ist wohl das Wasser“); ihr sind aber auch
Stücke aus dem griechischen Originaltext simultan beigegeben
(musikalisch handelt es sich um zweimal eine Chaconne). Als drittes
Stück folgt die Epode, d.h. die Schlusspartie, der fünften
Olympie (die heute in der Regel für
unecht gilt), zunächst ein Stück weit in Goethes
Übersetzung, dann wieder im Original: ein Gebet an Zeus, den
Schutzherrn Olympias, der um Segen für den Sieger und seine
Heimatstadt Kamarina in Sizilien gebeten wird. Ein textlicher
Zusammenhang der drei Teile, der sich aber nach Auskunft des
Komponisten mehr zufällig ergab, ist hier durch einen
durchgängigen Bezug auf die Olympischen Spiele gegeben.
Rupert Huber schließlich wird durch die,
Elemente spontaner Improvisation einbeziehende, Komposition bzw.
Zelebration eines aus nur vier Worten, fünf Silben bestehenden
Fragments: Ti theós? to pán – „Was ist Gott? Das
All“ (ein Satz, der von christlichen Schriftstellern
überraschenderweise als Beleg für antiken Monotheismus
zitiert wurde) einen Ekstatiker Pindar vorstellen, der in Urgründe
mysterienhafter griechischer Gotterfahrung dringt - ein gerade beim
Avantgardekomponisten und -dirigenten Huber höchst
überraschendes Stück ursprünglichsten Musizierens, durch
das man auf alle Fälle daran erinnert wird, dass Pindar immer auch
ein religiöser Dichter war.
Ich freue mich auf ein Konzert, wie noch keines je stattgefunden hat:
Heute soll einmal, für einen Abend, aus dem Isarathen München
ein Isartheben werden!