Zum Konzert der Bayerischen Akademie der Schönen Künste am 15. April 2002
Es sind drei Frauen der griechischen Antike, deren Ruhm und Name bis heute im allgemeinen Bewusstsein fortlebt: Die spartanische Königin Helena soll in sagenhafter Frühzeit dank ihrer Schönheit Ursache eines Weltkriegs geworden sein; die ägyptische Königin Kleopatra hat mehr als ein Jahrtausend später erst Iulius Cäsar, dann Antonius so spektakulär den Kopf verdreht, dass Augustus über ihre und seines Rivalen Leiche zum Weltherrscher werden konnte;die dritte aber, die lesbische Dichterin Sappho, der wir heute huldigen, und die zeitlich etwa in der Mitte zwischen jenen beiden liegt, hatte weder Schönheit noch Macht aufzuweisen; von unschein-barer Gestalt, wie es heißt, hat sie ihren Ruhm nur durch die Macht des Geistes gewonnen: durch ihre Dichtkunst und – das verbindet sie gewissermaßen mit den beiden anderen – durch die unerhörte Kraft der Liebe, die sie ihren Gesängen eingehaucht hat. Ihr römischer Bewunderer Horaz, ein Zeitgenosse und Schmähredner der Kleopatra, rühmt von Sappho:
Noch immer atmet die Liebe,
noch leben die Feuer, die das äolische Mädchen
ihren Saiten anvertraut hat.
... spirat adhuc amor,
uiuuntque cmomissi calores
Aeoliae fidibus puellae.
Was Horaz hier von Liebe und Saiten sagt, ist übrigens keine bildliche Redensart: Sapphos Gedichte, vor allem ihre Liebesgedichte, lebten nicht nur in Büchern, sie wurden noch nach sechs Jahrhunderten bei den Symposien auch der Römer zur Lyra gesungen, so wie sie auch heute abend, nach mehr als zweieinhalb Jahrtausenden, wieder erklingen sollen: als "Lyrik" im echtesten antiken Sinne, eben als Gesang zur Lyra oder – denn auch das Klavier hat seine Saiten – zu anderem, zeitgemäßem Saitenspiel.
Der Chor von Sapphos Bewunderern beginnt mit ihrem Zeitgenossen Alkaios, der sie in Versen angeredet haben soll und mit ihr zusammen auf einer berühmten Vase unserer Münchner Antikensammlung dargestellt ist; er geht über Platon, die hellenistischen und römischen Dichter bis in die Neuzeit und Gegenwart, wobei der Lobpreis oft geradezu etwas Maßloses hat: Vielen gilt Sappho als eine neue, eine zehnte Muse; der Geograph Strabon (auch er ein Zeitgenosse von Horaz und Kleopatra) sagt, sie sei ein wunderbar Ding (thaumaston chrema) gewesen, und es habe "in der langen Zeit seit Menschengedenken keine Frau gegeben, die auch nur ein wenig mit ihr hätte konkurrieren können"; und schließlich für den englischen Romantiker Swinburne ist sie gar "nichts weniger als ..."– nicht etwa nur: die größte Dichterin!, nein: "nichts weniger als der größte Dichter, den es überhaupt je gegeben hat." Die begeisterten Worte der Marie Luise Kaschnitz, die Sie auf Ihrem Programmzettel lesen, sind daneben ja schon geradezu verhalten.
Freilich wenn die Dichterin Kaschnitz dazu auffordert, die Poesie ihrer berühmten Kollegin Sappho als eine Brücke zu verwenden, um in eine "strahlende Welt der Frühzeit" zurückzuschreiten, eine Welt, "in der die Frauen noch Kränze wanden, Festlieder sangen, von Veilchengeruch und Meerwind umweht" – und:"Wenn wir uns ihrer Dichtung öffnen, sind wir jung wie damals" - dann erweckt das leicht den Eindruck, als könnten wir hier in die Fülle greifen, als wären solche Urteile aus einer reichen Kenntnis von Sapphos Dichtung geschöpft. Aber dem ist leider nicht so! Zwar das Altertum wusste noch, was es an Sappho rühmte; denn man besaß damals, von tüchtigen Philologen herausgegeben, immerhin neun ganze Bücher, also Buchrollen mit Sapphos Gedichten (mit vielen Tausend Versen); heute dagegen müssen wir über Sappho weithin vom Hörensagen urteilen: Nur ein einziges Gedicht von ihr ist uns vollständig überliefert, ein Gebet an Aphrodite; von einem anderen Gedicht, das im Altertum noch berühmter war, haben wir wenigstens vier zusammenhängende Strophen; alles andere sind keine Gedichte, sondern nur Fetzen von solchen: entweder mehr oder minder berühmte Einzelverse, die von späteren antiken Autoren zitiert werden, oder aber – und hier regiert nun der schiere Zufall – Papyrusbruchstücke, die in den vergangenen gut hundert Jahren, Stückchen um Stückchen aus dem ägyptischen Wüstensand ans Tageslicht gekommen sind: Zwar ist jeder Buchstabe davon sorgfältig betreut und fast gehätschelt worden; aber von Sapphos dichterischer Kunst geben sie doch kaum mehr als eine Ahnung, und auch nach einem Jahrhundert der Neufunde gilt noch immer, was im achtzehnten Jahrhundert, prosaischer als Frau Kaschnitz, die Dichterin Anne Luise Karsch, über ihre antike Kollegin gereimt hat:
Halb Göttin war das Weib, neun Bücher schrieb sie voll,
So schön als wären sie geschrieben von Apoll.
Und ach! von alle dem, was sie schön geschrieben,
Ist nur ein kleiner Rest für unsre Zeit geblieben.
(Ich verdanke dieses Zitat dem Sapphobuch von Münchens bester Kennerin, Marion Giebel.)
Im wesentlichen beruht noch heute der Ruhm Sapphos und unser Bild von Sappho auf den erwähnten anderthalb Gedichten, die aber in der Tat erstaunlich genug sind: Eine antike Frau wagt es, in der Öffentlichkeit von ihrer eigenen, heißen Liebe zu sprechen – das ist an sich schon in der griechischen wie römischen Antike so gut wie einzigartig -; und sie spricht, so weit wir sehen, ausschließlich von ihrer Liebe zu anderen Frauen – was auch im Altertum nicht unanstößig war und Sapphos Ruf immer auch – wieder nicht anders als bei Helena und Kleopatra – in ein gewisses Zwielicht gerückt hat. Unser Begriff von "lesbischer Liebe", der dem Altertum unbekannt ist, beruht ausschließlich auf der Tatsache, dass Sappho Lesbierin war, d.h. zufälligerweise auf der Insel Lesbos lebte. Der Klatsch der antiken Nachwelt hat interessanterweise von diesem ihrem erotischen Lesbentum weitgehend abgesehen - was wir heute Bisexualität nennen, gilt, vereinfacht gesprochen, im Altertum als fast normal -, und hat ihr diverse Liebesverhältnisse mit männlichen Lyrikern angedichtet, woraus die später diskutierte Streitfrage enstand, ob sie "Prostituierte" gewesen sei (an Sappho publica fuerit ); die attische Komödie brachte sie dann als liebestolles Weib auf die Bühne – auch das etwas Einziges, da historische Figuren der Vergangenheit zwar in der Tragödie, nicht aber in der Komödie aufzutreten pflegen –: Hier entstand offenbar die Legende von ihrer unglücklichen Liebe zum schönen Phaon, um dessentwillen Sappho durch Sturz vom leukadischen Felsen in den Tod gegangen sein soll: Vor allem Ovid hat sie in seiner Heroidenepisteln bekannt gemacht, und so ist sie die Grundlage von Grillparzers "Sappho", einer der schönsten Künstlertragödien der Neuzeit, geworden.
Was wir dagegen von der historischen Sappho wissen, ist nicht viel und ergibt sich im wesentlichen aus den Gedichtresten und einigen meist mit diesen verbundenen antiken Nachrichten. Sie wurde in der zweiten Hälfte des 7. Jahrhunderts vor Christus als eine Dame des lesbischen Adels geboren, sie lebte dann meist in Mytilene, unterbrochen durch eine offenbar politisch bedingte Emigration nach Sizilien, die in die Zeit um die Jahrhundertwende, also um 600 v.Chr., fällt.Von einem Ehemann scheint sie nirgends zu sprechen, wohl aber, auch wenn die Formulierung nicht ganz klar ist, von einer Tochter namens Kleis, von der sie sagt, sie sei so schön wie goldene Blumen und sie wolle sie nicht um den Reichtum von ganz Lydien wegtauschen (das hören Sie als Nr. 7 in der Vertonung von Alfred Müller-Kranich); eindeutiger ist, dass sie Brüder hat, wovon einer, Charaxos, ein Bruder Lüderli gewesen zu sein scheint: Sappho macht ihm Vorhaltungen wegen seines Verhältnisses zu einer Hetäre, der er ein ganzes Vermögen geopfert haben soll (Verhältnisse zu käuflichen Frauen sind nach dem Moralkodex des klassischen Altertums, dem auch Sappho huldigt, so lange unanstößig, als sich die finanziellen Ausgaben dafür in Grenzen halten). Unklar und bis heute umstritten ist, in welchem äußeren, gesellschaftlichen Verhältnis
sie zu den von ihr geliebten und besungenen Frauen steht; eine späte antike Überlieferung unterscheidet zwischen "Freundinnen" (hetairai) und "Schülerinnen" (mathetriai), was am zwanglosesten auf Musikunterricht zu deuten ist; heute wirft man in der Regel beide Gruppen zusammen und nimmt an, dass Sappho eine Art Internat für adelige Töchter geleitet habe, in denen diese durch allerlei musische, häusliche und vielleicht noch andere Künste auf Hochzeit und Ehe vorbereitet worden seien. Davon muss gleich nachher noch die Rede sein.
Zunächst aber wollen wir uns die beiden Gedichte ansehen, auf denen vor allem Sapphos Ruhm beruht. Beide handeln von der Liebe, aber in sehr verschiedener Weise, und zwar so, wie sie mit den beiden Liebesgottheiten des Altertums, Aphrodite und Eros, gegeben ist. Beginnen wir mit der älteren von beiden: Aphrodite, die gerufen wird, um Sappho in Liebesnöten beizustehen. Schon früher, hören wir, habe sie ihre Hilfe nicht versagt – die Erinnerung daran macht den Hauptteil des Gedichts aus - so solle sie auch jetzt persönlich zur Stelle sein:
Poikilothron’ athanat’ Aphrodita...
Dich, buntthronende Göttin Aphrodite,
dich, des Zeus trugflechtende Tochter, ruf ich,
zwinge nicht mit Kummer und nicht mit Ängsten,
Herrin, das Herz mir ...
Wie das Folgende zeigt, ist damit gemeint, dass Aphrodite ihr in solchen Kümmernissen und Ängsten, die schon vorhanden sind, beistehen soll:
..... sondern komm hierher, wenn du je schon früher
meine Stimme auch aus der Ferne hörend
wahrnahmst und das goldene Haus des Vaters
ließest und herkamst,
angeschirrt den Wagen – es trugen schmucke
Spatzen rasch dich über die schwarze Erde,
mit dem dichten Wirbel der Flügel durch die
Mitte des Himmels ...
Aphrodite als vornehme Göttin kommt natürlich nicht zu Fuß und fliegt auch nicht selber, sondern benutzt standesgemäß eine Luftkarosse, die sinnigerweise von Spatzen gezogen wird,
denn dieser Vogel ist, wie man weiß, sexuell besonders aktiv, fruchtbar und darum auch der Aphrodite heilig. Im übrigen beruht der Zauber der Verse auch auf der Pracht der Farben (die bei Sappho oft eine wichtige Rolle spielen und sich zum Glück auch im Deutschen wiedergeben lassen): Dem bunten Thron der Göttin, mit dem das Gedicht beginnt, und dem goldenen Palast des Zeus kontrastiert die schwarze Erde und der blaue Himmelsäther, durch den die Göttin ihre Reise macht:
schnell ans Ziel; du, Selige, aber fragtest,
lächelnd, wie unsterbliches Antlitz lächelt,
was ich denn schon wieder erleide, was ich
wieder dich rufe ...
Aphrodite, die immer Lächelnde, ist hier offenbar besonders amüsiert darüber, dass Sappho schon wieder einmal Liebeskümmernisse hat. Und bevor Sappho noch ihre Bitte äußert, gibt sie zu verstehen, dass sie weiß, worum es geht und sagt auch schon ihre Hilfe zu:
... und was ich mir wünsche in meines Herzens
wildem Wahnsinn: "Sage mir, Sappho, wen soll
Peitho dir in Liebe gesellen, wer tut
wieder dir Unrecht?
Peitho, die Göttin der Überredung, gehört zum Gefolge Aphrodites und sorgt dafür, dass deren Schützlinge nicht ohne Erfolg in der Liebe bleiben. Diesen baldigen Erfolg schildert Aphrodite nun drastisch:
Wenn sie jetzt auch flieht, wird sie bald dir folgen;
wenn sie jetzt Geschenke verschmäht, bald gibt sie;
wenn sie jetzt nicht liebt, wird sie rasch doch lieben,
selbst wenn sie n i c h t will!"
Aphrodite, die zu ihren Favoriten so freundlich ist, kann gerade in deren Interesse auch unerbittlich grausam sein. Wie sie in einer berühmten Szene von Homers Ilias Helena gegen deren Willen ins Bett des Paris zwingt, so verspricht sie auch für Sappho alles zu tun, um ihr die Geliebte willig zu machen.-
Dies alles war aus Sapphos Erinnerung gesprochen, sollte die Göttin an frühere Hilfe gemahnen. Nun erst am Schluss des Gedichts kommt Sappho zu ihrer aktuellen Bitte, die sie selber sehr viel dezenter formuliert als die Göttin bei ihrer Gewährung:
Komm auch jetzt zu mir und erlös von schweren
Sorgen mir das Herz; was ich mir ersehne,
o erfüll dies Sehnen und sei mir selber
Helfer im Kampfe!
Die antiken Philologen haben dieses Gedicht, wie wir wissen, an die Spitze von Sapphos Gesammelten Werken gestellt; die Dichterin zeigt sich in ihm als eine Liebende in einzigartigem Nahverhältnis zu ihrer Göttin, Aphrodite, die, wie schon in der älteren griechischen Dichtung, als Gottheit vor allem der Liebeserfüllung und als Beschützerin erscheint. Durch die Pracht seiner Bilder suggeriert das Gedicht geradezu, dass Sappho die hilfreiche Göttin, deren Stimme sie immerhin hört, auch sehen könnte – etwas, das den sterblichen Menschen sonst ja versagt ist.
Ganz anderer Art ist Aphrodites Sohn Eros, der Gott besonders der Liebesverwirrung, der mit den menschlichen Herzen ein grausames Spiel zu treiben pflegt. Seine Wirkung vergleicht Sappho an anderer Stelle mit dem Wind, der auf dem Berg in die Eichen fällt; sie nennt ihn mit einer bis heute fast sprichwörtlich gewordenen Formulierung ein "bittersüßes" Untier, gegen das es keine Hilfe gebe. Von Eros, dem Liebesverlangen und Liebeswahnsinn, spricht, auch wenn sein Name nicht fällt, das zweite größere Textstück, das wir von Sappho besitzen (und das als Ganzes das vielleicht berühmteste Liebesgedicht des Altertums überhaupt war): eine Schilderung der vor allem physischen Liebessymptome beim Anblick der geliebten Freundin.Die Deutung ist allerdings höchst umstritten, bis in Einzelheiten des Wortlauts – zu Unrecht, wie ich meine: Sappho sagt klar, was sie will, und ich übersetze sofort so, wie es mir einzig möglich scheint (diesmal in Prosa):
Der Mann (oder: der Mensch) scheint mir den Göttern
ebenbürtig (gewachsen) zu sein, der dir gegenüber
sitzt und aus der Nähe dich hört,
wie du süß redest
wie du liebreizend lachst – ja, das hat mir
mein Herz in der Brust verstört!
Denn sehe ich nur kurz auf dich, kann ich
nichts mehr reden,
sondern stumm ist mir die Zunge erlahmt, ein feines
Feuer ist alsbald mir unter die Haut gefahren,
mit den Augen sehe ich nichts mehr, es
dröhnen die Ohren,
Schweiß ergießt sich über mich, und Zittern
ergreift mich ganz, ich bin gelber
als Gras, und fast meine
ich, dass ich sterbe ...
Dies ist, wie man im Altertum richtig verstanden hat, nichts anderes als die Beschreibung der erotikai maniai, des Liebeswahnsinns, und zwar in dem Sinne, dass die Liebe dem Menschen Sinne und Besinnung raubt: Beim nahen Anblick der Geliebten versagt die Sprache, versagen dann auch Gesicht und Gehör; unter Hitzewallung und kaltem Schweiß gerät der Liebende in die Nähe des Todes, genauer gesagt, einer Ohnmacht. (Sowohl Sappho an anderer Stelle als auch die ältere griechische Dichtung sprechen in diesem Sinn vom Eros lysimeles, dem "gliederlösenden Eros", womit nicht irgend etwas wohlig Entspanntes gemeint ist, sondern eben dies, dass der Mensch unter Wirkung des Liebesverlangens die körperliche Kraft verliert, dass ihm hier, wie schon Homer sagt, die "Knie weich werden".) Darum erklärt Sappho denjenigen, der es fertigbringt, in der Nähe ihrer Geliebten zu sein, deren Lächeln und süßes Plaudern zu hören, für göttergleich – nicht weil er göttergleiches Glück genießen würde, sondern weil er offenbar übermenschliche Fähigkeiten besitzen muss: Sappho jedenfalls, sagt sie, ist dazu nicht in der Lage, sie hält diesen Anblick nicht aus (so wenig wie sie den Anblick einer Gottheit aushalten würde). Und da sie die Geliebte in diesem Gedicht anredet, mit ihr spricht, dürfte das letztlich wohl als Liebeswerbung gemeint sein – aber das ist nicht sicher, weil uns ja der Schluss fehlt.
Sicher scheint mir dagegen, dass nichts in dem Gedicht darauf hindeutet, dass Sappho, wie man heute vielfach meint, von einem Mädchen Abschied nehmen oder gar Eifersucht gegenüber einem Konkurrenten bzw. Bräutigam des Mädchens empfinden würde (unglaublicherweise hat man unser Gedicht auch schon als Hochzeitsgedicht deuten wollen). Solche Deutungen, die ich hier näher nicht beschreiben kann, ergeben sich natürlich nicht aus dem Wortlaut, sondern aus ganz bestimmten Vorstellungen, die man von Sappho und den von ihr besungenen und geliebten Frauen hat. Wie schon vorher erwähnt, gilt sie ja heute vielfach als eine Pädagogin, die junge Mädchen zur bürgerlichen Ehe und Familie erziehe; und ihre Liebesleidenschaft sieht man demgemäß als eine Art pädagogischen Eros an (den man sich dann freilich sehr verschieden vorstellt). Entstanden ist eine solche Auffassung ansatzweise schon im Altertumund zwar mit dem unverkennbaren Bestreben, Sappho vom Vorwurf weiblicher Homosexualität freizusprechen:So verglich schon ein spätantiker Rhetor, Maximus Tyrius, den Eros der Sappho mit dem des berühmten Pädagogen Sokrates zu schönen Knaben (Sokrates war ja berühmt für das Unsinnliche seiner Erotik, die wir mutatis mutandis heute als "platonische Liebe" bezeichnen.). In der Neuzeit verbreitet und ausführlich begründet wurde eine solche Auffassung vor allem von dem berühmten deutschen Gräzisten Friedrich Gottlieb Welcker, der 1816 ein Büchlein erscheinen ließ, das seine Absicht durch den Titel deutlich verrät: "Sappho von einem herrschenden Vorurtheile befreit". Das herrschende Vorurteil war natürlich, dass Sappho, wie man damals sagte, "Tribade", also gewissermaßen praktizierende Lesbe gewesen sei. Dagegen berief sich Welcker vor allem auf den erwähnten Maximus Tyrius; er ging über diesen hinaus, indem er Sappho zur Leiterin einer förmlichen "Musenschule" machte, einer Schule, die man dann später in der Forschung auch als "Kultverein" oder "Thiasos" bezeichnete, wobei aber durchweg die Vorstellung herrscht, dass die Unterweisung dort der Vorbereitung auf die Ehe diene und somit im Idealfall mit der Hochzeit der Schülerin abschließe (dass von Sappho so viele Hochzeitslieder, Epithalamien, verfasst waren – einige Stücke daraus hören Sie heute abend in der Vertonung von Wilhelm Killmayer -, schien natürlich gut dazu zu passen). Parallelen für eine solche Einrichtung gab es zwar nicht in Griechenland, aber doch immerhin im afrikanischen Liberia; und dass in Sapphos Gedichten so viel vom schmerzlichen Abschiednehmen, vom Getrenntsein und vom Erinnern an schöne Tage mit Musik und Kränzeflechten die Rede war, schien gut zur Vorstellung einer Pädagogin zu passen, die sich in höchst sittsamer Neigung, versteht sich, in ihre Elevinnen verliebt hatte, wobei man sich diese Liebe auch vielfach als eine Art ritualisiertes Spiel vorstellte, bei dem dann Sappho ihre Gedichte vorgetragen hätte.Die Fragmente Sapphos deuten freilich kaum in diese Richtung. Nie ist von einem Kreis oder einer Gemeinschaft die Rede, nie spricht Sappho zu einer Mehrzahl möglicher Educandinnen, überhaupt ist nie von Lehren und Belehren die Rede; nie spricht sie von zukünftiger Ehe oder Hochzeit; ihre Neigung gilt einzelnen, freilich, wie wir gesehen haben, wechselnden Freundinnen, wobei das Verhältnis partnerschaftlich, nicht irgendwie pädagogisch oder hierarchisch gesehen wird; nicht einmal dass die Geliebten jünger wären als Sappho, ist ausgesprochen:
Wenn sie jetzt auch flieht, wird sie bald dir folgen;
wenn sie jetzt Geschenke verschmäht, bald gibt sie;
wenn sie jetzt nicht liebt, wird sie rasch doch lieben,
selbst wenn sie nicht will!
Ich bekenne frei, dass ich meine Tochter nicht in ein Internat schicken würde, wo Aphrodite der Schulleiterin solche Zusagen macht. Jede pädagogische Deutung scheint mir schließlich an dem Gedicht zu scheitern, in dem Sappho die physischen Symptome ihrer Liebe beschreibt. Oder was soll man dazu sagen, wenn Sappho den Gedanken, dass für sie das Schönste sei, was sie liebe, ausgerechnet am Beispiel der Ehebrecherin Helena, die Mann und Kind für ihre Liebe verlassen habe, erläutert? Kann das ein Vorbild sein für die weibliche Jugend von Lesbos? Man muss schon ein hartgesottener deutscher Professor sein, um auch in solchen Bekenntnissen einen Teil von Sapphos Erziehungsaufgabe zu sehen.
Der Versuch, Sappho vom Vorwurf geschlechtlicher Verirrung freizusprechen, um 1900 noch ein dringendes Bedürfnis, ist es im Jahre 2002, wie Sie wissen, nicht mehr: Seit unsere permissivive society an allen Ecken sexuelle Toleranz predigt, seit sich Rosa Stadtratslisten und Lesbenclubs den letzten noch ausstehenden Rest von Gleichberechtigung erkämpfen, könnte es an der Zeit scheinen, Sappho wieder unbefangen zu lesen und sie vom nunmehr herrschenden Vorurteil, der Verurteilung zur Pädagogin, zu befreien. Es gibt, vor allem im angelsächsischen Bereich, Gelehrte, die dies getan haben; weithin herrscht aber neuerdings in der Sapphophilologie eine ganz andere Richtung: Wenn die Sinnlichkeit in Sapphos Liebe so unverkennbar ist und Sappho trotzdem, wie man weiß, Lehrerin ist, was hindert daran, in den Lehrplan ihres Internats auch die Sexualkunde mit praktischen Übungen aufzunehmen? So nehmen heute viele an, dass in Sapphos Musenschule oder Kultverein die Schülerinnen mit ihrer Meisterin erotisch verbunden waren und dass diese Verbundenheit bis zur körperlichen Hingabe geführt habe: ein Teil der sogenannten "Initiation", durch die das Mädchen in seinen Beruf als Frau und schließlich Gattin eingeführt worden sei (eine Parallele zur griechischen Knabenliebe, der man ebenfalls, und hier sogar mit besserem Recht, pädagogische Funktion zuschreibt).
Wie wenig sich auch das mit Sapphos wirklichen Gedichten verträgt, liegt auf der Hand. So versteht heute ein jüngerer Gräzist Sapphos Gebet an Aphrodite als eine Mahnung an ihre Schülerinnen, "dem Naturgesetz der Liebe keinen Widerstand zu leisten"; und aus der packenden Schilderung ihrer Liebessymptome liest er "Benennung und Ausdruck des Verlusts" beim Abschied eines der Mädchen aus ihrer Initiationsgruppe heraus. Auch durch diese evidenten Uminterpretationen, Fehldeutungen, wie ich meine, wird Sappho ihr Bestes und Eigentlichstes genommen: die spontane, heißblütige Liebe. Aus der Leidenschaft wird ein Ritual, aus der Liebesgöttin Aphrodite eine Präzeptorin für willige Ehefrauen – die nun eben auch noch durch zwischenweiblichen Intimverkehr in gewisse Geheimnisse der körperlichen Liebe eingeführt werden müssen. Ich meine, dass ein neuerer amerikanischer Gelehrter Recht hat, wenn er behauptet, dass solche Vorstellungen eher Männerphantasien und pornographischen Romanen wie der berühmten "Fanny Hill" ill"Hentstammen als der Wirklichkeit auf Lesbos – eine Wirklichkeit, die wir im übrigen nicht kennen, sondern nur erraten können: Wenn Sappho von dem mit der Geliebten gemeinsam erlebten Schönen spricht, von Tänzen, Festen, Musizieren und immer wieder vom Kränzewinden – Kränze, Blumen und besonders Rosen galten ja als die Duftmarken ihrer Dichtung -, dann wissen wir nicht, ob und wie weit hier an Institutionen denken sollen. Vielleicht war es ein den Männerbünden, Hetairien, entsprechender adeliger Damenkreis, in dem Sappho verkehrte und wo sie dann wohl auch ihre Lieder sang; vielleicht war es aber auch überhaupt kein Kreis, sondern Sappho, die von Schönheit so leicht zu Entflammende, war einfach wechselnd verliebt, in Agallis, Anaktoria, Atthis, (um nur dem Alphabet nach drei uns bekannte Namen mit A zu nennen); und ihre Gedichte mag sie der jeweils Erkorenen vorgesungen oder durch Briefboten – denn wir hören auch von Ausländerinnen – zugesandt haben. Höchst wahrscheinlich ist mir, dass dabei die Dichtung auch als Lockmittel der Liebe gedacht war. Wenn Sappho in einem ihrer berühmtesten Fragmente davon spricht, dass, wer keinen Anteil an den Rosen der Musen habe, namenlos vergehen müsse, dann lässt sich das ungezwungen auf die auch die Geliebte verewigende Kraft ihrer Dichtung beziehen; ich zitiere:
Wenn d u aber gestorben bist, dann wird es keine Erinnerung mehr später
an dich geben; denn du hast nicht Anteil an den Rosen
aus Pierien (dem Land der Musen); sondern unsichtbar wirst du auch im Hause
des Hades einhergehen, flatternd unter den kraftlosen Toten.
Man hat meist gemeint, dass Sappho hier sich selber mit einer Frau vergleiche, die eben keine Dichterin sei und darum keinen unsterblich machenden Musenkranz trage; aber die griechischen Dichter sprechen bis in späte Zeit nicht von ihrer eigenen Unsterblichkeit, sondern immer nur von der, die sie ihrerseits dem Gegenstand ihres Gesanges geben; und so dürfte die Dichterin hier wohl eher eine Frau anreden, die es verwirkt hatte, als Gegenstand von Sapphos Liebe in ihren Liedern fortzuleben. Denn das hat Sappho ja in der Tat erreicht: Obwohl ihre Gedichte bis auf die kostbaren Überreste verloren sind, kennen wir doch eine Fülle von Namen der Frauen, die Sappho einmal geliebt hat.
Die Tradition, Sapphos Verse, diese Rosen aus Pierien, wie zu lesen, so auch zu singen, reißt naturgemäß ab mit dem Verlust ihrer Gedichte im byzantinischen Mittelalter; erst vom 18. Jahrhundert an scheinen sich Musiker wieder für die Überreste der Lyrikerin, die ja auch eine Musikerin war, zu interessieren. Ein verdienstvoller, fleißiger Heidelberger Dissertant hat vor über zwanzig Jahren die einschlägigen Noten gesammelt und einiges Wichtige sogar auf einer Schallplatte vereinigt herausgegeben. Danach war es zuerst John Blow, der Sapphos Hymnus an Aphrodite in freier englischer Übersetzung komponiert hat. Dasselbe Gedicht vertonte kein Geringerer als Carl Maria von Weber (als Bühnenmusik, mit Harfe, zur erwähnten Tragödie von Grillparzer); ihm folgte der berühmte Balladenkomponist Carl Loewe, der nicht nur Musik- sondern auch Griechischlehrer war (also ein echtes Gegenstück zu Sappho!), und seine Komposition metrisch so geschickt einrichtete, dass man sie sowohl auf griechisch als auch auf deutsch singen konnte. Um das andere große Fragment, die Schilderung der Liebessymptome, kümmern sich neben anderen der Franzose Gaspare Spontini, der Pole Stanislaw Moniuszko und – nun schon im 20. Jahrhundert – der berühmte Ungar Zoltan Kodaly. Im übrigen entdeckten die Musiker dieses vergangenen Jahrhunderts auch gerade die Fragmente Sapphos, einerseits angeregt sicherlich durch die Neufunde, andererseits eben durch die offene, die Phantasie mehr entzündende als fesselnde Form des Fragments selber. Ich nenne von etwa – man denke! – fünfzig Namen nur die Bekanntesten (wobei die heute Aufgeführten zunächst ausgenommen sind): Luigi Dallapiccola, Ildebrando Pizzetti, Hermann Reuter und vor allem Carl Orff in seinem berühmten "Trionfo di Afrodite" (von 1951).
Auch heute abend, wo vor allem neueste Kompositionen als Zeugnisse für Sapphos fortwährenden Zauber vorgestellt werden, stehen bezeichnenderweise die Fragmente im Vordergrund, oft nur ganz kurze, aber suggestive Stücke (von manchmal kaum mehr als einem Vers). Dabei verwenden zur Freude des Altphilologen sowohl Alfred Müller-Kranich wie Wilhelm Killmayer den originalgriechischen Text (Killmayer ist ein besonderer Freund der Dichterin, die er seit 1960 immer wieder zur Grundlage von Kompositionen gemacht hat); Jürgen von Bose legt die schöne metrische Übersetzung von Joachim Schickel zu Grunde. Die einzige Ausnahme, was die Textwahl angeht, macht der Tscheche Jan Novák (der vor fast achtzehn Jahren in Neu-Ulm gestorben ist): Er hat in ganz einfacher strophischer Form das berühmte große Fragment über die Liebessymptome vertont, wobei es ihm weniger auf expressive Ausdeutung ankam als darauf, die schiere Schönheit des sapphischen Versmaßes hörbar zu machen:
Phainetai moi kenos isos theoisin ...
Wenn man das exakt nach den metrischen Vorgaben vertont, so ergibt sich ein wiegender, nach unseren Maßstäben schräger Rhythmus, der aus einer Folge von 3 + 4 + 6 + 5 Zeiteinheiten besteht: - v / - - / - v v - / v - - sich also der Aufteilung in eines modernes Taktschema widersetzt, dabei aber doch höchst einfach und natürlich wirkt. Ich erwähne noch, dass diese "sapphische Strophe", das Lieblingsmaß der Dichterin und darum auch nach ihr benannt, einen unvergleichlichen Welterfolg gehabt hat. Nicht nur die römischen Lyriker, Catull und Horaz, haben es verwendet, auch das lateinische Mittelalter und die frühe Neuzeit schrieben in ihm besonders ihre Marienhymnen; Brahms hat ihm in der "Sapphischen Ode" gehuldigt, und bis heute gibt es Dichter, die dieses Maß verschiedenen Sprachen anzupassen versuchen. Es passt dazu, dass Xenakis, der vor zwei Jahren verstorbene große griechische Komponist, für seine Schlagzeugkomposition "Psappha" – mit dieser Namensform nannte Sappho sich selber – gerade von diesem Versmaß angeregt worden sein soll.
So ist dieser heutige Abend eine völlige Huldigung
an Sappho, die größte
aller Griechinnen, an ihre wenigen, kostbaren Worte und an ihren
unsterblichen
Rhythmus.