Wilfried Stroh
Achill und Demosthenes:
vom doppelten Schimpfen in der klassischen Antike
Homers Ilias, das
älteste Literaturwerk Europas, beginnt mit einer
Streit- und Schimpfszene, deren Kraft in der Eskalation des Zorns
vielleicht auch von keinem späteren Dramatiker erreicht wurde.
Es geht um den ewigen Konflikt zwischen einem Vorgesetzten und seinem
tüchtigeren Untergebenen. Agamemnon führt das Oberkommando
der Griechen vor Troja, tapferster Soldat ist aber Achill. In einer
Notsituation führt die schwelende Rivalität zum offenen
Schlagabtausch. Eine Pest sucht das Lager des griechischen Heeres heim:
Die Lage verlangt nach sakraler Hilfe. Achill, seinem Vorgesetzten
zuvorkommend, beruft eine Heeresversammlung und ersucht den
zuständigen Priester bzw. Seher, Kalchas, um sein Gutachten: Wer
oder was könnte welchen Gott verstimmt haben? Kalchas scheut sich
die Antwort auszusprechen, da er dadurch den mächtigsten Mann
kränken müsse. Achill gibt ihm eine Sicherheitsgarantie,
wobei er, wohl nicht ohne vorausahnende Schadenfreude,
überflüssigerweise einen Namen ins Spiel bringt: "Keiner wird
es wagen, Hand an dich zu legen, auch wenn du Agamemnon nennst, der
sich jetzt rühmt, bei weitem der beste der Achäer zu sein."
Sich rühmt, sagt er, ein erster Stich.
Zwei homerische Streithähne
geraten aneinander
Nun rückt Kalchas mit seiner für den Feldherrn unangenehmen
Wahrheit heraus: Gott Apollon ist beleidigt, weil seinem Priester
Chryses - Priester sind solidarisch - von Agamemnon dessen Tochter,
Chryseis, geraubt wurde. Agamemnon ist Staatsmann genug, um sich dem
allgemeinen Wohl zuliebe trotz Verärgerung zur Rückgabe der
Beute zu bequemen (obwohl ihm das Mädchen bereits lieber sei als
die eigene Frau Klytaimnestra) – freilich erwarte er, dass er
dafür durch ein anderes Beutestück bzw. eine Ehrengabe -
geras heißt das bei den
Griechen - entschädigt werde.
Klar, dass Agamemnon, der immerhin den Pesttod sehr vieler Soldaten zu
verantworten hat, damit zu weit geht. Aber Achill, statt diese letzte
Forderung zunächst unbeachtet zu lassen, lässt sich von
seinem Unmut über den Mann, der immer die fetteste Beute
beansprucht, zu einem ersten, noch zurückhaltenden Scheltwort
hinreißen: "Atreus Sohn, vornehmster und besitzfreudigster von
allen ...": Die bisher gemachte Beute sei nun einmal verteilt, gerne
werde man allerdings Agamemnon nach der Eroberung Trojas
entschädigen. Diesem Vorwurf der Beutegier entgegnet der
verstimmte Agamemnon mit dem der Heuchelei: Achill wolle in Wahrheit
allein sein eigenes geras
behalten und ihn leer ausgehen lassen. Und im
Ärger darüber macht er eine fatale Drohung: Wenn ihm die
Griechen nicht von selbst ein geras
gäben, werde er sich eines
nehmen, "entweder von dir oder von Aias oder von Odysseus". War das
nötig? Achill auch gleich noch als ersten zu nennen? Agamemnon
lenkt sofort etwas ein, indem er umständliche Anweisungen zur
Rückgabe der Chryseis gibt.
Aber das hilft nun nicht mehr. Der bisher ja nur mäßig
attackierte, aber schon öfter sich gedemütigt fühlende
Held denkt nur an das eine: dass sein Vorgesetzter sich nun auch noch
an seinem, Achills, geras
vergreifen könnte, und er explodiert: "O
du Mann ohne Scham, voller Gewinnsucht!" Welcher Grieche werde diesem
Heerführer noch folgen wollen? Er, Achill, kämpfe hier ja
nicht für sich, sondern für die Ehre Agamemnons und dessen
Bruders Menelaos. Und da wolle dieser ihm seine Ehrengabe rauben! Ja,
wenn es denn einmal zur Eroberung Trojas kommen werde, dann werde er,
Achill, natürlich die Hauptleistung im Kampf vollbracht haben, bei
der Verteilung der Beute aber werde sich Agamemnon den üblichen
Löwenanteil sichern – während der wahre Sieger mit "kleiner
Liebesgabe" zufrieden sein müsse. Und wütend droht er: Er
wolle mit seinen Landsleuten zurück nach Thessalien fahren und die
andern Griechen ihrem Schicksal überlassen.
Eine fatale Ankündigung, die Agamemnon jetzt nur noch durch eine
sofortige Ehrenerklärung für seinen besten Mann
entschärfen könnte. Aber nun übermannt auch ihn die lang
angestaute Wut über den immer wieder unbotmäßigen
Kämpen, der seinen Führungsanspruch gefährdet. Und er
sagt Worte, die er später schwer bereuen wird: Solle Achill doch
nur nach Hause fliehen, er bettle nicht, brauche ihn auch nicht, da er
ihm ohnehin verhasst sei als einer, der nur "Streit und Krieg und
Schlachten" im Kopf habe (als wären Achills
militärische Glanztaten seiner Streitsucht entsprungen). Dann
konkretisiert er auch noch die eigene, bisher ja allgemeine
Ankündigung: Just an dem geras
Achills, nämlich seiner
Kriegsgefangenen und Geliebten Briseis, werde er sich schadlos halten
und sie sich ins Bett holen, "damit du genau weißt, um wie viel
besser ich bin als du". Wollen sehen, wer hier der Chef ist!
Göttin Athene verhindert das
Schlimmste
Da erfasst Achill ein tiefer Schmerz über diese
Demütigung, die Worte fehlen ihm und er überlegt – die erste
Entscheidungssituation in der griechischen Literatur -, ob er das
Schwert gegen Agamemnon ziehen oder sich noch einmal beherrschen solle.
Das Eingreifen einer Göttin gibt den Ausschlag. Athene, nur Achill
sichtbar, hält ihn vom Äußersten ab: Statt mit dem
Schwert zuzuschlagen, solle er Agamemnon "mit Worten schmähen und
ihm das vorhalten, was sein wird": nämlich dass er, Achill,
dereinst noch vielfache Genugtuung erhalten werde. So wird nun also die
verbale Schmähung zum Ersatz für die brachiale Attacke:
Ermutigt durch die Zusage der Göttin beschimpft Achill seinen
Vorgesetzten hemmungslos als Trunkenbold, Wüstling und
Hasenfuß, der in der Schlacht versage, dafür aber jeden, der
ihm widerspreche, ausplündere – freilich, er könne es sich
auch leisten, "du herrschst ja über Nullen". Aber, und das wird
nun als gewaltiger Schwur formuliert, unweigerlich werde dereinst der
Tag kommen, wo man sich nach Achill noch sehnen werde – dann freilich
umsonst.
So weit hat sich die Streitszene, die fast zum förmlichen Duell
entartet wäre, gesteigert. Nun beginnt eine leichte Antiklimax,
indem der uralte Nestor einen Vorschlag zur Versöhnung macht:
Agamemnon, der Befehlshaber, solle auf Briseis verzichten, Achill aber,
das Bollwerk der Griechen, solle den Vorgesetzten nicht weiter reizen.
Das wäre in Ordnung, meint Agamemnon, wäre Achill nur
irgendwie bereit, sich ihm unterzuordnen. Aber dieser, der nicht daran
denkt, sucht nun geradezu willentlich die Kränkung, indem er,
statt auf Nestors Kompromiss einzugehen, Briseis von sich aus
schmollend preisgibt und dafür Agamemnon, falls er sich sonst noch
an etwas vergreifen würde (wovon aber gar nie die Rede war), mit
dem Schlimmsten droht: "Dann wird rasch dein dunkles Blut um mein
Schwert strömen." Ein hohler, künstlicher Knalleffekt zum
Schluss: Achill ist beleidigt und will es bleiben - mit fatalen Folgen
für alle.
Homer als Rhetoriker?
Homer, der diese psychologisch glaubhaften, dramatisch sich steigernden
Scheltreden seinen Streithähnen in den Mund legte,
war, wie man schon in der Antike wusste, ein gewaltiger
Redekünstler, ja vielen galt er geradezu als Erfinder der Rhetorik
– die ja auch die "Tadelrede" zu ihren Gattungen zählte. Dennoch
sind gerade diese Reden, im Gegensatz zu manchen anderen, nicht
rhetorisch im eigentlichen Sinn; denn Rhetorik zielt, wie man in der
Antike fast einstimmig annimmt, auf Überredung bzw.
Überzeugung (peitho) -
und gerade diese findet hier nicht statt.
Agamemnon müsste ganz anders sprechen, wenn er wirklich zu einem
Ersatz für seine Chryseis kommen wollte; und erst recht wären
die Worte Achills schlechtweg kontraproduktiv, wenn er die Absicht
hätte, Agamemnon zum Verzicht auf Briseis zu bewegen.
Und was vielleicht noch auffallender ist: Die beiden machen auch nicht
einmal den Versuch, das Einverständnis der doch zuhörenden
Griechen für sich zu gewinnen. Nur einmal, ganz beiläufig,
redet Agamemnon sie als Untergebene an. Und auch Achill bei seiner
gewaltigen Prophezeiung auf die künftige, tödliche Not der
Griechen, spricht zu ihnen nicht so, wie es ihm jetzt sein neuester
Übersetzer, Raoul Schrott, in den Mund legt: " i h r werdet
euren achilleus noch bitter vermissen! ihr alle!"; er belässt
diese Anwesenden vielmehr, weil er nur an Agamemnon denkt, in der
dritten Person: "Alle Achäer (Griechen) werden Achill einmal noch
vermissen, dann aber wirst d u nicht helfen können."
Wie wenig er um die Gunst der Zuhörer buhlt, zeigt vor allem, dass
er sie an einer Stelle, wie erwähnt, nebenbei als "Nullen"
herabsetzt, die sich von Agamemnon alles gefallen ließen. Kein
Redner hätte einen solchen Fauxpas gegen die captatio
benevolentiae gemacht.
Nein, hier sprechen keine kalkulierenden Redner, hier spricht die
nackte, irrationale Wut. Die Kommunikationstheoretiker belehren uns,
dass in der sprachlichen Äußerung drei Hauptfaktoren zu
beachten seien: der Sprecher, der Adressat, der Gegenstand der Rede.
Das gilt auch für das Schimpfen und Schelten, nur dass hier
Gegenstand und Adressat zum Teil identisch sind. Insoweit der Sprecher
dem eigenen Affekt huldigt, dient die Schelte der Befriedigung seines
Zorns; geht es ihm vor allem um den beschimpften Adressaten, so will er
diesem, indem er ihn erniedrigt, Schmerz zufügen; hat er aber
andere Adressaten im Blick, dann will er sie davon überzeugen,
dass der Beschimpfte minderwertig und unglaubwürdig ist. Die
dritte Form ist die eigentlich rhetorische, die wir hier bei Homer
nicht finden. An dieser Stelle dominieren die ersten beiden. Immer
wieder wird der Affekt hervorgehoben: Vom "Zorn" der beiden, vom
"schwarzen Sinn" und "finsteren Blick", von vor Wut "feurig blitzenden
Augen" ist die Rede. Und was die verbale Verwundung betrifft, sagt
Athene ja ausdrücklich zu Achill, er solle sich mit Worten, statt
mit dem Schwert zur Wehr setzen – was er dann ja auch tut.
Attische Redeschlachten: Demosthenes
gegen Aischines
Ein kontrastierendes Gegenstück zu diesem ersten Schimpfgefecht
der griechischen Literatur bieten die beiden Redeschlachten, die sich
vierhundert Jahre später die berühmtesten Redner Athens,
Demosthenes und Aischines, geliefert haben. Vor allem in zwei uns gut
dokumentierten Prozessen gerieten die beiden aneinander: Im ersten (343
v. Chr.) beschuldigte Demosthenes seinen Widersacher, die Interessen
Athens bei einer Gesandtschaft an König Philipp von Mazedonien
verraten zu haben; in einem späteren (330) wollte Aischines
nachweisen, dass Demosthenes eines ihm von Staats wegen zugedachten
Ehrenkranzes unwürdig sei. Es ist erstaunlich, was ein athenisches
Gericht bei einem solchen Prozess an unsachlichen Schmähungen
zuließ. Im Gesandtschaftsprozess hält Demosthenes dem
Gegner seine klägliche Kindheit als Sohn einer Winkelpriesterin
und eines Schulmeisters vor – Armut schändet -, außerdem
seine schlecht bezahlten Tätigkeiten als Schreiberling und
drittklassiger Schauspieler. Offensichtlich, so sollen die Richter
verstehen, hat dieser Plebejer es erst in der Politik dank
Bestechlichkeit zu seinem derzeitigen Vermögen gebracht. Aber
Aischines gibt seinem Verleumder kräftig heraus. Er erinnert an
dessen angeblich alte Spitznamen Batalos,
die Tunte, und Argas, die
Giftschlange; und vor allem stellt er ihn bloß, indem er in
meisterhaft satirischer Erzählung darlegt, wie Demosthenes selbst
bei seinem groß und prahlerisch angekündigten rednerischen
Auftritt vor König Philipp den Faden verloren und sich samt seiner
Vaterstadt jämmerlich blamiert habe. Und dieser Versager wirft ihm
nun vor, ein unlauterer Gesandter gewesen zu sein!
Beim zweiten Prozess muss Aischines, diesmal selbst Ankläger, noch
einiges drauflegen: Demosthenes sei von der Mutter her ein Skythe aus
gesetzwidriger Ehe, ein "Barbar mit griechischer Zunge, auch seiner
Bosheit nach kein Einheimischer". Als Advokat wie als Politiker
bereichere er sich auf Kosten anderer, "gut im Reden, schlecht im
Leben", vor allem aber ein notorischer Feigling im Krieg, der nach
Solons Gesetzen streng bestraft – und nicht gar noch mit einem Kranz
geehrt werden müsste! Demosthenes weiß dagegen, was das
Privatleben angeht, nichts ganz Neues. Aber mit der Kunst der
steigernden Vergrößerung (auxesis)
bringt er auch das Alte
zur Wirkung: Der Vater des Aischines war nicht nur, schlimm genug, ein
Lehrer, sondern Sklave eines Klippschulpädagogen; seine fromme
Mutter eine leichte Dame, die in einem Schuppen "sogar am helllichten
Tag ihre Hochzeiten feierte" - ein später oft bewunderter
Euphemismus -, um ihr schönes Püppchen, sprich diesen
Schmierenkomödianten aufzuziehen. "Aber das wissen ja alle, selbst
wenn ich es nicht sage". Und so weiter.
Dies alles, sagt Demosthenes, bringe er nicht vor, weil er etwa selbst
ein Lästermaul wäre, sondern nur um zu zeigen, was für
ein Mensch der sein müsse, der ihn selbst so übel verleumde.
Man hat diesen Satz als scheinheilig bezeichnet, aber völlig
falsch ist er nicht: Die Schmähungen des Demosthenes wie anderer
griechischer Redner entspringen hier und sonst fast nie einer Freude am
Schimpfen und sie sind vor allem nicht das Ergebnis einer
ungezügelten Wut, wie wir es bei den beiden homerischen Helden
erlebt haben; sie sind gezielt darauf berechnet, um eines höheren
Überredungsziels willen einen anderen herabzusetzen, ihn nicht nur
zu kränken, sondern vor den Hörern, auf die alles ankommt, um
den Kredit zu bringen. Dem entsprechen auch die Theoretiker der Rede.
Obwohl man seit Aristoteles eine eigene Gattung der "Tadelrede" als
Erscheinungsform der sog. "epideiktischen Rede" ansetzte, war klar,
dass diese für sich kaum eine Rolle spielte. Für sie wie
für die konträre "Lobrede" gilt aber: "Auch wenn diese Form
selten isoliert erscheint, so bestehen doch große Teile von
Gerichtsreden wie von politischen Reden in Lob oder Tadel" (so der
Verfasser der ersten uns vollständig erhaltenen römischen
Rhetorik). Die Schmähung hat dienende Funktion. Und der ihr
zugrundeliegende Affekt (pathos)
soll im Hörer, nicht im Redner
erregt werden.
Der Redekampf um den Schild des Achill
Wie es einem Redner gehen kann, der dies nicht beherzigt, zeigt Ovid am
Beispiel des berühmten Waffenstreits im 13. Buch seiner
Metamorphosen. Noch bevor
Troja erobert wurde, ist Achill gefallen. Wer
soll nun seine Waffen erben? Zwei Helden bewerben sich darum vor der
Versammlung der Fürsten: der tapfere Aias und der schlaue
Odysseus. Natürlich ist Aias, wie Ovid zu verstehen gibt, der
geeignetere Kandidat. Er beginnt mit einem Wutausbruch: Hier vor den
griechischen Schiffen verhandle man! Vor d e n Schiffen,
die er, Aias, einst in höchster Not verteidigt habe, während
Odysseus mit anderen feige geflohen sei! Ja, nur ein Maulheld sei sein
Gegner, für den es nunmehr schon rühmlich sei, mit ihm, Aias,
überhaupt konkurriert zu haben. Und dann zählt er seine
eigenen, in der Rettung der Schiffe gipfelnden Heldentaten auf -
"Nicht Aias verlangt nach den Waffen, die Waffen verlangen nach Aias"
- und kontrastiert sie schmähend mit dem vielfachen Versagen
seines Rivalen, der die eigenen Kameraden verrate, ja manchmal ans
Messer liefere. Und am Schluss ermuntert er selbstbewusst zu einem
Versuch, der Gedankenexperiment bleibt: "Werfe man doch die Waffen
unter die Feinde – und wer sie von dort holt, dem mögen sie
gehören!" Ja, das könnte nicht Odysseus sein.
Die Zuhörer sind beeindruckt; und eigentlich erst, wenn man die
Gegenrede des Odysseus liest, merkt man, was Aias trotz effektvoller
Formulierungen falsch gemacht hat: In seiner begreiflichen
Empörung hat er ganz übersehen, dass unter seinen
Zuhörern ja auch tapfere Männer sitzen, die sich
mitgekränkt fühlen müssen, wenn Aias alles Große
allein und in eigener Person vollbracht haben will. Odysseus dagegen
lässt sich zu keiner unkontrollierten Gegenattacke
hinreißen, sondern beginnt völlig anders, indem er nach
längerer Pause sich eine erkünstelte Träne aus den Augen
wischt und dann als seinen, ja als den gemeinsamen Wunsch aller
äußert, es wäre überhaupt nie zu einem
Waffenstreit gekommen, vielmehr (mit sanftem Tremolo in der Stimme):
"Du, Achill, hättest noch deine Waffen, und wir hätten dich!"
Natürlich muss auch Odysseus die Taten des Aias herabsetzen und
seine eigenen aufwerten, aber er tut es, indem er zeigt, wie er alle
Taten mit anderen zusammen und vor allem zum Wohl anderer, nicht zum
eigenen Ruhm, vollbracht habe: Auch seine geschmähte Redekunst
habe doch immer nur der Allgemeinheit gedient. So nehmen es auch die
geistig minder Brillanten unter den Zuhörern hin, wenn Odysseus
seinem Gegner vorhält, dieser sei eben ein Mann plumper
Körperkraft, die der Lenkung durch den Geist bedürfe, ihm,
Odysseus, ebenso untergeordnet wie ein Ruderer dem Kapitän. Und
wie sehr es ihm dabei um die gemeinsame Sache, nicht um das eigene
Prestige geht, zeigt sein überraschender letzter Satz, der genau
dem Schluss der Aiasrede korrespondiert: Solle man doch, wenn keiner
der beiden würdig scheine, die Waffen der Minerva weihen" (um so,
versteht sich, Trojas Schutzgöttin auf die Seite der Griechen zu
ziehen). – Ergebnis: "Die Waffen des Tapferen erhielt der Beredte",
nicht zu Recht, aber auch nicht grundlos.
In feiner Weise hat Ovid hier zwei rednerische Typen miteinander
kontrastiert: einen homerisch wütenden Helden, der zwar sogar
durchaus zu formulieren versteht, aber ehrenpusselig nur auf sein
eigenes Ansehen bedacht ist und den Gegner rücksichtslos
niedermacht, und einen anderen Mann, der durch die hohe Schule der
Rhetorik gegangen ist und es auch beim Schimpfen seiner Empörung
nie erlaubt, das Redeziel und die Zuhörer aus dem Blick zu
verlieren. Ein Achill unterlag einem Demosthenes.