Wilfried Stroh

Strauß, der geborene Lateiner


Valahfridus grammaticus Francisco Iosepho principi s.
Hochverewigter Herr Ministerpräsident,
lieber Herr Strauß!

Veniam tuam peto quod nunc ad te primum Teutonice scribo! Bitte verzeihen Sie, dass ich heute zum ersten Mal in deutscher Sprache an Sie schreibe, nicht im geliebten Latein. Auch einige barbari oder semibarbari wollen diesmal mitlesen. Da veniam!
Woher mir Ihr derzeitiger Wohnort und die sozusagen Ewigkeitsdresse, sedes aeterna, bekannt ist, können Sie sich leicht denken. Wie unser Cicero haben Sie immer der res publica dienen wollen, und so habe ich bei Cicero im 6. Buch De re publica die Nachricht gefunden: „dass denen, die das Vaterland, erhalten, gefördert und vermehrt haben, ein bestimmter Ort im Himmel zugewiesen ist, wo sie selig ein ewiges Leben, aevum sempiternum, genießen.“ Die näheren theologischen Hintergründe könnte uns in fast ebenso klassischer Sprache Ihr eloquenter Freund Joseph Ratzinger erläutern. Auch er hat ja, wie Sie inzwischen sicherlich erfahren haben, der Welt gezeigt, wie weit man es als Lateiner bringen kann.
Denn dass Sie Ihre staunenswerte Laufbahn vor allem dem Latein verdanken, weiß jedermann. Sie selbst haben es in ihren „Erinnerungen“, die längst in Übersetzung als De vita sua auch global verbreitet werden sollte, klar bekannt. Es waren die Sprüche der lateinischen Messe, die Sie als Ministranten bald so bezauberten, dass Sie sie auswendig wussten, ohne sie zu verstehen, gefesselt vom „vollen Klang“, plenus sonus, dieser unvergleichlichen Sprache - sowie einst Petrarca als Kind gebannt war von Ciceros „Süßigkeit und Wohllaut der Wörter“, dulcedo et sonoritas verborum, deren Sinn auch ihm noch verschlossen war. Zum Glück war Ihr Vater so einsichtig, Ihnen, nachdem Sie in kindlichem Eifer versucht hatten, die lateinische Sprache auf eigene Faust zu erlernen, den Besuch des Münchner Max-Gymnasiums zu gönnen. Nun lernten Sie beim Studium von Cicero und Vergil auch jene zweite Tugend der lateinischen Sprache kennen, deren, wie Sie sagen, gleichsam „geometrischen Aufbau“ (structura quasi geometrica), dank dem wir in diesem Idiom Verse und Sätze konstruieren können, wie man sie in anderen Sprachen nicht einmal versuchen kann. So war Ihr Weg zum Jahrgangsprimus beim bayerischen Abitur 1935 geebnet: Sie waren zum ersten Mal princeps Bavariae. Macte virtute!
Wie wünschte ich, ich wäre schon damals Professor der Ludwig-Maximilians-Universität gewesen! Denn dort schrieben Sie sich ein - nicht für Jura oder Politologie, sondern für das schönste aller Fächer: Latein, mit Griechisch, Germanistik und Geschichte. Gratulamur! Und auch die geplante Doktordissertation galt einem Lateiner: Es sollte gehen um den ersten römischen Universalhistoriker, Pompeius Trogus, und die bei diesem entwickelte Idee des Weltreichs. Quanta materia! Welch ein Thema gerade für unsere Zeit! Wäre dieses Werk zustande gekommen, wären nicht alle Ihre Unterlagen in den Bombennächten des Weltkriegs vernichtet worden, so wüssten wir vielleicht mehr und tiefer Bescheid über die Probleme des Globalisierung und Sie hätten am Ende doch den Beruf gefunden, zu dem die Natur sie insgeheim vorbereitet hatte: zu dem eines Latinisten. Denken Sie daran, was Ihnen Ende 1987 Michail Gorbatschow bei einem längeren Gespräch über Heraklit und anderes sagte: „Sie sind ein leidenschaftlicher Philologe“! - „und ein geborener“, hätte ich hinzugefügt.
Ich schmeichle nicht. Absint mendacia. Als Zeugen Ihres brillanten Lateinertums nenne ich keinen Ihrer Parteigänger, sondern einen unbestechlichen Kritiker, Professor Franz Dirlmeier, der in München Ihr akademischer Lehrer, viel später in Heidelberg der meinige war. Er sagte uns im Gespräch, keiner unter seinen Studenten habe je so gut Latein gesprochen wie Strauß - neminem melius Latine locutum quam Franciscum Iosephum. (Leider hat er auch mich dabei offenbar nicht ausgenommen.)
Und ich kann noch einen anderen Dirlmeier-Ausspruch beisteuern, den Sie bestimmt auch nicht kennen. Als Sie sich - nach erneutem, kurzen Liebäugeln mit einer akademischen Laufbahn - im Jahr 1966 anschickten, Finanzminister zu werden, da feixte man in Deutschland: Wie soll er das schaffen, wo er doch nur etwas von Rüstung und dergleichen versteht? Non omnia possumus omnes. Als wir uns so aber zu Dirlmeier äußerten, wurde er geradezu zornig: „Aber Strauß ist doch als Lateiner auch ein Humanist! Als Humanist kann er das natürlich, kann er alles - wenn er sich etwas eingearbeitet hat. Könntet ihr denn das nicht?“ Wir lachten, mussten aber später zugeben: vates fuerat - Dirlmeier war ein Prophet gewesen. Mit Wirtschaftsminister Karl Schiller, Ihrem zeitweiligen alter ego, zusammen haben Sie Plisch und Plum zu einer Berühmtheit gebracht, die kaum Romulus und Remus erreicht haben.
Aber zum Glück haben Sie ja dabei Ihr Latein nie hinter sich gelassen, die Schule zu hüten, sondern den ganzen lieben Schulsack mitgenommen, als Sie nach dem Krieg in der Politik vom Landrat zum Bundesminister und Ministerpräsidenten aufstiegen. Ich denke zunächst natürlich an Ihre zahlreichen Dicta: Pacta sunt servanda stammt zwar auch schon von Cicero, ist aber durch Sie erst so richtig populär geworden. Neu geprägt haben Sie neben der occupatio bellica (Besatzungszeit) und anderem die auf Lateinisch besonders bedrohliche pax sovietica, gegen die nur eine ebenfalls von Ihnen geschliffene Sentenz half: Vigilia est pretium libertatis - Wachsamkeit ist der Preis der Freiheit. Dass sich Latein vor allem auch für Hohn und Spott eignet, konnten die römischen Satiriker Sie lernen. Zwar vielleicht nicht jeder verstand es, wenn Sie das Parlament ein theatrum hypocriticum (Theater der Heuchelei) nannten oder Ihren Widersacher Helmut Schmidt als praeceptor mundi, doctor gentium (Präzeptor der Welt, Lehrer der Völker) verspotteten; aber was verschlug das schon? Ihr Grundsatz „Erfolgreichen Rednern haftet grundsätzlich etwas Mystisches und Geheimnisvolles an“ verdient es längst ins Lateinische übersetzt und den Lehrbüchern von Cicero und Quintilian beigeben zu werden: Magnis oratoribus necesse est aliquid mystici et arcani insit. Hab ich’s getroffen?
Von Cicero vor allem haben Sie die schöne Kunst gelernt, harmonische, große Satzperioden zu bauen, die doch nie unübersichtlich wurden, und vor allem mit dem ganzen Apparat der klassischen Redefiguren zu zaubern:
    Helmut Schmidt ist gefährlicher als die offen auftretenden Systemveränderer,
    weil er täuscht, wo die Wahrheit unbequem ist,
    weil er beschwichtigt, wo Wachsamkeit des Bürgers erste Pflicht sein sollte,
    weil er verbirgt, wo Offenlegung notwendig wäre.
Hier haben Ihre Hörer gejubelt, auch wenn sie noch nie etwas von Anaphern, Isokola und dem Parallelismus membrorum gehört hatten.
    So war es auch das Lateinische, das mir in den letzten Jahren Ihres Lebens noch die persönliche Bekanntschaft, besser Brieffreundschaft, mit Ihnen verschaffte. Ich brauchte im Jahr 1985 Geld für unsere LVDI LATINI in Augsburg, ein musikalisches Lateinfestival, das „das größte Lateinereignis seit Ende des Imperium Romanum“ werden sollte. Dafür wagte ich es, Sie in lateinischer Epistel um Unterstützung anzugehen. Und wenig später war die noch schöner stilisierte Antwort da, die mir Schnorrer Wohlwollen signalisierte: Musas sine nummis frigere et humanitatem sine pecunia iacere equidem scio. (Dass die Musen ohne Geld in der Kälte sitzen und der Humanismus ohne Finanzen am Boden liegt, das weiß ich sehr wohl.) Und nach der entsprechenden Zusage hieß es, Sie hofften: me multa ac magna de LVDIS LATINIS auditurum vel lecturum esse (dass ich viel Großes über die LVDI LATINI hören oder lesen werde). Ihre Freude war noch größer, als Sie erfuhren, dass ich auch sieben Lateinschüler aus Schwarzafrika erfolgreich eingeladen hatte und Sie schrieben: Bavariam arcem altam nigrorum esse neminem fugit: iure te nigros omnis generis congregasse gloriari potes. (Jeder weiß wohl, dass Bayern die Hochburg der Schwarzen ist: So können Sie sich mit Recht rühmen, die Schwarzen aller Sorten versammelt zu haben.)
    Wie schade, dass Sie damals und im Folgejahr nicht selbst zu uns gekommen sind! Bei den Freisinger LVDI LATINI 1986 hat Ihnen Ihr Stellvertreter, Kultusminister Professor Hans Maier, die Schau gestohlen, als er zunächst live in lateinischer Rede brillierte und dann auch noch im Fernsehen ein Interview in der Sprache der Römer aus dem Ärmel schüttelte, das sogar die Berufslateiner erblassen ließ. Hans Maier der erste Lateiner im Freistaat? Wir ahnten sogleich, dass Sie ihm einen solchen triumphus nicht würden durchgehen lassen. Und schon zwei Wochen später war er dann ja nicht mehr im Amt. O utinam ipse dixisses!
    Dafür haben Sie dann ja versucht, sich in diesen Jahren wieder wie früher als Nachhilfelehrer zu betätigen und Ihrer Verlobten Renate Piller die Grundzüge der Lateingrammatik beizubringen. Wussten oder ahnten Sie, dass Renata (die dank Bildung „Wiedergeborene“) heimlich noch einen weiteren Magister in Sold nahm, um Ihren Anforderungen standhalten zu können? Dem „Stern“ hat sie es vor einigen Jahren verraten und ihm auch das Foto einer von Ihnen korrigierten und benoteten lateinischen Hausaufgabe zur Verfügung gestellt. War das nicht doch Ihr schönster Beruf? Immer hatte ich die leise Hoffnung im Herzen, Sie würden bei mir einmal Ihr lateinisches Dissertationsprojekt wieder aufnehmen.
Zum Ersatz für Ihre verpasste Freisinger Rede haben Sie uns damals ein großes, schönes lateinisches Grußwort gestiftet, an das Sie sich bestimmt noch erinnern und aus dem ich wenigstens einen kleinen, bedeutungsvollen Satz zitiere: Lingua Latina, ut imagine utar, quasi porta est, per quam aditus patet ad humanitatem, qua nihil pretiosius, nihil praestabilius ab Antiquitate accepimus. (Die lateinische Sprache ist, um ein Bild zu gebrauchen, eine Art Pforte, durch die man den Eintritt erhält zur Humanität, die das Wertvollste und Herrlichste von allem ist, was wir von der Antike bekommen haben.) Humanitasvereint in sich Mitmenschlichkeit und Geistesbildung. Beides vermitteln uns in ihren Schriften die großen Römer, wie Cicero und Seneca. Die lingua Latina an sich enthält, wie Sie selbst andeuten, diese humanitas noch nicht: Einer der schrecklichsten Mörder der Geschichte, Heinrich Himmler, wurde wie Sie auf einem Münchner Gymnasium humanistisch erzogen, und sein Vater war sogar Studienrat für Latein und Griechisch gewesen. Aber das kann uns nicht hindern, die lateinische Sprache als, wie Sie treffend sagen, schönste Pforte zu dem zu gebrauchen, was die Römer mit ihrem unvergleichlichen Wort humanitasausgedrückt haben.
    In aeternum, vir humanissime, vale!


Wilfried Stroh
Professor em. für Klassische Philologie
Ludwig-Maximilians-Universität München