Unsere Zeitungen enthalten bekanntlich – wenn wir vom Lokalteil der Tagespresse absehen - die vier Abteilungen: Politik, Feuilleton, Wirtschaft, Sport. So möchte also der von den Journalisten vorausgesetzte Leser nicht nur darüber unterrichtet werden, welche politischen und ökonomischen Kräfte sein Schicksal bestimmen; er will sich auch über das Neueste aus Theater, Literatur, bildender Kunst usw. informieren lassen; er möchte aber ebenso und nicht zuletzt wissen, wer im laufenden Tennisturnier weitergekommen ist und wie der von ihm favorisierte Fußballverein gespielt hat – letzteres eigentlich höchst nutzlos, geradezu befremdlich! Einen empfohlenen Film, eine gerühmte Gemäldeausstellung kann der Betreffende ja immerhin besuchen, einen Roman kann er sich kaufen und zur Bildung von Herz und Gemüt verwenden: Was aber hilft es ihm zu wissen, welcher Sprinter soeben eine Jahresbestleistung im Hürdenlauf erzielt hat, oder dass der FC Bayern München wieder einmal gegen einen Angstgegner, wie die Spielvereinigung Unterhaching, knapp unterlegen ist? Und doch ist es bekanntlich so, dass dieses Nutzlose eine irrationale Faszination auch auf Gebildetere ausübt. Jeder kennt wohl jemanden, der zugeben muss, in der Nacht vor gewissen Matches schlechter zu schlafen; ganz Deutschland applaudierte kürzlich, als sich die öffentlichen Fernsehanstalten die Übertragungsrechte an Fußballspielen (auf Kosten ihrer Gebühren zahlenden Zuschauer) mit horrenden Summen sicherten; und sogar von einem leibhaftigen deutschen Bundeskanzler war bekannt, dass er Montags so lange auf Politik nicht anzusprechen war, bis er ein gewisses grünes Blatt, mit dem eigentlich undeutschen Namen Kicker, studiert hatte. Armes Vaterland?
Wie immer man über diese exzessive Leidenschaft urteilen mag, sie ist zunächst einmal, unbestritten, ein Stück antikes Erbe. Die alten Griechen haben, wie man weiß, dem Abendland nicht nur die Muster fast aller literarischen und künstlerischen Gattungen hinterlassen, sie haben nicht allein durch ihre Sinnsprüche und Denksysteme bis heute Moral und Wissenschaft geprägt, sie haben uns auch eben diese eigenartige Neigung zum Sport hinterlassen, zwar wohl nicht direkt – denn das sogenannte Mittelalter scheint hier in der Tradition weithin auszufallen -, wohl aber indirekt vermittelt durch die verschiedenen Renaissancen der Antike in der Neuzeit – vom italienischen Humanismus bis zur Goethezeit und Turnvater Jahn -, und diese haben hier ihre Krönung durch Pierre Baron de Coubertins Neubegründung der Olympischen Spiele im Jahr 1894 erfahren. Durch sie ist, was bei den in Stadtstaaten zersplitterten Griechen Nationalsache war, mittlerweile zur internationalen Angelegenheit aller Völker geworden.
Aber wie bei uns der Sport nicht nur in den öffentlichen Wettkämpfen trainierter Spezialisten existiert – seine offizielle Rechtfertigung zumindest hat er ja durch den angeblich der Volksgesundheit dienenden Breitensport -, so war dies ähnlich auch bei den Griechen. Neben dem quasi professionell von "Athleten" (athletaí) in "Stadien" (stádia) wettkampfmäßig, d.h. in Form öffentlicher "Agone" (agônes), ausgeübten Sport, gibt es gewissermaßen als Volkssport die auf körperliche Ertüchtigung zielende gymnastiké (mehr als was wir unter "Gymnastik" verstehen), die unter Anleitung von Sportlehrern (gymnastaí) bzw. Sporterziehern (paidotríbai, wörtlich "Kindertrainern") in den "Palästren" (palaîstrai, wörtlich "Ringplätzen") bzw. den – mit unseren "Gymnasien" wenig verwandten - gymnásia (wörtlich "Nacktanstalten") stattfindet und die, im Gegensatz zur "Athletik", weil gesundheitsförderlich auch von den Ärzten als Teil ihrer medizinischen Kunst reklamiert wird. "Gymnastik" und "Musik" (d.h. musikalisch-literarische Bildung) sind, ganz in allgemein griechischem Geiste, die beiden Hauptbestandteile der Jugenderziehung noch in Platons berühmtem Idealstaat – möchten doch die Curriculumgestalter in unseren Kultusministerien dies bedenken! -; schon der alte Solon soll sie zweieinhalb Jahrhunderte zuvor (am Anfang des 6. Jahrhunderts) als Grundsäulen attischer Bildung in seinen Gesetzen aufgerichtetet haben. Während letzteres heute bezweifelt wird, gilt als sicher, dass durch Solon das große öffentliche Interesse am Sport zumindest in Athen offiziell sanktioniert wurde. Er bestimmte nämlich, dass jeder einheimische Olympia-Sieger aus der attischen Staatskasse volle 500 Drachmen, jeder Sieger bei den Isthmischen Spielen immerhin 100 Drachmen erhalten solle. Wozu man wissen muss, dass die bei diesen panhellenischen Spielen verteilten offiziellen Siegerkränze nur einen symbolischen, keinen materiellen Wert hatten.
Das hohe, einzigartige Ansehen des Sports bei den Griechen, durch das sie sich, was man neuerdings wohl zu Unrecht bestritten hat, von anderen Kultur- wie Naturvölkern der alten Welt unterschieden, zeigt sich auch etwa darin, dass die Griechen sogar ihre Jahre nach Olympiaden zählten, am deutlichsten aber in der Art und Weise, wie sich bei ihnen auch die bildenden und musischen Künste des Sports angenommen haben. Dieser ist nicht nämlich nicht nur ein höchst beliebter Gegenstand von Skulptur und Malerei, übrigens schon seit minoischer Zeit (während er in unseren Galerien und Museen doch so gut wie keine Rolle spielt, als wäre das Thema durch die Sportfotografie erschöpft), er wird nicht nur in poetischen Werken gerne und liebevoll dargestellt: Musik begleitet auch vielfach schon den Ablauf der Wettkämpfe (wie bei uns nur noch, aus krächzenden Lautsprechern, den Eiskunstlauf), ja Poesie und Musik sind sogar selber Teil großer sportlicher Agone, wie besonders der in Delphi zu Ehren des Musengotts Apollon stattfindenden Pythischen Spiele; vor allem aber dienen diese Künste dazu, die Helden der Spiele, die Sportsieger, gebührend zu feiern. Die großen Chorlyriker des sechsten und fünften vorchristlichen Jahrhunderts, Simonides, Bakchylides und Pindar verfassen und vertonen, gegen Bezahlung, versteht sich, lyrische Festlieder, die dem in seine Vaterstadt heimkehrenden Sieger von singenden und tanzenden Chören dargeboten werden. Die bedeutendsten erhaltenen Stücke griechischer "Lyrik", die sogenannten "Oden" Pindars, sind nichts anderes als die Texte solcher Kantaten ("Epinikien") auf die Sieger der großen vier Festspiele (Olympien, Pythien, Nemeen, Isthmien; danach waren auch schon die antiken Werkausgaben gegliedert); durch diese Dichtungen wurde, wie wir heute sehen, eben das wahr, was der Dichter in ihnen immer wieder versichert: dass er mit seiner Kunst mehr noch, als es die Statuen der Bildhauer könnten, den Namen seines Helden auf die Nachwelt bringe und unsterblich mache.
Um zu ermessen, was der Sport den Griechen bedeutet, muss man sich also nur einmal vorstellen, dass etwa bei der Heimkehr des schon erwähnten FC Bayern München von, sagen wir, dem Gewinn der Champions League, auf dem Marienplatz der bayerischen Metropole neben Ministerpräsident und Oberbürgermeister auch der Staatsminister für Wissenschaft etc. sowie der Kulturreferent der Stadt zugegen wären. Denn Chor, Orchester und Ballett der Staatsoper würden ja dort eine Tanzkantate uraufführen, die von einem führenden Lyriker Bayerns, z.B. Hans Magnus Enzensberger, getextet, und etwa von Wilfried Hiller, wenn nicht gleich dem von auswärts herbei geholten Karlheinz Stockhausen, in Töne gesetzt wäre. Und in diesem Werk, dem nun die Männer um Kahn und Effenberg zu lauschen hätten, wäre dann weniger von gewaltigen Flanken, kunstreichen Doppelpässen und kühnen Abwehrparaden die Rede, als vielmehr – denn es handelte sich um noch anspruchsvollere, auf Ewigkeit gerichtete Kunst – auch besonders von dem Stadtgründer Heinrich dem Löwen oder von der Missionspredigt des noch älteren heiligen Korbinian, die dann sowohl zum Sportsieg der Bayern als auch zu aktuellen Problemen etwa der pränatalen Diagnostik in eine kunstvolle, wenn auch keineswegs immer ganz durchsichtige, Beziehung gesetzt würde. Die Oden Pindars klammern nämlich, wie schon zu seiner Zeit auffiel, den zu feiernden Sportsieg oft fast aus, um sich, an diesen lose anknüpfend, in mythologisch-historischen Erinnnerungen sowie moralphilosophischen Betrachtungen zu ergehen. Wie wenig ist selbst uns der Sport wichtig – im Vergleich zu den Griechen!
Kann man sagen, welchen Grund diese Sportpassion hat? Nein, sicherlich nicht, aber man hat sie seit wenigstens hundert Jahren, das heißt seit Jacob Burckhardts berühmter, postum erschienener "Griechischer Kulturgeschichte" (1902), immer wieder und gewiss zu Recht – wenn auch dies (seit 1974) von dem Sporthistoriker Ingomar Weiler und anderen bestritten wird – mit dem in Zusammenhang gebracht, was wir den agonalen Sinn der Griechen nennen könnte und was Burckhardt (wie dann auch sein noch berühmterer Basler Kollege Friedrich Nietzsche) als geradezu das "Lebensinteresse und Distinguens der Hellenen" bezeichnet hat: die immer und überall vorhandene Sucht, alles Tun als Agon, Wettkampf zu betreiben, um sich je selber mit andern vergleichen und vor ihnen hervortun zu können
"Immer der erste zu sein und vorzustreben vor andern ..."
heißt der Grundsatz, den der alte Peleus, seinem Sohn Achill, dem künftigen Hauptakteur von Homers Ilias, ins Leben mitgegeben hat (Il. 11,487), und dieser beherzigt ihn so gründlich, dass er es nicht nur vorzieht, vor Troia eines, wie er voraus weiß, frühen, aber ruhmvollen Heldentods zu sterben, statt zu Hause ins beschauliche Seniorenalter zu kommen, sondern vor allem dass er, als er von seinem ihm zwar vorgesetzten, aber an soldatischer Tüchtigkeit unterlegenen, Heerführer Agamemnon in der Ehre (timé) gedemütigt wird, sich im Zorn der Empörung dem gemeinsamen Kampf der Griechen verweigert und durch diesen seinen Streik "tausendfache Leiden über die Achäer bringt und viele starke Seelen der Helden ins Totenreich schickt ..." (Il. 1,2-4). So bildet ein dem schieren Ehrgeiz (später: philotimía), ja geradezu der Ehrpusseligkeit entstammender Rangstreit – denn Agamemnon empfindet kaum anders als sein Rivale - den Kern diese größten und ältesten griechischen Dichtung, in der dann auch die für alle Zeiten berühmtesten literarischen Sportwettkämpfe stattfinden.
Aber bevor wir uns diese ansehen, sei wenigstens noch ein Blick auf sonstige musische Erscheinungsformen jenes agonalen Triebs der Griechen geworfen. Bezeichnend ist, dass schon die älteste uns erhaltene griechische Inschrift, die sich in Versform hingekritzelt auf einer attischen Kanne findet, eben diese als Kampfpreis in einem Wettbewerb ausweist: "Wer nun von allen Tänzern am feinsten ‚spielt‘ [die genaue Bedeutung ist umstritten], soll dieses nehmen". Die Teilnahme an einem musischen Agon bezeugt dann auch der zweite große griechische Dichter, der Böoter Hesiod, der auf seiner einzigen Auslandsreise sich bei Leichenspielen auf Euböa einen Dreifuß mit großen Ohren ersungen haben will (Erga 651-660). Ihn bringt ein späteres Volksbuch, der sogenannte "Wettstreit von Homer und Hesiod", sogar mit dem großen jonischen Konkurrenten persönlich zusammen. Das ergötzliche Werkchen, zeigt zwar Homer als den geistig überlegenen Dichter und vor allem genialen Improvisator, dem Hesiod kein Bein stellen kann; aber am Schluss des Kampfes wird dann doch dieser gekrönt, weil er, statt wie Homer in einer rezitierten Musterpartie kriegerischen Kampf künstlerisch zu gestalten, in biederen Versen den Bauern nützliche Ratschläge gibt - politically correct und höchst modern! Hesiod in diesem seinem landwirtschaftlichen Lehrgedicht gibt dann auch als erster eine ideologische Rechtfertigung der griechischen Wettstreitsucht: Nicht e i n e Göttin Eris (wie früher auch von ihm selber angenommen) gebe es, sagt er (11-26) – Eris ist die Göttin von Zank und Zwietracht -, sondern zwei: eine böse, die Krieg und Zwist erzeuge – z.B. durch ihren "Zankapfel" den troianischen Krieg -, und eine gute, die den Sterblichen Nutzen bringe:
"Sie erweckt auch den fauleren Mann gleichwohl zu der Arbeit:
Sieht er den andern einmal im Reichtum, dürstet nach Arbeit
alsbald der Sinn; dann beeilt er sich rasch, zu pflügen, zu säen,
wohl zu bestellen sein Haus. Mit dem Nachbarn eifert der Nachbar,
wenn er um Wohlstand sich müht: D i e Eris ist gut für die Menschen."
Hesiod weiß, wovon er redet: Wie sich alle Handwerker, ja sogar die Bettler, untereinander aus Brotneid bekriegen, so grolle auch, sagt er, "der Sänger dem Sänger". Offenbar wird das ja von ihm positiv beurteilt: Konkurrenz belebt selbst das Dichtergeschäft (wir denken an die schöne Vase, auf der die Lyriker Alkaios und Sappho friedlich miteinander zu "concertieren" scheinen, wie später die singenden Hirten beim bukolischen Dichter Theokrit). So sah man es dann auch in Athen. Die großen Tragödien- und Komödienaufführungen der klassischen Zeit – wir denken nur an die Namen Sophokles und Aristophanes – fanden im Rahmen von Dramenwettkämpfen statt, so dass zum Beispiel beim Fest der Großen Dionysien immer drei Dichter mit je drei Tragödien und einem Satyrspiel konkurrierten, d.h. sich dem Urteil und Ranking einer Jury zu stellen hatten. Im griechischen Mythos wurde solcher Wettstreit auch auf die Götter übertragen – der zitierte Weiler hat das einschlägige Material zusammengestellt -: Wenn diese freilich untereinander oder gar mit Sterblichen in musische Konkurrenz treten, dann pflegt es mit dem Unterlegenen ein böses Ende zu nehmen: Dem Aulos-, d.h. Klarinetten-Bläser Marsyas, der es gewagt hatte, den Saitenkünstler Apoll herauszufordern, wurde, wie bekannt, sogar bei lebendigem Leib die Haut abgezogen.
Friedlicher verlaufen in der Regel die rhetorischen Redeagone, die in Epen und Dramen, aber natürlich auch in Gerichtsprozessen – der Prozess selber heißt sinnigerweise agón – und sogar auf Trinkparties, Symposien, stattfinden. Der Dialog "Symposion", in dem Platon erstmals das Konzept seiner, der "platonischen", Liebe dargestellt hat, ist äußerlich nichts anderes als ein solcher den Umtrunk begleitender improvisierter Redewettbewerb über das Wesen der Liebe (was, wie man nebenbei sieht, der griechenkundige Richard Wagner im Sängerkrieg auf der Wartburg seines "Tannhäuser" nachgestaltet hat). Und Wettbewerbe gibt es nicht nur für die verschiedensten Berufe, sondern vielfach auch (unseren Miss-Wahlen entsprechend) für weibliche Schönheit - man erinnert sich an das berühmte aus dem "Zankapfel" hervorgegangene Parisurteil bei der Schönheitskonkurrenz unter den Göttinnen -, ja sogar für euandría, die (dem Fitnesstraining verdankte) "männliche Wohlgeratenheit"! Noch erfreulicher, aber auch in der Urteilsfindung bedenklich schwerer, dürfte die Aufgabe für die Jury bei einem uns (von Theokrit 12, 30 ff.) bezeugten Kusswettbewerb für schöne Knaben gewesen sein ...
Zurück zum Sport, der, wie erwähnt, schon in den ältesten beiden griechischen Epen eine wichtige Rolle spielt. In Homers Odyssee sind es die Phäaken, die, weil sie glauben, "in Seefahrt, Füßen [also Wettlauf], Tanz und Gesang" allen Völkern überlegen zu sein, für ihren Gast Odysseus, neben musischen Darbietungen ein kleines Sportfest veranstalten und diesen selbst schließlich, seinen sportlichen Ehrgeiz bis an die Grenze der Beleidigung kitzelnd, zu einem gewaltigen Diskuswurf animieren (Od. 8, 97 ff.). Noch ernsthafter geht es bei den Sportkämpfen zu, die im dreiundzwanzigsten, d.h. vorletzten Buch der Ilias von Achill für seinen gefallenen Freund Patroklos abgehalten werden (da auch sonst die ältesten uns in der Ilias bezeugten Sportfeste Leichenspiele sind, hat man sie bzw. den griechischen Sport überhaupt in neuerer Zeit gelegentlich aus einem ursprünglichen Menschenopfer für den Toten oder ähnlichem herleiten wollen). In den acht Wettbewerben, die hier stattfinden (Wagenrennen, Boxkampf, Ringen, Wettlauf, Waffenkampf, Diskuswurf, Bogenschießen, Speerwurf), sind es interessanterweise fast durchweg die größten griechischen Kriegshelden und Fürsten, die hier zum letzten Mal im Werk antreten, um sich auf diesem Gebiet einmal unmittelbar miteinander messen zu können; nur im Boxkampf siegt ein sonst relativ undeutender Prahlhans, namens Epeios, der zugeben muss, ein schlechter Soldat zu sein (Il. 23, 670), und der auch später beim Diskuswurf eine klägliche Figur macht (also ein schon fast professioneller Spezialist).
Weitaus das größte Interesse erregt, schon dem Umfang nach, das Wagenrennen, das immer die angesehenste sportliche Disziplin bleibt, weil es neben Geschick und Tüchtigkeit des Wagenlenkers ja auch etwas über sein (sich in der Qualität von Gestüt und Wagen spiegelndes) materielles Vermögen verrät und vor allem weil es mit Abstand den spannendsten und abwechslungsreichsten Verlauf bietet. Es beginnt bei Homer (Il. 23, 262 ff.) mit der Aussetzung der Preise, die hier (anders als bei den späteren berühmten griechischen Sportagonen) auch für die Motivation der Kämpfer eine Rolle spielen – Siegerprämie ist immerhin eine kunstfertige Sklavin nebst großem Dreifuß -; dann, auf einen Aufruf Achills hin, der später noch die Wendemarke setzt, melden sich die Konkurrenten: der besonders pferdekundige Eumelos, der gewaltige Kämpfer Diomedes, dann Menelaos (um dessentwillen der Krieg überhaupt geführt wird), Antilochos, der leidenschaftliche Sohn des alten Nestor (der von seinem Vater mit einer langen Rede in die Grundlagen der Wagenrennkunst eingeführt wird: das erste Lehrgedicht Europas!), und schließlich als fünfter noch der ebenfalls recht angesehene Meriones. Die Entscheidung über die ersten Plätze machen, wie zu erwarten, die Prominentesten unter sich aus, wobei z.T. auch - wieder ein Beleg für die Wichtigkeit des Sports - die Götter mitwirken. Zwar geht nach dem Start zunächst naturgemäß der Könner Eumelos in Führung, aber bald droht der große Diomedes, ihn zu überholen. Dies scheint zu misslingen, als ihm Apollon aus persönlichem Groll die Peitsche aus der Hand schlägt (so dass er aus kindlicher Wut sogar weint!); aber Athene, wie ein Schutzengel des Diomedes, restituiert ihrem Liebling die Peitsche und zerbricht ihrerseits das Joch der Pferde des Eumelos, worauf dieser vom Wagen stürzt und sich "Mund und Nase aufschürft" (auch er zu Tränen verzweifelt). Nachdem so der Kampf um den ersten Platz entschieden scheint, richtet sich der Fokus auf die ebenso ehrgeizigen Verfolger. Heißsporn Antilochos, der seinen Pferden bei Versagen den Tod androht, gelingt es, den vorerst nächstplatzierten Menelaos durch ein riskantes und unsportliches Manöver zu überholen, indem er ihn, trotz dessen Warnung, ausgerechnet in einem engen Hohlweg attackiert: Der besonnene Menelaos, muss sich, um einen gefährlichen Unfall zu vermeiden, wütend dazu verstehen, den Kürzeren zu ziehen. Nervosität und Ehrgeiz der Wettkämpfer übertragen sich nun lustigerweise auch auf die Zuschauer, von denen zwei, Idomeneus und der sogenannte kleinere Aias, auch sie bedeutende Persönlichkeiten, so heftig darüber in Streit geraten, welcher von den Wagen nun gerade vorne liege – auf die Entfernung sieht man schlecht -, dass Achill selber schlichtend eingreifen muss. Als die Wagen wieder bei den Zuschauern eintreffen, hat Diomedes mit Abstand die Führung inne; Menelaos macht Antilochos bis zum Schluss den zweiten Platz streitig, muss sich aber, weil dieser seinen Vorsprung gerade noch ins Ziel rettet, dann doch mit dem dritten begnügen. Es folgen Meriones und, mit lädiertem Wagen abgeschlagen, Eumelos.
Die Kampfleidenschaft klingt noch nach bei der Preisverteilung. Nur der Champion Diomedes erhält unbestritten seine Sklavin mit Dreifuß. Als dann Achill den zweiten Preis, eine trächtige Stute, an den ja durch schieres Unglück um den Sieg gekommenen Favoriten Eumelos vergeben will, protestiert Antilochos dagegen (unter anderem mit der Unterstellung, Eumelos habe es versäumt, zu den Göttern zu beten!) und bringt so Achill dazu, den Verunglückten nur mit einem Sonderpreis zu bedenken. Das ist nun dem von Antilochos betrogenen Menelaos entschieden zu viel. Er verlangt von diesem, um ihn bloßzustellen, wütend einen Eid, dass er ihn, Menelaos, nicht dolo malo behindert habe, worauf dieser überraschenderweise einlenkt, sich mit der eigenen Jugendlichkeit entschuldigt und die Stute sogar freiwillig abtreten will – was wiederum Menelaos, der nun seine Ehre hergestellt sieht, so rührt, dass er von sich aus doch mit dem dritten Preis zufrieden ist. Meriones erhält Nummer vier; dem alten Nestor, der ja nur mit guten Ratschlägen teilgenommen hat, gibt Achill, um nicht knauserig zu scheinen, den nunmehr übrig gebliebenen letzten Preis als Souvenir an die Leichenspiele, worauf sich der Alte nochmals mit einer unerbetenen Rede über seine früheren, geradezu unglaublichen Sporterfolge in Jugendtagen revanchiert: ein weiteres Dokument für die Bedeutung, die der Dichter schon für die Frühzeit der Griechen – denn auch ihm spielt die Ilias in einer ferneren Vergangenheit - dem Sport bzw. der sportlichen Auszeichnung zuweist. Bezeichnend dafür ist schließlich auch, dass Achill den letzten Kampf, den Speerwurf, zu dem sich der Herführer Agamemnon selber neben Meriones meldet, überhaupt nicht mehr stattfinden lässt: Agamemnon erhält seinen Preis, da er, wie Achill behauptet, ohnehin anerkanntermaßen der Beste sei! Natürlich befürchtet Achill, dass auf seine neuerliche Versöhnung mit Agamemnon durch eine etwaige peinliche Niederlage des Vorgesetzten wieder ein Schatten fallen könnte. So wichtig nehmen die Griechen ihre Sportprämien.
Und doch gibt es in der griechischen Geschichte immer wieder auch Kritik an dem übertriebenen Kult, der mit dem Sport, vor allem den Sportsiegern, getrieben wird. Dass spätere Philosophen des Geistes, wie Platon und Aristoteles, Vorbehalte gegen ein Zuviel an Körperpflege haben, nimmt uns nicht wunder - wer wie Epikur zum bescheidenen "Leben im Verborgenen" (láthe biósas) rät, muss ohnehin den Jahrmarkt sportlicher Eitelkeiten fliehen -; beachtlicher ist, dass auch schon frühere Dichter den Wert des Sports für die Allgemeinheit bezweifeln oder einschränken. Der alte, in Sparta wirkende Tyrtaios meint, es sei wichtiger, dass einer im Kampf seinen Mann steht, als dass er im Wettlauf oder Ringkampf glänzt (12 West) – Sparta war bekannt dafür, dass sein Sport vor allem auf militärische Ertüchtigung ausgerichtet war -; und der jonische Dichterphilosoph Xenophanes hält seine eigene "Weisheit" (sophíe) ausdrücklich für wertvoller als die Leistung der Olympiasieger, die zu Wohlergehen und Wohlstand ihrer Stadt doch nur wenig beitrügen (2 W.). Am ärgsten ging in einem Satyrspiel des Euripides, eine der dort auftretenden Personen - gern wüssten wir, wer es war - mit den Sportlern ins Gericht: Sie nannte sie das "größte Übel von Hellas", Sklaven ihres Bauches, die im Alter völlig unbrauchbar, aber auch schon vorher für die Staatsgemeinschaft unnütz seien (fr. 282 N.). Mit Befremden können auch Ausländer auf den griechischen Sport reagieren. Ähnlich wie sich schon die Perser bei Herodot (8, 26) über die Olympischen Spiele wundern, bei denen man sich nur für einen Olivenkranz so abmühe, ist auch der skythische Weltenbummler Anacharsis bei Lukian (der allerdings erst im zweiten Jahrhundert n.Chr. gelebt hat) ohne Verständnis für den Übungsbetrieb in griechischen Palästren, mag ihm auch der alte Solon, der ihn durch Athen führt, ein Langes und Breites von der Bedeutung des Sports sowohl im Hinblick auf die militärische Tauglichkeit als auch besonders für die das menschliche Leben verklärende Ruhmesliebe vorschwärmen. (Dieser mit dem Namen "Anacharsis" auch betitelte Dialog, witzig, obschon ohne großen Tiefgang, enthält übrigens die ausführlichste Diskussion der Sportproblematik aus dem Altertum.)
So sind wir denn nicht überrascht, dass auch die Römer, die schließlich die großen Vermittler griechischer Kultur vor allem für die Neuzeit wurden, dem griechischen Sport zumindest anfangs höchst reserviert gegenüberstanden. Sie kennen ja in der Regel nicht oder sie verabscheuen geradezu die unmäßige, selbst über die Interessen der Allgemeinheit hinweggehende egozentrische Ruhmesliebe eines Achill, über dessen Zorn Cicero urteilt (Tusc. 4,52): quid Achille Homerico foedius? "Was ist scheußlicher als Achill bei Homer?" Es sind meist die höheren, kollektiven Einheiten, auf die sich römischer Ehrgeiz richtet: der Ruhm der Familie (gens), der Vaterstadt (patria), schließlich des imperium Romanum. Fehlt somit diese entscheidende Komponente des griechischen Sportsgeistes, so fallen andere Bedenklichkeiten umso mehr ins Gewicht: der Unwille des vornehmen Römers, sich selber öffentlich zur Schau stellen (darum treten z.B. auch als Schauspieler der Theaterbühne nur Sklaven und Freigelassene auf), und vor allem die Anstößigkeit des Nacktturnens, die Cicero nicht ohne Grund öfter mit der immer als etwas unrömisch empfundenen griechischen Knabenliebe zusammenbringt:
flagiti principium est nudare inter civis corpora
"Lasters Anfang ist es, wenn man unter Bürgern sich entblößt" –
so zitierte er in diesem Zusammenhang (Tusc. 4, 70) aus Ennius (der hier immerhin vielleicht die sportkritische Äußerung schon eines griechischen Tragikers wiedergab). Der allzu philhellenische Ovid dürfte also scherzen, wenn er schon den Stadtvätern Romulus und Remus ‚gymnische‘ Sportübungen zuschreibt (fast. 2, 366). Das allgemeinere Urteil bezeugt Cornelius Nepos, der ausdrücklich sagt, der den Griechen so wichtige Sieg in Olympia rechne nach römischem Empfinden zu den "geringen und eher unschicklichen Dingen" (praef. 5); und sogar der Griechenbewunderer Horaz spöttelt am Anfang seiner berühmten Oden, wo er die menschlichen Spleens aufzählt (carm.1,1,3-6):
"Leute gibt es, deren Wonne es ist, in Olympia mit dem Wagen
Staub aufgewirbelt zu haben und die, wenn sie mit glühenden Rädern
an der Wendemarke vorbeigekommen sind, sich wegen der herrlichen Siegespalme
zu den Herren der Erde, den hohen Göttern, emporgefahren glauben ...".
Nur ausgerechnet gerade dieses Wagenrennen hat auch eine alte, römische Tradition – die sogar bis auf Romulus zurückgeführt wird, der ja bei einer einschlägigen Sportveranstaltung die Sabinerinnen soll haben rauben lassen -: Längst bevor Rom griechische Theater oder Stadien, ja auch bevor es Amphitheater hat, gibt es dort den für Wagenrennen bestimmten Circus Maximus. Akteure dieser spezifisch römischen Leidenschaft, verewigt im berühmten panem et circenses ("Brot und Zirkusspiele") und spätestens durch die Verfilmung von "Ben Hur" jedem geläufig geworden, sind allerdings nicht wie bei den Griechen die Vornehmen, sondern, zumindest in historischer Zeit, Personen geringsten Stands, meist Sklaven und Freigelassene (hier führt, wie soeben Marcus Junkelmann dargelegt hat, "Ben Hur" in die Irre). Und noch etwas scheint für die Römer bezeichnend: Spätestens in der Kaiserzeit, aber wahrscheinlich schon früher, dominieren in der Gunst des Publikums nicht die einzelnen Fahrer, sondern ihre Vereine (factiones), die nach den Farben der Trikots Blaue, Grüne, Weiße und Rote heißen, so dass also ganz Rom in die Anhängerschaften und gewissermaßen Fanclubs dieser verschiedenen Mannschaften eingeteilt ist (und man sogar von einzelnen Kaisern weiß, welchen der Clubs sie jeweils bevorzugen). Auch hier geht also (ähnlich wie bei den Gladiatorenspielen, wo man mehr für bestimmte Kämpfertypen als für einzelne Kämpfer schwärmt) offenbar der Ruhm des Kollektivs über den des Individuums. Im übrigen kann aber nicht richtig sein, was man allenthalben liest: dass den "praktisch gesinnten Römern" - ein überstrapaziertes Klischee – gerade das im handgreiflichen Sinn Nutzlose am griechischen Sport missfallen hätte.
Was den übrigen Sport angeht, so sind zwar Boxen, Ringen, Laufen, Werfen wie das Schwimmen im Tiber alte Vergnügungen besonders der römischen Jugend, die sich damit auch militärisch ertüchtigte – Raum bietet vor allem der Campus Martius, wo sich auch ältere Herrn mit Ballspiel eine Motion verschaffen -; aber, abgesehen vom üblichen römischen Lendenschurz, sie finden nicht in Form öffentlicher Schauveranstaltungen statt, sie sind überhaupt nicht, wie in Griechenland, institutionalisiert. Erst im Jahr 186 v. Chr., einem wichtigen Datum der Sportgeschichte, finden in Rom als Teil öffentlicher ludi ("Festspiele"), ausgerichtet von M. Fulvius Nobilior, Sportvorführungen statt, nach griechischem Vorbild und ohne Zweifel mit griechischen Athleten. Und dies wiederholt sich gelegentlich, bis in die Augusteerzeit – ohne dass allerdings der Sport je die Beliebtheit von Wagenrennen oder Gladiatoren, deren Kämpfe etwas wesensmäßig anderes sind, erreichen könnte. Augustus dann, ebenso um die Förderung altrömischer Tugenden und Einrichtungen wie um den Anschluss Roms an die noch immer überlegene griechische Kultur bemüht, wird zum größten Förderer des Sports in Rom; er stiftete sogar, wenn auch auf griechischem Boden, nach seinem Sieg bei Actium (31 v.Chr.) ein echtes Sportfest, die ludi Actiaci, die von nun alle vier Jahre stattfanden und erfolgreich in den Kreis der vier großen panhellenischen Spiele eingegliedert wurden.
Diesem Bemühen des Kaisers Augustus entsprechend hat auch Roms liebster Dichter, Vergil, in seinem Epos Aeneis, dem Gedicht von Aeneas, dem Urvater Roms und Ahnherrn des Augustus - einem Mann, der nicht nach eigenem Ruhm strebt, sondern für sein Volk eine Mission erfüllt -, dem Sport Raum gegeben. Wie bei Homer Achill für Patroklos, so veranstaltet bei ihm (im fünften Buch) Aeneas Leichenspiele auf Sizilien für seinen verstorbenen Vater Anchises. Dabei wird dem römischen Empfinden für Schicklichkeit – die von Aeneas geführten Troianer sind ja Vorfahren der späteren Römer - durchaus ein Stück weit Rechnung getragen. Zunächst einmal wird, um den Sport nicht überzubewerten, das bei Homer beobachtete spontane Eingreifen der Götter aus der Handlung eliminiert. Von den fünf Wettbewerben: Schiffsregatta (1), Wettlauf (2), Boxkampf (3), Bogenschießen (4) und dem sogenannten lusus Troiae (5) - sind sodann nur die drei mittleren (2, 3, 4) aus Homer genommen. An ihnen, den sozusagen echtesten Sportdisziplinen, sind neben Troianern jeweils auch ortsansässige Sizilianer beteiligt. Das so unrömische Entkleiden wird nur beim Boxkampf (3), der überhaupt eine Sonderstellung hat, erwähnt, obschon es zumindest auch beim Laufen (2), weniger wohl beim Bogenschießen (4), faktisch vorausgesetzt sein dürfte. Beim Laufen scheinen die Kämpfer auch alle jung zu sein, was die Anstößigkeit etwas mildert (im übrigen wissen wir, dass es Augustus liebte, Jünglinge gerade als Läufer auftreten zu lassen). Interessant ist, dass hier beim Lauf auch ein ganz griechisch stilisiertes homoerotisches Liebespaar, Nisus und Euryalus, eingeführt wird. - Anders ist es bei den rahmenden Wettbewerben (1 und 5). Der abschließende lusus Troiae (5) ist überhaupt kein echter Sportwettbewerb, sondern ein (von Augustus, wie wir wissen, gefördertes) quasi-militärisches Reiterspiel nur der troianischen bzw. römischen Jugend, die sich hier, voll bekleidet, nichts vergibt. Bei der Regatta (1) sind die kommandierenden (auch hier durchweg troianischen) Führer, die natürlich nicht selber rudern, als Stammväter großer römischer Familien (gens Memmia, Cluentia, Sergia) ausgewiesen; dass Vergil auf das sonst in literarischen Leichenspielen völlig obligatorische Wagenrennen verzichtet, dürfte weniger darin begründet sein, dass, wie man sagt, die zu Schiff angekommenen Troianer keine Wagen zur Verfügung hatten – diese hätte sie ja von den Sizilianern leihen können -, als vielmehr darin, dass gerade die Regatta und nur sie Vergil die Möglichkeit gab, das hervorzuheben, was auch für die Wagenrennpassion der Römer das Charakteristische war (und bei den Griechen so nie vorkam): die Betonung der Mannschaft statt des Individuums. Auch darin sind die beiden rahmenden Wettbewerbe besonders römisch.
Werfen wir aber zuletzt noch einen Blick auf den am ‚griechischsten‘ stilisierten Wettkampf, das in der Mitte (3) stehende Boxen (Aeneis 5, 362 ff.), für das übrigens auch Augustus eine besondere Vorliebe gehabt haben soll. Hier, nur hier, sind, wie andeutungsweise schon bei Homer, die beiden Kämpfer keine Dilettanten, sondern fast volle, durch frühere Kampferfolge ausgewiesene Professionelle. Der Troianer Dares, der durch mächtige Lufthiebe alle einschüchtert und niemanden sich selber gewachsen wähnt, hat schon bei den Leichenspielen für Hektor Triumphe gefeiert; sein Gegner, der Sizilianer Entellus, ein fast nestorähnlicher, seiner sportlichen Jugend nachjammernder Greis, den man mühsam zum Kampf nötigen muss, besitzt neben vielen Trophäen die gewaltigen, noch mit Hirn und Blut verklebten Handschuhe des verstorbenen Boxmeisters Eryx (antike Boxhandschuhe sollen den Schlag nicht mildern, sondern verstärken; schon Homer spricht vom "schmerzlichen Faustkampf"). Kampfverhalten und Kampfverlauf entsprechen dem verschiedenen Alter der beiden Kontrahenten: Dares setzt auf flinke Beinarbeit und Offensive, Entellus auf seine Masse, auf Defensive und Wachsamkeit. Und nicht wie bei Homer siegt der Angeber, sondern – Vergil ist hier psychologisch feiner und moralisch sensibler - sein physisch geschwächter Gegner rettet noch einmal den Ruhm des Alters. Als Entellus nämlich nach längerem Vorspiel zu einem vernichtenden Hieb von oben ausholt – es handelt sich, wie Kundige sagen, um den erst heute verbotenen Hammerschlag -, entkommt ihm zwar der behende Dares, so dass der Schlagende vom eigenen Schwung hingerissen zur Erde stürzt; aber eben Scham und Wut über den schmählichen Fall beflügeln den Kampfgeist des Alten: Zum Angriff übergehend, treibt er seinen Gegner mit einem so mächtigen Hagel von Hieben vor sich her, dass Aeneas, wegen technischem k.o., wie wir sagen würden, den Kampf abbricht und den Dares, der "fettes Blut und vermischt mit dem Blut auch Zähne spuckt", in die Kabine bzw. Kajüte schickt. Erst dann läuft der greise Meister Entellus zur Hochform auf. Mit einem einzigen Hieb streckt er, als ein Totenopfer für Meister Eryx, den ihm als Siegpreis zugefallenen Stier nieder (Versschluss: ... procumbi humi bos, wobei bos wie das "Bums" des Niederschlags zu hören ist). Tuts und entsagt, zum letzten Mal, wie es heißt, seinen "Handschuhen und der Kunst". So hat Vergil im ersten römischen Sportbericht mit Feinheit und Sachverstand durch diesen einzigen Sieg eines Nichtrömers bzw. Nichttroianers der Boxkunst und Sizilien gehuldigt und so auch dieses Stück griechischer Kultur in sein Nationalepos eingefügt.
Die kulturelle Integration des griechischen Sports in Rom wird nach Augustus fortgesetzt. Besonders weit ging Kaiser Nero, der, zum Entsetzen vieler, auch persönlich als Sänger und Wagenlenker auftrat, und mit seinen Neronia i.J. 60 n.Chr. einen in Rom selber stattfindenden Agon gänzlich griechischen Zuschnitts stiftete, bei dem neben sportlichen sogar auch musische Wettkämpfe stattfanden. Vor allem die Zumutung, dass römische Adlige sich hier entkleiden und in die Sportarena steigen könnten, erregte, wie Tacitus ausführlich berichtet (ann. 14, 20 f.), Anstoß in konservativen Kreisen, die noch einmal mit dem Gespenst der unanständigen Knabenliebe agitierten und ernste römische Militärschulung gegen Müßiggang und griechischen Sport ausspielten. Bleibenderen Erfolg hatte Domitian mit den i.J. 86 begründeten ludi Capitolini, für deren sportlichen Teil in Rom auch erstmals ein Stadion auf dem Campus Martius gebaut wurde, dessen Form noch heute in der Piazza Navona fortlebt. Erst die Christen haben dann wieder, mit Tertullian beginnend, gegen den Sport in Rom, wie gegen alle Spetakel, die ja immer auch mit heidnischer Religion verbunden waren, gewettert. Dabei wurde freilich im Anschluss an den Apostel Paulus, der gern in Gleichnissen und Bildern vom griechischen Sportwettkampf sprach (z.B. II Tim. 4,7 bonum certamen [griech.: agôna] certavi, cursum consummavi ...), die Bewährung des christlichen Märtyrers selber als Sieg in einem (mit dem griechischen Fremdwort) als agon bezeichneten Kampf gedeutet – ein letzter, ironischer Triumph des alten, mit unchristlicher Ehrsucht und Ruhmesliebe verbundenen agonalen Sinns der Griechen.
So musste der neuzeitliche Sport, wie schon angedeutet, wieder
direkt
an die alten Griechen anknüpfen. Wo es freilich gerade um den
Mannschaftssport
geht, in dem der Erfolg des Ganzen dem des Einzelnen voranzustehen hat,
da sollten wir uns vielleicht in Zukunft – ich widme diese Anregung
unseren
großen Münchner Fußballvereinen – eher an das Vorbild
der Römer halten.