Wilfried Stroh
Nachruf auf Wolf Steidle (1910 – 2003)
14. März 2003
Heute, wo wir Abschied nehmen von
dem
großen Latinisten Wolf Steidle, ist es mir nicht nur ein
persönliches
Bedürfnis, ihm, dem älteren Freund, einen letzten Gruß
zu
senden; ich möchte dies auch tun im Namen unserer Münchner
Universität,
an der er sich, nicht ohne Widerstände, habilitiert hat, und
unseres
Instituts, dem er auch in der Zeit seiner Emeritierung zwanzig Jahre
lang
freundschaftlich verbunden blieb, vor allem aber im Namen der
Klassischen
Philologie, die er durch bleibende Erkenntnisse bereichert und
besonders
auch durch sein wissenschaftliches Ethos gefördert und befruchtet
hat.
In den fast fünfzig Jahren,
in
denen Steidle mit seinen Forschungen an die Öffentlichkeit
getreten
ist, von der 1937 abgeschlossenen, 1939 veröffentlichten
Dissertation
über Horaz bis zu seinem letzten Plutarchaufsatz aus dem Jahr
1995,
steht er vor uns als eine im wesentlichen unveränderte
philologische
Persönlichkeit, mit einem eigenen, kaum verwechselbaren
Sprachklang,
vor allem aber mit einer einheitlichen, keineswegs
selbstverständlichen
Zielsetzung, nämlich: wirklich zu verstehen, was ein antiker, uns
durch
zwei Jahrtausende entrückter Schriftsteller gewollt hat, und,
warum
er es so und nicht anders gesagt hat - mit anderen Worten: die Form vom
Inhalt
her zu begreifen, zugleich aber den Inhalt aus der Form zu
erschließen.
Dabei scheinen für ihn vor allem drei Prinzipien leitend gewesen
zu
sein:
1. Es musste sich um große,
wichtige
Autoren handeln.
2. Es sollte um zentrale Fragen der jeweiligen Werke
gehen.
3. Die Darstellung sollte so logisch und
nüchtern
wie nur möglich sein.
Zum ersten. Steidles Interessen
waren
so weit gespannt, wie dies bei einem intelligenten und gebildeten
Menschen
heute nur möglich ist; sie reichten von der allgemeinen
Anthropologie
bis zu Problemen der zeitgenössischen Kunst. In seinen
wissenschaftlichen
Forschungen aber hat er sich auf große Autoren der klassischen
Antike
beschränkt. Bei den Griechen gingen seine Studien von Euripides
über
Platon und Isokrates zu Menander und schließlich den Historikern
der
Kaiserzeit; von den Römern behandelte er, mit der auffallenden
Ausnahme
von Catull und Ovid, fast alle berühmten heidnischen
Schriftsteller:
Plautus, Terenz, Cicero, Sallust, Livius, Vergil, Horaz, Tibull,
Properz,
Seneca und Tacitus, von den Christen immerhin die allerwichtigsten:
Ambrosius,
Prudentius und, im Alter ihm immer bedeutsamer werdend, Augustinus. In
der
lateinischen Literatur seien ja, wie er einmal mit ausdrücklichem
Bedauern
formulierte, „Sterne erster Größe nicht allzu häufig“
(wobei
er hier freilich die reiche Literatur des lateinischen Mittelalters und
der
Neuzeit, die er an sich wohl kannte, nicht berücksichtigte). Nur
einer
der von ihm behandelten Römer gehörte nicht zu den anerkannt
Größten:
der Biograph Sueton; aber gerade von ihm konnte er er zeigen, dass man
ihn
zu Unrecht unterschätzt hatte, dass zumal die beanstandete Form
seiner
Lebensbeschreibungen sachgemäß und nicht
äußerlich
dem Stoff aufgezwungen war. Wenn er in diesem Zusammenhang eine vom
berühmten
Friedrich Leo aufgestellte These, die fünfzig Jahre lang
geherrscht
hatte, ein für allemal widerlegte, so ist dies ein Verdienst, das
mittlerweile
allgemein anerkannt und gewürdigt wird.
Zum zweiten Punkt. Wolf Steidle
schrieb
grundsätzlich nur über zentrale Probleme eines Werks oder
Autors,
auch wenn er in der Regel von detaillierten Einzelfragen, meist
Einzelinterpretationen
ausging. Dies gilt schon für seine Dissertation über die Ars
poetica des Horaz, in der die Art von dessen zunächst
spielerisch
wirkender Gedankenführung mit einer wohl nie wieder erreichten
Tiefe
und Gründlichkeit erläutert wurde (trotz einem neueren
Nachdruck
bleibt die Wirkung gerade dieses Werks heute hinter seiner Bedeutung
zurück);
es gilt selbstverständlich für das erwähnte Suetonbuch
und
ebenso für die bekannte Studie über Sallusts Historische
Monographien
, in der der innere Zusammenhang der beiden erhaltenen Hauptwerke des
Historikers
neu erfasst wurde. In seinen Studien zum antiken Drama
schließlich
hat er, durch seine Herausarbeitung des sichtbaren, aus dem Text zu
erschließenden
Bühnenspiels der Forschung geradezu neue Wege gewiesen, auf denen
ihm
leider erst wenige gefolgt sind. Diese Ausrichtung auf das Neue und
Wesentliche
gilt aber auch für die kleineren Schriften (unter denen sich nicht
eine
einzige sogenannte Miszelle befindet). So ist etwa Steidles Aufsatz
über
den Rhetoriker Isokrates seit einem halben Jahrhundert der wichtigste
Beitrag
zu diesem Aspekt einer schillernden, in ihrer Wirkung uns heute kaum
mehr
begreiflichen Persönlichkeit geblieben. Und ähnliches gilt
für
seine gleichzeitige, grundlegende Behandlung der zentralen Schrift des
größten
aller Lateiner: Ciceros De oratore (welche Arbeit er, gegen die
Chronologie,
vielleicht mit Bedacht ans Ende seiner Ausgewählten
Aufsätze gerückt hat). An diesem Werk hat hat er die
genuin „römischen
Wesenszüge“ aufgedeckt, ohne dass seine Stimme, hier wie sonst,
auch
nur für einen Augenblick in jenes Tremolo verfallen wäre, in
dem
man Jahrzehnte lang, auch schon vor 1933 und nach 1945, von
„Römertum“
und „römischen Werten“ sprach.
Das führt uns zum dritten,
vielleicht
Wichtigsten. Wohl kaum ein bedeutender Latinist des vergangenen
Jahrhunderts
hat mit so erfrischender Nüchternheit seine großen Themen
behandelt
wie Wolf Steidle. Er verbreitete weder die Weihrauchschwaden, mit denen
eine
vergangene Generation uns gelegentlich benebelte, noch verwandte er die
fast
noch ärgerlichere wissenschaftliche Modeterminologie, mit der
einen
viele Zeitgenossen zu beeindrucken suchen. Steidle schrieb vom ersten
bis
zum letzten Satz einfach, verständlich, logisch zwingend,
glänzend
trocken und ohne stilistischen Aufputz. Nicht einmal seine Freude an
der
Polemik, die vor keiner Autorität Scheu zeigte und die man
zwischen
den Zeilen überall bei ihm spürt – er selbst meinte, dass er
nicht
umsonst Wolf heiße -, hat ihn je zu invektivischem
Überschwang
verführt. Mit dieser Abneigung gegen das im schlechten Sinn
Rhetorische,
mit seinem eisern durchgehaltenen Prinzip des Mehr-Sein-als-Scheinen,
hängt
es wohl auch zusammen, dass er sich offenbar nie an ein unakademisches,
größeres
Publikum gewendet hat. Das ist eigentlich schade. Der einzige etwas
populärere
Beitrag zu seinen Ausgewählten Aufsätzen, ein Vortrag
vor
bayerischen Lehrern in Marktoberdorf, zeigt, was er gerade auch hier
hätte
geben können.
Wolf Steidle war ein Lehrer ohne
eigentliche
Schule, wohl aber mit Schülern. Zu ihnen rechne auch ich mich,
obwohl
ich ihn erst 1977 als Emeritus persönlich kennen lernte, wodurch
ich
in den Genuss einer faszinierenden, auf ständiger geistiger
Auseinandersetzung
beruhenden Freundschaft kam. Denn mehr als die seinerzeit
meistbewunderten
Zelebritäten unseres Fachs war er mir schon längst vorher zu
einem,
ja fast d e m wissenschaftlichen Vorbild geworden. Mein
Schülertum
geht aber noch über seinen Tod hinaus, denn von ihm geerbt habe
ich
ein paar Hundert Sonderdrucke aus seinem früheren Besitz, deren
temperamentvolle
Randnoten ihn in eindringlicher Diskussion mit den Fachkollegen zeigen
-
gelegentlich auch mit meinen eigenen Produkten. Es tut mir weh, wenn
ich
unter einem Aufsatz, den ich ihm selbst einmal geschenkt habe, nun als
Fazit
lesen muss: „Insgesamt mageres Ergebnis“; um so schöner, wenn es
dann
auch wieder heißt: „Sehr lesenswert“. Dann denke ich gerne an den
Satz,
den er mir einmal über seine akademische Prüfertätigkeit
im
angeblich minder humanistischen roten Hessen gesagt hat: „Wenn i
c
h eine Zwei gebe, ist es eine bayerische Zwei.“ Er war und bleibt
eine
Autorität, objektiv und unbestechlich.
In Dankbarkeit und Hochachtung
verabschieden
wir uns von Wolf Steidle mit dem letzten Gruß der Römer:
Sit
tibi terra levis.
Bibliographie der Haupttitel:
Studien zur Ars poetica des Horaz, Würzburg
1939, Ndr. Hildesheim 1967
Sueton und die antike Biographie, München
1951,
Ndr. 1963 (= Zetemata 1)
Sallusts Historische Monographien, Wiesbaden
1958,
Ndr. 1968 (= Historia Einzelschriften 3)
Studien zum antiken Drama, München 1968 (=
Studia
et Testimonia Antiqua IV)
Ausgewählte Aufsätze, Amsterdam 1987