Wilfried Stroh
De laudibus linguae Latinae
Lob dem Latein!
Gymnasium Eschenbach, 20. 7. 05
Latinitatis genius, adesto!
te precor quaesoque
uti omnium hic qui adsunt animos ad amorem tui inflammes,
mihi autem des ueniam
quod te laudando utar barbara lingua.
Das Latein zu loben hat man mich gerufen, aus München nach
Eschenbach,
aus der deutschen Haupstadt des Lateinischen – denn dort ist ja der
berühmte
Thesaurus linguae Latinae, das größte Lateinunternehmen der
Weltgeschichte
- in die Oberpfalz, die ihren Namen immerhin auch dem mons Palatinus
verdankt, wo Kaiser Augustus sein Wohnhaus und der römische Apoll
Tempel
und Bibliothek hatte, und an ein Gymnasium, das stolz darauf ist, seine
Schüler
nicht nur mit dem landläufigen und heute unentbehrlichen Englisch
auszustatten,
sondern auch mit der Kenntnis der schönsten Weltsprache, des
Lateins.
Kein neues Thema! Und doch liegt gerade hierin natürlich auch die
Schwierigkeit
meines Unternehmens. Die anerkannt herrlichsten Gegenstände sind
ja
eben darum am schwersten zu loben, weil über sie alles Wichtige
schon
von Früheren gesagt scheint, weil es, wie dies einst der
große
Redner Isokrates bei seinem Lob der schönen Helena festgestellt
hat,
fast unmöglich ist, hier noch etwas Eigenes beizutragen, nicht nur
alten
Kohl (cramben repetitam) aufzuwärmen. Was das Latein
betrifft,
so geht der Chor seiner Lobredner ja durch die ganze Neuzeit, beginnend
mit
Petrarca über Melanchthon bis in die Gegenwart ... Wobei freilich
festzustellen
ist - und das weist auf eine weitere Schwierigkeit, aber auch eine
Chance
für mich-, dass die Jubeltöne in den vergangenen zwei
Jahrhunderten
merklich gedämpfter, verhaltener geworden sind. Wer würde es
heute
noch wagen, mit dem großen Renaissancehumanisten Lorenzo Valla
auszurufen,
dass die lateinische Sprache ein Numinoses sei, das von sämtlichen
Nationen
verehrt werde "wie ein Gott, der vom Himmel herabgesandt ist" (quasi
Deum quendam a Coelo demissum).
Sehen wir uns die neueren Lobredner des Lateins näher an, so
machen
wir dieselbe Erfahrung wie wiederum Isokrates, der, als er das Lob der
schönen
Helena seines Lehrers Gorgias genauer in Augenschein nahm, feststellen
musste,
dass Gorgias überhaupt keine Lobrede (enkómion),
sondern eine Verteidigung (apología)
geschrieben habe, ohne es zu merken. Wie Gorgias mit Helena geht es uns
mit
dem Latein: Statt seine Herrlichkeit ins Licht zu setzen, verteidigen
wir
es gegen den Zeitgeist, der es als "nutzlose" und "tote" Sprache
denunziert.
Nun, diese Angriffe auf das Lateinische, die ihm sein Lebensrecht, vor
allem
im heutigen Bildungswesen, bestreiten, mögen zwar banausisch sein
-
und sind es auch! -, sie sind aber nicht unbegründet. Solange
Latein
noch die praktizierte Universalsprache der gebildeten Welt war, wie zur
Blütezeit
des Humanismus, brauchte es keine Verteidigung. Erst als es im Laufe
des
17. Jahrhunderts allmählich seine Bedeutung als die führende
Sprache
der Poesie verlor, als es dann im 18. Jahrhundert aufhörte, die
verbindliche
Sprache der Wissenschaft zu sein - zu mächtig war damals der
Nationalismus
von Volk und Volkssprache - da verlor es gewissermaßen seinen
'Sitz
im Leben' und seine unbestrittene Existenzberechtigung. Wenn, wie um
1800,
nur noch gut fünf Prozent aller wissenschaftlichen Bücher
lateinisch
sind, stellt sich in der Tat die Frage, ob man diese Sprache noch
lernen
solle, und so werden aus den frohen Enkomiasten des Lateinischen leicht
verbissene
Apologeten. Damals erst, an der Wende zum neuzehnten Jahrhundert,
entsteht
die beliebte, uns allen wohlvertraute, für das humanistische
Gymnasium
geradezu unentbehrlich gewordene Theorie der "formalen Bildung", wonach
wir
Latein lernen, weniger, um es selbst zu können, als vor allem, um
daran
unseren Geist zu schulen, Kategorien der Sprache und des Verstandes, ja
vielleicht
sogar das logische Denken zu lernen. Etwa das bekannte Büchlein
des
Bochumer Fachdidaktikers Karl Wilhelm Weeber ("Mit dem Latein am
Ende?")
basiert ganz auf diesem Konzept eines, wie man schon formuliert hat,
"Trimmpfad
des Geistes". Ein schlüpfriger Pfad! Eine gefährliche Lehre,
wie
mir scheint, nicht nur, weil es schwierig ist, diese formale Schulung
speziell
durch den Lateinunterricht wirklich nachzuweisen - ein berühmter
Kritiker
des humanistischen Gymnasiums spottete vor fünfundzwanzig Jahren
über
solche "exklusiven Transferbehauptungen" (und sogar unter den alten
Römern
war man der Ansicht, dass formale Bildung am besten durch Geometrie
stattfinde)
-, sondern vor allem, weil bei einem einseitig auf Geistesschulung
angelegten
Lateinunterricht, wie er in der Tat vielfach praktiziert wird - sein
Kernstück
ist das Konstruieren, heute genannt: "methodische
Satzerschließungsstrategie",
mit "Suche das Prädikat" usw. -, weil bei einem solchen einseitig
formalbildenden
Unterricht das eigentliche, auf der Gewöhnung an die Sprache
beruhende
Lateinlernen fast notwendig zu kurz kommt und damit
selbstverständlich
auch die Freude am Latein, die ja vor allem auch aus der Beherrschung
der
Sprache resultieren sollte ...
Auch aus diesem Grunde möchte ich den heute gängigen Weg der
Apologetik
in dieser meiner Lobrede nicht beschreiten, ja überhaupt, im gut
humanistischen
Sinn, das Latein weniger verteidigen als preisen, damit der Mund dessen
übergehe,
wes das Herz voll ist (ut ex abundantia cordis os loquatur ...).
Freilich, bei der Einteilung dieser meiner Lobrede will ich doch ex
negativo
die heutigen Vorwürfe gegen das Latein zugrundelegen. Ich halte
mich
also nicht etwa an ein antikes Lobschema, wonach ich wohl zunächst
die
Heimat des Lateinischen, also die Landschaft Latium, zu loben
hätte,
dann seine Erfinder und Benutzer, von Romulus bis zum heutigen Benedikt
XVI.
Ich halte mich vielmehr, an eben die Punkte, in denen die Herrlichkeit
des
Lateinischen (Latinitatis decus ac dignitas) heute vor allem ins
Licht gesetzt werden muss: Weil man sagt, dass das Lateinische tot sei,
will
ich erstens beweisen, dass es nicht nur lebendig, sondern die
lebenskräftigste
aller Sprachen ist (lingua uiuacissima). Weil das Lateinische
als hart und trocken beschimpft wird, zeige ich zweitens, dass es die
schönste Sprache ist (lingua uenustissima);
und aus diesem sowie aus vielem anderem folgt schließlich, dass
das
Lateinische nicht, wie behauptet, nutzlos, sondern in höchstem
Maße
nützlich ist (linga utilissima). Demonstrare igitur pro
uirili
parte conabor sermonem Latinum ceteris omnibus esse et uiuaciorem et
uenustiorem
et utiliorem ... audite!
Zum ersten: Wie kann ich es wagen, dem Latein eine besondere
Lebendigkeit
und Lebenskraft zuzusprechen? Sehr einfach: weil es die Sprache ist,
die
es fertiggebracht hat, ihren eigenen Tod dauerhaft zu überleben.
Was
meinen wir denn damit, wenn wir sagen: Latein sei tot? Und wenn es tot
ist,
was auch ich nicht bestreite, wann und woran ist es dann überhaupt
gestorben?
Wenige stellen diese Fragen, und fast niemand scheint die Antwort zu
wissen.
Wir müssen dazu weit in der Geschichte zurückgehen. Was
überhaupt
ist Latein? Es ist, wie schon der Name sagt, die Sprache, zunächst
noch
nicht Roms, sondern der mittelitalischen kleinen Landschaft Latium. Als
der
Urvater Roms, der aus Vergil bekannte Aeneas, nach der Zerstörung
Troias
nach Latium kam, um dort Lavinium, die Großmutterstadt Roms zu
gründen,
kann er noch kein Latein gesprochen haben. sondern eher, jedenfalls
nach
der heutigen Sprachengeographie zu urteilen, eine Art Türkisch,
eben
die Sprache des kleinasiatischen Troia (ich erwähne das, um den
Humanisten
Mut zu machen, sich für die volle Mitgliedschaft der Türkei
in
der EU einzusetzen; auch wenn Aeneas natürlich kein Muselmann war,
hatte
man doch auch schon gegen ihn beträchtliche Vorbehalte wegen
seiner
scheinbar liederlichen Herkunft; ich nenne nur die Stichwörter
Verweichlichung
und Bauchtanz). Wer also hat Aeneas sein Latein beigebracht? Ich
vermute:
die Faune, die latinischen, in Latiums Wäldern ansässigen
Götter Fauni,
die dort seit Menschengedenken mit ihren Nymphen hausten und den
Latinern
in altlateinischen Versen, den sogenannten Saturniern, die Zukunft
verkündeten.
Weltkarriere macht ihre Sprache allerdings noch nicht durch Aeneas,
auch
noch nicht durch Romulus, den Gründer Roms und größten
Römer
vor Kaiser Augustus, wohl aber durch den Aufstieg Roms. Als Rom
nämlich
Italien erobert, vom 4. Jahrhundert bis zum Bundesgenossenkrieg, der am
Anfang
des ersten Jahrhunderts v.Chr.allen Italikern das römische
Bürgerrecht
verschafft, breitet auch Latein sich aus: Es verdrängt die anderen
Sprachen,
Faliskisch, Messapisch, Oskisch usw.; nur das Etruskische leistet
partiell
Widerstand, und alte Griechenstädte in Süditalien, wie
Neapel,
Tarent, behalten auf lange Zeit ihr Griechisch. Aber obschon man am
Ende
der Republik, also in der Mitte des ersten vorchristlichen
Jahrhunderts,
sogar schon in Westsizilien und dem südlichen Sardinien, Roms
ältesten
Provinzen, Latein spricht, ist noch in dieser Zeit natürlich
Griechisch
die führende Weltsprache. Als Cicero im Jahr 62 v. Chr. sein zu
Hause
ruhmreiches Konsulat auch international verherrlichen
möchte,
will er einen griechischen Dichter, Archias, dafür gewinnen, wie
er
sagt: propterea quod Graeca leguntur in omnibus fere gentibus,
Latina suis finibus exiguis sane continentur,
„darum weil man Griechisches bei allen Völkern liest, das
Lateinische
in seinen eigenen, doch recht engen Grenzen eingeschlossen bleibt“...
Vierzig
Jahre später sieht die Lage immerhin schon etwas anders aus. Wenn
sich
der große Dichter Horaz in seiner (i.J. 23 v. Chr. herausgebenen)
Sammlung
lyrischer Oden seine zukünftige Verwandlung in einen über
alle
Länder fliegenden Schwan ausmalt (um so den dereinst weltweiten
Ruhm
seiner Lyrik zu verbildlichen), heißt es: er werde fliegen vom
Bosporus
bis Spanien, von der Rhone bis Dakien d.h. Rumänien, von Afrika
bis
zu den Hyperboreern (unter denen wir uns je nach Belieben Schweden oder
Finnen
denken können). Das war, so kühn es zu seiner Zeit geklungen
haben
muss, die zum Teil die echte und wahre Prophezeihung eines uates,
„Dichterpropheten“, wie Horaz sich stolz nannte: Er ahnte voraus, dass
er
gelesen, vielleicht sogar gesungen würde von Byzanz bis nach
Gallien
und Spanien, von Britannien bis Afrika - in der Tat überall dort,
wo
später (noch nicht zur Zeit des Horaz selber) in lateinischen
Grammatikschulen
die römischen Klassiker traktiert wurden. Obwohl die gebildeten
Römer
selber lange Zeit zweisprachig blieben (also Griechisch neben Latein
sprachen),
eroberte Latein in der Kaiserzeit schließlich fast alle Provinzen
des imperium Romanum:
Nicht nur romanische Sprachen wie Französisch und Spanisch,
bezeugen
ihre Mutter; lateinische Lehnwörter hat bekanntlich sogar dass
Germanische,
wie unser Wort „Kaiser“, das offenbar zu einer Zeit übernommen
wurde,
wo man noch nicht „Zäsar“, sondern „Kaisar“ aussprach. Nur die
östliche
Reichshälfte blieb im Kern griechisch, aber auch dort unter den
„römischen
Kaisern“, wie sie sich immer nannten, war Latein die offizielle
Amtssprache.
Im leibhaftigen Konstantinopel lehrt (im sechsten Jahrhundert n.Chr.)
der
für ein Jahrtausend bedeutendste lateinische Grammatiker,
Priscian;
dort wird unter Kaiser Justinian das lateinische Corpus Iuris
redigiert; dort wird ein Feldzug des Kaisers vom Hofdichter Corippus in
lateinischen Versen besungen.
Schon dies weist darauf: Der Welterfolg des Lateinischen beruhte nicht
nur
auf der Gewalt der römischen Waffen, sondern auch auf der
geistigen
Leistung der Römer. Sie zeigt sich im römischen Recht, das
immer
an die lateinische Sprache gebunden blieb; sie zeigt sich aber genau so
an
der sonstigen literarischen Produktivität. Die Römer waren
als
einziges antikes Volk befähigt (und willens), die literarischen
Formen
der kulturell überlegenen Griechen in eigener Sprache
nachzubilden,
eine dem Griechischen vergleichbare Literatur zu schaffen. Dies beginnt
mit
dem genialen Großvater der lateinischen Literatur, dem Zensor
Appius
Claudius Caecus, der im Jahr 280 v.Chr. eine Senatsrede gegen den
Frieden
mit Pyrrhus veröffentlicht, eine Kriegsrede offenbar in Art der
Philippiken
des Demosthenes (die er sicherlich gekannt hat). Sein Nachfolger, der
üblicherweise
als der Begründer der lateinischen Literatur gilt, war selber ein
romanisierter
Grieche, der Freigelassene Livius Andronicus aus Tarent. Er
führte
im Jahr 240 ein lateinisches Drama (ob Komödie oder Tragödie,
wissen
wir nicht) nach griechischer Vorlage offenbar im Staatsauftrag auf. Und
diesem
Gründungsereignis folgte eine Serie von Dramen (Plautus, Terenz
usw.),
die anderthalb Jahrhunderte nicht abriss und die eine ständig
wachsende
Fülle weiterer literarischer Werke in den verschiedensten
Gattungen
nach sich zog.
Aber obwohl die Römer diesen Vorgang so ansahen, als seien sie
selber
dem kulturell überlegenen Griechenland zum Opfer gefallen, nach
der
berühmten Formulierung des Horaz: Graecia capta ferum uictorem
cepit et artes / intulit agresti Latio ...
(„Das eroberte Griechenland eroberte selber seinen wilden Bezwinger und
brachte
seine Künste nach Latium“), trotz dieser höchst bescheidenen
Selbsteinschätzung
galt doch im wesentlichen bereits für das erste Jahrhundert v.
Chr.:
Rom hatte mit Griechenland literarisch nicht nur gleichgezogen, sondern
es
sogar überflügelt. Den Meisterwerken vor allem von Cicero,
dem
größten Schriftsteller seines Jahrhunderts, aber auch von
den
Prosaikern Sallust und Livius, den Dichtern Lukrez, Catull, Horaz,
Ovid,
und ganz besonders Vergil, dem sogleich als Nationaldichter Verehrten,
hatte
die griechische Welt damals nichts Ebenbürtiges mehr
entgegenzusetzen.
Und die römischen Schriftsteller selbst, besonders die Dichter,
haben
das Gefühl bleibende, klassische Werke zu schaffen; sie glauben
seit
der Augusteerzeit an eine förmliche Unsterblichkeit ihres Werks
und
damit ihrer selbst. Am berühmtesten ist der Ausspruch des schon
erwähnten
Lyrikers Horaz, der am Ende seiner ersten Odensammlung von dem „Denkmal
dauernder
als Erz“ (monumentum aere perennius), das er sich errichtet
habe, spricht und sich selber verheißt: non omnis moriar
(„ich werde nicht ganz sterben“). Was allerdings geknüpft bleibt
an
die Unvergänglichkeit des „ewigen Roms“: Man werde von seiner
Leistung
reden, dum Capitolium / scandet cum tacita uirgine pontifex
(„solange
aufs Capitol mit der schweigenden Jungfrau [der Vestalin] der Pontifex
steigen
wird“), d.h. solange der die Dauer Roms verbürgende römische
Staatskult
fortbesteht. Mit ähnlicher Einschränkung (ohne dass er
freilich
selber sie als Einschränkung sähe) verheißt Vergil den
Helden
seiner Aeneis ewigen Ruhm: dum domus Aeneae Capitoli immobile saxum
/ accolet imperiumque pater Romanus habebit
(„solange das Haus des Aeneas den unerschütterlichen Felsen des
Capitols
bewohnen und der Römer sein Reich haben wird“). Die Wirklichkeit
hat
hier einmal die Wünsche und Prophezeiungen der Dichter
überboten:
Das römische Reich ist zusammengebrochen, in Rom ist längst
ein
anderer Pontifex maximus am Werk, neuerdings sogar ein höchst
lateinmächtiger
– aber Horaz und Vergil werden noch immer, zum Teil sogar in deutschen
Klassenzimmern,
gelesen.
Dieses Gefühl der Unsterblichkeit bei den römischen Dichtern,
das
Gefühl der eigenen Klassizität, fällt nun
eigenartigerweise
– und damit komme ich eigentlich auf den ersten Punkt, den Hauptpunkt
meines
Vortrags - zusammen mit dem Tod des Lateinischen. Im
linguistischen
Sinn ist ja eine Sprache vor allem dann tot, wenn sie aufgehört
hat
sich fortzuentwickeln; und dieser Entwicklungsstop fällt nun beim
Lateinischen
eben in die Epoche bereits des Augustus, also etwa in die Zeit um
Christi
Geburt. (Merksatz: Christus nascitur, Latina lingua moritur.)
In den
anderthalb Jahrhunderten von Plautus (um 200 v.Chr.) bis Cicero
konstatieren
wir, besonders in Satzbau (Syntax) und Formenlehre (Morphologie), eine
fühlbare
Sprachentwicklung. Vergleichen wir dagegen einen Brief Ciceros mit
einem
etwa des Symmachus (im vierten Jahrhundert n.Chr.), einen Dialog
Ciceros
mit der berühmten Consolatio philosophiae des Boethius (am
Anfang
des sechsten Jahrhunderts) oder auch Hexameter Vergils mit solchen des
Claudian
(der um 400 gedichtet hat), so scheint die Sprache, was zumindest ihren
harten
Kern angeht, stehengeblieben zu sein. Eine Weiterentwicklung des
Lateinischen
seit der Augusteerzeit gibt es eigentlich nur noch im Vokabular: Klar,
dass
etwa die christliche Religion seit dem zweiten Jahrhundert oder der
technische
Fortschritt in Mittelalter und Neuzeit neue Wörter (Neologismen)
nötig
machten . Aber wenn etwa die Christen das griechische baptisma
(für „Taufe“) lateinisch eingemeinden oder das lateinische sacramentum,
ursprünglich der „Fahneneid“ des Soldaten, religiös
umfunktionieren
oder wenn neuerdings Pater Eichenseer mit seinen Lateinfreunden in
Saarbrücken
die clusura tractilis für den „Reißverschluss“
kreiert und sich allenthalben für das Internet interrete
durchsetzt, so wird die Sprache damit nicht wesentlich verändert;
sie bleibt, in ihrem Kern, die Sprache Ciceros.
Aber schon mit den Gesagten halten Sie den Beweis für meine
Hauptthese
in Händen: Das Latein, so sagte ich ja, ist darum als so besonders
lebenskräftig
anzusehen (lingua uiuacissima), weil es sogar seinen eigenen Tod
überlebt hat, suae morti superstes.
Und damit meine ich eben nicht, worauf man sonst zu Recht immer wieder
hinweist,
dass Latein präsent ist in den Fremdwörten der heutigen
Sprachen,
in Computer, Server, Elektronik und Internet,
auch nicht dass es fortlebt in seinen Töchtern, den romanischen
Sprachen,
die etwa vom 6. bis 8. Jahrhundert aus dem sogenannten
Vulgärlateinischen,
der spätlateinischen Umgangssprache, entstanden sind; ich meine
damit,
dass das Latein selber, das gute, klassische Latein trotz seinem
frühzeitigen
Tod in lebendigstem Gebrauch geblieben ist, ja dass es sich erst
eigentlich
nach seinem Tode zu der führenden, lange Zeit unersetzlichen
Weltsprache
entwickelt hat, die es zumindest bis ins 18. Jahrhundert geblieben ist.
Latein
war ja nicht nur die Sprache von Theologie und Kirche, nicht nur die
Sprache
des Rechts (obwohl dort immer seine eigentlichste Domäne gelegen
hat),
es war die gemeinsame Sprache sämtlicher Wissenschaften, etwa der
Physik
wie der Philosophie, der Botanik wie der Geschichte und Philologie; ja
bis
etwa 1700 war Latein auch, was heute fast vergessen ist, die
führende
Sprache der schönen Literatur, der belles lettres: Nur wenn ein
Roman
vom Französischen oder Deutschen ins Lateinische übersetzt
war,
konnte er auf internationales Interesse hoffen; blieb er deutsch oder
französisch,
blieb er eben damit auch provinziell. Der international
berühmteste
deutsche Dichter noch im 17. Jahrhundert war ein Lateiner: Jacobus
Balde,
der sprachmächtige Freund von Bayerns größtem
Staatsmann,
Kurfürst Maximilian I., wie dieser eine europäische
Größe.
Aber auch nach diesen größten Zeiten ist Latein, wie man
weiß,
noch längst nicht völlig gestorben. Noch das zwanzigste
Jahrhundert
hat bedeutende lateinische Dichter hervorgebracht; sogar auf dem
Musiktheater
haben nicht nur die mittellateinischen „Carmina Burana“ des
humanistischen
Bayern Carl Orff triumphiert, sonder auch ein modernes,
originallateinisches
Werk wie Strawinskis „Oedipus Rex“. Im Internet tummeln sich die
internationalen
lateinischen Chatclubs (greges Latine loquentium). Und wer erst
die
große lateinische Ansprache liest, mit der Benedikt XVI.
unlängst
seine Kardinäle zum Amtsantritt überrascht hat, wird sich um
das
Weiterleben des Lateins sogar im Vatikan vorläufig keine Sorgen
machen.
Satis dixi de lingua Latina uiuacissima.
Ich komme, dies war ja mein zweiter Punkt, zur Schönheit des
Lateinischen (lingua pulcherrima et uenustissima). Haben Sie
keine Angst, dass ich Ihnen jetzt Cicero oder Vergil vortrage und nach
jedem Satz oder Vers O! und A! rufe: Tityre, tu patulae recubans
sub tegmine fagi ... ("Welche Sprache könnte Verse solcher
Süßigkeit hervorbringen!") siluestrem resonare doces
Amaryllida siluas
("Das gibt's nur einmal, das gibt's nur auf Latein.")
Selbstverständlich
lässt sich auch die überragende Schönheit des
Lateinischen
streng wissenschaftlich und exakt nachweisen. Sie ergibt sich
nämlich
bereits zwingend aus dem bisher Festgestellten. Woran ist denn
seinerzeit
das Lateinische gestorben? Ja doch nicht daran, dass, wie bei
irgendeiner
Indianer- oder Eskimosprache, die native speakers ausgestorben
wären
oder sich entschlossen hätten, eine andere Sprache zu gebrauchen;
vielmehr
zeigt schon das bloße Todesdatum des Lateinischen, dass es an
nichts
anderem als an seiner eigenen Schönheit gestorben sein kann.
Nachdem
nämlich diejenigen literarischen Werke entstanden waren, die von
den
Römern selbst als klassisch empfunden wurden (und noch heute
dafür
gelten) - ich meine natürlich die schon erwähnten Kunstwerke
vor
allem von Cicero und Vergil (zu denen an zweiter Stelle dann Terenz,
Sallust,
Horaz und Ovid treten) -, zu eben diesem Zeitpunkt beginnt das
Lateinische
als Bildungs- und Schriftsprache zu erstarren. Warum? Ich weiß
nur
eine einzige Antwort auf diese meines Wissens nie klar gestellte Frage:
Weil
das Erlebnis dieser klassischen Kunstwerke so stark und
überwältigend
war, dass der sprachsensible und kunstsinnige Römer instinktiv
eine
Weiterentwicklung seiner, durch die Klassiker gewissermaßen
geheiligten,
Sprache nicht mehr zulassen wollte. Nach Ciceros Philippiken und
Vergils
Aeneis war es, als ob der Weltgeist dem Genius der Latinitas zuriefe:
"Latein, bleib stehen! consiste, Latinitas!
Du kannst nicht mehr schöner werden. Du darfst dich nicht mehr
ändern."
Und so gilt von der lateinischen Sprache, in bestimmter Weise, was
Aristoteles
von der Tragödie bei Sophokles gesagt hat, dass sie "zu ihrer
eigenen
Natur gekommen" war.
Freilich, so sicher mir scheint, dass Latein auf diese Weise gestorben
ist
- ein Sterben in Schönheit und an Schönheit -, so wenig
fühle
ich mich in der Lage, das Wesen dieser Schönheit, die in Cicero
und
Vergil offenbar am deutlichsten wurde, wissenschaftlich zu bestimmen;
und
im Rahmen meiner heutigen Lobrede kann ich nur ganz bescheidene
Andeutungen
machen. Die Römer selbst, sonst wahrlich ohne Selbstzweifel, waren
gerade
im Lob ihrer Sprache eher zurückhaltend, ja sprachen wohl gar,
allerdings
nur im Verhältnis zum Griechischen, von einer gewissen Armut (patrii
sermonis egestas), mangelnder Anmut (uenus), Feinheit (subtilitas),
Lieblichkeit (iucunditas).
Wir empfinden das in der Neuzeit meist anders: Der Italiener Petrarca,
der
zur neuzeitlichen Lateinbegeisterung mehr beigetragen hat als sonst
einer,
ließ sich schon als Knabe verzaubern von der lateinischen dulcedo
et sonoritas uerborum
(„Süßigkeit und Wohllaut der Wörter“); und für uns
Sprecher
eines konsonantenharten Deutschen scheint Latein eine ideale Mitte zu
halten
zwischen der schieren Vokalseligkeit des Italienischen und der Herbheit
unserer
eigenen Lautung (wobei Latein freilich dem Italienischen
nähersteht).
Was die Römer an ihrer Sprache vor allem rühmen, mit Stolz
gerade
im Hinblick aufs Griechische, ist Kraft und Mächtigkeit, pondus
und potentia. Diese spüren wir ausgedrückt ebenso
im altcatonischen Rem tene, uerba sequentur wie im
neuzeitlichen Roma locuta, causa finita. Das eine, worin sich
(wie in diesen Beispielen) die lateinische Kraft zeigt, ist die
Knappheit, breuitas,
die mit ihrem Verzicht auf das sprachliche Rankenwerk von Artikeln,
Pronomina
und allerlei Hilfsverben die Sprache prädestiniert für Sinn-
und
Kraftsprüche wie Sapere aude (was nach Kant heißt:
"Habe
den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen"), für
Monumentalinschriften,
Kurzepigramme und vor allem auch Drohungen: Vae uictis! Oder
(in der Aposiopese noch schrecklicher): Quos ego!
Fast jedes Jahr erscheint ein neues Buch, in dem lateinische Sinn- und
Kraftsprüche
gebündelt und erläutert werden, unter Titeln wie Nota
bene, Urbanum et humanum, Veni vidi vici.
Ich zitiere aus einem neuen, sehr bekannten Roman des Holländers
Cees
Nooteboom: "Nie wird es wieder eine Sprache wie Latein geben, nie mehr
werden
Präzision und Schönheit und Ausdruck eine solche Einheit
bilden.
Unsere Sprachen haben allesamt zu viele Wörter, man sehe sich nur
die
zweisprachigen Ausgaben an, links die wenigen, gemessenen Worte, die
gemeißelten
Zeilen, rechts die volle Seite, der Verkehrsstau, das
Wortgedränge,
das unübersichtliche Gebrabbel."
Diese breuitas ist aber, wie angedeutet, nur die eine
Eigenschaft,
in der sich die Kraft des Lateins darstellt. (Verabsolutiert man sie,
kommt
man zu einem so einseitigen Urteil, wie dem Heinrich Heines, der sagte,
die
Sprache der Römer sei "eine Kommandosprache für Feldherrn,
eine
Dekretalsprache für Administratoren, eine Justizsprache für
Wucherer,
eine Lapidarsprache für das steinharte Römervolk".) Die
andere
Wurzel, aus der das Lateinische seine Kraft zieht, ist nämlich das
Gegenteil
der breuitas, die in der Sprache ebenso angelegte copia,
die Wortfülle, ja Abundanz. Sie zeigt sich schon in den
ältesten lateinischen Wortdoppelungen, wie sanus ac saluus,
laetus libensque, do dico dedico,
meist wie hier mit Alliteration (die etwa im Griechischen gar keine
Rolle
spielt), aber auch ohne diese: sciens uolensque, quaeso
precorque, fundi
terrae agrique. Vor allem die urtümlich religiöse Sprache
ist voll
von diesen Pleonasmen, die dem Gedanken ebenso viel an Nachdruck
zufügen,
wie sie ihm an Bestimmtheit und Eindeutigkeit nehmen. Der unbestrittene
Meister
dieser copia, Ausdrucksfülle, ist dann natürlich
Cicero, den Caesar geradezu als den princeps copiae et inuentor
bezeichnet hat. Man muss nur etwa an den berühmten Eingang der
ersten Catilinarie denken (Quousque tandem abutere
...), wo in drei Sätzen, mit wachsendem Pathos, dreimal daselbe
gesagt
wird (ohne dass auch nur ein einziges Wort wiederholt würde) - ein
Beispiel,
das nebenbei auch zeigt, dass diese copia nicht der Freude am
Wort
bzw. der Redseligkeit entstammen muss, sondern dass sie einer (bei
Cicero
zumindest gespielten) seelischen Erregtheit entspringen kann.
Eine dritte und letzte Wurzel der spezifischen Schönheit des
Lateinischen,
die in der Kraft besteht, ist schließlich die architektonische
Spannkraft
der Konstruktion. Sie zeigt sich sowohl in der üblichen
Endstellung
des Verbs (das ganz zum Schluss erst den eigentlichen Aufschluss gibt),
als
auch in der vor allem von Cicero entwickelten hypotaktischen
Satzperiode,
besonders in ihrer steigenden Gestalt, wo dem Hauptsatz Nebensätze
verschiedenen
Grades vorgeschaltet werden, daneben aber auch in der Figur des
Hyperbaton,
der "Sperrung" des Adjektivs bzw. Attributs von seinem Substantiv: Peliaco
quondam prognatae uertice pinus
- a b A B. Auch hier entsteht Spannung durch eine Verzögerung der
wichtigsten
Information; das Griechische kennt dergleichen kaum, es ist hier
unangestrengter,
lässiger. Man erklärt diese Dinge, besonders die
untergeordnete
Satzperiode, gerne mit einer Neigung der Römer zur
militärischen
Subordination, zu klaren Befehls- und
Abhängigkeitsverhältnissen;
aber die richtigere Erklärung steht wohl bei Horaz, der es als
Prinzip
einer schönen dichterischen Disposition bezeichnet, wenn der
Dichter
"immer nur jeweils das sagt, was jeweils schon gesagt werden muss, das
meiste
aber aufschiebt und für den Moment auslässt", ... ut iam
nunc dicat iam nunc debentia dici, / pleraque differat et praesens in
tempus omittat.
Es ist vielleicht bezeichnend, dass der einzige antike Dichter, der ein
Drama
geschrieben hat, das fast ganz auf der stofflichen Spannung beruht (wie
ein
Kriminalroman vom Typ des Whodunit) gerade ein Römer war: Terenz
mit
seiner Hecyra, einem Meisterwerk, das unseren Bühnen leider
unbekannt
geblieben ist. Wer darum eine ciceronische Satzperiode in der Weise
übersetzt,
dass er von dem in Endstellung befindlichen Prädikat
(beziehungsweise
Verbum) ausgehend, sich das Ganze, von links nach rechts, von rechts
nach
links, herauf, herab und quer und krumm zusammenkonstruiert - dieser
vermeintliche
Musterschüler des formalbildenden Lateins versündigt sich an
Cicero
und dem Genius der eigentlichen Latinitas ebenso sehr, wie ein Leser
von
Agatha Christie, wenn er zuerst im Schlusskapitel nach der Person des
Mörders
sucht. Armes Latein!
Nirgendwo hat der Rückgang des Lateinschreibens, Lateinsprechens
und
vor allem Lateinhörens in den letzten zweihundert Jahren (mit
ihrer
einseitigen Vorherrschaft der formalen Bildung) so fatale Folgen gehabt
wie
in der zunehmenden Empfindungslosigkeit für die Schönheit des
Lateinischen.
Während die Werke der älteren Humanisten von Petrarca bis ins
18.
Jahrhundert voll sind von Ausdrücken der Bewunderung für die
Herrlichkeit
der Sprache, so dass man gar glaubte, es gäbe überhaupt keine
größere
menschliche Leistung als die äußerste Vervollkommnung im
lateinischen
Ausdruck, finden wir heute selbst bei den engagiertesten Didaktikern
und
Apologeten des Lateinunterrichts kaum mehr ein Wörtchen über
diese
Schönheit der Sprache, die sie letztlich doch ihren Tod hat
überleben
lassen. Und der Lateinunterricht wird dann am Ende wie ein
Musikunterricht,
bei dem man nicht mehr das richtige Singen und Hören, sondern nur
noch
das stumme Notenlesen lernt. Arme Musik! Misera musica! Armes
Latein!
Ich bin damit längst zu meinem dritten Punkt gekommen, der utilitas,
Nützlichkeit, des Lateinischen. Zu ihm will ich mich besonders
kurz
fassen, und das meiste einfach weglassen. Ich weiß, dass Latein
das
Erlernen der romanischen Sprachen und des Englischen erleichtert; ich
weiß,
dass es die Fremdwortbeherrschung steigert, wenn man erkennt, dass der
Mikroprozessor
z. T. von procedere und der Computer von computare
kommt -
aber von all diesem herrlichen Nutzen schweige ich ebenso wie von der
mittlerweile
genugsam geschmähten formalen Bildung, durch die man es ja doch
immerhin
lernt (was in der Tat nicht unnütz ist), ein konsekutives
Verhältnis
von einem finalen zu unterscheiden, wodurch klar wird, dass sich
katholische
Ehepaare seit je der körperlichen Liebe befleißigten,
u m
Nachkommen zu erzeugen (ut liberos gignerent – unter Beachtung
der consecutio temporum), wogegen dies bei Protestanten und
Ungläubigen vielfach als bloße Folge, mit „so dass“,
hingenommen wurde (ita ut liberos genuerint,
mit absoluter Tempusgebung) – an welcher Stelle ich mir die Bemerkung
nicht
versagen kann, dass die alten Römer hier schon gut wie
römisch
katholisch waren, indem sie für den Geschlechtsverkehr unter
Vermählten
den schönen Euphemismus liberis operam dare („sich um
Kinder
bemühen“) gebrauchten ... Auch diese Vorzüge des Lateinischen
sind
so bekannt und evident, dass man nicht mehr viel dazu sagen muss: Ein
jüngst
in der „Zeit“ erschienener Artikel hat beleuchtet, in welchen
Nöten
z. Zt. die norddeutschen Universitätsgermanisten sind, weil
inzwischen
den meisten ihrer Studenten die Grammatik- und Denkschulung durch das
Lateinische
fehlt (Pisa lässt grüßen). Und natürlich schreibe
ich
es auch gerne dem Latein auf Rechnung, dass vor ein, zwei Jahren bei
Günter
Jauch, dem überzeugten Humanisten, ein als großer Lateiner
bekannter
Historiker der erste Millionär geworden ist. Wer kann da noch
zweifeln!
Vielleicht verdankt auch unser Ministerpräsident seine
Fähigkeit,
auch aus Niederlagen immer wieder gestählt hervorzugehen, der
Tatsache,
dass er in seiner Klosterschule nicht nur die Durchhaltetugenden von
Cäsars
Soldaten in Gallien gelernt hat, sondern auch selber um eben des
Lateins
willen eine Klasse repetieren durfte: festina lente („Eile mit
Weile“), das Lieblingswort von Kaiser Augustus.
Der wahrste Nutzen des Lateinischen aber und wohl auch der geheime
Grund,
warum immer wieder, zum Glück ja nicht nur in Bayern, Latein
gelernt
wird, liegt, meine ich, nicht in dieser Denkschulung, die uns etwa auch
im
Zeitalter der industriellen und jetzt digitalen Revolution dazu
befähigt,
effizienter unsere Brathendl zu verpacken und diverse Software zu
programmieren
und um deretwillen, wie man mit Freuden hört, gerade auch
Vertreter
der Wirtschaft des öfteren nach dem Lateiner mit seinen beliebten
Sekundärtugenden,
Sorgfalt, Sitzfleisch und so weiter, verlangen - den wahrsten Nutzen
des
Lateinischen hat Ovid genannt, als er in Bezug auf seine Dichtung im
Exil
feststellte: ... magis utile nil est / artibus his, quae nil
utilitatis habent („Nichts
ist nützlicher als diese Künste, die keinen Nutzen
haben...“).
Wenn wir heute Latein treiben, ohne es in der Regel zur internationalen
Kommunikation
zu verwenden, sind wir um so mehr auf die schiere Schönheit des
Lateinischen
verwiesen, eine Schönheit, die ihren Nutzen vor allem auch in sich
selber
hat. In einer Welt, in der mit dem sogenannten
Nützlichkeitsstreben,
unter dem größtenteils nur das Geld- und Gewinnstreben zu
verstehen
ist, die schiere Hässlichkeit überall ihre unbestrittenen
Triumphe
feiert, in einer solchen Welt von Hässlichkeit und
Nützlichkeit
kann nichts wichtiger und in Wahrheit nützlicher sein, als in uns
die
Kräfte des Schönheitsstrebens zu stärken. Die Römer
können
uns, was manchen überraschen mag, gerade hier ein Vorbild sein:
Sie
haben ja nicht nur ein Weltreich erobert, sie haben auch die
schönsten
Platzanlagen und proportioniertesten Villen geschaffen; sie haben sich
das
unpraktischste und zugleich ästhetisch schönste
Kleidungsstück
der Welt, die Toga, zum Nationalgewand gemacht; sie haben
schließlich
auch, wie Cicero in seinem 'Orator', der Bibel römischer
Ästhetik,
bezeugt, wohlklingende Satzklauseln beklatscht und sogar im Theater bei
einem
Versehen in der Aussprache der Silbenquantität gepfiffen. Cicero
selber,
der große, bisweilen überragende Politiker, hat es sich in
der
erregten Zeit vor Cäsars Ermordung nicht nehmen lassen, eben im
'Orator'
die Gesetze des römischen Prosarhythmus zu erforschen - in einer
Gründlichkeit,
wie es vor ihm kein anderer, übrigens auch kein Grieche, versucht
hat.
Es gibt kein Latein, es darf kein Latein geben, ohne dass wir uns von
dieser
Freude an Rhythmus und Sprachschönheit anstecken lassen. Und den
Bildungspolitikern,
die heute den Wert der Schul- und Universitätsbildung
ausschließlich,
ich sage: ausschließlich, danach bemessen, was sie zur Steigerung
von
technisch nutzbarem Wissen und damit zur Konkurrenzfähigkeit
Deutschlands
auf dem Weltmarkt leistet, "um", wie man gerne sagt, "im Zeitalter der
Globalisierung
nicht abgehängt zu werden" (d.h., um unsererseits andere Nationen
wirtschaftlich
abzuhängen), diesen Politikern müssen wir entgegenhalten,
nicht
nur, meine ich, dass gerade das Latein, wie der schon zitierte
Fachdidaktiker
Weeber formuliert, "Schlüsselqualifikationen für
künftige
Führungskräfte in Wirtschaft, Technik und Wissenschaft
liefert",
sondern - wenn schon nicht, dass man nicht Gott und dem Mammon dienen
soll
(was ja sowieso niemand tut, alle dienen nur dem Mammon) - dann doch
wenigstens,
dass der Mensch nicht nur animal oeconomicum ist, sondern z. B.
bis zu einem Drittel seines Lebens mit Freizeit als animal otiosum
verbringt, so dass sein Leben um so befriedigender sein wird, je mehr
er die
Freuden des Geistes und der Schönheit kennt. Denn so gewiss Geld
nicht
glücklich macht, so gewiss machen Geist und Schönheit
glücklich.
Aber offenbar sind wir halt, nach Meinung dieser Bildungsexperten, wie
schon
Bismarck wusste, "nicht auf der Welt, um glücklich zu sein,
sondern
unsere Pflicht zu tun", d. h. heute: mit aller Anstrengung das
Wirtschaftswachstum
zu fördern (dies wagen ja mittlerweile nicht einmal mehr die
deutschen
Grünen zu bestreiten, zumal seit ihr einst abgespeckter Chef
wieder
mollig geworden ist und seine Gegnerin Merkel mit einem Soufflé
vergleicht,
in das der Souverän demnächst hineinpieksen werde, ein Symbol
künftigen
Negativwachstums).
Ein allerletztes zur utilitas des Lateinischen. Wir fordern
mit Recht
die Kenntnis moderner Fremdsprachen, besonders des Englischen, um uns
über
die Grenzen unseres Landes hinaus übernational verständigen
zu
können. Denken wir doch auch daran, dass Latein dasselbe in Bezug
auf
die Grenzen der Zeit leistet: Eben weil es tot und damit zeitlos ist,
können
wir mit den Lateinern aller Zeiten mühelos kommunizieren: Das
Latein
etwa Melanchthons zur Zeit der Reformation ist ja seinem Wesen nach
kein
anderes als das von Alcuin im Jahrhundert Karls des Großen, von
Augustin
in der Spätantike oder von Benedikt XVI.. Käme Cicero heute
in
unser Colloquium Latinum an der Universität München
(seit
fast 25 Jahren jeden Montag von 14 bis 15 Uhr), würde er zwar wohl
über
manche der dort gemachten Äußerungen den Kopf
schütteln,
er hätte aber keine eigentlichen Verständigungsprobleme;
käme
dagegen unser eigener Landsmann, der Römerfeind und
Deutschlandretter
Hermann der Cherusker, dann könnten wir uns ihm nicht mitteilen:
So
weit hat sich das Deutsche seit seinen Tagen fortentwickelt (wir haben
ja
schon Schwierigkeiten mit Walther von der Vogelweide, mit Luther, ja
bisweilen
mit Gryphius).
Darum ist die Beschäftigung mit Latein, vor allem das
Lateinschreiben,
auch im Hinblick auf unsere eigene Zukunft wichtig. Der Tag wird
unweigerlich
kommen, wo selbst die Werke von Goethe und Schiller so museal sein
werden,
wie heute in diversen Sprachen Edda, Beowulf und Nibelungenlied (es sei
denn,
ein Genius der Germanitas lässt bald auch das herrliche
Deutsch
einfrieren, wozu aber im Augenblick wohl kein Anlass ist). Lateinischen
Werken kann dies nicht geschehen. Als Jan Novák, der große
Lateinkomponist
und Lateindichter, mit dem ich die letzten beiden Jahre seines Lebens
noch
befreundet sein durfte, einmal gefragt wurde, warum er als Musiker sich
immer
mit dem toten Latein befasse, gab er zur Antwort: o bone, nil est.
hoc fit tantum immortalitatis causa („Mein Guter, nichts
Besonderes: Das mache ich nur um der Unsterblichkeit willen“). Auch
darum ist es ein Jammer, dass Englisch heute als internationale
Wissenschaftssprache an die Stelle des Lateinischen nachgerückt
ist: die sterbliche Sprache an die Stelle der unsterblichen (im
übrigen,
bei aller Liebe zu Shakespeare und Jane Austen, ohne Verdienst und
Würdigkeit).
So besteht m. E. auch eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass der wohl
fanatischste
Lateinenthusiast seines Jahrhunderts, der Jesuit Melchior Inchofer,
wenigstens
zum Teil Recht hatte, als er 1634 die Vermutung wagte, dass sogar Jesus
sich
mitunter des herrlichen Lateins bedient habe und dass jedenfalls die
Seligen
im Himmel nur noch Latein reden würden (beatos in coelo Latine
locuturos).
Das erste ist zwar so gut wie sicher falsch: Jesus muss mit dem
Hauptmann
von Kapernaum oder mit Pontius Pilatus in der damaligen
Allerweltssprache
Griechisch gesprochen haben; die zweite Ansicht aber scheint doch zu
erwägen.
Jedenfalls fällt auf, dass der liebe Gott selbst, nach der
Geschichte
der Heiligen Schrift und den Vätern zu urteilen, zuerst
Hebräisch,
dann Griechisch, dann Latein gelernt hat, um, wie es scheint, bei
dieser
Sprache endlich stehen zu bleiben. Eine schönere, meinte er wohl,
werde
es nicht mehr geben. Außerdem dürfte es auch schwerfallen,
sich
im himmlischen Jerusalem auf irgend eine andere Sprache zu einigen;
überall
wären ja sonst die native speakers ihren Mitbrüdern
überlegen:
im Englisch die Oxforder, im Französisch die Pariser, im heiligen
Hebräisch
die heutigen Kinder Israel ... Nur Latein scheint hier eine gerechte
und
wahrhaft demokratische Lösung zu bieten: Latein können wir
alle
nicht.