Wilfried Stroh

Die Macht der Rede (im antiken Rom und heute)

Von der „die Herzen bezwingenden, alles regierenden“ Macht der Rede schwärmen die antiken Rhetoriker. Und an manchen Beispielen besonders auch aus der römischen Geschichte lässt sich zeigen, dass das keine leeren Reklamesprüche waren. So wäre die rasche Niederwerfung des Revolutionärs Catilina, Höhepunkt von Ciceros Consulatsjahr, ohne die Brillanz seiner bald emotional geladenen, bald kühl kalkulierenden, immer auf den Augenblick berechneten Redekunst so nicht möglich gewesen: Selbst der Lorbeer (des Feldherrn), meinte Cicero, müsse der Zunge (des Redners) weichen. Dementsprechend spielte die Rhetorik auch im antiken Bildungswesen eine überragende Rolle.
Heute scheint auch in den westlichen Demokratien die Macht der Rede eher etwas geringer zu sein. Wichtige Entscheidungen können (etwa vom amerikanischen Präsidenten) ohne vorgehende Debatte getroffen werden. Die Parteidisziplin schränkt die Möglichkeit des Abgeordneten ein, sich von fremden Meinungsäußerungen umstimmen zu lassen. Manuskripte und Mikrofone nehmen vielen Diskussionen im Parlament die Lebendigkeit. Auch die modernen Massenmedien sind hier insgesamt eher schädlich – eröffnen andererseits aber auch wieder neue Möglichkeiten (zuletzt Barack Obamas YouTube-Botschaften).
Höhepunkte wirklicher Rhetorik, bei der es auf Überredung bzw. Überzeugung abgesehen ist, findet man heute außerhalb der Parlamente weltweit im Wahlkampf, in Deutschland besonders auch auf Parteitagen (etwa Joschka Fischer 1998). Aber auch sonst hat es in den vergangenen hundert Jahren immer wieder große Reden gegeben, die, auch wenn sie unmittelbar keine Entscheidungen herbeiführten, doch bewusstseinsbildend waren, von Wilhelm II. (1914) bis zu Richard Weizsäcker (1985) und vielleicht Obama (2009). Vollends wären die Demagogen des 20. Jahrhunderts ohne die Rede kaum denkbar gewesen – wobei diese freilich durch ihre Alleinverfügung über Rednerbühnen und Lautsprecher die politische Grundlage echter Rhetorik, das Audiatur et altera pars, zerstörten.
Während aber in den angelsächsischen Ländern an Schulen und Universitäten rhetorische Bildung selbstverständlich ist, bleibt Deutschland hier seit 100 Jahren weit zurück. Zwar wird in Form von rhetorischen Ratgebern und Seminaren (meist zu horrenden Preisen) einschlägiger Unterricht angeboten, aber dies geschieht schamhaft in einer Art Grauzone der Pädagogik, außerhalb der offiziellen Bildungsinstitutionen – ein Zustand, der nicht zu rechtfertigen ist. Hoffnung machen immerhin etwa die in den letzten Jahren an vielen Universitäten aus studentischer Initiative entstandenen Clubs „Jugend debattiert“, wo im bewussten Anschluss an die antiken Deklamationen ein zeitgemäßes Rhetoriktraining stattfindet. Denn gerade hier können wir von der Antike lernen.

Vom Verfasser ist soeben (Mitte Oktober 2009) erschienen:
Die Macht der Rede. Ein kleine Geschichte der Rhetorik im alten Griechenland und Rom.
Berlin (Ullstein) 200, 608 S., € 22,95.