Wilfried Stroh

Weltsprache Latein


  1. Die Welt durch Latein geeinigt
  2. Vom römischen Recht gehen wir über zur römischen Poesie:

    Fecisti patriam diversis gentibus unam,
    profuit iniustis te dominante capi;
    dumque offers victis proprii consortia iuris,
    urbem fecisti, quod prius orbis erat.

    Eine gemeinsame Heimat erschufst du der Vielfalt der Völker;
    weil sie zuvor ohne Recht, war ihnen nützlich dein Sieg.
    Wie die Besiegten du nahmst in des eigenen Rechtes Gemeinschaft,
    wurde zur einzigen Stadt, was eine Welt war zuvor.

    Mit diesen Worten feiert am Anfang des fünften Jahrhunderts n.Chr. der aus Gallien heimkehrende römische Dichter Rutilius Namatianus in einem hymnischen Gebet die Göttin Roma. Die Verse mit ihrem hübschem Wortspiel (das noch im Papstsegen urbi et orbi nachklingt) gaben vielleicht den Anstoß zu einem berühmten Ausspruch des Juristen Rudolf von Jhering: Roms historische Mission sei es gewesen, sagte er, dreimal die Welt zu einigen: durch die Gewalt der Waffen, durch das römische Recht, durch die christliche Kirche. Ein viertes, fast Wichtigstes, hatte er dabei vergessen: die Einigung der Welt auch durch die lateinische Sprache. Wie leicht zu zeigen ist, war Latein weit über anderthalb Jahrtausende hindurch die führende Sprache der Welt. Ihr Verlust vor etwa zweieinhalb Jahrhunderten hat ein schmerzliches Vakuum geschaffen.
     

  3. Von den latinischen Anfängen zur Welteroberung
  4. Wie kam es zu dieser Weltherrschaft des Lateinischen? Von Hause aus, bis ins vierte vorchristliche Jahrhundert, war Latein nur eine kleine Regionalsprache Italiens: die Sprache der Landschaft Latium, in der Rom zunächst noch nicht einmal führend gewesen sein kann (sonst wäre zu erwarten, dass wir, statt von lingua Latina von lingua Romana sprächen). Indem Rom dann Italien erobert, vom 4. Jahrhundert bis zum Bundesgenossenkrieg (89 v. Chr.), der allen Italikern das römische Bürgerrecht verschafft, breitet auch Latein sich aus: Es verdrängt die anderen Sprachen, Faliskisch, Messapisch, Oskisch usw.; nur das Etruskische leistet partiell Widerstand, und alte Griechenstädte in Süditalien, wie Neapel, Tarent, behalten auf längste Zeit ihr Griechisch. Im übrigen ist Griechisch noch im ersten Jahrhundert v.Chr. die große Weltsprache. Cicero will einen griechischen Dichter, Archias, dafür gewinnen, sein zu Hause ruhmreiches Konsulat auch international zu verherrlichen, propterea quod Graeca leguntur in omnibus fere gentibus, Latina suis finibus exiguis sane continentur, "darum weil man Griechisches bei allen Völkern liest, das Lateinische in seinen eigenen, doch recht engen Grenzen eingeschlossen bleibt" (Pro Archia, 62 v. Chr.).

    Vierzig Jahre später sieht die Lage immerhin schon etwas anders aus. Wenn sich Horaz in seiner (i.J. 23 v. Chr. herausgebenen) Sammlung lyrischer Oden – dem bis dahin anspruchsvollsten Werk lateinischer Dichtung überhaupt – seine zukünftige Verwandlung in einen über alle Länder fliegenden Schwan ausmalt (um so den dereinst weltweiten Ruhm seiner Lyrik zu verbildlichen), heißt es:

    iam Daedaleo notior Icaro
    uisam gementis litora Bosphori
    Syrtisque Gaetulas canorus
    ales Hyperboreosque campos.
    me Colchus et qui dissimulat metum
    Marsae cohortis Dacus et ultimi
    noscent Geloni, me †peritus†
    discet Hiber Rhodanique potor.

    "Schon werde ich, berühmter als der Daedalus des Icarus die seufzenden Gestade des Bosporus besichtigen, als ein singender Vogel, und die gätulischen Syrten [also Afrika] und die Felder der Hyperboreer [äußerster Norden];
    mich wird der Colcher kennen lernen und der Daker [im heutigen Rumänien], der noch so tut, als ob er den marsischen Soldaten nicht fürchte, und die entferntesten Geloner [in Thrakien], mich wird der kunstverständige Hiberer [in Spanien] einstudieren und der, der aus der Rhone trinkt."

    Das war, so kühn es zu seiner Zeit geklungen haben muss, eine zum Teil echte und wahre Propehezeiung: Horaz ahnte voraus, dass er gelesen, vielleicht sogar gesungen würde von Byzanz bis Gallien und Spanien, von Britannien bis Afrika - in der Tat überall dort, wo später (noch nicht zur Zeit des Horaz selber) in lateinischen Grammatikschulen die römischen Klassiker traktiert wurden. Obwohl die gebildeten Römer selber lange Zeit zweisprachig blieben,

    eroberte Latein in der Kaiserzeit schließlich auch die Provinzen des imperium Romanum: Nicht nur romanische Sprachen wie Französisch und Spanisch, bezeugen ihre Mutter; lateinische Lehnwörter hat bekanntlich sogar dass Germanische, wie unser Wort "Kaiser", das offenbar zu einer Zeit übernommen wurde, wo man noch nicht "Zäsar", sondern "Kaisar" aussprach. Nur die östliche Reichshälfte blieb im Kern griechisch, aber auch dort unter den "römischen Kaisern", wie sie sich immer nannten, war Latein die offizielle Amtssprache. Im leibhaftigen Konstantinopel lehrt (im sechsten Jahrhundert n.Chr.) der für ein Jahrtausend bedeutendste lateinische Grammatiker, Priscian; dort wird unter Kaiser Justinian das lateinische Corpus Iuris redigiert; dort wird ein Feldzug des Kaisers vom Hofdichter Corippus in lateinischen Versen besungen. Wie Rom immer halb griechisch, so war sogar Konstantinopel halb lateinisch. Nun war Latein wirklich Weltsprache.
     

  5. Die geistige Leistung der Römer
  6. Schon dies weist darauf: Der Welterfolg des Lateinischen beruhte nicht nur auf der Gewalt der Waffen, sondern auch auf der geistigen Leistung der Römer. Sie zeigt sich im römischen Recht, das immer an die lateinische Sprache gebunden blieb; sie zeigt sich aber genau so an der sonstigen literarischen Produktivität. Die Römer waren als einziges antikes Volk befähigt (und willens), die literarischen Formen der kulturell überlegenen Griechen in eigener Sprache nachzubilden, eine dem Griechischen vergleichbare Literatur zu schaffen. Dies beginnt mit dem genialen Großvater der lateinischen Literatur, dem Zensor Appius Claudius Caecus, der im Jahr 280 v.Chr. eine Senatsrede gegen den Frieden mit Pyrrhus veröffentlicht, eine Kriegsrede offenbar in Art der Philippiken des Demosthenes (die er sicherlich gekannt hat). Sein Nachfolger, der üblicherweise als der Begründer der lateinischen Literatur gilt, war selber ein romanisierter Grieche, der Freigelassene Livius Andronicus aus Tarent. Er führte im Jahr 240 ein lateinisches Drama (ob Komödie oder Tragödie, wissen wir nicht) nach griechischer Vorlage offenbar im Staatsauftrag auf. Und diesem Gründungsereignis folgte eine Serie von Dramen (Plautus, Terenz usw.), die anderthalb Jahrhunderte nicht abriss.

    Das war unerhört in der antiken Welt. Wo sonst einmal von einem Nichtgriechen ein Drama verfasst wird (wie die Tragödie Exagoge vom Juden Ezechiel, über den "Auszug" der Kinder Israel), geschieht dies natürlich auf Griechisch, und so ist es in allen Gattungen. Nur in Rom wird die griechische Literatur latinisiert, zunächst das Drama – warum gerade das Drama? Weil danach ein populäres Bedürfnis vorhanden war. Der römische Soldat, der auf Feldzügen, vor allem in Unteritalien, griechisches Drama erlebte, wollte selber so etwas Schönes auch in Rom haben. Wäre das Theater nur für die gebildete Oberschicht dagewesen, so hätte es griechisch bleiben können. Aber es war eine Kunstform auch des kleinen Mannes, des Plebeiers, Handwerkers, Tagelöhners. Wohl aus diesem Grund veranstaltete Livius Andronicus in seinen Dramen, und nur dort, eine metrische Revolution von großen Folgen. Er verwendete nicht den einheimischen latinischen bzw. italischen Vers (Saturnius), der zur Verfügung gestanden hätte und den er z.B. für seine Übersetzung der griechischen Odyssee gebrauchte (die für ein exklusiveres Lesepublikum bestimmt war): Das Drama der Römer sollte klingen wie im griechischen Theater; darum gebrauchte er griechisches Versmaß, wobei er die lateinische Sprache, ohne ihr Gewalt anzutun, nach griechischer Prosodie also Phonetik aufbereitete. Konstitutiv für lateinische Dichtung war von nun an die Unterscheidung von langen und kurzen Silben (die im Saturnius noch minder wichtig war). So sehen wir auch von hieraus, dass am Anfang der lateinischen Literatur ein volkstümliches Bedürfnis stand. Das Drama brach die Bahn, dann folgten – wie Provinz um Provinz erobert – die übrigen Gattungen, Epos, Lehrgedicht, Lyrik, Elegie, schließlich auch Jambus und Bukolik (um jetzt nur von der Poesie zu sprechen).
     

  7. Die klassischen Werke und der frühe Tod des Latein
  8. Im wesentlichen galt bereits für das erste Jahrhundert v. Chr.: Rom hatte mit Griechenland literarisch nicht nur gleichgezogen, sondern es sogar überflügelt. Den Meisterwerken vor allem von Cicero, dem größten Schriftsteller seines Jahrhunderts, aber auch von den Prosaikern Sallust und Livius, den Dichtern Lukrez, Catull, Vergil, Horaz, Ovid hatte die griechische Welt nichts Ebenbürtiges mehr entgegenzusetzen. Nun strahlte Rom seinerseits auf Griechenland zurück. Sogar die Bewegung des sogenannten Attizismus, die eine Eneuerung der griechischen Literatur mit sich brachte, scheint von der Begeisterung junger Römer für die klassischen attischen Redner ausgegangen zu sein. Und die römischen Schriftsteller selbst, besonders die Dichter, haben das Gefühl bleibende, klassische Werke zu schaffen; sie glauben seit der Augusteerzeit an eine förmliche Unsterblichkeit ihres Werks und damit ihrer selbst. Am berühmtesten ist der Ausspruch des schon erwähnten Lyrikers Horaz, der am Ende seiner ersten Odensammlung von dem "Denkmal dauernder als Erz" (monumentum aere perennius), das er sich errichtet habe, spricht und sich selber verheißt: non omnis moriar ("ich werde nicht ganz sterben"). Was allerdings geknüpft bleibt an die Unvergänglichkeit des "ewigen Roms": Man werde von seiner Leistung reden, dum Capitolium scandet cum tacita uirgine pontifex ("solange aufs Capitol mit der schweigenden Jungfrau [der Vestalin] der Pontifex steigen wird"), d.h. solange der die Dauer Roms verbürgende römische Staatskult fortbesteht. Mit ähnlicher Einschränkung (ohne dass er freilich selber sie als Einschränkung sähe) verheißt Vergil den Helden seiner Aeneis ewigen Ruhm: dum domus Aeneae Capitoli immobile saxum / accolet imperiumque pater Romanus habebit ( "solange das Haus des Aeneas den unerschütterlichen Felsen des Capitols bewohnen und der Römer sein Reich haben wird"). Die Wirklichkeit hat hier einmal die Wünsche und Prophezeiungen der Dichter überboten: Das römische Reich ist zusammengebrochen, in Rom ist längst ein anderer Pontifex maximus am Werk – aber Horaz und Vergil werden noch immer, zum Teil sogar in deutschen Klassenzimmern gelesen.

    Dieses Gefühl der Unsterblichkeit bei den römischen Dichtern, das Gefühl der eigenen Klassizität, fällt nun eigenartigerweise zusammen mit dem Tod des Lateinischen. Latein stirbt ja nicht erst durch das zweite Vaticanum oder durch die Abschaffung lateinischer Vorlesungen im achtzehnten Jahrhundert. Im linguistischen Sinn stirbt eine Sprache in dem Augenblick, wo sie aufhört sich fortzuentwickeln, und dies fällt beim Lateinischen in die Epoche schon des Augustus, also etwa die Zeit um Christi Geburt. In den anderthalb Jahrhunderten von Plautus (um 200 v.Chr.) bis Cicero konstatieren wir, besonders in Satzbau (Syntax) und Formenlehre (Morphologie), eine fühlbare Sprachentwicklung. Vergleichen wir dagegen einen Brief Ciceros mit einem etwa des Symmachus (im vierten Jahrhundert n.Chr.), so scheint die Sprache, was zumindest ihren harten Kern angeht, stehengeblieben zu sein. Eine Weiterentwicklung gibt es seitdem nur noch im Vokabular: Klar, dass etwa die christliche Religion seit dem zweiten Jahrhundert oder der technische Fortschritt in Mittelalter und Neuzeit neue Wörter (Neologismen) nötig machen . Aber wenn etwa die Christen das griechische baptisma (für "Taufe") lateinisch eingemeinden oder wenn Pater Eichenseer mit seinen Lateinfreunden in Saarbrücken jetzt die clusura tractilis für den "Reißverschluss" kreiert, so wird die Sprache damit nicht wesentlich verändert; sie bleibt, in ihrem Kern, die Sprache Ciceros.

    Dieser frühe Tod des Lateinischen ist darum von den Philologen bzw. Linguisten nie recht scharf erkannt worden, weil der literarische Stil der Prosa – Analoges gilt für die Dichtung – auch nach Cicero durchaus variabel blieb, weil Cicero trotz seiner Dominanz keineswegs überall und durchweg vorbildlich war. Seit den Fünfzigerjahren v.Chr. gibt es neben enragierten Ciceronianern auch Stilisten, die z.T. dezidiert anders schreiben als er: zunächst die Attizisten Calvus und Sallust, dann die pointenreichen "silbernen" Lateiner Seneca und Tacitus, schließlich Fronto, Apuleius, Augustin, in der Neuzeit Poggio, Erasmus, besonders Justus Lipsius (am Ende des 16. Jahrhunderts) – sie allen gestalten ein mehr oder minder unciceronisches Latein je eigener Prägung. Aber solche Wechselfälle der parole, wenn man so sagen darf, ändern nichts an der substantiellen Konstanz der langue, die nur hier und dort in Kleinigkeiten schwankt, sich aber nicht mehr eigentlich fortentwickelt, linguistisch gesehen also tot ist. Offenbar war dies eine wichtige Voraussetzung dafür, dass Latein die bis in die frühe Neuzeit führende Weltsprache werden konnte.

    Wie ist es zu diesem Tod des Lateinischen gekommen? Da die Frage nie präzise gestellt wird, gibt es keine Antwort, jedenfalls keine anerkannte. Meine eigene Meinunmg, die ich seit über fünfzehn Jahren (vorsichtigerweise bisher fast nur mündlich) vertrete, ist die, dass es das Erlebnis der klassischen lateinischen Meisterwerke gewesen sein muss, der Werke beonders von Cicero und Vergil, das zur Folge hatte, dass die Gebildeten (nicht bewusst, aber doch instinktiv) fühlten: eine Sprache, in der Vergils Aeneis oder die Philippischen Reden Ciceros verfasst seien, dürfe sich einfach nicht mehr ändern. Diese Werke verdienten es, so empfand man offenbar, immer gelesen zu werden, sie mussten immer – wenn nicht tatsächliches Vorbild sein, dann doch zumindest Vorbild sein k ö n n e n. Und das konnten sie nicht, wenn die Sprache sich ändern würde. Kein deutscher Dichter orientiert sich mehr an Nibelungenlied und Walter von der Vogelweide, die uns sprachlich zu weit entrückt sind; aber jedem lateinischen Ependichter, wie dem mittelalterlichen Waltharius, dem frühneuzeitlichen Petrarca oder auch Giovanni Pascoli an der Schwelle zum zwanzigsten Jahrhundert, stand es frei, Vergil zu folgen. So gibt es seit der goldenen Blütezeit der lateinischen Literatur nur noch dieses eine, im Kern unveränderte Latein. Es war also nicht ein Verfall, ein Erschöpftsein der Kraft, das den Tod des Lateinischen bewirkt hat, es war, wenn ich recht sehe, gerade die schiere Kraft und Schönheit der klassischen Meisterwerke. Allegorisierend könnten wir Graf von Platens "Tristan" zitieren: "Wer die Schönheit angeschaut mit Augen, ist dem Tode schon anheim gegeben ...".
     

  9. Vulgärlatein und rhythmische Dichtung
  10. Natürlich hat sich das gesprochene Latein des kleinen Mannes seine Entwicklung nicht völlig verbieten lassen. Dieses Latein verändert sich weiter, und es wird dabei fast eine andere Sprache. Aus dem alten Umgangslatein, das auch ein Klassiker wie Terenz gebraucht und sogar Cicero in seinen intimeren Briefen, wird nun – und nun erst – das sogenannte "Vulgärlatein", in dem die Väter der romanistischen Sprachwissenschaft (Dietz usw.) seit zweihundert Jahren den Quell der romanischen Sprachen erkannt haben. Frühe Zeugnisse für dieses vom Standpunkt der Normgrammatik aus fehlerhafte Latein sind etwa Wandinschriften Pompeis und die Freigelassenengespräche Petrons, später auch etwa die Warnungen der Grammatiker vor Sprachfehlern. Hier werden Casus durch Präpositionalausdrücke ersetzt (de deo statt dei, wie später ital. di dio, franz. de dieu), hier wird das Perfekt umschrieben (habeo cantatum statt cantavi, wie ho cantato usw.), hier gebraucht man etwa tirare für trahere. Vor allem aber – und dies bedeutete den tiefsten Einschnitt – brachen im Vulgärlateinischen die Unterschiede der Silbenquantitäten zusammen, wurden vor allem unter Einwirkung des Wortakzents Silben fäschlich gelängt und gekürzt. Schon in der Versinschrift eines pompeianischen Graffito sehen wir die erste Silbe der Göttin Venus wie in schlechtester bayerischer Schulaussprache lang gemessen, wohingegen in den Schulen der Grammatiker weiterhin korrekt Venus mit kurzem e gesprochen und gewertet wurde. Überhaupt wird nun der grammaticus, der antike Mittelstufenlehrer, dem die Autorenlektüre der Jugend und ihre erste sprachliche Bildung anvertraut ist, zum Wächter der Sprache (zum, wie ein neuerer Buchtitel heißt, guardian of language). Er bürgt gewissermaßen als Anwalt des Genius der Latinität für Einheit und Konstanz der Sprache; bei ihm lernt man immer wieder auch, bis weit in die neueste Neuzeit, korrekte lateinische Verse zu schreiben, Verse, die auf der strengen Einteilung der Silben in lange und kurze beruhen.

    So entsteht erst relativ spät eine Dichtung, die der Entwicklung der volkstümlichen Aussprache Rechnung trägt. Zuerst finden wir so etwas bei Commodian, einem christlichen Autor wohl des dritten Jahrhunderts, vielleicht mehr aus Versehen als Absicht. Dann ist es aber kein geringerer als der auch hier Epoche machende Kirchenvater Augustin, der am Anfang des fünften Jahrhunderts in seinem Psalmus contra Donatistas (einem Trutzlied gegen die Sekte der Donatisten) ein Stück Poesie verfasst, das programmatisch der tatsächlichen Aussprache ungebideter Afrikaner entsprechen soll (ad iudicium aurium, "nach dem Urteil der Ohren", wie er schreibt): Bei festgelegter Silbenzahl gelten alle Silben als gleichwertig, nur die Zäsur-und Versschlüsse sind durch den Akzentfall, die Versschlüsse auch durch einen einfachen Vokalreim, leicht reguliert:

    Abundantia peccatórum solet fratres conturbáre.
    propter hoc dominus nóster voluit nos admonére

    Dies war zweifellos seit Livius Andronicus die größte schöpferische Tat der lateinischen Versgeschichte. Seitdem gibt es bis heute zwei Arten lateinischer Dichtung: die "metrische" (in der es auf die Silbenquantität ankommt) und die "rhythmische" (in der neben der Silbenzahl meist auch der Wortakzent berücksichtigt wird). Dabei konnte sich die "rhythmische" Dichtung umso leichter verbreiten, als die Silbenquantitäten in Mittelalter und Neuzeit ja auch weiterhin missachtet wurden, obwohl man sonst das (letztlich auf der Sprache Ciceros beruhende) Normlatein pflegte. Erst gelegentlich im sechzehnten und dann, zunehmend, im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert mehren sich Versuche, Latein wieder quantitätsrichtig auszusprechen.
     

  11. Christentum und Latein
  12. Bleiben wir aber noch bei den Christen! Von Hause aus bediente sich das Christentum, auch die christliche Mission, der alten Weltsprache Griechisch. Jesus muss christlich mit Pilatus oder römischen Soldaten gesprochen haben; griechisch schreibt Paulus sogar (was jeden Latinisten verstimmen muss) seinen Brief an die Römer; Petrus soll sich ins Griechische haben dolmetschen lassen; griechisch schreiben die Evangelisten und die ersten christlichen Philosophen, die sogenannten Apologeten. Aber dann erobert die neue Weltsprache Latein auch das Christentum, wobei ausgerechnet Afrika, die alte Feindin Roms, führend war. Dort finden wir die ältesten lateinischen Bibelüberstzungen, die ersten lateinischen Märtyrerakten; von dort stammt schließlich auch der große Tertullian, dessen Apologeticum am Ende des zweiten Jahrhunderts eine lateinische Programmschrift des Christentums wird (die man sogleich auch ins Griechische übersetzt). Nach Ansicht der Kenner, zu denen ich hier nicht gehöre, ist die sprachschöpferische Leistung dieses Mannes, was die Schaffung einer christlichen Terminlogie angeht, nur noch mit der von Ciceros philosophischen Schriften zu vergleichen. Er hat nicht nur griechische Wörter wie episcopus oder das schon erwähnte baptisma eingebürgert, sondern auch ein altlateinisches Wort wie sacramentum (das ursprünglich den "Fahneneid" des Soldaten bezeichnete) in einem neuen christlichen Sinn umgedeutet – erfolgreich dabei, wie es scheint, vor allem dank seiner hinreißenden Rhetorik.

    Tertullian ist noch zweisprachig, des Griechischen ebenso mächtig wie des Lateinischen. Als dann nach der großen Reichskrise des dritten Jahrhunderts, die zum Niedergang auch des Grammatikunterrichts führt, unter Diokletian römisches Reich und klassische Schulbildung wiederhergestellt werden – hier beginnt die Epoche, die wir heute Spätantike nennen und die bald ganz vom Christentum bestimmt ist -, ist die westliche Welt entschiedener lateinisch geworden. Nur in Latein schreibt der Prinzenerzieher Lactanz sein Lehrbuch des Christentums (in dem dieses fast wie ein philosophische System dargestellt wird); lateinisch schreibt vor allem der gewaltige Stilist und Ciceronianer Hieronymus, der, auf niederer Sprachebene, zum Schöpfer bzw. Redaktor des erfolgreichsten Lateinbuchs aller Zeiten wird; ich meine natürlich die Sacra Scriptura, auch Vulgata genannt (ihr folgen, in gebührendem Abstand die Lateingrammatik des Donat und das Corpus Iuris – mit solchen Bestsellern konnte nicht einmal eine Aeneis konkurrieren). Der Größte, Augustin, versteht dann kaum noch griechisch; und ein Jahrhundert später fasst Boethius den Plan, die gesamte Philosohie des Aristoteles und Platon durch eine lateinische Großübersetzung der lateinischen Welt zu erschließen. Durch seinen frühen, tragischen Tod brach das Unternehmen ab; sonst wäre die Geistesgeschichte Europas, wo immer weniger Griechisch gelernt wird, anders verlaufen.

    Im übrigen hatte das christliche Latein wohl nicht den Status einer regelrechten Sondersprache, wie früher oft behauptet wurde. Es ist, von der spezifisch christlichen Terminologie abgesehen, ein Normallatein in verschiedener individuell geprägter Stilisierung, mit immerhin einer Besonderheit: In der Sprache der lateinischen Bibel, die ja immer wieder durchschlägt, spürt man den alten hebräischen Duktus, der auch in der griechischen Fassung der Septuaginta und den Evangelien nachklingt. Typisch ist vor allem die so unlateinische Reihung: In principio erat verbum, et verbum erat apud deum, et deus erat verbum... et... et ...Vielen rhetorisch geschulten Christen war diese, wie man sagte, "Fischersprache" (sermo piscatorius) des Evangeliums etwas peinlich. Wie daraus sogar ein Konflikt entstehen konnte, hat Hieronymus in einer berühmten Geschichte aus seinem Leben ergötzlich dargestellt. Als er auf einer Pilgerreise nach Jerusalem den Cicero und – glaubt man es? – sogar den Plautus las, wegen ihres schönen Lateins, sei er erkrankt, und in einer Fiebervision habe ihn der Weltenrichter Christus vor sein Tribunal gezerrt und seinem zaghaften Bekenntnis Christianus sum ("Ich bin ein Christ") ein wütendes Ciceronianus es ("Du bist ein Ciceronianer") entgegengehalten, worauf er solange durchgeprügelt wurde, bis er allen heidnischen Lateinklassikern abgeschworen hatte.
     

  13. Karolingische Bildungsreform und lateinisches Mittelalter
  14. Das Latein kam in die wohl größte Krise seiner Geschichte, als in der Zeit der Völkerwanderungen das Bildungssystem. d.h. der fundamentale Grammatikunterricht zum zweiten Mal, wenn auch nicht überall gleichzeitig, zusammenbrach. Das hatte zur Folge, dass, abgesehen von der Entartung des in der Kirche gesprochenen Lateins, auch das geschriebene Latein, selbst bei bemühten Schriftstellern, nun verwilderte und dass die romanischen Sprachen entstanden, die sich offenbar erst jetzt (in ziemlich kurzer Zeit, wie es scheint) aus dem Vulgärlatein regional verschieden herausdifferenzierten: Der "Vulgärlateiner" verstand noch Latein, der Italiener kann von Hause aus keines mehr. Als am Anfang des neunten Jahrhunderts Karl der Große die Verordnung erließ, es sollten hinkünftig lateinische Predigten ins Französische (bzw. Deutsche) übersetzt werden, damit jeder sie verstehe, war das Latein von den aus ihm entstandenen romanischen Sprachen unwiderruflich getrennt. Linguistisch gesehen beginnt hier das lateinische Mittelalter, wo endgültig niemand mehr Latein von der Mutter lernt.

    An dessen Anfang steht, wie schon am Anfang der Spätantike (unter Diocletian), eine Bildungsreform, also die Wiederherstellung des Grammatikunterrichts (jetzt eindrücklich geschildert und gewürdigt von Manfred Fuhrmann in seinem Buch Latein und Europ", das die Geschichte der höheren Schule von Karl dem Großen bis Wilhelm II. umfasst). Karl der Große war der wohl bedeutendste Bildungsreformer Europas. Er sorgte, dass wieder echtes Latein im Anschluss an die spätlateinischen grammatici Latini gelernt wurde (vor allem von den clerici); er machte so Latein zur standardisierten Zweitsprache eines sonst sprachlich differenzierten Europas (schuf also einen Zustand, der so bis ins achtzehnte Jahrhundert fortdauerte). Aus eigenen, sozusagen kontinentalen Kräften konnte das Karl nicht schaffen. Er holte sich gelehrte Hilfe aus dem Norden, aus Schottland und Irland. Dort hatte sich geschützt vor den Stürmen der Völkerwanderung ein geordneter Lateinunterricht gehalten; dort war, wie Fuhrmann schön hervorhebt, Latein schon bisher echte Zweitsprache, "Vatersprache" gewissermaßen neben der jeweiligen Muttersprache, gewesen, jetzt ein Vorbild für den Kontinent. Vor allem war es der bedeutende Alcuin von York, der sich um das Bildungswesen verdient machte. Um ihn und Karl den Großen herum entstand nun wieder eine blühende lateinische Literatur, ein "neues goldenes Zeitalter", wie die Dichter, dem Vergil des Augustus nachsingend, behaupteten.

    Es ist wohl etwas schief, wenn jetzt Fuhrmann die Dinge so darstellt, als hätten Karl und Alcuin bei ihrer Reform auf das "Spätlatein" der Spätantike zurückgegriffen und somit Jahrhunderte sprachlicher Entwicklung übersprungen: Latein war immer Latein, und individuelle Entartungen können nicht als Entwicklung gelten. So ist auch zu warnen vor dem Begriff des "Mittellatein", das gar zu leicht, nach Analogie eines Mittelfranzösisch oder Mittelhochdeutsch, als Bezeichnung einer Entwicklungsstufe missverstanden wird. Wie vor allem Walter Bulst in seiner zu wenig bekannten Schrift Über die mittlere Latinität des Abendlands (1946) hervorgehoben hat, steht das "Mittellatein" zu allen Zeiten des Mittelalters auf derselben antiken Sprachstufe, es entwickelt sich auch hier nicht weiter; und immer gibt es Autoren, die perfekt den Stil antiker Vorbilder nachbilden, wie Einhard den Sueton, Baudri de Bourgueil seinen Ovid. Wenn in geringer stilisierten Texten auch "Fehler" im Sinn der Normgrammatik toleriert werden (etwa dass man dico oder sentio, nach Analogie neuerer Sprachen, mit quod statt dem Accusativ mit Infinitiv verbindet), so wird doch aus solchen Fehlern nie eine letztliche Sprachrichtigkeit, die es dann ja verbieten müsste, die alte Regel noch anzuwenden. Nie war (für "Ich sage, dass ich krank bin") dico quod aegroto – man verzeihe! – korrekter als dico me aegrotare.

    Schöpferisch war das lateinische Mittelalter vor allem in der Erschaffung neuer Formen der "rhythmischen" Dichtung, die nun in der Regel um den Silbenreim bereichert wurde. Lange kannte man in neuerer Zeit das fast nur aus religiösen Dichtungen wie dem unvergleichlichen Dies irae oder dem Stabat mater. Dann war es vor allem der Genius des Bayern Carl Orff, der entdeckte, dass sich auch die weltliche Lyrik des "rhythmischen Mittelalters" (bis dahin nur durch wenige Nummern des Kommersbuchs erschlossen) geschickt aufbereitet an ein modernes Publikum vermitteln ließ: Seine ohrwurmreichen Carmina Burana wurden ja überraschenderweise das erfolgreichste Werk des Musiktheaters im vergangenen Jahrhundert.

    Aber haben sich nicht die Humanisten der Renaissance gegen das Latein des Mittelalters gewandt, es als "Mönchslatein" oder "Küchenlatein" verspottet? Nein, das haben sie nicht. Ihr Protest richtete sich nur gegen eine gewisse Entartung des Lateinischen an den Universitäten, in der Wissenschaftssprache, besonders in der Sprache der Scholastik. Tatsächlich bemühten sich diese Scholastiker, wie etwa auch ein Thomas von Aquin, um nur den Größten zu nennen, kaum oder gar nicht um Eleganz ihres Lateins (das sie im übrigen korekt beherrschten); was sie schreiben, wirkt, wenn man von Cicero, Seneca oder auch Augustin herkommt, hölzern und hässlich; und nur gegen diese vor allem im Spätmittelalter zunehmende Vernachlässigung der Form protestierten die Humanisten - mit denen dann freilich ein neuer Lateinenthusiasmus über Europa kam, wie man ihn auch zu Karls des Großen Zeiten nicht erlebt hatte.
     

  15. Renaissancehumanismus und Ciceronianismus
  16. Als Vater dieses im 14. Jahrhundert beginnenden Enthusiasmus gilt Francesco Petrarca, also der Mann, der auch in seinem betonten Individualismus und Ruhmesstreben sich so augenfällig von allem abhebt, was wir als mittelalterlich empfinden. Dieser Petrarca erzählt, daß für ihn die Schönheit des Lateinischen das entscheidende Bildungserlebnis war. In dem Alter, wo andere Knaben Kinderfabeln lesen, da habe er sich hinreißen lassen von Cicero, aber nicht etwa von dessen Gedanken (die er ja auch noch gar nicht habe verstehen können), sondern von seiner Sprache, vor allem von einer uerborum dulcedo quaedam et sonoritas, "einer gewissen Süßigkeit und Wohlklang der Wörter". Die Bissen habe er sich vom Munde abgespart, um neue Bücher von Cicero kaufen zu können - zunächst mit traurigem Ergebnis: Petrarcas Vater, der aus seinem Sohn einen tüchtigen Juristen machen wollte, verbrannte die Klassikertexte. Dennoch konnte er es nicht verhindern, daß mit seinem Sohn Francesco eine neue Epoche der lateinischen Sprache begann. Petrarca, so formulierten spätere Renaissancehumanisten, wagte es als erster, sein Haupt aus dem Schlamm der Barbarei zu erheben, d.h. er versuchte wieder, auch im Stil, ein an Cicero orientiertes Latein zu schreiben. Und dann geht eine Begeisterung für das Latein, das klassische Latein, wie ein Rausch über Europa: "Das Lateinische", so schwärmt der große Historiker Lorenzo Valla (1440), "wird von allen Nationen verehrt, wie ein Gott, der vom Himmel herabgesandt wurde" (quasi Deum quendam à Coelo demissum).

    Latein aber, wie gesagt, hieß vor allem: ciceronisches Latein. Es entsteht der moderne Ciceronianismus, eine Nachahmung Ciceros, die sogar recht sonderbare Blüten treibt. Ein fanatischer Ciceronianer, wie der Kardinal Bembo, spricht von seinen Standesgenossen nicht mehr als von "Kardinälen" (cardinales), sondern von senatores; er gebraucht nicht mehr das Wort "Nonnen" (moniales) sondern Virgines vestales (vestalische Jungfrauen) usw. Die Sprache wird bis an die Grenzen des Unverständlichen von allen christlichen und mittelalterlichen Schlacken gereinigt. Erlaubt ist nur noch, was auch bei Cicero belegt ist. Die förmliche Karikatur eines solchen Ciceronianers hat ein Jahrhundert später, 1528, der berühmte Humanist Erasmus in einem Dialog vorgeführt. Es tritt dort auf ein gewisser Herr Nosoponus (was etwa so viel heißt wie "Mühekrank"), ein Mann, der ängstlich bemüht ist, nur Ciceronisches zu sprechen, und zwar in der Weise, daß er nicht nur die Wörter vermeidet, die Cicero nicht hat, sondern sogar die Wortformen, die bei diesem zufälligerweise nicht belegt sind. Und so wälzt er aus Angst vor Fehlern am Schluß nur noch stumm seinen Cicero... - Auch wenn aber die Wirklichkeit bisweilen einer solchen Karikatur nahe gekommen sein sollte, so wäre es trotzdem verkehrt zu behaupten, die Humanisten hätten wie man oft liest, einem bis dahin noch munter lebenden Latein "den Todesstoß gegeben". Im linguistischen Sinn war Latein, wie wir inzwischen wissen, längst tot; im übrigen wurde es nie wieder so lebendig, lebhaft und einfallsreich gebraucht wie in diesen Jahrhunderten der Renaissance.
     
     

    9. Latein nördlich der Alpen: Protestantismus und Jesuitengymnasium

    Die Leidenschaft für das wie neu entdeckte Latein der römischen Klassiker kommt von der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts an über die Alpen auch nach Deutschland. Nun werden zunächst stückweise die Universitäten reformiert, dann auch die Schulen, unter dem schon öfter erwähnten Schlagwort "Humanismus", genauer: studia humanitatis. Statt aus mittelalterlichen Lehrbüchern lernt man sein Latein wieder vor allem aus den antiken Autoren selber und aus der lebendigen Konversation. Der größte Lateiner nördlich der Alpen ist einige Jahrzehnte später der schon erwähnte Erasmus von Rotterdam. Ja man kann sagen, dass in der Verehrung für ihn sich die Lateinbegeisterung eines ganzen Zeitalters symbolisiert. Sein lateinisches "Lob der Torheit" (Encomium Moriae), seine Sprichwörtersammlung Adagia und seine Gesprächssammlung Colloquia familiaria sind die Lieblingsbücher der der Zeit, weniger wegen ihres Inhalts (heute wird ja Erasmus in Übersetzungen nur noch wenig gelesen), als wegen des unvergleichlichen Zaubers ihrer sprachlichen Form. So galt er als führender Geist seiner Epoche, ein Mann, um dessen Gunst sich auch die Großen und Mächtigen bemühten.

    Erasmus war ein Mann der Prosa, vor allem der wissenschaftlichen Prosa. Aber ein mindestens ebenso großer Lateinenthusiasmus herrschte auf dem Gebiet der Poesie. Während etwa in Deutschland die Dichtung nicht über vergleichsweise bescheidene Literaturformen hinauskommt (Martin Luther und Hans Sachs sind noch die Größten), entsteht hier in lateinischer Sprache eine blühende, vielgestaltige Poesie, in der sich so gut wie sämtliche antiken Gattungen erneuern: Epos, Elegie, Drama, Lyrik usw.. Epochejahr ist - heute fast unbekannt - das Jahr 1487. Damals wurde in Nürnberg der "Erzhumanist" Conrad Celtis vom Kaiser mit dem Lorbeer zum Dichter gekrönt, der erste deutsche poeta laureatus; und damit war ausgedrückt, daß es nun auch in Deutschland eine Poesie gebe, die wie die der Italiener in der großen antiken Tradition stehe. Die Gedichte freilich, mit denen sich damals der junge Celtis, der später als Professor unserer Universität mein eigener Amtsvorgänger (und Vorbild) ist, diesen Ruhm und Lorbeer erwarb, waren noch ziemlich mäßig; aber der von ihm einmal erhobene Anspruch wurde wenigstens von Späteren dann voll eingelöst. Die lateinische Dichtung des sechzehnten und des siebzehnten Jahrhunderts überragt in ihren besten Werken fast alles, was Deutschland damals in der eigenen Sprache hervorgebracht hat.

    Literarisch führend waren im sechzehnten Jahrhundert zunächst die Protestanten, denen Luthers Freund, der große Stilist, Theologe, Lehrbuchautor und Organisator Melanchthon, ihre moderne Lateinschule, die Vorläuferin unseres humanistischen Gymnasiums, einrichtete. In dieser Schule, in der nur Latein gesprochen werden sollte – der Straßburger Schuldirektor Johannes Sturm organisierte sein Gymnasium sogar nach den Institutionen der römischen Republik, also mit Konsuln, Volkstribunen, Senat usw. – herrschte das schöne Bildungsziel der eloquens pietas, der "Frömmigkeit in beredtem Latein". Ihr diente vor allem auch das von Luther so hoch geschätzte Schultheater, das sich in Werken wie dem europaweit gespielten Acolastus des Gnapheus (einer Dramatisierung des verlorenen Sohns nach Lukas) zu wirklicher poetischer Größe erhebt.

    Dieses protestantische Schultheater übernehmen dann die Jesuiten, die von der zweiten Hälfte des Jahrhunderts an, auch ihrerseits der eloquens pietas huldigend, die Führung im Bildungswesen anstreben, wobei sie umso erfolgreicher sind, als ihnen der einheitliche Lehrplan ihrer Ratio studiorum internationale Schlagkraft gibt. Ihr Theaterspiel, mit dem sie zumindest in Deutschland ein Jahrhundert lang mehr für das Bühnenwesen getan haben dürften als jede andere Institution, diente nicht nur der propaganda fides, "Verbreitung des Glaubens", sondern auch der öffentlichen Selbstdarstellung ihres Ordens als führender Macht der Schulbildung, d.h. Lateinbildung. Ihre Aufführungen etwa in München sind bis heute Höhepunkte der lokalen Theatergeschichte. Z. Bsp. wurde hier 1597 zur Einweihung von St. Michael, dem neuen Herz der Gegenreformation, mit tausend Mitwirkenden und viel Musik das zehnstündige Lateinspektakel Triumphus Divi Michaelis aufgeführt, mit einer wohl größeren Breitenwirkung als sie selbst Max Reinhardt gut dreihundert Jahre später bei seinen Münchner Masseninszenierungen antiker Tragödien erreichen konnte. Künstlerisch ungleich bedeutender waren die Dramen des Jacob Bidermann, dessen Cenododoxus noch heute in Übersetzung gelegentlich auf die Bühne kommt. Alle aber überragt der Genius des Jesuiten Jacobus Balde (1604-1668), einem der größten, leider auch vergessensten lateinischen Dichter aller Zeiten, ein Mann, der in fast sämtlichen antiken Dichtungsgattungen (und einigen weiteren) ein Lebenswerk geschaffen hat, das an Originalität und Kreativität seinesgleichen sucht. Mit "Münchner Baldestudien" – denn er wirkte vor allem von München aus - versuchen wir zur Zeit die Erinnerung an ihn wenigstens wissenschaftlich zu beleben; vielleicht wird das Jahr des vierhundertsten Geburtstags 2004 auch die Gelegenheit schaffen, endlich eine Uraufführung – man denke nur! – seines dramatischen Meisterwerks, der 1654 edierten monumentalen Tragödie Jephtias, zustande zu bringen. Nicht nur dank der Weltsprache Latein, aber auch wegen ihr, galt Balde damals im internationalen Urteil als

    d e r deutsche Dichter seiner Zeit: Gryphius, Grimmelshausen und Paul Gerhardt, die heute so viel Bekannteren, blieben, weil sie deutsch schrieben, provinziell.
     

  17. Niedergang des Latein als Weltsprache im achtzehnten Jahrhundert
  18. Der Chronist des Lateinischen, bisher fast nur ein Jubelredner, kann sich am Ende des siebzehnten Jahrhunderts nicht enthalten, zum ersten Mal Ciceros Klageruf anzustimmen: o tempora! o mores! "Weh, welche Zeiten! Welche Sitten!" Mit diesem Jahrhundert geht in Deutschland die letzte große Zeit der lateinischen Dichtung zu Ende. Zu mächtig ist mittlerweile – bei anderen Völkern geschah dies z. T. schon etwas früher - die seit dem Anfang des Jahrhunderts aufstrebende nationalsprachige Dichtung, die es nun ihrerseits mit der Antike aufnehmen will. Leibniz dichtet: "Was sollen uns die Griechen..." - und die Römer, wie man gleich sieht, sind mitgemeint -

    Was sollen uns die Griechen,
    sie müssen sich verkriechen,
    wenn sich die deutsche Muse regt:
    Horaz in Fleming lebet,
    im Opiz Naso schwebet,
    im Gryph Senecens Traurigkeit.

    Das heißt: Horaz, Ovid und der Tragödiendichter Seneca sind nun durch deutsche Dichter vollwertig ersetzt. Um wieviel mehr dann ihre neulateinischen Nachfahren! Für das Jahrhundert von Leibniz, das Jahrhundert der Aufklärung, der deutschen Klassik und der beginnenden Romantik wird nun das lateinische Verseschmieden zu einer Angelegenheit vor allem der Schulmeister, einer Sache, mit der man unter Männern von Welt keinen großen Ruhm mehr erwerben kann. Das gilt noch nicht für das Latein im allgemeinen. Latein bleibt ja zunächst noch Sprache vor allem der Philosophie und Wissenschaft. Latein schreiben Descartes, Spinoza und spätere Philosophen; in Latein erläutert Newton die mathematischen Grundlagen der Physik, Linné das System der Botanik, Galvani die Elektrizität in den Froschschenkeln, und noch Carl Friedrich Gauß schreibt am Anfang des neunzehnten Jahrhunderts seine fundamentalen Werke über Zahlentheorie und Astronomie in lateinischer Sprache. Aber damit war gerade Gauß schon beinahe ein Nachzügler; denn im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts war Latein als Sprache der Wissenschaft fast in ganz Europa allmählich durch die modernen Sprachen ersetzt worden. Schon 1688 hatte ein gewisser Thomasius - dem Jupiter dieses verzeihen möge - zum Entsetzen seiner Kollegen als erster eine deutschsprachige Vorlesung in Halle gehalten; und die damit begonnene Bewegung kam nicht mehr zum Stillstand. Der aufkommende Nationalismus – nicht etwa eine Defizienz des Lateinischen gegenüber der modernen Welt – bewirkte, dass es dem Gelehrten wichtiger wurde, sich auch dem minder Gebildeten im eigenen Volk mizuteilen, als den geistigen Austausch in einer international lateinischen res publica litterarum zu suchen. So hatte am Ende des achtzehnten Jahrhunderts die Wissenschaft - von den Theologen und Philologen zunächst einmal abgesehen - das Latein schon fast aufgegeben: ein schwerer, bis heute fühlbarer Verlust! Denn im Englischen, das ja in den letzten Jahrzehnten d i e moderne Wissenschaftssprache geworden ist, sind die Engländer, zumal wenn es um Geisteswissenschaften geht, uns anderen überlegen. In Latein waren alle gleich (das konnte sowieso keiner).
     
     

  19. Lateingegner und Neuhumanisten
  20. Damit war an der Wende zum neunzehnten Jahrhundert das Latein an der Schule seiner stärksten Belastungsprobe seit der Völkerwanderungszeit ausgesetzt. Und es fehlten schon damals die Stimmen nicht, die ihm mit Nützlichkeitsargumenten, genau wie heute, den Garaus machen wollten: Warum noch eine Sprache lernen, die kaum mehr gebraucht wird? Insgesamt galt wieder: o tempora! o mores! Und dennoch erlebt Latein ausgerechnet in der höheren Schule des neunzehnten Jahrhunderts, dem sogenannten neuhumanistischen Gymnasium, im Zeitalter der leibhaftigen industriellen Revolution, eine große, ans Unglaubliche grenzende Nachblüte. Kein anderer Weg führt zum akademischen Studium als der durchs Gymnasium; kein Weg führt durchs Gymnasium ohne exzessives Latein: Latein, das nicht nur passiv verstanden, sondern auch aktiv geübt sein will, im schriftlichen Aufsatz, in der mündlichen Rede, ja lange Zeit sogar noch im lateinischen Verseschreiben. Diese Dominanz des Lateinischen ist um so überraschender, als der deutsche Altphilologe an sich von lateinischer Literatur gar nicht so viel zu halten behaupte. Sie gilt ihm ja im neunzehnten Jahrhundert als wenig originell, als ein weithin unschöpferischer Abklatsch der griechischen Literatur. Aber die Griechen lobt man mehr, und das Lateinische lernt man mehr, angeblich wegen seiner formalbildenden Kraft - die einschlägige Theorie, über die gleich noch zu reden sein wird, wurde erst am Ende des achtzehnten Jahrhunderts entwickelt -, in Wahrheit wohl mindestens ebenso sehr wegen des Glanzes und Zaubers, der die alte Weltsprache immer noch umschwebte, und vor allem wegen der weiterhin gefühlten verborum dulcedo et sonoritas. Das Schullatein des neunzehnten Jahrhunderts ist paradoxerweise schöner, von humanistischerem Schwung erfüllt, als es das Wissenschaftslatein des vorigen Jahrhunderts gewesen war.

    Erst am Ende des Jahrhunderts, als das moderne Realgymnasium seinen Anspruch anmeldete, wurde das Latein als eine noch geübte, zumindest geschriebene Sprache in der Schule zurückgedrängt. Deutscher Gewerbefleiß und deutscher Patriotismus waren gegen das Latein, gegen den altsprachlichen Unterricht überhaupt, verbündet, und ungerügt konnte S.M. Kaiser Wilhelm II. im Jahre 1890 ausrufen: Man solle Deutsche erziehen, nicht junge Griechen und Römer! Zum dritten Mal: o tempora! o mores! So haben erst etwa die letzten gut hundert Jahre den schrittweisen, immer wieder auch verzögerten und aufgehaltenen Abbau des Lateinunterrichts am Gymnasium gebracht; d.h. mit großer Phasenverschiebung hat das Gymnasium dem Rückgang des Lateinischen außerhalb der Schule – die katholische Kirche war hier noch am zögerlichsten - Rechnung getragen. Auch die Universität, wie man weiß. Jüngstes, beliebiges Beispiel: Die Würde eines Münchner Magister Artium in der Germanistik soll künftig auch erwerben können, wer statt des bisher geforderten Lateins eine beliebige dritte Fremdsprache gelernt hat. Als ließe Latein sich ersetzen! Als wäre es nur eine Hürde, um das Studium ein bisschen schwerer zu machen und das akademische Niveau zu heben!

    Das Bedenklichste aber ist nicht, dass von zu wenigen Latein gelernt wird – denn etwa im glücklichen Bayern dürfte es heute der Zahl nach sogar mehr Lateinschüler geben als je zuvor -, sondern dass es so schlecht gelernt wird, dass kaum ein Schüler nach vielen Jahren Unterrichts in der Lage ist, lateinische Texte so zu verstehen, wie er andere fremdsprachliche Texte auffasst, durch einfaches Hören oder Lesen. Das ist nicht nur die Folge einer zu geringen Stundenzahl, sondern vcor allem auch die einer einseitig forcierten formalen Bildung, wie sie der heutigen didaktischen Theorie entspricht und wie sie sich vor allem im sogenannten Konstruieren niederschlägt ("Suche das Prädikat ...", und dann wird der Satz von links nach rechts, von rechts nach links, auseinandergenommen, bis sich sein Sinn quasi als Lösung einer mathematischen Aufgabe ergibt!): Wo das Latein nicht um seiner selbst willen gelernt wird, sondern um a n ihm, weil es dafür optimal geeignet sei, allerlei Kategorien des Verstands und der Sprache zu erlernen – als Service dann auch für die Erlernung anderer, besonders romanischer Sprachen -, da schwindet notwendig die Sprachbeherrschung und damit auch die Freude am Latein, die es ohne Können nicht geben kann. Zur Rechtfertigung des Lateinunterrichts ersonnen, ist diese einst nützliche Doktrin von der besonderen geistesbildenden Kraft der toten Sprache längst selber tödlich geworden – auch weil sie kaum mehr jemanden wirklich überzeugt. Die beste Kennerin des Lateinunterrichts in der Neuzeit, Françoise Waquet, beschloss kürzlich ihre nachrufartige Chronik Le latin ou l’ empire d’ un signe: XVIe-XXe siècle (1998) mit der Forderung, dass das Latein nun aber endlich und endgültig von der Schule abtreten solle, weil es auch für die "gymnastique mentale" schlechterdings nichts mehr zu bieten habe. Und selbst das erwähnte Buch des Humanisten Manfred Fuhrmann, der einst einmal sein Latein als "Trimmpfad des Geistes" angepriesen hatte, endet nicht mehr sehr hoffnungsfroh.
     
     

  21. Lebendiges Latein
  22. Bevor ich mich aber mit einem letzten o tempora! o mores! von unserem Thema und Ihnen verabschiede, sei doch wenigstens auch auf eine Gegenbewegung hingewiesen, die mir zukunftsträchtig scheint und die man jedenfalls nicht unterschätzen sollte: die des "lebendigen Latein", "Latin vivant", Viva Latinitas usw.. Seitdem der praktische Gebrauch der Sprache auch im Lateinbetrieb von Schule und Universität reduziert oder beseitigt wurde – also vom Ende des neunzehnten Jahrhunderts an -, gibt es im erklärten Widerstand dagegen vor allem außerhalb der Bildungsinstitutionen weltweite Bemühungen darum, Latein wieder in seine alten Rechte als internationale Kommunikationssprache einzusetzen. Ein Pionier war der deutsche Jurist und Poet Karl Heinz Ulrichs, heute berühmter als Vorläufer der sogenannten "Schwulenbewegung", der im Jahr 1889 vom Abruzzenstädtchen L’Aquila aus eine lateinische Konversationszeitschrift mit dem beflügelnden Namen Alaudae ("Lerchen") in die Welt flattern ließ (und sogar den König von Württemberg als Abonnenten gewann). Ihm folgte Papst Leo XII. 1898 mit seiner Vox Urbis, diesem viele andere. Heute gibt der erwähnte Pater Eichenseer die Vox Latina, ein Brüsseler Radiologe die Melissa heraus; im Vatikan vertreibt Abt Egger (derzeit lateinischer Ghostwriter des Papsts) die gediegene Latinitas; noch mehr aber gelesen werden dürfte der nur im Internet zugängliche Retiarius eines meiner amerikanischen Universitätskollegen.

    Überhaupt ist es nun das Internet, in dem sich die jüngsten Anhänger der alten Weltsprache Latein tummeln können. Rasch findet man hier – denn Lateiner verlinken sich gern per copulas copularum - die wichtigsten heutigen Lateinclubs, etwa den soeben entstandenen quicklebendigen Circulus Latinus Panormitanus (Palermo), die schon älteren Vereine Societas Latina (Saarbrücken), Circulus Latinus Matritensis (Madrid), Societas LVDIS LATINIS faciundis (München) mit dem westfälischen Tochterverein LVPA (= Latinitatis Provehendae Associatio) und natürlich auch lateinische Chatclubs wie den Grex alter Latine loquentium (Latein im Internet ist mittlerweile auch schon Thema einer eigenen Doktordissertation im Fach Kommunikationswissenschaft geworden). Viele dieser Vereinigungen veranstalten lateinische Seminarien, Tagungen, Festspiele, wie die LVDI LATINI oder die eindrucksvollen internationalen Conventus der höchst seriösen römischen Academia Latinitati fovendae. Überflüssig zu sagen, dass solche Unternehmungen, zu denen besonders auch die lateinischen Rundfunknachrichten aus Finnland und (neuerdings) aus Bremen zählen, ihrerseits wieder vielerorts auf den akademischen Lehrbetrieb zurückwirken. So können Sie z.B. an der Universität München zur Zeit pro Woche eine Vorlesung in lateinischer Sprache und ein ebnsolches Colloquium Latinum besuchen. In dieser méthode directe, die ja die der alten Humanisten war und die der neuen Fremdsprachendidaktiker ist, wird auch für die Schule, hoffe ich, die Zukunft des lateinischen Sprachunterrichts liegen.

    Manches von dem, was sich unter den Junglateinern der Gegenwart tut, mag oft ein wenig skurril oder auch anspruchslos scheinen, wenn man es mit den Lateinproduktionen größerer Jahrhunderte vergleicht. Das darf aber nicht vergessen lassen, dass auch unsere Zeit bedeutende Lateinhumanisten hervorgebracht hat. Ich nenne nur drei Männer des vergangenen Jahrhunderts, die ich persönlich noch erlebt habe: den Herausgeber der Stuttgarter Zeitung Josef Eberle (Iosephus Apella P.L.), einen genialen, von der Universität Tübingen zu Recht gekrönten Lateindichter; den Amerikaner Harry C. Schnur (C. Arrius Nurus), der als bissiger Satiriker berühmt wurde und in der (neulateinische Dichtung und Philologie fördernden) Stiftung Pegasus limited fortlebt; schließlich den tschechischen Musiker, Dichter und Weltbürger Jan Novák (1921-1984), dem als schöpferischem Lateinkomponisten auch frühere Jahrhunderte nichts Ebenbürtiges an die Seite zu setzen haben. Sein Werk pflegen wir besonders an der Universität München. Wenige Minuten, nachdem jüngst der Angriff auf das World Trade Center die gesittete Welt erschütterte, wurde hier beim Weltkongress Germania latina (unseres Seminars für Geistesgeschichte des Humanismus) durch die "Singphoniker" eine Kantate uraufgeführt, namens Politicon, die der historischen Stunde – wovon wir im Moment der Aufführung noch nichts ahnten - in geradezu beklemmender Weise gerecht wurde. In diesem Politicon hatte Jan Novák Texte über den Staatsfeind zusammengestellt und komponiert, Texte von Cicero, Seneca und eben dem erwähnten Harry C. Schnur, dem amerikanischen Juden, der anlässlich des Baus der Berliner Mauer vor vierzig Jahren zur Verteidigung der Freiheit in leidenschaftlichen lateinischen Distichen aufrief. Um die Lebendigkeit der alten Weltsprache Latein fühlbar zu machen, schließe ich mit einem Zitat (leider nur des Texts) aus diesem herrlichen Musikwerk:

    Conspecto muro complectere mente, viator,
    quam sit libertas proxima servitio.
    fallitur impavida quisquis negat esse tuendam
    cura: ni vigilas, haud mora,servus eris,

    Hast du die Mauer erblickt, so bedenke denn, Wandrer, im Geiste,
    wie der Freiheit so nah immer die Knechtschaft auch wohnt.
    Wer um diese nicht wachsamen Sinns und furchtlos besorgt ist,
    täuscht sich: Gibst du nicht acht, bist du ein Sklave im Nu.
     


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