Vom Zauber des Lateinischen

Vortrag zum 350-jährigen Jubiläum des Gymnasiums Ulricianum in Aurich
am 19. September 1996

von Wilfried Stroh
 

Quod bonum felix fortunatumque sit.
Saluto vos omnes, cives Auricani et peregrini, qui convenistis ad celebrandum diem natalem
Gymnasii Ulriciani et oro deos immortales, ut hoc nostrum gymnasium futuris quoque saeculis
salvum praestent et protegant.
Ades, Minerva filia Iovis optimi maximi e cerebro nata: tu, quae in ipsa porta gymnasii posita
es,  prudentiam dona virilem et virtutem severam discipulis magistrisque!
Ades, Mercuri, lyrae repertor et facundiae princeps: tu fac ut sapientiae verba non asperitate
sua animos terreant, sed blande ac dulciter eis influant seseque insinuent!
Ades, Apollo, cum novem Musis musicae omniumque disciplinarum cultricibus: vos maxime
curate, ut animi puerorum ac puellarum ad elegantiam doctrinae conformentur veramque
humanitatem utque falsum comprobetur illud, quod pessime in proverbio dicitur: ‘Frisia non
cantat’.
Vellem liceret sic mihi pergere latine. Das heißt: Ich wünschte, ich könnte so auf lateinisch
fortfahren. Wenn diese unsere heutige Feier vor zweihundert Jahren stattgefunden hätte, dann
hätten Sie, sehr verehrte Festgäste, hier wohl kaum eine andere Sprache vernommen als Latein:
nil nisi Latine. Eine größere Jubiläumsfeier der Schule selber scheint es damals, 1796, wohl
nicht gegeben zu haben; als aber zwei Jahre später, am 1. August 1798, der betagte
Gymnasiallehrer
und Kantor Balduin Georg Fastenau sein fünfzigjähriges Dienstjubiläum feierte und dabei,
altersschwach wie er war, den eigenen Sohn Johann Georg Fastenau als Gehilfen oder wie es
damals hieß, “Adjunkten” amtlicherweise zugesprochen erhielt, da wurden - Sie erfahren es
jetzt aus der glanzvollen Festschrift des Gymnasium Ulricianum - zur Feier des Tages vor
sämtlichen Schülern und “eine(r) große(n) Anzahl zum Theil vornehmer Männer” gleich drei
lateinische Ansprachen zelebriert: Erst sprach der Rektor zum Lob des Jubelgreises, dann der
dienstvorgesetzte Generalsuperintendent, schließlich trat der Adjunkt selber mit, wie es heißt,
“einer ganz wohlgesetzten lateinischen Rede sein Amt an”. Alles auf Latein, nil nisi Latine.
Nur zweimal wurde die lateinische Eloquenz zugunsten der Muttersprache verlassen. Sowohl
der Generalsuperintendent als auch der Adjunkt wandten sich “in einer teutschen Anrede” an
die Schüler speziell der dritten Klasse, Tertia. Klar, warum. Die Schüler der Tertia waren die
jüngsten im dreiklassigen Gymnasium Ulricianum, und sie wären trotz intensivstem
Lateinunterricht noch  schwerlich in der Lage gewesen, sich wohlgesetzte lateinische
Ermahnungen zu Herzen zu nehmen. Die übrigen Teilnehmer der Versammlung aber, einer
Versammlung, die ja die Öffentlichkeit einbezog, verstanden Latein, und vor allem, sie
genossen Latein. Diese Sprache war zwar nie nötig gewesen, um sich in Aurich oder sonstwo
in Ostfriesland zu verständigen, aber sie wurde offenbar auch in einer solchen, doch
insgesamt eher bescheidenen Feierstunde, als unentbehrlich empfunden, um wichtigeren
Dingen ihre rechte Bedeutung und den gebührenden Glanz zu geben. Wer diese Sprache zu
sprechen und aufzunehmen im Stande war, konnte sich hineingenommenfühlen in die Aura
einer zweitausend Jahre umfassenden geistigen Tradition; er war - und damit komme ich zu
meinem heutigen Thema und endlich medias in res - gefesselt vom “Zauber des
Lateinischen”, einem Zauber, den gerade dieses Gymnasium bezeugt, wenn es heute seine
Anfänge als Lateinschule feiert und sich selber stolz mit lateinischem Namen “Gymnasium
Ulricianum” nennt. So bin ich als Lateiner glücklich und geehrt, hier einen Festvortrag halten
und vom Zauber des Lateinischen erzählen zu dürfen.

Freilich, von diesem Zauber zu sprechen ist heute eher etwas ungewohnt. Wenn es uns
Lateinlehrern an der Schule bzw. Lateinprofessoren an der Universität darum zu tun ist, unser
Fach ins rechte Licht zu setzen und etwa um Schüler zu werben, dann pflegen wir nicht viel
vom Zauber, sondern eher vom Nutzen des Lateinischen zu sprechen. Wir argumentieren
einmal damit, daß das Lateinische hohe formalbildende Kraft hat, daß es durch seine
sprachliche Struktur den Lernenden in eine besonders strenge Zucht nimmt, daß es ihn in das
Wesen von Sprache überhaupt einführen und vielleicht sogar das logische Denken vermitteln
könne; wir weisen andererseits darauf hin, daß Latein Muttersprache der ganzen europäischen
Kultur ist, Muttersprache nicht nur in dem Sinn, daß von ihm die modernen romanischen
Sprachen nebst vielen Einzelwörtern im Deutschen usw. abstammen, sondern vor allem so,
daß in lateinischer Sprache die Schriftsteller Roms Werke geschrieben haben, die zwei
Jahrtausende lang gelesen, bewundert, beherzigt und sogar nachgeahmt wurden: Latein, so
sagt man, führt zu den Quellen unserer Kultur.

Mit solchen Argumenten also pflegen wir Lateiner den Nutzen unseres geliebten Latein
herauszustreichen. Aber von diesem Nutzen möchte ich heute, wie gesagt, nicht eigentlich
sprechen. Einmal nehme ich an, daß Ihnen die einschlägigen Argumentationen zum Pro und
Contra des Lateinunterrichts im Kern bekannt sind; vor allem aber meine ich, zum zweiten,
daß die Bedeutung, die das Lateinische heute, zweihundert Jahre nach der Feierstunde für den
Kantor Georg Balduin Fastenau, noch immer hat, ja daß schon die Wichtigkeit, die ihm
damals, 1798, beigemessen wurde, mit dem bloßen Nutzen nicht völlig zu erklären ist: Es
mußte immer etwas anderes hinzukommen, was das Latein gewissermaßen über seinen
Nutzen hinaus zu bieten hatte, und dieses gewisse Etwas, nescio quid, nenne ich vorläufig
einmal den “Zauber des Lateinischen”.

Man kann natürlich zweifeln, ob alle, die sonstwo oder hier in Aurich Latein lernen - nach der
Statistik des Gymnasiums immerhin 392 Schüler, also weit mehr als ein Drittel - diesen
Zauber verspüren, aber für sein objektives Vorhandensein gibt es einen geradezu zwingenden
Beweis. Latein ist, soweit ich weiß, eine der wenigen, ja vielleicht sogar die einzige uns aus
der Menschheitsgeschichte bekannte Sprache, die als tote Sprache in einem mehr als ein
Jahrtausend langen Gebrauch geblieben ist, die sozusagen ihren eigenen Tod überlebt hat. Ich
weiß, das Wort von der toten Sprache hört der Lateiner nicht gern - wer möchte schon ein
Spezialist für Leichen sein? - , aber es ist doch zu einem guten Teil wahr: Das Latein als
lebendige, d.h. als sich lebendig entwickelnde Sprache hat spätestens mit dem Ende der
Antike zu existieren aufgehört. Latein bleibt zwar in Gebrauch, verharrt aber auf derselben
Sprachstufe, zumindest was Formenlehre und Syntax, also den sozusagen harten Kern der
Sprache, angeht. Ein lateinischer Dichter etwa am Hofe von Karl dem Großen bediente sich
prinzipiell derselben Sprache wie ein Dichter zur Zeit der Reformation; wenn ich selber mit
meinen Studenten Latein spreche - seit über zehn Jahren zumindest jeden Montag von 14 bis
15 Uhr - geschieht dies jedenfalls der Absicht nach in der Sprache, in der sich auch Cicero
mit seiner Ehefrau Terentia unterhalten hat: Die beiden würden zwar über manchen der
Ausdrücke, die uns herausrutschen, energisch den Kopf schütteln, aber wir hätten mit ihnen
auf Latein nicht dieselben fatalen Verständigungsschwierigkeiten wie auf deutsch mit
Hermann, dem Cherusker, und seiner blonden Thusnelda. Das Germanische hat sich eben
lebendig fortentwickelt; Latein als tote Sprache ist stehengeblieben und lebt nur noch,
insofern es verwendet wird. Es kann längst nicht mehr altern; es existiert gewissermaßen wie
ein Gespenst, das auf seinem Schloß die Generationen kommen und gehen sieht, ohne sich
selbst noch zu ändern. Darin also, in diesem Leben über den Tod hinaus, besteht das Wunder
des Lateinischen, das uns, meine ich, berechtigt, einen eigentümlichen Zauber des
Lateinischen zu
vermuten.

Ab ovo! Was war Latein ursprünglich? Nichts anderes als, wie der Name sagt, die Sprache von
Latium, einer kleinen italienischen Landschaft, in der die Stadt Rom lag. Mit dem Wachsen
von Roms Macht verbreitete sich auch das Latein. Es drängt zunächst in Italien sowohl die
anderen italischen Sprachen als auch das Etruskische und das Griechische zurück; als das
römische Reich, Imperium Romanum, über Italien hinauswächst, dringt das Latein auch in die
Provinzen, von Britannien bis Afrika, von Spanien bis ans Schwarze Meer (wo ja heute noch
das Rumänische als Tochtersprache von seiner Mutter Zeugnis gibt). Nur im griechischen
Osten kann es sich als die vorherrschende Sprache nicht durchsetzen; aber sogar dort ist es als
die zumindest offizielle Amtssprache des römischen Reichs anerkannt, wie z.B. das in
Konstantinopel entstandene große Gesetzeswerk des römischen Rechts, da “Corpus iuris
civilis”, beweist. Als dieses, neben der lateinischen Bibel, größte und wichtigste Werk
lateinischer Sprache, im 6. Jahrhundert n. Chr. geschrieben bzw. aus älteren Juristentexten
zusammengestellt wurde, da konnte Latein in der Tat als die Weltsprache gelten. Dabei beruht
dieser Siegeszug der lateinischen Sprache nicht etwa nur auf der physischen Macht Roms und
seiner Legionen; er verbindet sich vielmehr mit zwei bleibenden geistigen Leistungen der
Römer. Sie haben einmal mit den von Hause aus eher kargen Mitteln ihrer Sprache das
Wunderwerk des schon eben erwähnten römischen Rechts geschaffen, eine Leistung, in der
der größte Schüler des Gymnasium Ulricianum, der Jurist und Historiker Rudolf von Ihering,
den “höchste(n) Elevationspunkt der römischen Welt” und zugleich ein entscheidendes
“Culturelement der modernen Welt” sah (ich zitiere aus seinem bis heute für grundlegend
geltenden Werk über den “Geist des römischen Rechts”). Die zweite geistige Errungenschaft
besteht darin, daß sie, als einziges Volk der Antike, die Kraft besaßen, die Literatur der
kulturell überlegenen Griechen sich nicht nur anzueignen, sondern sogar in der eigenen
Sprache nachzubilden: Epos, Lyrik und Drama, Philosophie, Geschichtsschreibung und
Rhetorik - alle diese Erscheinungsformen griechischer Literatur gibt es sonst fast anderthalb
Jahrtausende lang, d.h. bis in die Renaissance des 15. Jahrhunderts, nur noch im Lateinischen;
und hier fand diese Sprache von Bauern, Soldaten und Juristen zu ihrer klassischen,
künstlerisch vollendeten Form, wie sie sich vor allem in den immer als besonders vorbildlich
empfundenen Werken von Cicero und Vergil darstellt.

Dennoch war natürlich die Verbreitung der lateinischen Sprache zunächst einmal verknüpft mit
der Macht des Imperium Romanum; und es war zu erwarten, daß sie mit diesem auch
untergehen würde. Wenn sich die großen römischen Dichter das Fortleben ihres Werks
ausmalten, dann pflegten sie es jedenfalls mit der Dauer des Imperiums zu verknüpfen. So
verspricht der Epiker Vergil den Gestalten seiner Dichtung die Unsterblichkeit, solange “der
Bürger Roms das Reich besitzen wird”:

               imperiumque pater Romanus habebit.

So sagt der Lyriker Horaz (am Schluß seiner Odensammlung), sein Dichterruhm werde
bleiben, “solange der Pontifex maximus mit der schweigsamen Vestalin zum Kapitol
emporsteigt”,

                                 dum Capitolium
    scandet cum tacita virgine pontifex
 

(d.h. so lange der römische Staatskultus und mit ihm der römische Staat fortbestehen werde);
und Ovid, am Schluß der Metamorphosen, geht zwar in seinem Unsterblichkeitsstolz noch ein
kleines Stück weiter, indem er von allen Zeiten spricht, in denen er leben werde, aber auch er
verknüpft dies mit dem römischen Reich: “So weit die Macht Roms, das die Länder
unterworfen hat, reicht, werde ich im Munde des Volkes gelesen werden ...”

    quaque patet domitis Romana potentia terris
    ore legar populi ...

Keiner dieser drei Dichter wagt, sich das auszudenken, was in der Tat doch stattgefunden hat:
daß sein Werk auch noch den Zusammenbruch des Reiches überdauern würde. Und alle wären
sie höchst erstaunt - sicherlich angenehm erstaunt -, wenn sie sähen, daß ihre Werke noch bis
heute etwa auf deutschen Schulbänken gelesen werden.

Nun könnte man allerdings sagen: Um dieses Fortdauern der Sprache und der Literatur zu
erklären, sei es nicht nötig, einen besonderen “Zauber”, eine faszinierende Kraft des
Lateinischen anzusetzen. Das Fortdauern habe ja nur ganz praktische Gründe gehabt: Latein
sei damals eben konkurrenzlos gewesen als Sprache vor allem der Wissenschaft, des Rechts
und besonders auch der christlichen Theologie. Wie hätte man etwa auf germanisch über die
Lehre von der heiligen Trinität oder das Recht des Nießbrauchs (den usus fructus) debattieren
sollen? Dieser Einwand ist richtig, und doch trifft er im letzten nicht ganz. Denn dasjenige
Latein, das am Ende der Antike, also, sagen wir, im sechsten Jahrhundert, als man das
erwähnte Corpus iuris civilis zusammenstellte, noch existierte, war schon damals keine
wirklich lebende Sprache mehr. Es war nur noch eine literarische Sprache, eine Schriftsprache,
von den Gebildeten beherrscht, die durch die Grammatikschule, also die unserem Gymnasium
entsprechende Bildungseinrichtung, gegangen waren. Nur in dieser Sprache gab es z.B. noch
den alten Genetiv, den wir heute in der Schule lernen: deus, dei; “Gott, Gottes”. Im normalen
gesprochenen Latein, dem sogenannten Vulgärlatein, gebrauchte man dafür längst einen
Präpositionalausdruck: de deo, was dann fortlebt in den romanischen Sprachen wie “de Dieu”,
“di Dio”. So existierten in der Spätantike nebeneinander gewissermaßen zwei Arten von
Latein: die vulgäre Sprache (Vulgärlatein) und die Hochsprache. Darin nun aber, daß es
überhaupt zu dieser Herausbildung und Erhaltung einer Hoch- bzw. Schriftsprache gekommen
ist, die die Antike dann überdauern konnte, darin scheint in der Tat ein Zauber des
Lateinischen wirksam gewesen zu sein. Denn die Hochsprache war die Sprache von Vergil
und vor allem von Cicero; es war das Latein, das wir noch heute klassisch nennen, die Sprache
der großen Literaturwerke, vor allem aus dem ersten Jahrhundert v. Chr. Der Zauber, der vom
Latein dieser Werke ausging, behexte die Gemüter schon der folgenden Jahrhunderte in einem
solchen Maße, daß man, trotz gelegentlicher unciceronischer Stiltendenzen, insgesamt diese
Sprache doch künstlich zu konservieren begann. Es ist als hätte damals der Weltgeist dem
Genius der lateinischen Sprache zugerufen: “Verweile doch, du bist so schön, bleib stehn!,
schöner kannst du nicht mehr werden”; schon um die Zeit von Christi Geburt, also zur Zeit des
Kaisers Augustus, beginnt die vorher erwähnte Erstarrung des Lateinischen, beginnt das
Lateinische zu sterben, in Schönheit und an seiner Schönheit. Und der Zauber des Lateinischen
ist seit dieser Zeit fast identisch mit dem Zauber des klassischen Latein. Er kommt wohl
nirgends schöner zum Ausdruck als in einer berühmten Geschichte, die uns der Schöpfer der
lateinischen Bibel, der Kirchenvater Hieronymus im 4. Jahrhundert n. Chr.. Aus seinem Leben
erzählt: Auf einer Pilgerreise nach Jerusalem konnte Hieronymus der Versuchung nicht
widerstehen, unter Fasten und Beten immer wieder auch die alten Klassiker zu lesen: Plautus
und vor allem Cicero. Dann aber gefiel ihm nicht mehr die Sprache der biblischen Propheten,
sie war ihm zu rauh und ungebildet. Nun, die Strafe für diesen lateinischen Bildungshochmut
folgte auf dem Fuß. Hieronymus erkrankte lebensgefährlich; und in einem Traum, einer
Fiebervision, wurde er vor das Tribunal Christi, seines himmlischen Richters, entrückt. Der
fragte ihn, welchen Standes er sei, und Hieronymus antwortet (wie im alten
württembergischen Konfirmandenbüchlein, wo es hieß auf die Frage: “Was bist du?” “Ich bin
ein Christ”): Christianus sum. Da aber läßt Christus ihn durchprügeln und ruft ihm zu: Du bist
ein Ciceronianer, kein Christ! Ciceronianus es, non Christianus! Erst als Hieronymus den
heidnischen Klassikern abschwört, enden auch die Prügel. Er erwacht, aber, o Wunder, seine
Schultern zeigen noch blaue Flecken. So also geht es, wenn man zu sehr dem Zauber des
Lateinischen verfallen ist.

Die Sprache des Hieronymus blieb trotzdem im wesentlichen die Sprache Ciceros, die ja, wie
gesagt, als Literatursprache ohne Konkurrenz war, und - vereinfacht gesprochen - blieb sie
auch die Sprache des lateinischen Mittelalters, als das sogenannte Mittellatein, das einen
Namen führt, wie Mittelhochdeutsch, Mittelenglisch usw. und doch seinem Wesen nach etwas
ganz anderes darstellt: gerade nicht eine dem Mittelhochdeutschen vergleichbare eigenständige
Stufe in einer sich entwickelnden Sprache, sondern im Kern das klassische Latein, das nur
eben je nach Bildungsgrad und Wirkungsabsicht vom einen strenger, vom anderen lässiger
gehandhabt wurde. Der Vokabelschatz freilich vergrößerte sich. Besonders weit ging hier die
scholastische Theologie - das war nur natürlich -, und selbstverständlich drangen auch aus den
Volkssprachen Fügungen ein, die vom klassizistischen Standpunkt aus als Barbarismen zu
werten waren, etwa: daß man nach dico nicht den AcI verwendete, sondern das bequemere
quod, also statt “dicit se sitire” (“Er sagt, er habe Durst”) sagte “dicit quod sitit”.
Scheußlich, aber doch immerhin gut verständlich.

Nur eigentlich an einer Stelle wurde das lateinische Mittelalter auch im Sprachlichen
schöpferisch: ich meine in der sogenannten rhythmischen Poesie, die nichts anderes war als
diejenige Poesie, die dem Latein, wie es damals ausgesprochen wurde, Rechnung trug.

    Dies irae, dies illa
    Solvet saeclum in favilla
    Teste David cum Sibylla...

Ich kann darauf aus Zeitgründen nicht näher eingehen.

Sie sehen, wir durcheilen in ganz großen Sprüngen die Weltgeschichte des Lateinischen. Und
damit kommen wir schon zur Renaissance, also zur frühen Neuzeit, und damit zu der Epoche,
in der der “Zauber des Lateinischen” wohl mehr gefühlt wurde als je seit Ende der Antike.
Wenn wir es überspitzen wollten, dann könnten wir sagen, daß die Neuzeit geradezu
entstanden sei aus dem Enthusiasmus für das klassische Latein. Als Vater dieses Enthusiasmus
gilt im 14. Jahrhundert Francesco Petrarca, also der Mann, der auch in seinem betonten
Individualismus sich so augenfällig von allem abhebt, was wir für mittelalterlich halten. Dieser
Petrarca erzählt, daß für ihn die Schönheit des Lateinischen der entscheidende Bildungsfaktor
seines Lebens war. In dem Alter, wo andere Knaben Kinderfabeln lesen, da habe er sich
hinreißen lassen von Cicero, aber nicht etwa von dessen Gedanken (die er ja auch noch gar
nicht verstehen konnte), sondern von seiner Sprache, vor allem von der dulcedo atque
sonoritas uerborum, “der Süßigkeit und dem Wohlklang der Wörter”. Die Bissen habe er sich
vom Munde abgespart, um neue Bücher von Cicero kaufen zu können - zunächst mit
traurigem Ergebnis: Petrarcas Vater, der aus seinem Sohn einen tüchtigen Juristen machen
wollte, verbrannte die Klassikertexte. Dennoch konnte er es nicht verhindern, daß mit seinem
Sohn Francesco eine neue Epoche der lateinischen Sprache begann: Petrarca, so formulierten
spätere Renaissancehumanisten, wagte es als erster, sein Haupt aus dem Schlamm der Barbarei
zu erheben, d.h. er versuchte es wieder, auch im Stil, ein an Cicero orientiertes Latein zu
schreiben; im bewußten Gegensatz zum heruntergekommenen, ästhetisch anspruchslosen
Gebrauchslatein seiner Zeit, zur Sprache von Kirche und Universität, vor allem zur Sprache
der scholastischen Theologie. Und dann geht eine Begeisterung für das Latein, das klassische
Latein, wie ein Rausch über Europa: “Das Lateinische”, so schwärmt der große Historiker
Lorenzo Valla (1440), “wird von allen Nationen verehrt, wie ein Gott, der vom Himmel
herabgesandt wurde” (quasi Deum quendam à Coelo demissum). Latein aber heißt vor allem:
ciceronisches Latein. Es entsteht der moderne Ciceronianismus, eine Nachahmung Ciceros, die
sogar recht sonderbare Blüten treibt. Ein fanatischer Ciceronianer, wie der Kardinal Bembo,
spricht von seinen Standesgenossen nicht mehr als von “Kardinälen” (cardinales), sondern von
senatores; er gebraucht nicht mehr das Wort “Nonnen” (moniales) sondern spricht von
Virgines vestales (vestalischen Jungfrauen) usw. Die Sprache wird bis an die Grenzen des
Unverständlichen von allen christlichen und mittelalterlichen Schlacken gereinigt. Erlaubt ist
nur noch, was auch bei Cicero belegt ist. Die förmliche Karikatur eines solchen Ciceronianers
hat ein Jahrhundert später, 1528, der berühmte Humanist Erasmus in einem Dialog vorgeführt.
Es tritt dort auf ein gewisser Herr Nosoponus (was etwa so viel heißt wie “Mühekrank”), ein
Mann, der ängstlich bemüht ist, nur Ciceronisches zu sprechen, und zwar in der Weise, daß er
nicht nur die Wörter vermeidet, die Cicero nicht hat, sondern sogar die Wortformen, die bei
diesem zufälligerweise nicht belegt sind. Aus Angst vor Fehlern wälzt er am Schluß nur noch
stumm seinen Cicero.

Die Leidenschaft für das wie neu entdeckte Latein der römischen Klassiker kommt in der 2.
Hälfte des 15. Jahrhunderts auch über die Alpen nach Deutschland. Nun werden zunächst die
Universitäten reformiert, dann auch die Schulen, unter dem Schlagwort “Humanismus”,
genauer: studia humanitatis. Statt  aus mittelalterlichen Lehrbüchern lernt man nun sein Latein
wieder vor allem aus den antiken Autoren selber. Verpönt sind die Barbarismen, die man im
Mittelalter, zumal im Umgangslatein, leichter geduldet hatte. Von jetzt an heißt das (bis heute)
Küchenlatein (Latinitas culinaria). Eines der lustigsten Zeugnisse für den Umbruch ist ein
Dialog, den ein Chemnitzer Schulmann namens Paul Schneevogel (Paulus Niavis) schon am
Ende des 15. Jahrhunderts geschrieben hat: ein Gespräch zwischen einem klassisch geschulten
Studenten, der ciceronisches Latein spricht, und seinem Kollegen, der ein perfekter
Küchenlateiner ist. Eine Stilprobe, gleich aus dem Beginn des Dialogs: “Der Sohn des Bäckers
hat mir gesagt, daß du gekommen bist, und da bin ich vom Marktplatz so schnell hergelaufen,
daß mir die Füße wehtun (... et ego ita curri de foro ut pes mihi faciunt awe) - worauf der
Gebildete im geschlecktesten Stil sagt: “Dank sei dir und zwar der größte für dieses dein mir
gegenüber erzeigtes Wohlwollen” (gratia pro hac tua in me beneuolentia sit atque adeo
maxima). Man muß zugeben, daß in diesem Fall der Zauber des Küchenlateins auf uns
beträchtlich stärker wirkt.

Der größte Lateiner nördlich der Alpen ist einige Jahrzehnte später der schon erwähnte
Erasmus von Rotterdam. Ja man kann sagen, daß in der Verehrung für ihn sich die
Lateinbegeisterung eines ganzen Zeitalters symbolisiert. Sein lateinisches “Lob der Torheit”
(Encomium Moriae), seine Sprichwörtersammlung “Adagia” und seine Gesprächssammlung
“Colloquia familiaria” sind die großen Bestseller der Zeit, weniger wegen ihres Inhalts (heute
wird ja Erasmus in Übersetzungen kaum mehr gelesen), als wegen des unvergleichlichen
Zaubers ihrer sprachlichen Form. So galt er als führender Geist seiner Epoche, ein Mann, um
dessen Gunst sich auch die Großen und Mächtigen bemühten.

Erasmus war ein Mann der Prosa, vor allem der wissenschaftlichen Prosa. Aber ein mindestens
ebenso großer Lateinenthusiasmus herrschte auf dem Gebiet der Poesie. Während die
deutschsprachige Dichtung nicht über vergleichsweise bescheidene Literaturformen
hinauskommt (Martin Luther und Hans Sachs sind noch die Größten), entsteht in lateinischer
Sprache unter den Deutschen eine blühende, vielgestaltige Poesie, in der sich so gut wie
sämtliche antiken Gattungen erneuern: Epos und Elegie, Drama, Lyrik, Bukolik usw..
Epochejahr ist - heute fast unbekannt - das Jahr 1487. Damals wurde in Nürnberg Conrad
Celtis, der sogenannte deutsche Erzhumanist, vom Kaiser mit dem Lorbeer zum Dichter
gekrönt, der erste deute poeta laureatus; und damit war ausgedrückt, daß es nun auch in
Deutschland eine Poesie geben solle und gebe, die in der großen antiken Tradition stehe. Die
Gedichte, mit denen sich damals der junge Conrad Celtis, der später als Professor unserer
Universität mein eigener Amtsvorgänger ist, diesen Ruhm und Lorbeer erwarb, waren freilich
vom späteren Standpunkt aus noch ziemlich miserabel; aber der von ihm einmal erhobene
Anspruch wurde von den späteren dann voll eingelöst. Die lateinische Dichtung des 16. Und
des 17. Jahrhunderts überragt in ihren besten Werken fast alles, was Deutschland damals in der
eigenen Sprache hervorgebracht hat. Und wenn sie dennoch nicht eigentlich in die
Weltliteratur eingegangen ist, d.h. wenn sie heute nicht zum allgemeinen Bildungsbesitz
gehört, so liegt das nur daran, daß sie eben ihres Lateins wegen später teils unverstanden blieb,
teils sogar den Zorn der deutsch-national gesinnten Literaturhistoriker auf sich herabrief.

Gelernt aber wurde Reden wie auch Dichten vor allem in der Lateinschule. Ihre großen
Förderer waren zunächst Philipp Melanchthon, der mit seinen Schulordnungen geradezu als
Schöpfer des neuzeitlichen Gymnasiums gelten kann, und sein Freund und Schützer Martin
Luther, der selber ein beachtlicher lateinischer Dichter war. Der Ausstrahlung dieser
Reformatoren ist es zuzuschreiben, wenn im 16. Jahrhundert nun auch hier in Ostfriesland
Lateinschulen entstehen bzw. erweitert und erneuert werden, wie 1550 in Emden, 1567 in
Norden. Dann, vom Ende des 16. Jahrhunderts an, übernehmen, im Zeichen der
Gegenreformation, die Jesuiten die Führungsposition, was Schulbildung und Lateinunterricht
angeht: Ihre Gymnasien sollen noch schöner und effektiver sein als alles, was die Protestanten
bisher leisten konnten; das sogenannte Jesuitentheater, ein prächtig mit Musik und Ballett
ausgestattetes lateinisches Schulspiel (für das Tausende von Stücken geschrieben werden) ist
mindestens ein Jahrhundert lang die wichtigste Theatereinrichtung in Deutschland, eine
unvergleichliche Propaganda für katholischen Glauben und lateinische Sprachkultur. Aber
warum ist das protestantisch-lutherische Aurich 1646 so spät daran mit der Gründung bzw.
dem Ausbau seiner Lateinschule zum Gymnasium Ulricianum? Ich weiß es nicht, aber ich
bewundere die Energie und Tatkraft des Theologen Brandanus Daetrius, der in der Not des zu
Ende gehenden Dreißigjährigen Krieges mit lateinischer Bittschrift (Libellus miserè supplex)
eine Bürgerinitiative startete und durch das Sammeln von vollen 1.200 Reichstalern dem, wie
es heißt, mehr wein- als lateinfreudigen Grafen Ulrich II. die neue, dreiklassige Schule
abtrotzte. Welch ein Vorbild für unsere Zeit, wo immer zuerst an der Kultur gespart wird!
Freilich nicht in Aurich, wie wir an so prächtigen Festwochen sehen. Hier gilt auch heute der
Freudenschrei des Ulrich von Hutten: o saeculum! o litterae! iuvat vivere! “Welche Zeiten!
Welche Bildung! Das Leben macht Freude!”

Der Chronist des Lateinischen, bisher fast nur ein Jubelredner, kann sich am Ende des 17.
Jahrhunderts nicht enthalten, zum ersten Mal Ciceros Weheruf anzustimmen: o tempora! o
mores! “Weh, welche Zeiten! Welche Sitten!” Mit dem 17. Jahrhundert geht die letzte große
Zeit für lateinische Dichtung zu Ende. Zu mächtig ist in Deutschland die seit dem Anfang des
Jahrhunderts aufstrebende nationalsprachige Dichtung, die es nun ihrerseits mit der Antike
aufnehmen will. Leibniz dichtet:

    Was sollen uns die Griechen...
und die Römer sind mitgemeint...
    Was sollen uns die Griechen,
    sie müssen sich verkriechen,
    wenn sich die deutsche Muse regt:
    Horaz in Fleming lebet,
    im Opiz Naso schwebet,
    im Gryph Senecens Traurigkeit.

Das heißt: Horaz, Ovid und der Tragödiendichter Seneca sind nun durch deutsche Dichter
vollwertig ersetzt. Um wieviel mehr dann ihre neulateinischen Nachfahren! Für das
Jahrhundert von Leibniz, das Jahrhundert der Aufklärung, der deutschen Klassik und der
beginnenden Romantik wird nun das lateinische Verseschmieden zu einer Angelegenheit vor
allem der Schulmeister, einer Sache, mit der man unter Männern von Welt keinen großen
Ruhm mehr erwerben kann. Das gilt noch nicht für das Latein im allgemeinen. Latein bleibt ja
zunächst noch Sprache vor allem der Philosophie und Wissenschaft. Latein schreiben
Descartes, Spinoza und spätere Philosophen; in Latein erläutert Newton die mathematischen
Grundlagen der Physik, Linné das System der Botanik, Galvani die Elektrizität in den
Froschschenkeln, und noch Carl Friedrich Gauß schreibt am Anfang des 19. Jahrhunderts seine
fundamentalen Werke über Zahlentheorie und Astronomie in lateinischer Sprache. Aber damit
war gerade Gauß schon beinahe ein Nachzügler; denn im Laufe des 18. Jahrhunderts war
mittlerweile Latein als Sprache der Wissenschaft fast in ganz Europa allmählich durch die
modernen Sprachen ersetzt worden. Schon 1688 hatte ein gewisser Thomasius - dem Jupiter
dieses verzeihen möge - zum Entsetzen seiner Kollegen als erster eine deutschsprachige
Vorlesung in Halle gehalten; und die damit begonnene Bewegung kam nicht mehr zum
Stillstand. Am Ende des 18. Jahrhunderts hatte die Wissenschaft - von den Theologen und
Philologen natürlich abgesehen - das Latein schon fast aufgegeben: Ein schwerer, bis heute
fühlbarer Verlust! Denn im Englischen, das   d i e   moderne Wissenschaftssprache geworden
ist, sind die Engländer uns anderen überlegen. In Latein waren alle gleich. Das konnte sowieso
keiner.

Damit war an der Wende zum 19. Jahrhundert das Latein an der Schule seiner stärksten
Belastungsprobe seit dem Ende der Antike ausgesetzt. Und es fehlten schon damals die
Stimmen nicht, die ihm mit Nützlichkeitsargumenten, genau wie heute, den Todesstoß geben
wollten: Warum noch eine Sprache lernen, die kaum mehr gebraucht wird? Man konstatiert -
ich zitiere die neue Festschrift -, daß “die Tragkraft der ‘Latinität’” damals “selbst im eher
konservativen Aurich ersichtlich nachließ”. Insgesamt galt wieder: o tempora! o mores! Und
dennoch erlebt Latein ausgerechnet im Gymnasium des 19. Jahrhunderts, dem sogenannten
neuhumanistischen Gymnasium, im Zeitalter der leibhaftigen industriellen Revolution, eine
große, ans Unglauliche grenzende Nachblüte. Kein anderer Weg führt zum akademischen
Studium als der durchs Gymnasium; kein Weg führt durchs Gymnasium ohne exzessives
Latein: Latein, das nicht nur passiv verstanden, sondern auch aktiv geübt sein will, im
schriftlichen Aufsatz, in der mündlichen Rede (denken wir an die Jubelfeier für den Kantor
Fastenau), ja lange Zeit sogar noch im lateinischen Verseschreiben. Diese Dominanz des
Lateinischen ist um so überraschender, als der deutsche Altphilologe an sich von lateinischer
Literatur gar nicht so viel zu halten behauptet: Sie galt ihm ja im 19. Jahrhundert als wenig
originell, als ein weithin unschöpferischer Abklatsch der griechischen Literatur. Aber die
Griechen lobt man mehr, und das Lateinische lernt man mehr, angeblich wegen seiner
formalbildenden Kraft - die einschlägige Theorie wurde erst im 18./19. Jahrhundert entwickelt
-, in Wahrheit wohl mindestens ebenso sehr wegen des fortdauernden Zaubers des
Lateinischen: dulcedo et sonoritas verborum. Das Schullatein des 19. Jahrhunderts ist
paradoxerweise schöner, von humanistischerem Schwung erfüllt, als es das
Wissenschaftslatein des vorigen Jahrhunderts gewesen war. (Man lese nur etwa die elegant
stilisierte, 1842 verteidigte lateinische Doktordissertation von Rudolf Jhering: “De hereditate
possidente”.) Erst am Ende des 19. Jahrhunderts, als das moderne Realgymnasium seinen
Anspruch anmeldete, wurde das Latein als eine noch geübte, zumindest geschriebene Sprache
in der Schule zurückgedrängt. Deutscher Gewerbefleiß und deutscher Patriotismus waren
gegen das Latein, gegen den altsprachlichen Unterricht überhaupt, verbündet, und ungerügt
konnte S.M. Kaiser Wilhelm II. im Jahre 1890 ausrufen: Man solle Deutsche erziehen, nicht
junge Griechen und Römer! Zum dritten Mal: o tempora! o mores! So haben erst etwa die
letzten 100 Jahre den schrittweisen Abbau des Lateinunterrichts am Gymnasium gebracht; d.h.
mit großer Phasenverschiebung hat das Gymnasium dem Rückgang des Lateinischen
außerhalb der Schule Rechnung getragen - wobei allerdings auch dieser Abbau keineswegs ein
gleichmäßiger war. Die Feindseligkeit gegen das Latein erlebte, was Deutschland betrifft,
Höhepunkte in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg und dann in den späten 60er Jahren (wo es
von manchen geradezu zur Bildungssprache des Klassenfeinds deklariert wurde); es erlebte
einen gewissen Aufschwung in der Nachkriegszeit, und auch in den letzten zwanzig Jahren ist
ihm jedenfalls in Deutschland wieder viel an öffentlichem Wohlwollen zugewachsen. Private
und halböffentliche Stiftungen (wie etwa “Humanismus heute” in Baden-Württemberg)
bemühen sich um Förderung der Lateinstudien; lateinische Wettbewerbe - auch hier gibt es
Privatinitiativen - schaffen neue Lernmotivationen; Schulen und sogar Universitäten machen
vielerorts wieder, wie in den Zeiten von Renaissance und Barock, mit lateinischen Musik- und
Theateraufführungen, ja förmlichen Festspielen, auf die Schönheit der lateinischen Sprache
und Literatur aufmerksam. Ja es gibt sogar leibhaftige Kultusminister, die Fans des
Lateinischen sind und, wie mein bayerischer Dienstherr, am liebsten jeden zehnjährigen
Gymnasiasten mit Latein beginnen ließen; Englisch müßte dann freilich schon in die
Grundschule: Why not? Quippini?

Wer aber das Lateinische liebt und weiß, was es in den vergangenen Jahrhunderten gewesen
ist, der muß Schmerz empfinden bei der Vorstellung, daß Latein nur noch gedeihen könne im
Schutzraum der staatlichen Fürsorge, als ein von Bildungsexperten gelobtes, letztlich aber
doch ungeliebtes Stück “verpflichtendes Erbe”. Wenn Latein gelehrt wird, soll es auch Freude
machen. Ein schlechter, lustloser Englischunterricht hat immer noch seinen gehörigen Nutzen.
Ein schlechter, lustloser Lateinunterricht ist zwar auch noch nicht völlig nutzlos, aber doch
eine wesentlich traurigere Angelegenheit. Und so muß Freude am Latein zu schaffen, eine
Hauptaufgabe der Didaktik sein, keineswegs nur zum Zwecke der Motivation. Denn, wenn ich
recht sehe, gehört der Zauber des Lateinischen zum Lateinischen selber; und wo die
Empfänglichkeit für ihn nicht da ist, ist auch ein Stück von der Sache verloren.

Lassen Sie mich denn zum Schluß noch ein paar Bemerkungen dazu machen, wie ich mir
denke, daß Latein heute noch lebendiger unterrichtet werden könnte. Ich formuliere meine
Ansichten, für die ich als Nichtschulmann natürlich nur wenig Kompetenz habe, kurz,
apodiktisch und subjektiv.

1. Latein sollte im Unterricht mehr gesprochen, d.h. zunächst ausgesprochen werden. Die
Überbewertung des Lateinischen als Geistesgymnastik im Zeichen der formalen Bildung (seit
fast 200 Jahren) hat dazu geführt, daß Bücher, Tafelanschriebe, neuerdings
Overheadprojektionen und sogar Computerinschriften mehr Gewicht haben als das
gesprochene, das sinnliche Wort: vox Latina.

2. Dazu gehört das Bemühen um eine schöne, richtige lateinische Aussprache. Diese kann fast
in derselben Zeit erlernt werden wie die heute übliche, mehr oder minder falsche Aussprache.
Nur durch richtiges Sprechen, richtig vor allem auch im Hinblick auf die Silbendauer, kann ein
Gefühl für die sinnliche Qualität des Lateinischen geweckt werden, für die von Petrarca
gerühmte dulcedo et sonoritas verborum. Nur so kann man dazu kommen, Verse richtig zu
lesen und damit einen Zugang zur Eigenart der lateinischen Dichtung zu finden. Auch zur
internationalen lateinischen Verständigung ist übrigens die gemeinsame klassische Aussprache
nötig.

3. Wie ausgesprochen, so sollte Latein auch gesungen werden. Denn es ist schon von seiner
Klangstruktur her im selben Maß für den Gesang disponiert wie das Italienische. Und von der
frühen Renaissance an haben sich hervorragende Komponisten um Vertonungen bemüht, die
gerade auch für Schüler geeignet sind. Der Bogen spannt sich hier vom Erzhumanisten Conrad
Celtis bis zu dem vor zwölf Jahren verstorbenen großen tschechischen Humanisten Jan Novák.

4. Wenn Latein lebendig sein soll, dann sollte es nicht nur ausgesprochen, sondern auch
wirklich gesprochen werden. Zu Unrecht gilt heute Lateinsprechen, lateinische Konversation
vielfach als eine völlig unerschwingliche Kunst. Ich weiß aus eigener Erfahrung als junger
Gymnasialpraktikant, daß man hier mit geringer Mühe schon große didaktische Erfolge haben
kann: Jeder Schüler lernt eine Sprache doppelt so gern, die er auch gebrauchen, in der er sich
ausdrücken kann. Es bedarf dazu nicht einmal der mancherlei Lehrbücher, Tonkassetten und
neulateinischen Lexika, die heute zur Verfügung stehen. Aber sie können ebensogut Anregung
geben wie die lateinsprachigen Zeitschriften, die es heute in Deutschland wie in Belgien, Italien
und den Vereinigten Staaten gibt. Der bekannte Pater Eichenseer in Saarbrücken veranstaltet
seit Jahrzenten Sommerkurse für lateinische Konversation, die keineswegs nur für Lehrer
bestimmt sind. Aufwendigere Unternehmungen dieser Art macht der norddeutsche
Lateinverein L.V.P.A. und der von mir vor 12 Jahren gegründete Münchner Verein Sodalitas
LVDIS LATINIS faciundis e.V..

5. Rudolf von Jhering, den ich ein letztes Mal zitiere, hat gesagt, es sei die historische Mission
Roms gewesen, die Welt dreimal zu einigen, Universalität an die Stelle von Nationalität zu
setzen: erst durch die Macht, dann durch die Kirche, schließlich durch das Recht. Er hat, wie
wir gesehen haben, ein viertes vergessen: die lateinische Sprache, die die Völker nicht nur über
die Landesgrenzen, sondern auch über die Jahrhunderte, Jahrtausende hinweg verbindet. Sie
ist die wahre Muttersprache Europas. Wenn sie das aber ist, dann sollte sie auch als Sprache
Europas gelehrt werden; d.h. der Lateinunterricht dürfte nicht bei den römischen Klassikern,
so wichtig sie sind, stehen bleiben, sondern müßte möglichst auch das Mittellatein und
besonders das Neulatein der verschiedenen Nationen einbeziehen. Auch dafür haben wir heute
gute, wenn auch noch nicht ausreichende Hilfsmittel.

6. Ein letztes und leider Wichtiges: Auch wenn es den Zauber der Lateinischen gibt, heißt das
noch nicht, daß alle Lateinlehrer zaubern könnten. Um Latein zu lehren und zu lernen, braucht
man bei aller Begeisterung vor allem auch Zeit: viele Jahre, viele Stunden. Vielleicht ist es im
Entscheidungsfalle sogar besser, daß manche gut, als daß alle oder zu viele schlecht Latein
lernen. In diesem Sinn wünsche ich dem Gymnasium Ulricianum, daß es auch in den
kommenden 350 Jahren Lateinschule bleiben und unter Führung der Musen wachsen und
gedeihen möge. Quod bonum felix fortunatumque sit.