Quod bonum felix fortunatumque sit.
Saluto vos omnes, cives Auricani et peregrini, qui convenistis ad
celebrandum
diem natalem
Gymnasii Ulriciani et oro deos immortales, ut hoc nostrum gymnasium
futuris quoque saeculis
salvum praestent et protegant.
Ades, Minerva filia Iovis optimi maximi e cerebro nata: tu, quae in
ipsa porta gymnasii posita
es, prudentiam dona virilem et virtutem severam discipulis
magistrisque!
Ades, Mercuri, lyrae repertor et facundiae princeps: tu fac ut
sapientiae
verba non asperitate
sua animos terreant, sed blande ac dulciter eis influant seseque
insinuent!
Ades, Apollo, cum novem Musis musicae omniumque disciplinarum
cultricibus:
vos maxime
curate, ut animi puerorum ac puellarum ad elegantiam doctrinae
conformentur
veramque
humanitatem utque falsum comprobetur illud, quod pessime in proverbio
dicitur: ‘Frisia non
cantat’.
Vellem liceret sic mihi pergere latine. Das heißt: Ich
wünschte,
ich könnte so auf lateinisch
fortfahren. Wenn diese unsere heutige Feier vor zweihundert Jahren
stattgefunden hätte, dann
hätten Sie, sehr verehrte Festgäste, hier wohl kaum eine
andere Sprache vernommen als Latein:
nil nisi Latine. Eine größere Jubiläumsfeier der Schule
selber scheint es damals, 1796, wohl
nicht gegeben zu haben; als aber zwei Jahre später, am 1. August
1798, der betagte
Gymnasiallehrer
und Kantor Balduin Georg Fastenau sein fünfzigjähriges
Dienstjubiläum
feierte und dabei,
altersschwach wie er war, den eigenen Sohn Johann Georg Fastenau als
Gehilfen oder wie es
damals hieß, “Adjunkten” amtlicherweise zugesprochen erhielt,
da wurden - Sie erfahren es
jetzt aus der glanzvollen Festschrift des Gymnasium Ulricianum - zur
Feier des Tages vor
sämtlichen Schülern und “eine(r) große(n) Anzahl zum
Theil vornehmer Männer” gleich drei
lateinische Ansprachen zelebriert: Erst sprach der Rektor zum Lob des
Jubelgreises, dann der
dienstvorgesetzte Generalsuperintendent, schließlich trat der
Adjunkt selber mit, wie es heißt,
“einer ganz wohlgesetzten lateinischen Rede sein Amt an”. Alles auf
Latein, nil nisi Latine.
Nur zweimal wurde die lateinische Eloquenz zugunsten der Muttersprache
verlassen. Sowohl
der Generalsuperintendent als auch der Adjunkt wandten sich “in einer
teutschen Anrede” an
die Schüler speziell der dritten Klasse, Tertia. Klar, warum.
Die Schüler der Tertia waren die
jüngsten im dreiklassigen Gymnasium Ulricianum, und sie wären
trotz intensivstem
Lateinunterricht noch schwerlich in der Lage gewesen, sich
wohlgesetzte
lateinische
Ermahnungen zu Herzen zu nehmen. Die übrigen Teilnehmer der
Versammlung
aber, einer
Versammlung, die ja die Öffentlichkeit einbezog, verstanden
Latein,
und vor allem, sie
genossen Latein. Diese Sprache war zwar nie nötig gewesen, um
sich in Aurich oder sonstwo
in Ostfriesland zu verständigen, aber sie wurde offenbar auch
in einer solchen, doch
insgesamt eher bescheidenen Feierstunde, als unentbehrlich empfunden,
um wichtigeren
Dingen ihre rechte Bedeutung und den gebührenden Glanz zu geben.
Wer diese Sprache zu
sprechen und aufzunehmen im Stande war, konnte sich
hineingenommenfühlen
in die Aura
einer zweitausend Jahre umfassenden geistigen Tradition; er war - und
damit komme ich zu
meinem heutigen Thema und endlich medias in res - gefesselt vom “Zauber
des
Lateinischen”, einem Zauber, den gerade dieses Gymnasium bezeugt, wenn
es heute seine
Anfänge als Lateinschule feiert und sich selber stolz mit
lateinischem
Namen “Gymnasium
Ulricianum” nennt. So bin ich als Lateiner glücklich und geehrt,
hier einen Festvortrag halten
und vom Zauber des Lateinischen erzählen zu dürfen.
Freilich, von diesem Zauber zu sprechen ist heute eher etwas
ungewohnt.
Wenn es uns
Lateinlehrern an der Schule bzw. Lateinprofessoren an der
Universität
darum zu tun ist, unser
Fach ins rechte Licht zu setzen und etwa um Schüler zu werben,
dann pflegen wir nicht viel
vom Zauber, sondern eher vom Nutzen des Lateinischen zu sprechen. Wir
argumentieren
einmal damit, daß das Lateinische hohe formalbildende Kraft hat,
daß es durch seine
sprachliche Struktur den Lernenden in eine besonders strenge Zucht
nimmt, daß es ihn in das
Wesen von Sprache überhaupt einführen und vielleicht sogar
das logische Denken vermitteln
könne; wir weisen andererseits darauf hin, daß Latein
Muttersprache
der ganzen europäischen
Kultur ist, Muttersprache nicht nur in dem Sinn, daß von ihm
die modernen romanischen
Sprachen nebst vielen Einzelwörtern im Deutschen usw. abstammen,
sondern vor allem so,
daß in lateinischer Sprache die Schriftsteller Roms Werke
geschrieben
haben, die zwei
Jahrtausende lang gelesen, bewundert, beherzigt und sogar nachgeahmt
wurden: Latein, so
sagt man, führt zu den Quellen unserer Kultur.
Mit solchen Argumenten also pflegen wir Lateiner den Nutzen unseres
geliebten Latein
herauszustreichen. Aber von diesem Nutzen möchte ich heute, wie
gesagt, nicht eigentlich
sprechen. Einmal nehme ich an, daß Ihnen die einschlägigen
Argumentationen zum Pro und
Contra des Lateinunterrichts im Kern bekannt sind; vor allem aber meine
ich, zum zweiten,
daß die Bedeutung, die das Lateinische heute, zweihundert Jahre
nach der Feierstunde für den
Kantor Georg Balduin Fastenau, noch immer hat, ja daß schon die
Wichtigkeit, die ihm
damals, 1798, beigemessen wurde, mit dem bloßen Nutzen nicht
völlig zu erklären ist: Es
mußte immer etwas anderes hinzukommen, was das Latein
gewissermaßen
über seinen
Nutzen hinaus zu bieten hatte, und dieses gewisse Etwas, nescio quid,
nenne ich vorläufig
einmal den “Zauber des Lateinischen”.
Man kann natürlich zweifeln, ob alle, die sonstwo oder hier in
Aurich Latein lernen - nach der
Statistik des Gymnasiums immerhin 392 Schüler, also weit mehr
als ein Drittel - diesen
Zauber verspüren, aber für sein objektives Vorhandensein
gibt es einen geradezu zwingenden
Beweis. Latein ist, soweit ich weiß, eine der wenigen, ja
vielleicht
sogar die einzige uns aus
der Menschheitsgeschichte bekannte Sprache, die als tote Sprache in
einem mehr als ein
Jahrtausend langen Gebrauch geblieben ist, die sozusagen ihren eigenen
Tod überlebt hat. Ich
weiß, das Wort von der toten Sprache hört der Lateiner nicht
gern - wer möchte schon ein
Spezialist für Leichen sein? - , aber es ist doch zu einem guten
Teil wahr: Das Latein als
lebendige, d.h. als sich lebendig entwickelnde Sprache hat
spätestens
mit dem Ende der
Antike zu existieren aufgehört. Latein bleibt zwar in Gebrauch,
verharrt aber auf derselben
Sprachstufe, zumindest was Formenlehre und Syntax, also den sozusagen
harten Kern der
Sprache, angeht. Ein lateinischer Dichter etwa am Hofe von Karl dem
Großen bediente sich
prinzipiell derselben Sprache wie ein Dichter zur Zeit der Reformation;
wenn ich selber mit
meinen Studenten Latein spreche - seit über zehn Jahren zumindest
jeden Montag von 14 bis
15 Uhr - geschieht dies jedenfalls der Absicht nach in der Sprache,
in der sich auch Cicero
mit seiner Ehefrau Terentia unterhalten hat: Die beiden würden
zwar über manchen der
Ausdrücke, die uns herausrutschen, energisch den Kopf
schütteln,
aber wir hätten mit ihnen
auf Latein nicht dieselben fatalen Verständigungsschwierigkeiten
wie auf deutsch mit
Hermann, dem Cherusker, und seiner blonden Thusnelda. Das Germanische
hat sich eben
lebendig fortentwickelt; Latein als tote Sprache ist stehengeblieben
und lebt nur noch,
insofern es verwendet wird. Es kann längst nicht mehr altern;
es existiert gewissermaßen wie
ein Gespenst, das auf seinem Schloß die Generationen kommen und
gehen sieht, ohne sich
selbst noch zu ändern. Darin also, in diesem Leben über den
Tod hinaus, besteht das Wunder
des Lateinischen, das uns, meine ich, berechtigt, einen
eigentümlichen
Zauber des
Lateinischen zu
vermuten.
Ab ovo! Was war Latein ursprünglich? Nichts anderes als, wie
der
Name sagt, die Sprache von
Latium, einer kleinen italienischen Landschaft, in der die Stadt Rom
lag. Mit dem Wachsen
von Roms Macht verbreitete sich auch das Latein. Es drängt
zunächst
in Italien sowohl die
anderen italischen Sprachen als auch das Etruskische und das
Griechische
zurück; als das
römische Reich, Imperium Romanum, über Italien
hinauswächst,
dringt das Latein auch in die
Provinzen, von Britannien bis Afrika, von Spanien bis ans Schwarze
Meer (wo ja heute noch
das Rumänische als Tochtersprache von seiner Mutter Zeugnis gibt).
Nur im griechischen
Osten kann es sich als die vorherrschende Sprache nicht durchsetzen;
aber sogar dort ist es als
die zumindest offizielle Amtssprache des römischen Reichs
anerkannt,
wie z.B. das in
Konstantinopel entstandene große Gesetzeswerk des römischen
Rechts, da “Corpus iuris
civilis”, beweist. Als dieses, neben der lateinischen Bibel,
größte
und wichtigste Werk
lateinischer Sprache, im 6. Jahrhundert n. Chr. geschrieben bzw. aus
älteren Juristentexten
zusammengestellt wurde, da konnte Latein in der Tat als die Weltsprache
gelten. Dabei beruht
dieser Siegeszug der lateinischen Sprache nicht etwa nur auf der
physischen
Macht Roms und
seiner Legionen; er verbindet sich vielmehr mit zwei bleibenden
geistigen
Leistungen der
Römer. Sie haben einmal mit den von Hause aus eher kargen Mitteln
ihrer Sprache das
Wunderwerk des schon eben erwähnten römischen Rechts
geschaffen,
eine Leistung, in der
der größte Schüler des Gymnasium Ulricianum, der Jurist
und Historiker Rudolf von Ihering,
den “höchste(n) Elevationspunkt der römischen Welt” und
zugleich
ein entscheidendes
“Culturelement der modernen Welt” sah (ich zitiere aus seinem bis heute
für grundlegend
geltenden Werk über den “Geist des römischen Rechts”). Die
zweite geistige Errungenschaft
besteht darin, daß sie, als einziges Volk der Antike, die Kraft
besaßen, die Literatur der
kulturell überlegenen Griechen sich nicht nur anzueignen, sondern
sogar in der eigenen
Sprache nachzubilden: Epos, Lyrik und Drama, Philosophie,
Geschichtsschreibung
und
Rhetorik - alle diese Erscheinungsformen griechischer Literatur gibt
es sonst fast anderthalb
Jahrtausende lang, d.h. bis in die Renaissance des 15. Jahrhunderts,
nur noch im Lateinischen;
und hier fand diese Sprache von Bauern, Soldaten und Juristen zu ihrer
klassischen,
künstlerisch vollendeten Form, wie sie sich vor allem in den immer
als besonders vorbildlich
empfundenen Werken von Cicero und Vergil darstellt.
Dennoch war natürlich die Verbreitung der lateinischen Sprache
zunächst einmal verknüpft mit
der Macht des Imperium Romanum; und es war zu erwarten, daß sie
mit diesem auch
untergehen würde. Wenn sich die großen römischen
Dichter
das Fortleben ihres Werks
ausmalten, dann pflegten sie es jedenfalls mit der Dauer des Imperiums
zu verknüpfen. So
verspricht der Epiker Vergil den Gestalten seiner Dichtung die
Unsterblichkeit,
solange “der
Bürger Roms das Reich besitzen wird”:
imperiumque pater Romanus habebit.
So sagt der Lyriker Horaz (am Schluß seiner Odensammlung),
sein
Dichterruhm werde
bleiben, “solange der Pontifex maximus mit der schweigsamen Vestalin
zum Kapitol
emporsteigt”,
dum Capitolium
scandet cum tacita virgine pontifex
(d.h. so lange der römische Staatskultus und mit ihm der
römische
Staat fortbestehen werde);
und Ovid, am Schluß der Metamorphosen, geht zwar in seinem
Unsterblichkeitsstolz
noch ein
kleines Stück weiter, indem er von allen Zeiten spricht, in denen
er leben werde, aber auch er
verknüpft dies mit dem römischen Reich: “So weit die Macht
Roms, das die Länder
unterworfen hat, reicht, werde ich im Munde des Volkes gelesen werden
...”
quaque patet domitis Romana potentia terris
ore legar populi ...
Keiner dieser drei Dichter wagt, sich das auszudenken, was in der
Tat
doch stattgefunden hat:
daß sein Werk auch noch den Zusammenbruch des Reiches
überdauern
würde. Und alle wären
sie höchst erstaunt - sicherlich angenehm erstaunt -, wenn sie
sähen, daß ihre Werke noch bis
heute etwa auf deutschen Schulbänken gelesen werden.
Nun könnte man allerdings sagen: Um dieses Fortdauern der
Sprache
und der Literatur zu
erklären, sei es nicht nötig, einen besonderen “Zauber”,
eine faszinierende Kraft des
Lateinischen anzusetzen. Das Fortdauern habe ja nur ganz praktische
Gründe gehabt: Latein
sei damals eben konkurrenzlos gewesen als Sprache vor allem der
Wissenschaft,
des Rechts
und besonders auch der christlichen Theologie. Wie hätte man etwa
auf germanisch über die
Lehre von der heiligen Trinität oder das Recht des
Nießbrauchs
(den usus fructus) debattieren
sollen? Dieser Einwand ist richtig, und doch trifft er im letzten nicht
ganz. Denn dasjenige
Latein, das am Ende der Antike, also, sagen wir, im sechsten
Jahrhundert,
als man das
erwähnte Corpus iuris civilis zusammenstellte, noch existierte,
war schon damals keine
wirklich lebende Sprache mehr. Es war nur noch eine literarische
Sprache,
eine Schriftsprache,
von den Gebildeten beherrscht, die durch die Grammatikschule, also
die unserem Gymnasium
entsprechende Bildungseinrichtung, gegangen waren. Nur in dieser
Sprache
gab es z.B. noch
den alten Genetiv, den wir heute in der Schule lernen: deus, dei;
“Gott,
Gottes”. Im normalen
gesprochenen Latein, dem sogenannten Vulgärlatein, gebrauchte
man dafür längst einen
Präpositionalausdruck: de deo, was dann fortlebt in den
romanischen
Sprachen wie “de Dieu”,
“di Dio”. So existierten in der Spätantike nebeneinander
gewissermaßen
zwei Arten von
Latein: die vulgäre Sprache (Vulgärlatein) und die
Hochsprache.
Darin nun aber, daß es
überhaupt zu dieser Herausbildung und Erhaltung einer Hoch- bzw.
Schriftsprache gekommen
ist, die die Antike dann überdauern konnte, darin scheint in der
Tat ein Zauber des
Lateinischen wirksam gewesen zu sein. Denn die Hochsprache war die
Sprache von Vergil
und vor allem von Cicero; es war das Latein, das wir noch heute
klassisch
nennen, die Sprache
der großen Literaturwerke, vor allem aus dem ersten Jahrhundert
v. Chr. Der Zauber, der vom
Latein dieser Werke ausging, behexte die Gemüter schon der
folgenden
Jahrhunderte in einem
solchen Maße, daß man, trotz gelegentlicher unciceronischer
Stiltendenzen, insgesamt diese
Sprache doch künstlich zu konservieren begann. Es ist als
hätte
damals der Weltgeist dem
Genius der lateinischen Sprache zugerufen: “Verweile doch, du bist
so schön, bleib stehn!,
schöner kannst du nicht mehr werden”; schon um die Zeit von
Christi
Geburt, also zur Zeit des
Kaisers Augustus, beginnt die vorher erwähnte Erstarrung des
Lateinischen,
beginnt das
Lateinische zu sterben, in Schönheit und an seiner Schönheit.
Und der Zauber des Lateinischen
ist seit dieser Zeit fast identisch mit dem Zauber des klassischen
Latein. Er kommt wohl
nirgends schöner zum Ausdruck als in einer berühmten
Geschichte,
die uns der Schöpfer der
lateinischen Bibel, der Kirchenvater Hieronymus im 4. Jahrhundert n.
Chr.. Aus seinem Leben
erzählt: Auf einer Pilgerreise nach Jerusalem konnte Hieronymus
der Versuchung nicht
widerstehen, unter Fasten und Beten immer wieder auch die alten
Klassiker
zu lesen: Plautus
und vor allem Cicero. Dann aber gefiel ihm nicht mehr die Sprache der
biblischen Propheten,
sie war ihm zu rauh und ungebildet. Nun, die Strafe für diesen
lateinischen Bildungshochmut
folgte auf dem Fuß. Hieronymus erkrankte lebensgefährlich;
und in einem Traum, einer
Fiebervision, wurde er vor das Tribunal Christi, seines himmlischen
Richters, entrückt. Der
fragte ihn, welchen Standes er sei, und Hieronymus antwortet (wie im
alten
württembergischen Konfirmandenbüchlein, wo es hieß
auf die Frage: “Was bist du?” “Ich bin
ein Christ”): Christianus sum. Da aber läßt Christus ihn
durchprügeln und ruft ihm zu: Du bist
ein Ciceronianer, kein Christ! Ciceronianus es, non Christianus! Erst
als Hieronymus den
heidnischen Klassikern abschwört, enden auch die Prügel.
Er erwacht, aber, o Wunder, seine
Schultern zeigen noch blaue Flecken. So also geht es, wenn man zu sehr
dem Zauber des
Lateinischen verfallen ist.
Die Sprache des Hieronymus blieb trotzdem im wesentlichen die
Sprache
Ciceros, die ja, wie
gesagt, als Literatursprache ohne Konkurrenz war, und - vereinfacht
gesprochen - blieb sie
auch die Sprache des lateinischen Mittelalters, als das sogenannte
Mittellatein, das einen
Namen führt, wie Mittelhochdeutsch, Mittelenglisch usw. und doch
seinem Wesen nach etwas
ganz anderes darstellt: gerade nicht eine dem Mittelhochdeutschen
vergleichbare
eigenständige
Stufe in einer sich entwickelnden Sprache, sondern im Kern das
klassische
Latein, das nur
eben je nach Bildungsgrad und Wirkungsabsicht vom einen strenger, vom
anderen lässiger
gehandhabt wurde. Der Vokabelschatz freilich vergrößerte
sich. Besonders weit ging hier die
scholastische Theologie - das war nur natürlich -, und
selbstverständlich
drangen auch aus den
Volkssprachen Fügungen ein, die vom klassizistischen Standpunkt
aus als Barbarismen zu
werten waren, etwa: daß man nach dico nicht den AcI verwendete,
sondern das bequemere
quod, also statt “dicit se sitire” (“Er sagt, er habe Durst”) sagte
“dicit quod sitit”.
Scheußlich, aber doch immerhin gut verständlich.
Nur eigentlich an einer Stelle wurde das lateinische Mittelalter
auch
im Sprachlichen
schöpferisch: ich meine in der sogenannten rhythmischen Poesie,
die nichts anderes war als
diejenige Poesie, die dem Latein, wie es damals ausgesprochen wurde,
Rechnung trug.
Dies irae, dies illa
Solvet saeclum in favilla
Teste David cum Sibylla...
Ich kann darauf aus Zeitgründen nicht näher eingehen.
Sie sehen, wir durcheilen in ganz großen Sprüngen die
Weltgeschichte
des Lateinischen. Und
damit kommen wir schon zur Renaissance, also zur frühen Neuzeit,
und damit zu der Epoche,
in der der “Zauber des Lateinischen” wohl mehr gefühlt wurde als
je seit Ende der Antike.
Wenn wir es überspitzen wollten, dann könnten wir sagen,
daß die Neuzeit geradezu
entstanden sei aus dem Enthusiasmus für das klassische Latein.
Als Vater dieses Enthusiasmus
gilt im 14. Jahrhundert Francesco Petrarca, also der Mann, der auch
in seinem betonten
Individualismus sich so augenfällig von allem abhebt, was wir
für mittelalterlich halten. Dieser
Petrarca erzählt, daß für ihn die Schönheit des
Lateinischen der entscheidende Bildungsfaktor
seines Lebens war. In dem Alter, wo andere Knaben Kinderfabeln lesen,
da habe er sich
hinreißen lassen von Cicero, aber nicht etwa von dessen Gedanken
(die er ja auch noch gar
nicht verstehen konnte), sondern von seiner Sprache, vor allem von
der dulcedo atque
sonoritas uerborum, “der Süßigkeit und dem Wohlklang der
Wörter”. Die Bissen habe er sich
vom Munde abgespart, um neue Bücher von Cicero kaufen zu
können
- zunächst mit
traurigem Ergebnis: Petrarcas Vater, der aus seinem Sohn einen
tüchtigen
Juristen machen
wollte, verbrannte die Klassikertexte. Dennoch konnte er es nicht
verhindern,
daß mit seinem
Sohn Francesco eine neue Epoche der lateinischen Sprache begann:
Petrarca,
so formulierten
spätere Renaissancehumanisten, wagte es als erster, sein Haupt
aus dem Schlamm der Barbarei
zu erheben, d.h. er versuchte es wieder, auch im Stil, ein an Cicero
orientiertes Latein zu
schreiben; im bewußten Gegensatz zum heruntergekommenen,
ästhetisch
anspruchslosen
Gebrauchslatein seiner Zeit, zur Sprache von Kirche und
Universität,
vor allem zur Sprache
der scholastischen Theologie. Und dann geht eine Begeisterung für
das Latein, das klassische
Latein, wie ein Rausch über Europa: “Das Lateinische”, so
schwärmt
der große Historiker
Lorenzo Valla (1440), “wird von allen Nationen verehrt, wie ein Gott,
der vom Himmel
herabgesandt wurde” (quasi Deum quendam à Coelo demissum).
Latein
aber heißt vor allem:
ciceronisches Latein. Es entsteht der moderne Ciceronianismus, eine
Nachahmung Ciceros, die
sogar recht sonderbare Blüten treibt. Ein fanatischer
Ciceronianer,
wie der Kardinal Bembo,
spricht von seinen Standesgenossen nicht mehr als von “Kardinälen”
(cardinales), sondern von
senatores; er gebraucht nicht mehr das Wort “Nonnen” (moniales) sondern
spricht von
Virgines vestales (vestalischen Jungfrauen) usw. Die Sprache wird bis
an die Grenzen des
Unverständlichen von allen christlichen und mittelalterlichen
Schlacken gereinigt. Erlaubt ist
nur noch, was auch bei Cicero belegt ist. Die förmliche Karikatur
eines solchen Ciceronianers
hat ein Jahrhundert später, 1528, der berühmte Humanist
Erasmus
in einem Dialog vorgeführt.
Es tritt dort auf ein gewisser Herr Nosoponus (was etwa so viel
heißt
wie “Mühekrank”), ein
Mann, der ängstlich bemüht ist, nur Ciceronisches zu
sprechen,
und zwar in der Weise, daß er
nicht nur die Wörter vermeidet, die Cicero nicht hat, sondern
sogar die Wortformen, die bei
diesem zufälligerweise nicht belegt sind. Aus Angst vor Fehlern
wälzt er am Schluß nur noch
stumm seinen Cicero.
Die Leidenschaft für das wie neu entdeckte Latein der
römischen
Klassiker kommt in der 2.
Hälfte des 15. Jahrhunderts auch über die Alpen nach
Deutschland.
Nun werden zunächst die
Universitäten reformiert, dann auch die Schulen, unter dem
Schlagwort
“Humanismus”,
genauer: studia humanitatis. Statt aus mittelalterlichen
Lehrbüchern
lernt man nun sein Latein
wieder vor allem aus den antiken Autoren selber. Verpönt sind
die Barbarismen, die man im
Mittelalter, zumal im Umgangslatein, leichter geduldet hatte. Von jetzt
an heißt das (bis heute)
Küchenlatein (Latinitas culinaria). Eines der lustigsten Zeugnisse
für den Umbruch ist ein
Dialog, den ein Chemnitzer Schulmann namens Paul Schneevogel (Paulus
Niavis) schon am
Ende des 15. Jahrhunderts geschrieben hat: ein Gespräch zwischen
einem klassisch geschulten
Studenten, der ciceronisches Latein spricht, und seinem Kollegen, der
ein perfekter
Küchenlateiner ist. Eine Stilprobe, gleich aus dem Beginn des
Dialogs: “Der Sohn des Bäckers
hat mir gesagt, daß du gekommen bist, und da bin ich vom
Marktplatz
so schnell hergelaufen,
daß mir die Füße wehtun (... et ego ita curri de foro
ut pes mihi faciunt awe) - worauf der
Gebildete im geschlecktesten Stil sagt: “Dank sei dir und zwar der
größte für dieses dein mir
gegenüber erzeigtes Wohlwollen” (gratia pro hac tua in me
beneuolentia
sit atque adeo
maxima). Man muß zugeben, daß in diesem Fall der Zauber
des Küchenlateins auf uns
beträchtlich stärker wirkt.
Der größte Lateiner nördlich der Alpen ist einige
Jahrzehnte
später der schon erwähnte
Erasmus von Rotterdam. Ja man kann sagen, daß in der Verehrung
für ihn sich die
Lateinbegeisterung eines ganzen Zeitalters symbolisiert. Sein
lateinisches
“Lob der Torheit”
(Encomium Moriae), seine Sprichwörtersammlung “Adagia” und seine
Gesprächssammlung
“Colloquia familiaria” sind die großen Bestseller der Zeit,
weniger
wegen ihres Inhalts (heute
wird ja Erasmus in Übersetzungen kaum mehr gelesen), als wegen
des unvergleichlichen
Zaubers ihrer sprachlichen Form. So galt er als führender Geist
seiner Epoche, ein Mann, um
dessen Gunst sich auch die Großen und Mächtigen
bemühten.
Erasmus war ein Mann der Prosa, vor allem der wissenschaftlichen
Prosa.
Aber ein mindestens
ebenso großer Lateinenthusiasmus herrschte auf dem Gebiet der
Poesie. Während die
deutschsprachige Dichtung nicht über vergleichsweise bescheidene
Literaturformen
hinauskommt (Martin Luther und Hans Sachs sind noch die
Größten),
entsteht in lateinischer
Sprache unter den Deutschen eine blühende, vielgestaltige Poesie,
in der sich so gut wie
sämtliche antiken Gattungen erneuern: Epos und Elegie, Drama,
Lyrik, Bukolik usw..
Epochejahr ist - heute fast unbekannt - das Jahr 1487. Damals wurde
in Nürnberg Conrad
Celtis, der sogenannte deutsche Erzhumanist, vom Kaiser mit dem Lorbeer
zum Dichter
gekrönt, der erste deute poeta laureatus; und damit war
ausgedrückt,
daß es nun auch in
Deutschland eine Poesie geben solle und gebe, die in der großen
antiken Tradition stehe. Die
Gedichte, mit denen sich damals der junge Conrad Celtis, der
später
als Professor unserer
Universität mein eigener Amtsvorgänger ist, diesen Ruhm und
Lorbeer erwarb, waren freilich
vom späteren Standpunkt aus noch ziemlich miserabel; aber der
von ihm einmal erhobene
Anspruch wurde von den späteren dann voll eingelöst. Die
lateinische Dichtung des 16. Und
des 17. Jahrhunderts überragt in ihren besten Werken fast alles,
was Deutschland damals in der
eigenen Sprache hervorgebracht hat. Und wenn sie dennoch nicht
eigentlich
in die
Weltliteratur eingegangen ist, d.h. wenn sie heute nicht zum
allgemeinen
Bildungsbesitz
gehört, so liegt das nur daran, daß sie eben ihres Lateins
wegen später teils unverstanden blieb,
teils sogar den Zorn der deutsch-national gesinnten Literaturhistoriker
auf sich herabrief.
Gelernt aber wurde Reden wie auch Dichten vor allem in der
Lateinschule.
Ihre großen
Förderer waren zunächst Philipp Melanchthon, der mit seinen
Schulordnungen geradezu als
Schöpfer des neuzeitlichen Gymnasiums gelten kann, und sein Freund
und Schützer Martin
Luther, der selber ein beachtlicher lateinischer Dichter war. Der
Ausstrahlung
dieser
Reformatoren ist es zuzuschreiben, wenn im 16. Jahrhundert nun auch
hier in Ostfriesland
Lateinschulen entstehen bzw. erweitert und erneuert werden, wie 1550
in Emden, 1567 in
Norden. Dann, vom Ende des 16. Jahrhunderts an, übernehmen, im
Zeichen der
Gegenreformation, die Jesuiten die Führungsposition, was
Schulbildung
und Lateinunterricht
angeht: Ihre Gymnasien sollen noch schöner und effektiver sein
als alles, was die Protestanten
bisher leisten konnten; das sogenannte Jesuitentheater, ein
prächtig
mit Musik und Ballett
ausgestattetes lateinisches Schulspiel (für das Tausende von
Stücken
geschrieben werden) ist
mindestens ein Jahrhundert lang die wichtigste Theatereinrichtung in
Deutschland, eine
unvergleichliche Propaganda für katholischen Glauben und
lateinische
Sprachkultur. Aber
warum ist das protestantisch-lutherische Aurich 1646 so spät daran
mit der Gründung bzw.
dem Ausbau seiner Lateinschule zum Gymnasium Ulricianum? Ich weiß
es nicht, aber ich
bewundere die Energie und Tatkraft des Theologen Brandanus Daetrius,
der in der Not des zu
Ende gehenden Dreißigjährigen Krieges mit lateinischer
Bittschrift
(Libellus miserè supplex)
eine Bürgerinitiative startete und durch das Sammeln von vollen
1.200 Reichstalern dem, wie
es heißt, mehr wein- als lateinfreudigen Grafen Ulrich II. die
neue, dreiklassige Schule
abtrotzte. Welch ein Vorbild für unsere Zeit, wo immer zuerst
an der Kultur gespart wird!
Freilich nicht in Aurich, wie wir an so prächtigen Festwochen
sehen. Hier gilt auch heute der
Freudenschrei des Ulrich von Hutten: o saeculum! o litterae! iuvat
vivere! “Welche Zeiten!
Welche Bildung! Das Leben macht Freude!”
Der Chronist des Lateinischen, bisher fast nur ein Jubelredner, kann
sich am Ende des 17.
Jahrhunderts nicht enthalten, zum ersten Mal Ciceros Weheruf
anzustimmen:
o tempora! o
mores! “Weh, welche Zeiten! Welche Sitten!” Mit dem 17. Jahrhundert
geht die letzte große
Zeit für lateinische Dichtung zu Ende. Zu mächtig ist in
Deutschland die seit dem Anfang des
Jahrhunderts aufstrebende nationalsprachige Dichtung, die es nun
ihrerseits
mit der Antike
aufnehmen will. Leibniz dichtet:
Was sollen uns die Griechen...
und die Römer sind mitgemeint...
Was sollen uns die Griechen,
sie müssen sich verkriechen,
wenn sich die deutsche Muse regt:
Horaz in Fleming lebet,
im Opiz Naso schwebet,
im Gryph Senecens Traurigkeit.
Das heißt: Horaz, Ovid und der Tragödiendichter Seneca
sind
nun durch deutsche Dichter
vollwertig ersetzt. Um wieviel mehr dann ihre neulateinischen
Nachfahren!
Für das
Jahrhundert von Leibniz, das Jahrhundert der Aufklärung, der
deutschen
Klassik und der
beginnenden Romantik wird nun das lateinische Verseschmieden zu einer
Angelegenheit vor
allem der Schulmeister, einer Sache, mit der man unter Männern
von Welt keinen großen
Ruhm mehr erwerben kann. Das gilt noch nicht für das Latein im
allgemeinen. Latein bleibt ja
zunächst noch Sprache vor allem der Philosophie und Wissenschaft.
Latein schreiben
Descartes, Spinoza und spätere Philosophen; in Latein
erläutert
Newton die mathematischen
Grundlagen der Physik, Linné das System der Botanik, Galvani
die Elektrizität in den
Froschschenkeln, und noch Carl Friedrich Gauß schreibt am Anfang
des 19. Jahrhunderts seine
fundamentalen Werke über Zahlentheorie und Astronomie in
lateinischer
Sprache. Aber damit
war gerade Gauß schon beinahe ein Nachzügler; denn im Laufe
des 18. Jahrhunderts war
mittlerweile Latein als Sprache der Wissenschaft fast in ganz Europa
allmählich durch die
modernen Sprachen ersetzt worden. Schon 1688 hatte ein gewisser
Thomasius
- dem Jupiter
dieses verzeihen möge - zum Entsetzen seiner Kollegen als erster
eine deutschsprachige
Vorlesung in Halle gehalten; und die damit begonnene Bewegung kam nicht
mehr zum
Stillstand. Am Ende des 18. Jahrhunderts hatte die Wissenschaft - von
den Theologen und
Philologen natürlich abgesehen - das Latein schon fast aufgegeben:
Ein schwerer, bis heute
fühlbarer Verlust! Denn im Englischen, das d i
e
moderne Wissenschaftssprache geworden
ist, sind die Engländer uns anderen überlegen. In Latein
waren alle gleich. Das konnte sowieso
keiner.
Damit war an der Wende zum 19. Jahrhundert das Latein an der Schule
seiner stärksten
Belastungsprobe seit dem Ende der Antike ausgesetzt. Und es fehlten
schon damals die
Stimmen nicht, die ihm mit Nützlichkeitsargumenten, genau wie
heute, den Todesstoß geben
wollten: Warum noch eine Sprache lernen, die kaum mehr gebraucht wird?
Man konstatiert -
ich zitiere die neue Festschrift -, daß “die Tragkraft der
‘Latinität’”
damals “selbst im eher
konservativen Aurich ersichtlich nachließ”. Insgesamt galt
wieder:
o tempora! o mores! Und
dennoch erlebt Latein ausgerechnet im Gymnasium des 19. Jahrhunderts,
dem sogenannten
neuhumanistischen Gymnasium, im Zeitalter der leibhaftigen
industriellen
Revolution, eine
große, ans Unglauliche grenzende Nachblüte. Kein anderer
Weg führt zum akademischen
Studium als der durchs Gymnasium; kein Weg führt durchs Gymnasium
ohne exzessives
Latein: Latein, das nicht nur passiv verstanden, sondern auch aktiv
geübt sein will, im
schriftlichen Aufsatz, in der mündlichen Rede (denken wir an die
Jubelfeier für den Kantor
Fastenau), ja lange Zeit sogar noch im lateinischen Verseschreiben.
Diese Dominanz des
Lateinischen ist um so überraschender, als der deutsche
Altphilologe
an sich von lateinischer
Literatur gar nicht so viel zu halten behauptet: Sie galt ihm ja im
19. Jahrhundert als wenig
originell, als ein weithin unschöpferischer Abklatsch der
griechischen
Literatur. Aber die
Griechen lobt man mehr, und das Lateinische lernt man mehr, angeblich
wegen seiner
formalbildenden Kraft - die einschlägige Theorie wurde erst im
18./19. Jahrhundert entwickelt
-, in Wahrheit wohl mindestens ebenso sehr wegen des fortdauernden
Zaubers des
Lateinischen: dulcedo et sonoritas verborum. Das Schullatein des 19.
Jahrhunderts ist
paradoxerweise schöner, von humanistischerem Schwung erfüllt,
als es das
Wissenschaftslatein des vorigen Jahrhunderts gewesen war. (Man lese
nur etwa die elegant
stilisierte, 1842 verteidigte lateinische Doktordissertation von Rudolf
Jhering: “De hereditate
possidente”.) Erst am Ende des 19. Jahrhunderts, als das moderne
Realgymnasium
seinen
Anspruch anmeldete, wurde das Latein als eine noch geübte,
zumindest
geschriebene Sprache
in der Schule zurückgedrängt. Deutscher Gewerbefleiß
und deutscher Patriotismus waren
gegen das Latein, gegen den altsprachlichen Unterricht überhaupt,
verbündet, und ungerügt
konnte S.M. Kaiser Wilhelm II. im Jahre 1890 ausrufen: Man solle
Deutsche
erziehen, nicht
junge Griechen und Römer! Zum dritten Mal: o tempora! o mores!
So haben erst etwa die
letzten 100 Jahre den schrittweisen Abbau des Lateinunterrichts am
Gymnasium gebracht; d.h.
mit großer Phasenverschiebung hat das Gymnasium dem Rückgang
des Lateinischen
außerhalb der Schule Rechnung getragen - wobei allerdings auch
dieser Abbau keineswegs ein
gleichmäßiger war. Die Feindseligkeit gegen das Latein
erlebte,
was Deutschland betrifft,
Höhepunkte in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg und dann in den
späten 60er Jahren (wo es
von manchen geradezu zur Bildungssprache des Klassenfeinds deklariert
wurde); es erlebte
einen gewissen Aufschwung in der Nachkriegszeit, und auch in den
letzten
zwanzig Jahren ist
ihm jedenfalls in Deutschland wieder viel an öffentlichem
Wohlwollen
zugewachsen. Private
und halböffentliche Stiftungen (wie etwa “Humanismus heute” in
Baden-Württemberg)
bemühen sich um Förderung der Lateinstudien; lateinische
Wettbewerbe - auch hier gibt es
Privatinitiativen - schaffen neue Lernmotivationen; Schulen und sogar
Universitäten machen
vielerorts wieder, wie in den Zeiten von Renaissance und Barock, mit
lateinischen Musik- und
Theateraufführungen, ja förmlichen Festspielen, auf die
Schönheit
der lateinischen Sprache
und Literatur aufmerksam. Ja es gibt sogar leibhaftige Kultusminister,
die Fans des
Lateinischen sind und, wie mein bayerischer Dienstherr, am liebsten
jeden zehnjährigen
Gymnasiasten mit Latein beginnen ließen; Englisch
müßte
dann freilich schon in die
Grundschule: Why not? Quippini?
Wer aber das Lateinische liebt und weiß, was es in den
vergangenen
Jahrhunderten gewesen
ist, der muß Schmerz empfinden bei der Vorstellung, daß
Latein nur noch gedeihen könne im
Schutzraum der staatlichen Fürsorge, als ein von Bildungsexperten
gelobtes, letztlich aber
doch ungeliebtes Stück “verpflichtendes Erbe”. Wenn Latein gelehrt
wird, soll es auch Freude
machen. Ein schlechter, lustloser Englischunterricht hat immer noch
seinen gehörigen Nutzen.
Ein schlechter, lustloser Lateinunterricht ist zwar auch noch nicht
völlig nutzlos, aber doch
eine wesentlich traurigere Angelegenheit. Und so muß Freude am
Latein zu schaffen, eine
Hauptaufgabe der Didaktik sein, keineswegs nur zum Zwecke der
Motivation.
Denn, wenn ich
recht sehe, gehört der Zauber des Lateinischen zum Lateinischen
selber; und wo die
Empfänglichkeit für ihn nicht da ist, ist auch ein Stück
von der Sache verloren.
Lassen Sie mich denn zum Schluß noch ein paar Bemerkungen dazu
machen, wie ich mir
denke, daß Latein heute noch lebendiger unterrichtet werden
könnte.
Ich formuliere meine
Ansichten, für die ich als Nichtschulmann natürlich nur wenig
Kompetenz habe, kurz,
apodiktisch und subjektiv.
1. Latein sollte im Unterricht mehr gesprochen, d.h. zunächst
ausgesprochen
werden. Die
Überbewertung des Lateinischen als Geistesgymnastik im Zeichen
der formalen Bildung (seit
fast 200 Jahren) hat dazu geführt, daß Bücher,
Tafelanschriebe,
neuerdings
Overheadprojektionen und sogar Computerinschriften mehr Gewicht haben
als das
gesprochene, das sinnliche Wort: vox Latina.
2. Dazu gehört das Bemühen um eine schöne, richtige
lateinische
Aussprache. Diese kann fast
in derselben Zeit erlernt werden wie die heute übliche, mehr oder
minder falsche Aussprache.
Nur durch richtiges Sprechen, richtig vor allem auch im Hinblick auf
die Silbendauer, kann ein
Gefühl für die sinnliche Qualität des Lateinischen
geweckt
werden, für die von Petrarca
gerühmte dulcedo et sonoritas verborum. Nur so kann man dazu
kommen,
Verse richtig zu
lesen und damit einen Zugang zur Eigenart der lateinischen Dichtung
zu finden. Auch zur
internationalen lateinischen Verständigung ist übrigens die
gemeinsame klassische Aussprache
nötig.
3. Wie ausgesprochen, so sollte Latein auch gesungen werden. Denn es
ist schon von seiner
Klangstruktur her im selben Maß für den Gesang disponiert
wie das Italienische. Und von der
frühen Renaissance an haben sich hervorragende Komponisten um
Vertonungen bemüht, die
gerade auch für Schüler geeignet sind. Der Bogen spannt sich
hier vom Erzhumanisten Conrad
Celtis bis zu dem vor zwölf Jahren verstorbenen großen
tschechischen
Humanisten Jan Novák.
4. Wenn Latein lebendig sein soll, dann sollte es nicht nur
ausgesprochen,
sondern auch
wirklich gesprochen werden. Zu Unrecht gilt heute Lateinsprechen,
lateinische
Konversation
vielfach als eine völlig unerschwingliche Kunst. Ich weiß
aus eigener Erfahrung als junger
Gymnasialpraktikant, daß man hier mit geringer Mühe schon
große didaktische Erfolge haben
kann: Jeder Schüler lernt eine Sprache doppelt so gern, die er
auch gebrauchen, in der er sich
ausdrücken kann. Es bedarf dazu nicht einmal der mancherlei
Lehrbücher,
Tonkassetten und
neulateinischen Lexika, die heute zur Verfügung stehen. Aber sie
können ebensogut Anregung
geben wie die lateinsprachigen Zeitschriften, die es heute in
Deutschland
wie in Belgien, Italien
und den Vereinigten Staaten gibt. Der bekannte Pater Eichenseer in
Saarbrücken veranstaltet
seit Jahrzenten Sommerkurse für lateinische Konversation, die
keineswegs nur für Lehrer
bestimmt sind. Aufwendigere Unternehmungen dieser Art macht der
norddeutsche
Lateinverein L.V.P.A. und der von mir vor 12 Jahren gegründete
Münchner Verein Sodalitas
LVDIS LATINIS faciundis e.V..
5. Rudolf von Jhering, den ich ein letztes Mal zitiere, hat gesagt,
es sei die historische Mission
Roms gewesen, die Welt dreimal zu einigen, Universalität an die
Stelle von Nationalität zu
setzen: erst durch die Macht, dann durch die Kirche, schließlich
durch das Recht. Er hat, wie
wir gesehen haben, ein viertes vergessen: die lateinische Sprache,
die die Völker nicht nur über
die Landesgrenzen, sondern auch über die Jahrhunderte,
Jahrtausende
hinweg verbindet. Sie
ist die wahre Muttersprache Europas. Wenn sie das aber ist, dann sollte
sie auch als Sprache
Europas gelehrt werden; d.h. der Lateinunterricht dürfte nicht
bei den römischen Klassikern,
so wichtig sie sind, stehen bleiben, sondern müßte
möglichst
auch das Mittellatein und
besonders das Neulatein der verschiedenen Nationen einbeziehen. Auch
dafür haben wir heute
gute, wenn auch noch nicht ausreichende Hilfsmittel.
6. Ein letztes und leider Wichtiges: Auch wenn es den Zauber der
Lateinischen
gibt, heißt das
noch nicht, daß alle Lateinlehrer zaubern könnten. Um Latein
zu lehren und zu lernen, braucht
man bei aller Begeisterung vor allem auch Zeit: viele Jahre, viele
Stunden. Vielleicht ist es im
Entscheidungsfalle sogar besser, daß manche gut, als daß
alle oder zu viele schlecht Latein
lernen. In diesem Sinn wünsche ich dem Gymnasium Ulricianum,
daß
es auch in den
kommenden 350 Jahren Lateinschule bleiben und unter Führung der
Musen wachsen und
gedeihen möge. Quod bonum felix fortunatumque sit.