Hilfen zum Lateinsprechen:
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Originalveröffentlichung in: Der Altsprachliche Unterricht.
Arbeitshefte zu seiner wissenschaftlichen Begründung und
praktischen Gestalt.
Jahrgang XXXVII (Heft 5). September 1994. S. 76-95.
Soll in Zukunft regelmäßig überarbeitet und erneuert
werden.
I. Lexikalische Hilfsmittel
II. Zum gesprochenen Umgangslatein
III. Lateinische Grammatik lateinisch eingeübt
IV. Zur lateinischen Aussprache
V. Latein gesungen
VI. Proben zeitgenössischen Lateins
Statt möglichst viele Titel vor allem aus der fachdidaktischen Literatur anzuführen, schien es mir vernünftiger, die wichtigsten praktischen Hilfsmittel kurz zu beschreiben und vorsichtig zu werten (besonders Wichtiges und Grundlegendes ist mit * bezeichnet). Im übrigen sei verwiesen auf das ausführliche Literaturverzeichnis in dem Standardwerk von
(1) *Andreas Fritsch: Lateinsprechen im Unterricht. Geschichte - Probleme - Möglichkeiten. Bamberg (Buchner) 1990 (160 S.), 146-159; in erweiterter Fassung jetzt als Sonderdruck: Lateinsprechen in Geschichte und Gegenwart, eine Literaturliste (Stand: April 1994): über 300 Titel.
(2) Andreas Müller/ Markus Schauer: Bibliographie für den Lateinunterricht - Clavis Didactica Latina. Bamberg (Buchner) 1994 (400 S.), bes. S. 127-129 ("Latine loqui"), vgl. Schlagwortregister unter "Latein Sprechen".
I. Lexikalische Hilfsmittel
Wer Latein sprechen oder auch nur schreiben will, sucht in der Regel ein Lexikon. Von den deutsch-lateinischen Lexika ist am wertvollsten immer noch:
(3) *Karl Ernst Georges: Ausführliches deutsch-lateinisches Handwörterbuch aus den Quellen zusammengetragen und mit besonderer Bezugnahme auf Synonymik und Antiquitäten unter Berücksichtigung der besten Hülfsmittel. 2 Bände, Leipzig 71882, 2031/2052 Sp.
Hier findet man, ausgehend vom Deutsch des 19. Jahrhunderts, fast erschöpfende Belehrung. Georges ist bemüht um "ächt lateinischen", klassischen Ausdruck, besonders in der Phraseologie, auf der, neben der Synonymik, vielleicht der Hauptwert des Werks beruht. Doch ist auch traditionelles neulateinisches Vokabular (durch Asteriscus kenntlich gemacht) vorsichtig mit einbezogen: etwa "Brille" - *perspicillum, "Clavier" - *clavichordium, "Gewehr" - *sclopetum; vieles wird ohne Neubildung umschrieben: z. B. "Briefumschlag" - *litterarum involucrum.Oft sind aber Neubildungen gar nicht nötig: Sogar für "Communismus" gibt es so etwas wie einen echt lateinischen Ausdruck: aequatio bonorum oder patrimoniorum (offenbar nach Cic. off. 2,73 und Quint. decl. 261 tit.); dazu kommt die schöne Wendung: "es herrschte C. bei ihnen" - omnia communia et indivisa omnibus erant, velut unum cunctis patrimonium esset (nach Iust. 43,1,3). Man sollte also nicht vorschnell die häßlichen Bildungen communismus, communisticus (beides nicht bei Georges) benutzen. Eine Neubearbeitung oder vorläufig wenigstens ein Nachdruck des Werks wäre sehr zu wünschen. B Im Nachdruck vorhanden ist die fast ebenso gehaltvolle, etwas modernere Kurzfassung:
(4) Karl Ernst Georges: Kleines deutsch-lateinisches Handwörterbuch, 7. Auflage von Heinrich Georges, Hannover und Leipzig 1911, Ndr. Darmstadt (Wiss. Buchgesellschaft) 1969 u. ö., 2872 Sp.
Gediegen ist auch etwa das dem 'kleinen' Georges entsprechende Lexikon von
(5) Otto Güthling: Langenscheidts Großwörterbuch Lateinisch, Teil II: Deutsch-Lateinisch. Berlin u. a. (Langenscheidt) 151989 (Ndr. von 1918), 740 S.
Wer Alternativen zum 'großen' Georges sucht, kann zurückgreifen auf das fast noch wissenschaftlichere Werk von
(6) Friedrich Karl Kraft: Deutsch-lateinisches Lexikon, aus den römischen Classikern zusammengetragen und nach den besten neueren Hülfsmitteln bearbeitet. 2 Bände, Leipzig und Merseburg 21824/25 (mir unzugänglich 41843/44), 1238/1253 S. -
wo für die einzelnen Ausdrücke die antiken Autoren z. T. mit genauen Belegstellen genannt sind, oder auf
(7) Imman(uel) Joh(ann) Gerhard Scheller: Ausführliches und möglichst vollständiges deutsch-lateinisches Lexicon oder Wörterbuch zur Übung in der lateinischen Sprache. 2 Bände, Leipzig 31805, 3744 Sp.
Scheller ist, was Sprachreinheit angeht, z. T. fast ein Extremist, der etwa für "Gewehr" nur telum und arma angibt, "Brille" mit vitrum oculare bipartitum umschreibt und für "Hemd" sogar ganze fünf Wörter braucht: tunica lintea corpus proxime tangens; immerhin erwägt er auch indusium (nach Non. p. 539,35 ein vestimentum quod corpori intra plurimas vestes adhaeret), was dann von Kraft empfohlen wird (Georges hat tunica interula nach Apuleius u. a.; neuere Lexikographen empfehlen z. T. das recht unlateinische camisia wegen franz. "chemise" usw.). Auf der anderen Seite läßt Scheller aber um der Deutlichkeit und praktischen Verwendbarkeit willen sogar batalio (Bataillon) oder Mareschallus campi (Feldmarschall) zu, Wörter, die bei dem klassizistischen Georges nicht mehr möglich wären. Sehr lesenswert als kulturhistorisches Dokument ist auch Schellers temperamentvolle Vorrede, in der er den aktiven Lateingebrauch gegen den Zeitgeist verteidigt. - Alle Lexika aber werden übertroffen durch das ganz anders angelegte Lehrbuch von
(8) *Johann Amos Commenius (üblich: Comenius): Orbis sensualium pictus. Hoc est, Omnium fundamentalium in Mundo Rerum & in Vitâ Actionum Pictura & Nomenclatura. Die sichtbare Welt / Das ist / Aller vornemsten Welt-Dinge und Lebens-Verrichtungen Vorbildung und Benahmung. Noribergae 1658; Ndr. in: Die bibliophilen Taschenbücher 30. Dortmund (1978) 21979, mit Nachwort von Heiner Höfener, 405 S. B
neben der Donatgrammatik und den 'Disticha Catonis' eines der erfolgreichsten Schulbücher aller Zeiten, auch heute noch mit Gewinn und Genuß zu gebrauchen. Der berühmte Vater der modernen Pädagogik (vgl. etwa Klaus Weddigen, Johannes Amos Comenius, AU 35,6,1992, 88-106) erläutert hier im ganz einfach stilisierten deutsch-lateinischen Begleittext zu 150 (alle Gebiete des Lebens und der Wissenschaften betreffenden) Schautafeln rund 2000 Begriffe, indem er den Schülern zugleich Sache und Wort vermittelt: Auch der fortgeschrittenste Lateiner kann hier heute noch viel lernen. - Von den vielen Imitationen des 'Orbis pictus' ist die wichtigste und immer noch nützlichste heute ebenfalls durch einen Nachdruck erschlossen:
(9) J(acob) E(berhard) Gailer: Neuer Orbis pictus für die Jugend oder Schauplatz der Natur, der Kunst und des Menschenlebens in 322 lithographirten Abbildungen mit genauer Erklärung in deutscher, lateinischer, französischer und englischer Sprache nach der früheren Anlage des Comenius bearbeitet und dem jetzigen Zeitbedürfnisse gemäß eingerichtet. 3. Aufl., Reutlingen 1835, 709 S. (Ndr. in: Die bibliophilen Taschenbücher 116, mit einem Nachwort von Hubert Göbels, Dortmund 1979).
Hier wird noch einmal die ganze moderne Welt (schon mit Dampfmaschine, Eisenbahn und Montgolfière) an Hand vorzüglicher Abbildungen (auch) lateinisch erläutert. Der Verfasser, ein begeisterter (später allerdings wegen Alkoholismus dienstentlassener) Gymnasiallehrer, hat es, wie er selbst feststellt, schwer, für manches geeignete Vokabeln zu finden, da damals die lateinische Tradition vor allem in Naturwissenschaft und Technik abreißt; er ist aber doch insgesamt sehr geschickt dabei, "Alles zu vermeiden, was ein an gutes Latein gewöhntes Ohr beleidigen könnte" (Vorrede, S. V). So entstand ein kleines Meisterwerk (leider ohne Wortregister), nicht nur zum Nachschlagen, sondern auch zum Schmökern geeignet. - In dieser Tradition steht auch noch das bekannte, lexikalisch angelegte Buch von
(10) Hermann Koller: Orbis pictus Latinus. Vocabularius imaginibus illustratus. Zürich und München (Artemis) 41987 (1976), 515 S.
Im Gegensatz zu seinen berühmten Vorgängern gibt Koller Erläuterungen nur in lateinischer Sprache und verzichtet dabei weitgehend auf die Erfassung der modernen Welt, die fast nur bei der Behandlung von Fußball (pediludium, sonst heute meist pedifollium), Atomkraft s. v. atomus B sprachwidrig ist hier das pyrobolum vi atomica explodens, richtig allenfalls displodens B und optischen Geräten (ocularia) hereinkommt; sonst bleibt man im Raum der griechisch-römischen Antike. Die Auswahl der gegen 1000 Stichwörter, von denen man etwa mulctrum (Melkkübel) oder corbita (Lastschiff mit zwei Masten) leichten Herzens entbehren könnte, scheint vor allem im Hinblick auf die zur Verfügung stehenden, schönen, meist antiken Abbildungen erfolgt zu sein. Das Latein ist insgesamt recht adrett. - Dies gilt leider nicht im selben Maße für das kleinere, ganz auf die römische Antike beschränkte lateinsprachige Bildbändchen:
(11) Anne Millard: Ecce Roma. De vita cottidiana Romanorum. Pinxerunt Joseph McEwan, Roger Mann; in Latinum convertit Ulrich Streckfuß. Ravensburg (Otto Maier) 1983, LXIII S.
Dieser Einführung in den "römischen Alltag" (die aber z. B. auch Religion und Heerwesen umfaßt und mit etwa 400 Abbildungen illustriert ist) merkt man an, daß sie aus dem Deutschen bzw. Englischen übersetzt ist (vgl. z. B. sofort die Inhaltsangabe, S. IV: Hic libellus praecipue de Romanis eorumque finitimis primo et secundo saeculo p. Chr. n. narrat). - Ein bescheidener Nachfahre der Orbes picti ist auch
(12) Caelestis Eichenseer: Latinitas viva - Tabulae imagineae numero nonaginta. Saraviponti - Saarbrücken 1981 (21984), 6 + XC S. (erhältlich über: Societas Latina, Universität des Saarlandes FB 6.3, D-66041 Saarbrücken).
Der um den lebendigen Gebrauch des Lateinischen hochverdiente (als Latinist der Schule von Hans Rubenbauer entstammende) Benediktinerpater und Herausgeber der Lateinzeitschrift 'Vox Latina' (s. oben S. ) gibt hier, als gegliederte Wortsammlung, ein lateinisches Inventar der heutigen Welt, soweit abbildbar, mit leider nur ganz primitiv-kindlichen Zeichnungen. Die Nomenklatur wird begründet in dem umfangreichen Ergänzungsband
(13) C. Eichenseer: Latinitas viva - Pars lexicalis. Saraviponti B Saarbrücken 1981, 349 S. z. Zt. offenbar vergriffen.
Fast 2000 Vokabeln werden hier in fünf moderne Sprachen (it., span., frz., engl., dt.) übersetzt und z. T. durch ausführliche Exzerpte aus älteren Lexika oft etwas weitschweifig erläutert: So erhält man zur Erklärung des doch fast selbstverständlichen iactus disci (Diskuswurf, Tab. LVI 11) ausführliche Belege aus den Thesaurus-Artikeln "discus" und "iacio", darunter manches so Irrelevante wie Ov. ars 2,232 via per iactas candida facta nives (S. 150-152). Nützlicher sind die Hinweise auf differierende Latinisierungen schwieriger Vokabeln in neueren Lexika und auch Zeitschriften (so zu Tab. LI 16 diagramma cantionis = Partitur: partitura; formula concentus; vocum omnium designatio u. a., mit genauen Stellenangaben: S. 126); gerade bei besonders Problematischem wird aber oft ohne Diskussion eine Neubildung festgelegt: Tab. VI pelusia, Bluse; iacca, Jacke; costuma, Kostüm usw. - In eine ähnliche Richtung geht das ambitionierte Lexikon des Saarbrückener Professors für vergleichende Kulturwissenschaften
(14) *Christian Helfer: Lexicon auxiliare. Ein deutsch-lateinisches Wörterbuch. Saarbrücken (Societas Latina) 31991, 644 S.
Helfer hat für sein neulateinisches Vokabular (von gegen 20.000 Wörtern) auch die lateinische Wissenschaftsliteratur (d. h. vor allem Dissertationstitel) des 16. bis 19. Jahrhunderts ausgewertet, so daß ein nicht nur sprachpraktisch, sondern auch sprachgeschichtlich- philologisch interessantes Nachschlagewerk entstanden ist, aus dem man etwa lernen kann, daß "Notwehr" seit spätestens 1586 mit legitima defensio, seit spätestens 1612 mit necessaria defensio wiedergegeben werden kann (klassisch wäre vis vi repulsa). Er beschränkt sich, mit nicht recht erklärlichen Ausnahmen ("Ameise", "Besen" ...), auf Wörter, für die keine unmittelbaren antik-lateinischen Äquivalente vorhanden scheinen; man findet also nicht "Mund", aber "Mundharmonika" (harmonica flatilis) nicht "Freiheit", aber "Freikörperkultur" (nudandi corporis studium; vgl. den Protest des Ennius bei Cic. Tusc. 4,70 = scaen. 395 V. flagiti principium est nudare inter civis corpora). Leider fehlt dem Verfasser, der ja - was zu seinem Ruhm und zur Schande der Philologen gesagt sei - nicht durch die Schule der lateinischen Stilübungen gegangen ist, manchmal das Bemühen um wirkliches Latein; oft wird man besonders auch bei abstrakteren Begriffen mit bequemen Äquivalenten abgefunden: insocialis für "asozial" mag ja gerade noch hingehen (besser belegt ist insociabilis bei Liv., Tac), aber häßlich ist etwa labor corporalis für "körperliche Arbeit" (vgl. stattdessen Ausdrücke wie corpore quaestum facere), noch unschöner mundus ambiens für "Umwelt" (statt etwa aer aqua terra), indiskutabel ius in laborem (Recht auf Arbeit), operarius *nonqualificatus (unqualifizierter Arbeiter) oder gar *nonfumator für "Nichtraucher"! Der Reiz des Lateinsprechens und -schreibens liegt ja gerade darin, daß man eben keine Wort-für-Wort-Entsprechung anstrebt, sondern je nach Zusammenhang latinisiert, also z. B.: fumare non consuevi ("ich bin Nichtraucher"); in hac caupona fumare non licet ("dies ist ein Restaurant für Nichtraucher"). - Sehr viel behutsamer, was Neubildungen angeht, ist das leider nur auf italienischen Lemmata basierende, sonst aber ganz lateinisch verfaßte frühere Standardwerk des gehobenen kirchlichen Lateins:
(15) Antonius Bacci: Lexicon eorum vocabulorum quae difficilius Latine redduntur. Romae (Vatican) 31955 (mir nicht zugänglich: 41961), 709 S.
Kardinal Bacci sorgte jahrzehntelang für die sprachliche Qualität der Verlautbarungen des Vatikan. Er läßt etwa nicht einmal fumare für menschliches Rauchen gelten, sondern nur nicotianum (bzw. tabaci) fumum sugere (bzw. haurire) u. ä. m. (ähnlich auch schon Georges u. a.). Amüsant sind seine gelegentlich durchscheinenden konservativ-katholischen Wertungen: Für "Protestantismus" wird u. a. falsa Novatorum religio vorgeschlagen (offenbar unter der Voraussetzung, daß Nichtkatholiken ohnehin kein Latein treiben). Sein inzwischen vergriffenes Werk soll nun ersetzt werden durch das ähnlich angelegte, aber ausführlichere
(16) *Lexicon recentis Latinitatis editum cura operis fundati cui nomen "Latinitas". Libraria editoria Vaticana in Urbe Vaticana; bisher erschienen: volumen I (A - L), 1992, 454 S. -
für das als moderator Carolus Egger verantwortlich zeichnet. Der Titel ist insofern ein wenig mißverständlich, als das Lexikon nicht speziell Neulateinisches, sondern in annähernd klassischem Latein gehaltene Umschreibungen zur Bezeichnung moderner Dinge gibt; also etwa exterioris paginae puella für "cover girl", tunicula manicata für "Jacke" (giacca) oder instrumentum computatorium für "Computer" (wofür sich sonst als tadellose Neubildung computatrum durchsetzt; computator wäre für eine Maschine unlateinisch). Mitunter freilich kapitulieren auch Vatikanpuristen vor etablierten modernen Fremdwörtern: So wird das widerliche alcoholismus (alcolismo) zugestanden, während Bacci allenfalls alcoholismus, qui dicitur tolerierte, es im übrigen aber vorzog, von ad vinolentiam propensio (bzw. inclinatio) zu sprechen. Es wäre zu wünschen, daß das insgesamt doch nützliche und anregende Lexikon, wenn es einmal fertig ist, auch durch einen deutschsprachigen Index erschlossen wird. - Wem es Freude macht, verschiedene Latinisierungen von Gegenständen des heutigen Lebens zu vergleichen, findet viel in dem Buch von
(17) Iosephus Maria Mir: Nova verba Latina. Barcinone (Claret) 1969, 335 S.
Mir gibt in 25 zusammenhängenden, gelegentlich illustrierten Lesestücken (wie Culina hodierna oder Summus sum birotarius!) einen an die Orbes picti erinnernden Durchgang durch die moderne Welt, wobei gegen 2000 Vokabeln in Anmerkungen begründet und z. T. auch ausführlich erörtert werden: Die Diskussion etwa von aeroplanum oder aeroplanum? geht über fast drei Seiten (193-195). Das wertvolle, in wirklich hübschem Latein verfaßte Werk hat lateinische, italienische und spanische Indizes. - Ähnlich angelegt, aber sprachlich weniger ehrgeizig und (wie schon textus im Untertitel zeigt) nicht sehr puristisch ist
(18) Sigrides Albert: Cottidie Latine loquamur. Textus de rebus cottidianis hodiernisque. Saraviponti-Saarbrücken (Societas Latina) 1987, 105 S.
Wertvoll sind auch hier die Quellenhinweise für die, wie es heißt (S. 3), nicht ex phantasia nostra geschöpften Vokabeln und Neologismen, die überdies durch zwei ausführliche Indizes erschlossen werden. - Für bescheidene Ansprüche auf diesem Feld bietet sich auch an
(19) Langenscheidts Taschenwörterbuch der lateinischen und deutschen Sprache, 2. Teil: Deutsch-Lateinisch, unter Berücksichtigung neulateinischer Ausdrücke von Hermann Menge. Berlin u. a. (Langenscheidt) 291982 (=1963), 460 S.
Das Taschenlexikon, des vor allem durch sein 'Repetitorium der lateinischen Syntax und Stilistik' berühmten Menge ist mehrfach überarbeitet worden; eine "ausführliche Sammlung neulateinischer Ausdrücke" hat für diese letzte Auflage der Römer (Guerino) Pacitti beigesteuert. Nicht auf seine Rechnung geht (da schon in der Auflage von 1937) automobile, das als griechisch-lateinischer Zwitter ebenso häßlich ist wie das heute üblichere autoraeda (Helfer, Nr. 14), besser das reingriechische autocinetum; die Neubildung taximetrum für "Taxi" (bzw. "Autodroschke") ist überflüssig, da Sueton das brauchbare raeda meritoria bietet. Vortrefflich, bei aller Knappheit, sind im übrigen die Bemerkungen zu Synonymik und Phraseologie. - Manches Gegenwartslatein, nicht nur Kirchlich-Theologisches, enthält das anspruchslose Wörterverzeichnis von
(20) Albert Sleumer: Deutsch-kirchenlateinisches Wörterbuch. Bonn (Dümmler) 31962, 277 S.
Ein reines Vokabular bietet auch das von dem Brüsseler Radiologen, Europa- und Lateinfan Guy (Gaius) Licoppe herausgegebene
(21) Melissae Lexicon minus Latinitatis modernae: Latino-Theodiscum B Melissa: Modernes lateinisches Kleinhandwörterbuch: Deutsch-Lateinisch. o. O. (Brüssel) 1988, ohne Paginierung; zu beziehen über "Fundatio Melissa", 76, avenue de Tervueren, B-1040 Bruxelles.
Die Latinisierung der gegen 1.500 Begriffe folgt etwa den vorsichtig modernistischen Prinzipien von Helfer (Nr. 14) und Eichenseer (Nr. 13), der auch beratend mitgewirkt hat; also: "Komparse" - persona muta; "kompatibel" - compatibilis; "Kompetenz" Bcompetentia; "Komplex" - complexus usw. B Als brauchbares Nachschlagewerk für die Latinisierung von Eigennamen sei schließlich noch empfohlen
(22) Carolus Egger: Lexicon nominum virorum et mulierum. Romae (Vatican) 1957, 197 S. -
Für Geographica (Städte, Länder usw.) vergleiche man
(23) Carolus Egger: Lexicon nominum locorum. Officina libraria Vaticana 1977, 345 S.
Erwünscht wäre vor allem ein deutsch-lateinisches Lexikon, das nicht nur (wie üblich) die moderne Terminologie aus Wissenschaft und Technik erfaßt, sondern vor allem auch vom heute wirklich gebrauchten Deutsch (wie es etwa im großen Dudenwörterbuch dokumentiert ist) ausgeht. Auch ein einsprachiges lateinisches Lexikon für Schulzwecke wäre nützlich. Von wissenschaftlichem, besonders kulturgeschichtlichem Interesse wäre vor allem eine Geschichte der deutsch-lateinischen Lexikographie (zu lateinisch-deutschen Lexika vgl. die Skizze von Dietfried Krömer, Die zweisprachige lateinische Lexikographie seit ca. 1700, in: Wörterbücher - Dictionaries - Dictionnaires, hrsg. v. F. J. Hausmann u. a., Berlin/ New York, Bd. 3, 1991, 3030-3034; vgl. dens. in Bd. 2, 1990, 1713-1722: Lateinische Lexikographie).
I. Lexikalische Hilfsmittel
II. Zum gesprochenen Umgangslatein
III. Lateinische Grammatik lateinisch eingeübt
IV. Zur lateinischen Aussprache
V. Latein gesungen
VI. Proben zeitgenössischen Lateins
II. Zum gesprochenen Umgangslatein
In der Zeit vom 16. bis zum 19. Jahrhundert entstehen eine Fülle von Stilistiken, aus denen man das Lateinschreiben lernen kann; es gibt aber bis heute kein fundiertes Lehrbuch der lateinischen Umgangssprache. Denn in dem bedeutenden Werk des Sprachwissenschaftlers
(24) Johann Baptist Hofmann: Lateinische Umgangssprache. 3. Aufl., Heidelberg (Winter) 1951, XVI und 252 S. B
sind zwar die Divergenzen der gesprochenen Sprache vom Schriftlatein wissenschaftlich aufgearbeitet, sprachpraktische Hinweise erhält man aber nur für einige Interjektionen, Höflichkeitsformen und modifizierende Adverbien; man erfährt nicht, wie man sich z. B. im Lateinischen begrüßt und verabschiedet, wie man bittet und dankt, zustimmt und widerspricht usw. - Nützliche Hilfe hierfür bietet jetzt die etwa tausend Nummern umfassende Sammlung klassischer Gesprächsphrasen von
(25) *Andreas Fritsch, Materialien zum Lateinsprechen, in: Lateinsprechen im Unterricht (oben Nr. 1) 113-145; dieselbe Sammlung ist auch, alphabetisch angeordnet, als Auctior index locutionum im Sonderdruck vorhanden.
Die Phrasen sind im Hinblick auf Verwendungsmöglichkeiten im heutigen Unterricht ausgewählt und in dreißig Abschnitte gegliedert ("Begrüßung", "Gut geschlafen?", "Pünktlich oder zu spät?" ...). Genaue Belegstellen werden jeweils angegeben: neben Plautus, Terenz und Cicero als wichtigsten Gewährsleuten sind vor allem auch Horaz, Seneca und Augustin sowie einige Neuere (Erasmus, Menge, Bornemann) ausgewertet. Zu manchen Wendungen wünscht man sich mehr Kommentar: So wird z. B. nicht klar, daß numquid vis? (eingeordnet unter "Gibt's noch etwas?") den Abbruch eines Gesprächs bzw. das Fortgehen des Sprechers - "Darf ich, so empfehl' ich mich" - einleitet ( vgl. die Kommentare etwa zu Hor. sat. 1,9,6). Vortrefflich ist dagegen etwa, daß unter "Danke" nicht nur Belege für gratias ago und gratias habeo gegeben werden (das heute bei sprechenden Lateinern übliche absolute gratias ist recht unlateinisch, obwohl Fritsch gratias tibi in der Anrede an Gott bei Augustin nachweist), sondern auch Wendungen wie benigne atque amice facis, (denn der Lateiner lobt meist, wo wir heute danken); erwähnt werden könnte aber auch, daß benigne für sich soviel wie "Nein danke" heißt (Hor. epist. 1,7,16; 62). Wichtig wäre vor allem, die Sammlung auf Sprechsituationen auch außerhalb des Unterrichts auszudehnen. Selbst gute Lateiner wissen ja meist nicht, daß "Herzliches Beileid" pessime factum und "Prosit" bene tibi heißt (letzteres immerhin bei Georges [oben Nr. 3] s. v. "Wohl"). - Weit elementarer und weniger 'klassisch' ist
(26) Karl-Heinz Graf von Rothenburg (Rubricastellanus): Meine ersten Wörter und Sätze, Latein. München (ars edition) 1992, 48 S.
Die von einfachsten (in der Form von Comic-Sprechblasen) Sätzen ausgehende Einführung in die Sprache ist offenbar aus dem Englischen übernommen und jedenfalls nicht ursprünglich im Hinblick auf das Lateinische entwickelt worden. So findet man denn die unlateinischen, den modernen Sprachen angeglichenen Wendungen bonum diem, bonum vesperum (S. 4, statt einfach salve); potesne mihi dare aquam, quaeso? (S. 22 , statt da mihi ...), violina ludo (S. 25, statt v. cano), excusa me, estne cafeum in propinquo? (S. 31, hier ist wohl nur dic mihi, quaeso bzw. amabo, sis, sodes möglich). Auch sonst ist manches mit allzu leichter Hand gemacht (S. 10: dicisne Latine? für loquerisne Latine? hätte nicht passieren dürfen; vgl. auch die Besprechung von C. Eichenseer, Vox Latina 28, 1992, 618-620) - dennoch ein prinzipiell anerkennenswerter Versuch, wirklich kindgemäß und amüsant Latein zu unterrichten! - Keine Empfehlung mehr braucht der vom selben Verfasser seit zwei Jahrzehnten übersetzte Asterix Latinus, von dem ich nur honoris causa den ersten Band nenne:
(27) Periculum quoddam Asterigis: Asterix Gallus, composuit Goscinny, pinxit Uderzo, in Latinum convertit Rubricastellanus. Stuttgardiae (DELTA) 1973, 41978, 48. S.
Diese Übersetzung ist nicht nur eine "Motivationshilfe im lateinischen Grammatikunterricht" (E. Lüttje, AU 22,5, 1979, 34-47), sondern gibt auch einige Anregungen zum Lateinsprechen; man muß aber schon gut Latein können, um ihren Witz zu verstehen. Von sonstigen mehr oder minder geglückten Versuchen, gesprochenes Latein in Comics zu vermitteln (vgl. K.-H. Graf v. Rothenburg, Comics im Lateinunterricht; Latein und Griechisch in Berlin 33, 1989, 2-10 und Müller/ Schauer [oben Nr. 2] S. 293-295 und Schlagwortregister s. v. "Comic"), sei nur noch erwähnt, da im Sprachlichen weniger problematisch:
(28) Helmut Oberst: Plautus in Comics. Die Gespenstergeschichte (Mostellaria) mit dem lateinischen Text. Zürich u. a. (Artemis) 1971, 101993, 78 S. - Ders.: Terenz in Comics [Adelphoe], (1975) 31981, 93 S.
Der Text ist hier geschickt vereinfacht und radikal gekürzt (zur Kritik vgl. bes. Udo Frings, Comics im Lateinunterricht?, Gymnasium 85, 1978, 47-54). Insgesamt wäre zu wünschen, daß statt der üblichen Übersetzungen mit Comic-Helden wie Micky Maus, Hägar und Snoopy originelle, echt lateinische Bildergeschichten konzipiert würden: nova quaerimus et Latina! - Wer sonst Anregung und Anleitung zu lateinischen Gesprächen sucht, sieht sich vor allem verwiesen auf die Gattung der im 15./ 16. Jahrhundert blühenden Schülergespräche, mit denen den glücklichen Lateinschülern der Renaissance ein wahrhaft lebendiges Latein vermittelt wurde. Sie sind mustergültig aufgearbeitet von
(29) *A(loys) Bömer: Die lateinischen Schülergespräche der Humanisten. Auszüge mit Einleitungen, Anmerkungen und Namen- und Sachregister. 2 Teile, Berlin 1897/1899, 236 S.; Ndr. Amsterdam (Schippers) 1966, mit Aufs. v. A. Bömer, Lernen und Leben auf den Humanistenschulen im Spiegel des lateinischen Schülerdialogs.
Besonders hingewiesen sei auf den Vater der Schülergespräche Paulus Niavis (Schneevogel), der in köstlichen Dialogen einen modernen Humanistenlateiner gegen einen mittelalterlich rückständigen Küchenlateiner antreten läßt (Bömer 46-52). Die Komik dieser Konfrontation von Sprachebenen kann auch von heutigen Schülern empfunden werden. - Eine Schulauswahl dieser zum Lateinreden ermunternden Dialoge geben jetzt (mit sprachlichem und sachlichem Kommentar)
(30) Lore Wirth-Poelchau/ Wolfgang Flurl (Hrsg.), Schülergespräche der Humanisten. Bamberg (Buchner) 1992 (Reihe ratio 31), 88 S.
(Vgl. dazu auch L. Wirth-Poelchau, Die lateinischen Schülergespräche der Humanisten im heutigen Lateinunterricht, AU 29,1,1986, 75-88.) Noch die berühmten, zur Weltliteratur gehörenden 'Colloquia familiaria' des Erasmus entstammen dieser ursprünglich nur didaktischen Gattung und haben Elemente davon; sehr nützlich für das Lateinsprechen ist vor allem die Urfassung, jetzt (in Auswahl) bequem zugänglich in
(31) Erasmus von Rotterdam: Familiarium colloquiorum formulae B Schülergespräche, lat./ dt., ausgew., übers. u. hrsg. v. L. Wirth-Poelchau. Stuttgart (Reclam UB 7784) 1982.
Eine andere brauchbare Neuausgabe ist die von
(32) Sebaldus Heyden: Formulae puerilium colloquiorum (zuerst 1528). Spätere Fassung (Minden a. d. Weser 1685): Formulae latine loquendi pueriles incohatae à Sebaldo Heyden, etc., Ndr. mit einem Nachwort v. Klaus Weddigen. Stuttgart (Klett) 1990, 128 S.
Ein Ausläufer der Gattung im 18. Jahrhundert ist
(33) Joachim Lange: Tirocinii pars dialogica, continens centuriam colloquiorum, hrsg. v. Andreas Fritsch in: Vox Latina 24, 1988, 73-89; 211-227.
Sie hat heute immerhin eine etwas bläßliche Nachfahrin in
(34) G(eorg) Schwieder: Latine loquor. Romae (Herder) 1953, 355 S.
In nicht weniger als 223 z. T. längeren Gesprächen ermahnen sich hier diverse ungewöhnlich brave Schüler zu fleißigem Lernen und Gehorsam gegenüber ihren als vortrefflich geschilderten Lehrern. Die nach zunehmender sprachlicher Schwierigkeit angeordneten Gespräche enthalten vorzügliches Latein und sind jeweils mit einem Anhang memorierbarer Phrasen versehen. - Anregender ist der nicht auf die Schule eingeengte, sondern alle Gebiete des heutigen Lebens umfassende Sprachführer von
(35) *Georg Capellanus: Sprechen Sie Lateinisch? Moderne Konversation in lateinischer Sprache (zuerst 1890). 15. Aufl. von Ludwig Spohr, Bonn (Dümmler) 1979 (im wesentlichen = 131966), 176 S.
Der Charme dieses vor allem außerhalb der Schule beliebten Werks beruht auf dem gleich großen Bemühen um ein zeitgemäßes Deutsch wie um ein echtes Latein. Besonders wertvoll ist der allgemeine Teil, in dem die Standardsprechhandlungen wie Begrüßen, Entschuldigen, Fragen, Bejahen usw. abgehandelt werden (S. 15-48): z. B. "im Ernst? ain'tu? - Sie spannen mich auf die Folter! enecas" (S. 43 f.). Nicht angegeben ist aber z. B., wie man auf eine verneinte Frage mit "doch" antwortet (richtig: immo, vgl. Cic. Att. 9,7,4 causa igitur non bona est? immo optima). Dergleichen Dinge findet man meist nur, wenn man sie schon ohnehin weiß oder ahnt, in lateinisch-deutschen Lexika. Wohltuend ist überall der Humor des Verfassers und seiner Bearbeiter - es lohnt sich, frühere Auflagen zu vergleichen -, der sich sowohl bei der Formulierung einzelner Sätze, wie "Der Brief kann meinetwegen bleiben, wo er will, wenn nur das Geld kommt" (S. 95 nihil moror litteras, argentum modo veniat) als auch bei der Latinisierung einzelner Begriffe zeigt: "Brustschwimmen" ist, wie im Italienischen, ranae more natare (S. 126, dagegen "Kraulstil" alternis bracchiis natare); die "Unterführung" heißt cuniculus (S. 94, nicht subtertransitus wie bei Helfer, oben Nr. 14), der "Rennfahrer" auriga (S. 132), was allerdings nicht ganz eindeutig ist. Besonders hilfreich ist die Konfrontation deutscher Sprichwörter mit lateinischen (S. 157-168; z. B. "aus der Mücke einen Elefanten machen", arcem ex cloaca facere). Hier gibt Capellanus auch die Belege, die sonst leider fast immer fehlen. - Ähnliche Ziele verfolgt auch das bescheidenere Büchlein von
(36) Caelestis Eichenseer: Latein aktiv - lateinischer Sprachführer. Lateinisch sprechen und diskutieren. Berlin (Langenscheidt) 1984, 48 S.
Ohne Anspruch auf Unterhaltungswert gibt Eichenseer eine Reihe nur der allereinfachsten Redewendungen ("Ich brauche ...", "Was kostet ...?") und vor allem Neologismen bis hin zur leibhaftigen "Telexgebühr", taxa telescripticia. (S. 40). Wie in seinen anderen Arbeiten (siehe bes. oben Nr. 12 und 13) zeigt sich das Bestreben, möglichst jedem deutschen Begriff eindeutig einen lateinischen zuzuordnen. So ist "Ballett" nicht saltatio, sondern ballatio scaenica (S. 25); "Festspiele" nicht ludi, sondern festivalia (S. 26). Das Latein gewinnt dabei an international bequemer Verständlichkeit, verliert aber an ästhetischem Reiz, der sich ja eben aus der Anwendung antiker Vorstellungen auf moderne Verhältnisse ergibt: Das römisch empfundene quis est scaenarum dispositor? (S. 24) für "Wer ist Regisseur?" ist weniger suggestiv als etwa quis gregem docuit? - Völlig anders ist jetzt der ganz auf lustig stilisierte Konversationsführer von
(37) Piero della Gherardesca: Il Latino per tutte le occasioni, manuale di conversazione per l'uomo d'oggi. Milano (Sonzogno) 1994.
Von ihm wird endlich einmal auch das aus der Tradition der Schülergespräche sonst ausgeklammerte Liebesleben behandelt (bes. Kap. IX "Il Latino per il sesso", Lingua Latina libidini, S. 89 ff.), aber hier wie sonst sind die Lateinschnitzer betrüblich (S. 91): Die käufliche Liebe inspiriert zu einem falschen Passivum: Re vera, non parvum lucrum facitur. Und fast ebenso häßlich ist die Standardfrage Apudne me vel te? (richtig natürlich: an!) Besonders muß gewarnt werden vor "Präservativen", die sprachwidrig tegumembra (S. 47) heißen. Schade um das löbliche Anliegen! Der Verfasser, "un noto studioso di lingue e letterature classice" (Umschlagtext) hat gut daran getan, ein Pseudonym zu wählen.
Hoffentlich findet sich bald einmal ein sprachbefähigter Lateiner, der die alte Gattung der Schülergespräche zeitgemäß und schöpferisch erneuert!
I. Lexikalische Hilfsmittel
II. Zum gesprochenen Umgangslatein
III. Lateinische Grammatik lateinisch eingeübt
IV. Zur lateinischen Aussprache
V. Latein gesungen
VI. Proben zeitgenössischen Lateins
III. Lateinische Grammatik lateinisch eingeübt
Seit 1955/ 59 gibt es ein Lehrbuch der lateinischen Sprache, das ausschließlich in Latein abgefaßt ist:
(38) *Hans H. Ørberg: Lingua Latina per se illustrata. Pars I: Familia Romana. Hauniae (Museum Tusculanum) 1981, 21991 (in früherer Fassung 1955), 328 S.; in Deutschland erhältlich über Klett (Stuttgart), zusammen mit lat.-dt. Vokabularium. Pars II: Roma aeterna a. O.1990 (in früherer Fassung 1959), 424 S.; erhältlich über: Museum Tusculanum, Njalsgade 94, DK-2300 Kopenhagen S.
Der ursprüngliche Titel Lingua Latina secundum naturae rationem explicata zeigt das Ziel noch deutlicher: Ørberg folgt der "Naturmethode" seines dänischen Landsmanns Arthur Jensen (vgl. zum Verfahren H. Ørberg, in: Association G. Budé, Actes du IXe Congrès Rome 1973, 914-922). Beginnend mit den Sätzen Roma in Italia est. Italia in Europa est. Graecia quoque in Europa est ...wird so in die Sprache eingeführt, daß jede Wortbedeutung und jede Wortform aus sich selber verständlich ist. Gelegentlich werden am Rand Hilfen gegeben (qui = is qui; verbum = vocabulum) oder grammatische Phänomene festgehalten (stultus - stulte; fortis - fortiter); auch kleine Illustrationen tragen zum Verständnis bei. Die 35 Kapitel des ersten Bands vermitteln Formenlehre und einfache Syntax an Hand von umfangreichen, unterhaltsamen Lesestücken, die zum größeren Teil untereinander zusammenhängen und in einer recht munteren römischen Familie, vor allem unter Kindern, spielen. (So wird zugleich auch eine Einführung in römische Kultur und Alltagsleben gegeben.) Zu jedem Kapitel kommen ein Abschnitt mit Grammatikerläuterungen (ebenfalls in unmittelbar verständlichem Latein) und drei sprachliche Übungen, pensa. Da die Lesestücke weithin dialogisch sind, erhält der Schüler auch Hilfe zum Lateinsprechen, ohne daß dies das Ziel des Unternehmens wäre. Die Vermittlung des grammatischen Stoffs ist, soweit ich urteilen kann, sehr geschickt. So wird z. B. der AcI zusammen mit dem Infinitiv überhaupt eingeführt in unproblematischen Sätzen mit Verba der Sinneswahrnehmung wie (S. 72): Canis avem supra se volare videt ...; die Übertragung auf dicit u. ä. erfolgt dann im nächsten Kapitel, wo die Worte eines Arztes, der den vom Baum gefallenen jungen Quintus behandelt, der schwerhörigen Sklavin Syra ins Ohr gesagt werden müssen (S. 81): Medicus: "Puer spirat et cor eius palpitat." [...] Syra: "Quid dicit medicus?" Aemilia: "Medicus dicit Quintum spirare et cor eius palpitare. [...]". Der 2. Band gibt an Hand von Texten römischer Autoren, die anfangs in Bearbeitung, später im Original wiedergegeben sind, einen Durchgang durch die römische Geschichte von Aeneas (Vergil in Prosa) bis Cicero. Auch hier dienen jeweils drei angehängte pensa dem sprachlichen Training. Eigentliche Grammatikerläuterungen fehlen in diesem Teil. - Die Lehrbücher werden ergänzt durch
(39) H.H. Ørberg: Exercitia Latina. Hauniae 1981, 168 S.; Colloquia personarum. Hauniae 1985, 90 S. (erhältlich über Museum Tusculanum,wie oben Nr. 38) -
die weiteres (besonders auch zum Lateinreden anregendes) Lese- und Übungsmaterial zu den einzelnen Kapiteln des 1. Buchs enthalten. Es ist kaum begreiflich, daß dieses mit Sachverstand und Leidenschaft verfaßte Unterrichtswerk in Deutschland noch nicht einmal versuchshalber in Schulen eingeführt wurde (ein begeistertes Urteil nach 13-jähriger Erprobung: J. O. Loyd, Indiana State University, in: New England Classical Newsletter 14, Nr. 4, Mai 1987). Es bietet jedenfalls auch bei herkömmlichem Unterricht eine "wahre Fundgrube für Übungsmaterial" - vor allem aber einen Anreiz "zum Überdenken der eigenen Methode" (Peter Gamper, Anz. f. d. Altertumswiss., Didakt. Informationen 4, 1982, 45). B
Ebenso durchgängig lateinisch, aber nicht ebenso methodisch angelegt ist das bescheidene Buch des Vatikanlateiners (vgl. oben Nr. 16)
(40) Carolus Egger: Latine discere iuvat. Città del Vaticano (Libreria Editrice Vaticana) 1974, 31982, 127 S.
Wenn das in 30 Lektionen (scholae) angelegte Übungswerk nach der Begrüßung von magister und discipuli beginnt mit (S. 6) In omni lingua initium sumitur ab alphabeto ..., so ist klar, daß eine gewisse Kenntnis der Unterrichtssprache Latein hier schon Voraussetzung ist. So reicht das Werk für sich schwerlich aus, um daraus Latein zu lernen. Vieles ist didaktisch nicht recht begreiflich: Lesestücke sind kaum vorhanden, die zum Lernen aufgegebenen Vokabeln stehen oft in keinem Zusammenhang zur Lektion; die Übungssätze sind meist trivial und allenfalls unfreiwillig erheiternd wie z. B. (S. 15): amica mea heri bona erat (zur Umsetzung in den Plural!). Immerhin erhält der Lateiner einige Anregungen, wie er den Grammatikstoff auch in lateinischer Sprache darstellen kann. - Viele Anregungen für gesprochenes Latein gibt das französisch geschriebene, recht kurzweilige Lehrbuch des auch Lateinsprechkurse (Feriae Latinae Nicaeenses) veranstaltenden
(41) C(lément) Desessard: Le Latin sans peine. Chennevières S/Marne (ASSiMiL) 1966, 51982 (Ndr. 1993), XVI & 546 S.
Das Prinzip der "Méthode 'Assimil' ", nach der das zum Selbststudium bestimmte Werk angelegt ist, beruht auf dem wiederholten lauten Vorlesen der nach wachsender Schwierigkeit geordneten Texte, zu denen fast stets eine Übersetzung gegeben wird. Grammatische Phänomene werden erst systematisch erläutert, wenn sie schon eine Weile in Gebrauch sind (vgl. beispielsweise S. 228 ff. zu Tempora, Modi, Genera verbi usw.). Erst von der fünfzigsten Lektion an wird auch ins Lateinische zurückübersetzt. Die Texte behandeln vielfach Zeitgenössisches in Form einer "conversation familière" (S. VI) - zu den ersten Vokabeln gehören caffeum und cinematographeum B, führen aber zu Klassikern der antiken, mittel- und neulateinischen Literatur. Das Latein ist bemüht, aber nicht immer völlig klassisch (so z. B. stets incepi statt coepi) und idiomatisch korrekt (S. 288 inter se intelligunt offenbar = "verstehen sich gut"). Die zu dem Lehrbuch gehörigen Kassetten kenne ich noch nicht. - Kein eigentliches Lehrbuch ist
(42) Josephus Mall: Latinitate optima originali, non magistrorum, cum gaudio docebis disces linguam Latinam, 5500 formulis, verborum lusibus, sententiis, electis e poetis locis. Calliano (Manfrini) 1988, 272 S.
Es handelt sich um eine Sammlung lateinischer Sprüche und Verse, die nach Kapiteln der Grammatik (wie z. B. Adjektiv, optative Nebensätze) geordnet sind. Mall will bewirken, ut lingua Latina discatur tamquam viva, vera lingua (S. 11), wobei jedoch schwer einzusehen ist, warum dies nur an Hand von "Original"-Sätzen geschehen kann. Die Sammlung enthält manchen hübschen Fund, vor allem Wortspiele (unübertroffen hier Hans Weis: Bella bulla, Bonn 61976) ist aber nachlässig redigiert: Schon im 4. Beispiel (Poeta propheta) ist eine Vokalquantität falsch angegeben (richtig propheta); rätselhaft ist mir Nr. 9 (Poeta, epota B gemeint Imperativ epota?); Pro forma (Nr. 17) ist modernes Allerweltslatein, keine Latinitas optima originalis (wo schon originalis gewisse Bedenken erregt, vgl. den Antibarbarus von Krebs/ Schmalz s. v.). Die Fundstellen sind ganz unregelmäßig angegeben, Verse nur z. T. (durch Ikten, nicht Quantitäten) als solche markiert. - Nur erwähnen kann ich den von Suitbert Siedl in 13 capsellae magnetophonicae (Tonkassetten) herausgegebenen Cursus linguae Latinae vivae (Textheft: 204 S.), der von C. Eichenseer in Vox Latina 28, 1992, 622 kurz angezeigt, aber nicht kritisch besprochen wird: Laut Selbstvorstellung geht Siedl davon aus, daß auch die lateinische Sprache ein phaenomenon acusticum ist, weswegen die Kassetten hujus methodi pars essentialis seien. Siedls Latein scheint demnach eher bescheiden im Anspruch; die Aussprache auf den Kassetten soll die italienische sein. - Eine Hilfe für echte Redeübungen im Grammatikunterricht geben (neben dem Aufsatz von Hanna Sattler, oben S. )
(43) Raimund Pfister: Instrumentum I, Lehrerheft. Bamberg/ München (Buchner, Lindauer, Oldenbourg) 1985, 120 S.; Wolfgang Flurl: Instr. II, Lehrerh., 1983, 119 S.; W. Flurl/ R. Pfister, Instr. III, Lehrerh., 1986, 87 S.
Eingeübt werden bestimmte Formeln, bei denen die Schüler nur weniges selber erfinden müssen; z. B. (als "Reihensprechübung"): Mihi vestimenta Monicae placent. Cuius vestimenta tibi placent, Rosa? (Instr. I, S. 56). Raimund Pfister hat, wie ich mich erinnere, solche Übungen sehr zum Vergnügen der Lateinanfänger bei den 'Scholae Frisingenses' (1988-1990) durchgeführt; sonst weiß ich nichts über Unterrichtserfahrungen - Daß schließlich auch der Lektüreunterricht für die Fortgeschrittenen kein reiner Übersetzungsunterricht sein muß, zeigt wiederum Ørberg mit einer einsprachig lateinisch kommentierten Schulausgabe:
(44) T. Maccii Plauti Amphitryo comoedia, ad usum discipulorum edidit Hans H. Ørberg aliquot versibus omissis. o. O. (Selbstverlag) 1993, 84 S.; erhältlich über Klett Schulbuchverlag (mit lat.-dt. Vokabular im Beiheft) und vom Verfasser (Skovvangen 7, DK B 8500 Grenaa, Dänemark).
I. Lexikalische Hilfsmittel
II. Zum gesprochenen Umgangslatein
III. Lateinische Grammatik lateinisch eingeübt
IV. Zur lateinischen Aussprache
V. Latein gesungen
VI. Proben zeitgenössischen Lateins
IV. Zur lateinischen Aussprache
Manche Lehrer, heißt es, legen auf die Aussprache des Lateinischen ebenso wenig Wert wie die Physiker auf die phonetische Realisation ihrer Formeln. Wer lebendig gesprochenes Latein liebt, kann diese Einstellung nicht haben. Sie sollte sich aber auch schon aus schierem Respekt vor der Sprache der Römer und ihrer literarischen Kunstwerke, die immer auch zu mündlichem Vortrag bestimmt waren, verbieten. Im übrigen ist es interessant zu beobachten , daß Probleme der richtigen Lateinaussprache weit mehr das breite gebildete Publikum als z. B. die zünftigen Fachdidaktiker interessieren. Eine Ausnahme macht unter ihnen immerhin (neben Fritsch natürlich, oben Nr. 1, S. 84-89) Hans Joachim Glücklich (Korrekte Aussprache des Lateinischen - Ein Lernziel? AU 19, 4, 1976, 4, 108-111). Wie er meine ich, daß ein moderner Lateinunterricht eine "historisch korrekte Aussprache" anstreben sollte. Damit ist, streng genommen, nicht nur die sogenannte k-Aussprache und die diphthongische Realisierung von ae und oe gemeint, sondern z. B. auch, daß man v wie ein englisches w ausspricht, die Tenues p c t nicht behaucht und manches andere, was hier natürlich auch nicht andeutungsweise ausgeführt werden kann. Die Verfechter der "traditionellen Aussprache" ahnen meistens nicht, daß es d i e traditionelle Aussprache gar nicht gibt, vielmehr jedes Volk herkömmlicherweise lateinische Buchstabenfolgen nach der je eigenen Sprechgewohnheit wiedergibt. Einen ergötzlichen Eindruck hiervon vermittelt die als Phonocaseta prima der Societas Latina herausgegebene Kassette
(45) Phonocaseta prima colloquiorum Latinorum, 90 Minuten; dazu Caelestis Eichenseer: Libellus textualis phonocasetae primae, 31986 (erhältlich über Soc. Lat., siehe oben Nr.12).
Wenn hier (unter anderem) Vertreter von sieben Völkern den Anfang des Bellum Gallicum je nach eigener Tradition sprechen, ist kaum mehr zu ahnen, daß es sich um denselben Text handelt. Der sog. pronuntiatus restitutus (wie er vor allem seit dem Lateinkongreß von Avignon 1956 weltweit propagiert wird) ergibt sich als zwingendes Gebot schon aus dem Bedürfnis nach internationaler Verständlichkeit. - Den heute in Deutschland üblichen Zustand der Aussprache beschreibt vom Standpunkt des Sprachwissenschaftlers aus sehr instruktiv
(46) *Max Mangold: Phonetik und Phonologie des Lateinischen in der Schulgrammatik, in: Klaus Strunk (Hrsg.), Probleme der lateinischen Grammatik (Wege der Forschung Bd. 93). Darmstadt (Wiss. Buchges.) 1973, 59-71.
Er stellt fest, daß unsere gängigen Schulgrammatiken, was die Darstellung der Aussprache angeht, zwar "unzureichend, unwissenschaftlich und unpädagogisch" sind, daß sie aber doch "der lateinischen Sprache nicht gerade Gewalt antun, wie es im Unterricht dauernd geschieht" (S. 62). Leider gibt es kein einschlägiges modernes Handbuch speziell für deutsche Lateinstudenten bzw. -lehrer; man findet aber einen (in der Sprache der heutigen Phonetik formulierten) dogmatischen Abriß der wichtigsten Tatsachen in dem erstaunlich informativen Buch der Stuttgarter Sängerin
(47) Vera U.G. Scherr: Aufführungspraxis Vokalmusik: Handbuch der lateinischen Aussprache; klassisch-italienisch-deutsch; mit ausführlicher Phonetik des Italienischen. Kassel u. a. (Bärenreiter) 1991, 35-52.
Höchst verdienstvoll ist dabei, daß die Verfasserin z. T. auf Grund eigener Forschungen sogar eine Geschichte der deutschen Schulaussprache des Lateinischen, vor allem der Reformbemühungen im 19. und 20. Jahrhundert skizziert (S.93-132). - Mehr auf englische Bedürfnisse zugeschnitten ist das bekannte Standardwerk von
(48) W. Sidney Allen: Vox Latina. A Guide to the Pronunciation of Classical Latin. Cambridge 21978 (1965), 132 S.
Vorzüglich und knapp unterrichtet auch das Buch von
(49) *Edgar H. Sturtevant: The Pronunciation of Greek and Latin. Chicago (Ares) 21975 (= Philadelphia 11940), 192 S.
(Andere wissenschaftliche Literatur findet man jetzt bei Fabio Cupaiuolo, Bibliografia della lingua latina [1949-1991], Napoli 1993, 166-170; vgl. bes. Lothar Steitz, Bibliographie zur Aussprache des Lateins, Saarbrücken 1987.) Dagegen sind die heute üblichen Darstellungen der lateinischen Lautlehre (Leumann, Sommer/ Pfister) mehr an der Geschichte der Laute als an der Aussprache selber interessiert, obwohl sie natürlich auch dazu einiges sagen. - Unübertroffen aber bleibt schon durch Geist und Charme der Darstellung
(50) *Desiderius Erasmus: De recta Latini Graecique sermonis pronuntiatione dialogus [1528], als Lesetext herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Johannes Kramer. Meisenheim a. Gl. (Hain) 1978 (Beiträge zur Klass. Philologie H. 98), 236 S.
Zur Aussprache der Vokalquantitäten ist hilfreicher sogar als die 'wissenschaftlichen' Lexika:
(51) Langenscheidts Großes Schulwörterbuch Lateinisch-Deutsch, bearbeitet von Erich Pertsch auf der Grundlage des Menge-Güthling. Berlin u. a. 81991 (=1971), 1338 S.
Wissenschaftlich wohl etwas überholt, aber - leider - noch nicht ersetzt ist:
(52) Anton Marx: Hülfsbüchlein für die Aussprache der lateinischen Vokale in positionslangen Silben. Mit einem Vorwort von Franz Bücheler. Berlin (1889) 31901, XVI & 93 S.
Wichtiger als die korrekte Aussprache der Einzellaute ist - das wird fast immer übersehen - die der Silben: Nicht nur naturlange, sondern auch positionslange Silben sind doppelt so lang wie kurze Silben auszusprechen (ohne daß bei diesen etwa der kurze Vokal gelängt werden darf). Hinweise zur Realisierung (vor allem mit Hilfe der italienischen Analogien tanto, bocca usw. ) gebe ich selber (angeregt vor allem durch Detlev Fehling):
(53) Wilfried Stroh: Kann man es lernen, lateinische Verse zu sprechen? In: Peter Neukam (Hrsg.), Begegnungen mit Neuem und Altem. München (Bayer. Schulbuchverlag) 1981 (Dialog Schule - Wissenschaft, Klass. Sprachen und Literaturen Bd. 15), 62-89 (dort zur Positionslänge S. 69-71).
Wie der Titel sagt, geht es in diesem Vortrag aber in erster Linie um die Aussprache von Poesie (die, wenn man Silbenqualitäten ernst nimmt, leichter ist als die von Prosa!): Vor allem über quantitätsrichtiges Singen kommt man hier m. E. zum richtigen Sprechen (vgl. unten zu Daitz, Nr. 59). Die von mir dabei vertretene Auffassung, daß man im antiken Rom Verse ohne den heute in der Schule üblichen Iktus gelesen habe, geht auf Madvig und Nietzsche zurück, ist aber nicht unumstritten; ich habe sie wissenschaftlich näher begründet in einem Beitrag zur Festschrift Viktor Pöschl (M.v.Albrecht/ W. Schubert [Hrsg.]: Musik und Dichtung, Frankfurt/M. 1990, 87-116). Was das Didaktische angeht, stimme ich in vielem überein mit
(54) Franz Peter Waiblinger: Zur Einführung in das Lesen lateinischer Verse. Anregung 37, 1991, 379-386.
Waiblinger läßt (in einem gewissen Gegensatz zu mir) "eine leichte Akzentuierung der Iktus-Stelle" (S. 379) zu und empfiehlt, vom Hendecasyllabus auszugehen. - Praktische Hilfe zur Aussprache bieten vor allem einige Tonkassetten. Über die Staatliche Landesbildstelle Südbayern (Am Stadtpark 20, D - 81243 München) sind erhältlich
(55) Hermann Bick: Zur Aussprache des Lateinischen im Anfangsunterricht und in der Anfangslektüre. Institut für Unterrichtsmitschau und didaktische Forschung der Universität München 1982 (mit Beiheft, 40 S.)
und
(56) Wilfried Stroh: Proben lateinischer Verskunst. Institut für Klass. Philologie und Inst. f. Unterrichtsmitschau (wie oben) 1981 (mit Beiheft, 40 S.), 90 Minuten.
Vgl. zu beiden die Besprechung von Detlev Fehling, Gymnasium 91, 1984, 542-544. Die Societas Latina (oben unter Nr. 12) bietet außer der schon erwähnten Kassette noch neun weitere an (u. a. mit Texten aus der Vulgata, aus Erasmus usw.) darunter als Nr. 2
(57) Phonetice Latina (minutarum 94); dazu Libellus textualis von Caelestis Eichenseer, 21987, 27 S.
und als Nr. 9
(58) De pronuntiatu Latino, 45 Min.; dazu Libellus textualis phonocasetae nonae von Max Mangold, 1987, 20 S.
Sprecher ist der schon erwähnte (oben Nr. 46) Phonetikspezialist Mangold (der auch auf den übrigen Kassetten einen größeren Part hat). Leider spricht er recht monoton und ist einseitig um die korrekte Aussprache nur der einzelnen Wörter bemüht; die Wortverbindungen und damit der Rhythmus des rhetorischen Kolons werden kaum beachtet (vgl. Bernhard Teuber, Gymnasium 91, 1984, 536-541, bes. 539 f.). - Künstlerisch anspruchsvoller sind die Kassetten, die der stimmgewaltige New Yorker Griechischprofessor und geradezu professionelle Rezitator Stephen G. Daitz herausbringt. Seine Reihe "The Living Voice of Greek and Latin Literature" enthält zwar vor allem Griechisches, darunter ist aber auch
(59) *The Pronunciation and Reading of Classical Latin: A Practical Guide by Stephen G. Daitz. London (Jeffrey Norton Publishers) 1984; 2 Kassetten (insgesamt 105 Minuten) mit Beiheft, 20 S. Erhältlich über: Audio Forum, 31 Kensington Church St., London W 8 4 LL, England.
Interessant ist, daß die von Daitz hier empfohlene, über ein Singen führende Methode zur Einübung lateinischer Verse genau der entspricht, die ich selber unabhängig von ihm entwickelt und in meinem Vortrag (oben Nr. 53) dargestellt habe. In der genannten Reihe erschien auch
(60) Selections from Cicero Read in Classical Latin by Robert P. Sonkowsky. New York/ London (J. Norton Publ.) 1984; 2 Kassetten (insgesamt 176 Minuten) mit Beiheft, 42 S. Erhältlich wie oben Nr. 59; mir noch unbekannt: Selections from Vergil Read in Classical Latin by R. P. Sonkowsky; 1985.
Mehr als ich selbst dies auf meiner (vor allem dem Problem des Verses gewidmeten) Kassette (Nr. 56) versucht habe, ist Sonkowsky um eine korrekte Einzellautung bemüht: Seine Cicerorezitation dürfte dem Originalklang von allem, was heute geboten wird, am nächsten kommen (vgl. aber auch zu künstlerischen Mängeln Kjeld Matthiesen, Gymnasium 95, 1988, 74-76). - Auch die Melissa des Guy Licoppe (oben Nr. 21) veröffentlicht gelegentlich als "Melissae Emissiones Latinae" Tonkassetten, die hübsche Gespräche und Lieder enthalten. Ihm zu verdanken ist eine auch phonetisch ansprechende Verfilmung einer Plautuskomödie:
(61) Rudens. quam comoediam Plautinam rationi artis cinematographicae adaptatam auspiciis Societatis Latinae conficiendam curavit Gaius Licoppe. o. J. (Brüssel 1983), mit Beiheft, IX & 37 S.
Unterrichtsbezogener ist die auf 42 Minuten gekürzte Tonaufnahme derselben Komödie
(62) Plautus: Rudens, Tonkassette zu ratio 29 (Produktion Wilhelm Pfaffel). Bamberg (Buchner) 1991.
Nicht mehr im Handel ist leider die weniger phonetisch als künstlerisch ambitionierte Schallplatte von Viktor Pöschl mit Vergil-, Horaz- und Ovidrezitationen (Artemis 1959). - Einiges weitere Tonmaterial, über das ich kein Urteil habe, nennen
(63) Jürgen Steinhilber: Medienhandbuch zum Lateinunterricht. Anregungen - Beispiele - Literaturhinweise. Bamberg (Buchner) 1982, 151-152 (vgl. S. 105 -108)
und
(64) Stefan Kipf: Mediensammlung zum Lateinunterricht. Latein und Griechisch in Berlin und Brandenburg 38, 1994, 66-90, dort 80-83.
Bleibt nur die Mahnung: daß keine Kassette die viva vox des Lehrers in Hörsaal oder Klassenzimmer ersetzen sollte!
I. Lexikalische Hilfsmittel
II. Zum gesprochenen Umgangslatein
III. Lateinische Grammatik lateinisch eingeübt
IV. Zur lateinischen Aussprache
V. Latein gesungen
VI. Proben zeitgenössischen Lateins
V. Latein gesungen
Zum gesprochenen Latein gehört auch das gesungene; denn die alten Römer waren kaum weniger musikfreudig als die heutigen Italiener (Günther Wille: Musica Romana, Amsterdam 1967), und jedenfalls ist Latein eine Sprache die zum Singen einlädt, auch im Klassenzimmer: Hinweise auf didaktische Literatur geben Fritsch (Nr. 1) S. 101 f. und Müller/ Schauer (Nr. 2) S. 130, vgl. Schlagwortregister "Lied". Leider gibt es noch kein Liederbuch, in dem die schönsten originallateinischen Lieder seit dem Mittelalter repräsentativ zusammengestellt wären (mehr als zehn Nummern findet man immerhin in späteren Auflagen des Allgemeinen deutschen Kommersbuchs, zuerst Lahr 1843). In der Regel wird man in gängigen Sammlungen mit Übersetzungen abgespeist: "O Tannenbaum" wird O abies und statt des schönen "Alle Vögel sind schon da" hört man ein fragwürdiges Omnes aves iam adsunt. Vor allem werden dabei nicht einmal immer die Wortakzente richtig beachtet (was bei rhythmischer Dichtung, in Art des lateinischen Mittelalters, unbedingt notwendig ist). - 82 bekannte und vor allem auch unbekannte religiöse Lieder findet man in der Neuausgabe einer finnischen Liedersammlung von 1582 und 1625:
(65) Piae cantiones. Vanhoja kirkko- ja koululauluja. Toimittaneet Harald Andersén ja Timo Mäkinen. Helsinki (Musiikki Fazer)1967, 127 S.
Die Originalausgabe von 1582 ist im selben Verlag 1967, 21982 als Faksimile nachgedruckt worden. - Einiges Originallateinische (neben oft schlechten Übersetzungen) bietet aus der christlichen und der studentischen Tradition:
(66) Carmina. A Book of Latin Songs Compiled by Sidney Morris. Centaur Books 1962 (=21967), 80 S.
Umfangreicher ist die (mit einer nützlichen Bibliographie versehene) Sammlung von
(67) Caelestis Eichenseer: Latinitas viva. Pars cantualis. Saraviponti-Saarbrücken (Societas Latina) 1986, 175 S.; erhältlich wie oben Nr. 12.
Vgl. dazu meine Besprechung in Vox Latina 24, 1988, 137-139. - Z. T. besser in den Übersetzungen und etwas ansprechender aufgemacht ist
(68) Cantate Latine, hrsg. von Walter Siewert. Ein Liederbuch für den Latein-Unterricht. Boppard/Rh., Salzburg (Fidula) o. J. (ca. 1990), 59 Lieder (ohne Paginierung), 62 S.
Auch hier findet man klassisches lateinisches Liedgut und, als Besonderheit, Lieder zum Erlernen von Grammatikregeln. - Besonders mißraten dagegen ist das gleichnamige, ausschließlich 'Übersetzungen' enthaltende Heft
(69) Cantate Latine. Lieder und Songs auf Lateinisch, übers. und hrsg. von Franz Schlosser. Stuttgart (Reclam UB 8802) 1992, 102 S.
Bereits das erste Lied ("Wir lieben die Stürme") enthält viele absurde Betonungen (oceános, navígat ...), durch die den Schülern eine falsche Aussprache geradezu eingehämmert wird; auch gegen die Regeln von Orthographie (S. 13 repperi ...! als Imperativ), Morphologie (S. 33 deposerat; o pauperum te), Syntax (S. 22 in eum pono), Wortstellung (S. 15 venatum amo tam) und Phraseologie (S. 35 uno ... mane = "eines Morgens") wird häufig verstoßen; von Poesie findet sich auch kein Spurenelement. - Das überragende, wenn auch musikalisch anspruchsvolle, Liederbuch stammt von dem tschechischen Musiker und Komponisten Jan Novák:
(70) *Cantica Latina. Poetarum veterum novorumque carmina ad cantum cum clavibus modis instruxit Jan Novák. München und Zürich (Artemis) 1985, 108 S., mit deutschem Beiheft, 12 S. (das lange Zeit über den Bärenreiterverlag erhältliche Werk ist z. Zt. vergriffen, soll aber bald nachgedruckt werden).
Fünfzig lateinische Gedichte von Plautus bis Novák selbst sind hier durch neue Vertonungen mit Klavierbegleitung erschlossen, die metrischen Gedichte z. T. in rhythmisch höchst aparter, aber streng am Original orientierter Fassung. Die Verwendung im Lateinunterricht behandelt in eingehender Würdigung
(71) Johannes Rietmann: Amor docet musicam. Jan Nováks Cantica Latina. AU 33, 4, 1990, 5-24.
Von Nováks zahlreichen sonstigen lateinischen Kompositionen ist, wegen ihrer Nähe zur U-Musik, für das Klassenzimmer besonders geeignet:
(72) *Jan Novák: Schola cantans, graves auctores latini leviter decantandi - classici latini musicati per la gioventù, edizione per canto e piano. Padua (Zanibon) 1974, Best. Nr. 5413 (z. Zt. erhältlich über Filmkunst- Musikverlag, Kardinal-Faulhaberstr. 15, D - 80333 München).
Diese metrischen Lieder sind, erweitert um zwei rhythmische Nummern, auch in einer Bearbeitung für Chor und Jazz-Band (unter Leitung des Komponisten) zu hören auf der Kassette
(73) Schola cantans (Voces Latinae). München (Filmkunst- Musikverlag) o. J., mit Beiheft, 16 S.; jetzt erhältlich auch über E. Bozorgmehri & R. Spann, Panoramastr. 23, D-82211 Herrsching.
Auf Schallplatte vorhanden ist die Kantate für Mezzosopran, Sprecher, Chor und Orchester
(74) Dido e versibus Vergilii composita (Dirigent: Rafael Kubelik) mit Mimus magicus (= Verg. ecl. 8). Stuttgart (audite 63.413) 1986, mit dreispr. Textbeilage.
Die lateinischen Werke von Novák sind (bis 1980) zusammengestellt von
(75) Ioachimus Draheim/ Varnerius Schubert: Conspectus rerum omnium, quae Ianus Novacus lingua Latina concinenda fecit. Vox Latina 17, 1981, 99-101.
(Eine Auswahl: Wilfried Stroh: Jan Novák, Werke für den Lateinunterricht. Mitteilungsblatt des DAV 29, 1986, 26-27.) Dabei sei darauf hingewiesen, daß die Sodalitas LVDIS LATINIS faciundis e. V. (München) z. Zt. ein Tonarchiv und eine Notensammlung von Nováks lateinischen Werken aufbaut. - Welche anderen Werke z. T. bedeutender Komponisten für den Lateinlehrer wichtig sind, zeigt
(76) Joachim Draheim: Vertonungen antiker Dichtungen und ihre Behandlung im Unterricht. AU 23, 1980, 6-27.
Manches (vor allem in Zusammenarbeit mit dem Musikunterricht) Verwertbare enthält auch die Sammlung
(77) Horazvertonungen vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Eine Anthologie von Joachim Draheim und Günther Wille. Amsterdam (Grüner) 1985, 221 S.
Die von Draheim herausgegebenen, höchst wertvollen Schallplatten (Antike Dichtung im Spiegel der Musik; Horaz in der Musik) sind leider nicht mehr erhältlich.
I. Lexikalische Hilfsmittel
II. Zum gesprochenen Umgangslatein
III. Lateinische Grammatik lateinisch eingeübt
IV. Zur lateinischen Aussprache
V. Latein gesungen
VI. Proben zeitgenössischen Lateins
VI. Proben zeitgenössischen Lateins
Noch heute wird vieles auf lateinisch publiziert, was von sehr unterschiedlichem Wert und Interesse ist. Ich gebe nur einige ausgewählte Proben, die wenigstens die Breite des Spektrums zeigen sollen. Dabei beschränke ich mich auf die Zeit seit dem zweiten Weltkrieg. Aber immerhin verwiesen sei auf die großartige, fast alle Gebiete von Kunst und Wissenschaft seit der Renaissance umfassende Sammlung von
(78) *Aemilius Springhetti S. J. (Hrsg.): Latinitas perennis I: Selecta Latinitatis scripta auctorum recentium (saec. XV-XX). Romae (apud pontif. Univ. Gregorianam) 1951, 775 S.
Daß Latein als Sprache der philologischen Wissenschaft noch nicht ausgestorben ist, beweist z. B. der Heidelberger Latinist
(79) Michael von Albrecht: Scripta Latina, accedunt variorum Carmina Heidelbergensia dissertatiunculae colloquia. Frankfurt/M. u. a. (Peter Lang) 1989 (Studien zur klassischen Philologie Bd. 41), 303 S.
Er zeigt, wie man klar und anmutig über philologische Probleme schreiben kann. Wie der Untertitel sagt, enthält der Band auch Gedichte, sowie diverse Beiträge der Schüler von Albrechts. Weniger spielerisch ist die entsprechende Sammlung des Madrider klassischen Philologen
(80) Josephus Jimenez Delgado, C. M. F.: Latine scripta. Disquisitiones ad humaniorum litterarum cultum. Matriti (apud auctorem) 1978, 420 S.
Bekannt ist, daß Ehrendoktorurkunden regelmäßig lateinisch abgefaßt werden. In Oxford werden die dazu gehörigen Preisreden auch als Buch veröffentlicht. Die Sammlungen der oratores publici
(81) Thomas Farrant Higham: Orationes Oxonienses selectae: Short Latin Speeches on Distinguished Contemporaries. Oxford (Clarendon Pr.) 1960, 108 S. B
und
(82) John Griffith: Oratiunculae Oxonienses Selectae. Oxford 1985, 135 S. (mit engl. Paraphrasen) B
liest man mit Genuß, nicht nur weil dabei auch deutsche Celebritäten (wie Fischer-Dieskau und Helmut Schmidt) gerühmt werden: Das Latein ist ebenso mustergültig klassisch wie humorvoll (Higham über den rauchenden Churchill, S. 14: Aetna enim est, non homo.).- In diametralem Gegensatz zu diesen Reden, in denen auch das Modernste antik stilisiert ist, stehen die in den letzten Jahren international bekannt gewordenen lateinischen Rundfunknachrichten aus Finnland, die auch in zwei dreisprachigen Sammelbänden zusammengestellt sind:
(83) Tuomo Pekkanen/ Reijo Pitkäranta: Nuntii Latini - Latinankieliset uutiset - News in Latin. Helsinki 1992, 275 S.; Bd. II: 1993, 256 S.; erhältlich über den Verlag: Suomalaisen Kirjallisuuden Seura (Hallituskatu 1, PL 259, SF-00171 Helsinki, Finnland).
Hier finden wir ein etwa den Lexika von Eichenseer und Helfer (oben Nr. 12-14) entsprechendes Umgangslatein, das sich ganz an den ja relativ einheitlichen Fügungen der modernen Sprachen orientiert (aus der ersten Nachricht vom 1.9.1989, Bd. 1, S. 16: Quinque [...] currus traminis onerarii Sovietici chemicalia periculosa continentes incensi sunt). Daß der angesehene Lateinprofessor Pekkanen freilich auch anders schreiben kann, zeigt seine Kalevala (s. unten Nr. 88). - Ebenfalls lateinisch sind bekanntlich in ihrer Urfassung noch immer die päpstlichen Enzykliken, die in den Acta Apostolicae Sedis, Rom 1909 ff. herausgegeben werden. Als eine für Lateinfreunde gedachte Anthologie kenne ich nur die (bis Pius XII. reichende) von
(84) Fritz Anders (Hrsg.): Lebendiges Neulatein. Münster (Aschendorff) 21955, 63 S.
Nach meiner Kenntnis ist spätestens seit der 'Pillenenzyklika' (1968, vgl. die unveröffentlichte Examensarbeit von Michael Bothe: Sprachschichten der Enzyklika "Humanae vitae", München 1983) die Latinität hier recht bequem modernistisch geworden (z. B. II 8 Quocirca per mutuam sui donationem, quae ipsorum propria est et exclusoria, conjuges illam persequuntur personarum communionem, qua se invicem perficiant [...], zitiert nach Bothe a. O., S. 5); jedenfalls ist diese Prosa nicht mehr eigentlich lateinisch empfunden und ein gutes Stück entfernt von den Standards etwa eines Leo XIII., wohl auch von dem des vatikanischen Lexicon recentis Latinitatis (oben Nr.16). - In seiner Weise modernistisch ist auch - und damit kommen wir zur 'schönen' Literatur - die bekannte Übersetzung des Kinderbuchs "Winnie-the-Pooh"
(85) Alexander Lenard: A. A. Milnei Winnie ille Pu. Liber celeberrimus omnibus fere pueris puellisque notus nunc primum de anglico sermone in Latinum conversus. Londonii/ Neo-Eboraci (Methuen/ Dutton) 1960, Ndr. 1978 u. ö., 121 S.
Wer versteht hier auf Anhieb den ersten Satz? Ecce Eduardus ursus scalis nunc tump-tump-tump occipite gradus pulsante post Christophorum Robinum descendens. Oder den darauf folgenden? Est quod sciat unus et solus modus gradibus descendendi [...]. Es empfiehlt sich das Original heranzuziehen - auch wenn man nicht gleich, wie mein Lehrer Harry C. Schnur, sagt: Winnie ille? Puh! Ungleich gekonnter ist die Übersetzung, die der große Latinist und Jurist Paoli (zu ihm: Delgado, oben Nr. 80, S. 329-344: De Hugone Henrico Paoli clarissimo scriptore et poeta Latino) von Carlo Collodis 'Pinocchio' gemacht hat:
(86) Ugo Enrico Paoli: Pinoculus Latinus. Editus ex aedibus bibliopolarum Turicensium qui Artemidos numen sibi vindicant [Zürich/ München, Artemis] 1983, mit Nachwort von Georg Schoeck, 149 S.
Sie beginnt so: Fuisse quondam aiunt ... - "Regem", pueros qui haec legunt statim dicturos suspicor. - Erravistis, pueri; non rex fuit illud, sed caesum quoddam lignum nullius pretii ... - das ist, bei allem modernen Plauderton, doch völlig lateinisch. - Vergleichbar elegant ist der humorvoll-skurrile Originalroman, den Michael von Albrecht (nach Erstpublikation in den Scripta Latina, oben Nr. 79) als schön illustrierten Sonderdruck veröffentlicht hat:
(87) Das Märchen vom Heidelberger Affen, lateinisch-deutsch - L. Simii Liberatoris Commentarii quos e codice Sandhusiensi edidit Aridus grammaticus Heidelbergensis. Heidelberg (Manutius) 1991, 81 S.
Hier kehrt der Lucius des Apuleius, nicht mehr als Esel, sondern als Affe, aus dem Jenseits auf die Erde zurück, wo er sich vor allem für die zeitgenössischen Latinisten interessiert, die in Heidelberg und anderswo am Computerzeitalter leiden. - Das wohl größte Werk der neuesten lateinischen narrativen Poesie stammt von den schon erwähnten Pekkanen:
(88) Kalevala Latina. Carmen epicum nationis Finnorum in perpetuam memoriam anniversarii centesimi quinquagesimi transtulit Tuomo Pekkanen. Helsinki (Societas Kalevalensis) 1986, 365 S.
Es handelt sich um eine akzentrhythmische Übersetzung, gut zu sprechen und voll von eigenartigem Wohllaut, der aus der Verschmelzung finnischer Eigennamen mit einem elegant alliterierenden, sonst mittelalterlich klingenden Latein entsteht, z. B. Cantio 41, 1-4 (S. 282):
Als rhythmisch reimender Dichter ragte in Deutschland hervor der jahrzehntelange Chefredakteur der Stuttgarter Zeitung Josef Eberle P. L. (= poeta laureatus der Universität Tübingen). Von ihm sei nur beispielshalber genannt die Sammlung:
(89) Josef Eberle: Laudes. Carmina Latina. Tubingae (R. Wunderlich/ H. Leins) 1959, 79 S.
Sein Nachfolger ist jetzt der noch professionellere Göttinger Mittellateiner Fidel Rädle, der seine heiteren, oft ingeniös gereimten Verse soeben zusammengestellt hat:
(90) Fidelis Rädle: De condicione bestiali vel humana. Carmina Latina. - Von Tieren und Menschen: Lateinische Gedichte mit deutschen Übersetzungen. Sigmaringen (Thorbecke) 1993, 99 S.
Auch viel holden Unsinn findet man hier, wo es dann zu Recht heißt (S. 18):
Si lector carmen hoc legisti, non doctior eris quam fuisti.
Im Bereich der metrisch-lateinischen Dichtung war wiederum Paoli in neuerer Zeit der überragende Formkünstler. Seine Gedichte sind, mit kurzem italienischen Kommentar, gesammelt in:
(91) Ugo Enrico Paoli: Carmina. Firenze (Le Monnier) 1961, 362 S.
Neben üblichen Versmaßen wagt der Meister sich in einer aus Saint-Saens' 'Danse macabre' inspirierten Mortuorum saltatio sogar an Galliamben, die sonst kaum ein Dichter der Neuzeit erprobt hat (S. 204):
Köstlichsten Humor hat seine Max-und-Moritz-Travestie:
(92) Willelmus Busch: Maximi et Mauritii malefacta ab Hugone Henrico Paoli Latinis versibus enarrata. Bernae (Francke) 1960, 61 S. B
in ihrer episch-hexametrischen Erhabenheit sogar noch komischer als die sich dem Deutschen anschmiegende bekannte rhythmische Fassung:
(93) Max et Moritz. Puerorum facinora scurrilia quarum materiam repperit distinxitque Guilelmus Busch, übersetzt von E. Steindl. Zürich/ München (Artemis) 41981, 104 S.
(Die neuere Version von Franz Schlosser, bei Reclam, ist unnötig und kaum genießbar.) - Minder bekümmert um technische Brillanz war der deutsch-amerikanische Jurist und Philologe, vor allem als Satiriker und Epigrammatiker geniale Harry C. Schnur (vgl. zu ihm Pegasus devocatus, hrsg. v. G. Tournoy/ Th. Sacré, Leuven 1992), dessen Gedichte ebenfalls gesammelt sind:
(94) C. Arrius Nurus: Pegasus claudus. Tomus additicus commentariorum periodicorum q. t. VOX LATINA. Saraviponti 1977 (Tomus add. 1), 223 S.; erhältlich über Societas Latina (oben Nr. 12).
Er hat z. B. über die Gentes Unitae (Vereinten Nationen) gedichtet (S. 49):
Omnes iam gentes coierunt corpus in unum:
Gratia habenda tibist: est, Amarylli, tuum.
Wer wohl ist Amaryllis? Die internationale Politikerkurtisane Christine Keeler! Schnurs Witwe Rhoda hat nach seinem Tod die Stiftung Pegasus limited, St. Gallen, ins Leben gerufen, heute ein wichtiger Mäzen für neulateinische Poesie. - Von lebenden lateinischen Dichtern sei, neben den erwähnten (von Albrecht, Pekkanen, Rädle), vor allem die 'Marburger Sappho' mit ihrem letzten Gedichtband genannt:
(95) Anna Elissa Radke: Harmonica vitrea. Frankfurt/M. u. a. (Lang) 1992, (Studien zur klassischen Philologie Bd. 65), 166 S.
Auf tiefer Empfindung, nicht auf formaler Vollendung, beruht der Reiz ihrer eigenwilligen Lyrik, die aber doch auch das Wortspiel nicht verschmäht; so wenn sie zum Tod des Musikers Jan Novák den Wunsch ausspricht (S. 40):
... ut canas nobis nova cantica olim in
sedibus laetis, ubi tecum, amice,
Jane, vivemus, patriamque Apollo
ipse redonat.
Ein anspruchsvoller, feinsinniger Klassizist ist dagegen Hans Wieland, bis vor kurzem Redaktor am Münchner 'Thesaurus':
(96) Paegnia. Carmina Latina scripsit Iohannes Wieland; auctori sexagenario gratias agens edidit Thesaurus linguae Latinae. Monaci (Selbstverlag) 1984, 100 S.
Die rhythmische und metrische Lyrik anderer neuerer Dichter findet man gesammelt vor allem in der Anthologie
(97) *Viva Camena. Latina huius aetatis carmina collecta et edita ab Iosepho Eberle, cum commentariolo Iosephi et Linae Ijsewijn-Jacobs 'De litteris Latinis recentioribus'. Turici et Stuttgardiae (Artemis) 1961, 231 S.
Seitdem ist erschienen (mit Gedichten sehr unterschiedlicher Qualität):
(98) Carmina Latina recentiora. Veterum tibiis canunt nepotes. Leichlingiae (R. Brune) 21975, 237 S. (mir nicht vorliegend: 31986)
Weniger tut sich, wenn wir vom lateinischen Schulspiel absehen, im Bereich des Dramas. Die Dokumentation eines eigenen, halb improvisierten heiteren Festspiels gibt
(99) Valahfridus Stroh: Amor in Monte Docto - Gott Amor auf dem Domberg. Freising (Frisinga Verlag) 1987, 55 S.
Die Broschüre enthält auch Gedichte, Noten und Photos sowie die letzte große (lateinische) Rede des früheren bayerischen Kultusministers Hans Maier, der gleich danach vom damals bekanntesten Lateiner Bayerns, Franz Josef Strauß, entlassen wurde. Der Nachfolger war dann selber Lateinlehrer vom Freisinger Domberg. - Als letzter dieser Spezies sei aber ein Nürnberger Lehrer genannt, der Latein ohne Trichter beibringt:
(100) Gerhardus Fringilla - Gerhard Fink: Laetare Latine! - Spaß mit Latein (??). Monachii - München (Manz) 1976, 112 S.
In diesen zweisprachig veröffentlichten, nicht nur für Schüler reizvollen Plaudereien wird endlich auch die moderne Textsorte der Glosse in das Gattungsgefüge der lateinischen Literatur eingeführt: ein weiterer Beleg dafür, wie man auch heute auf lateinisch kreativ sein kann.
I. Lexikalische Hilfsmittel
II. Zum gesprochenen Umgangslatein
III. Lateinische Grammatik lateinisch eingeübt
IV. Zur lateinischen Aussprache
V. Latein gesungen
VI. Proben zeitgenössischen Lateins