Jan Novák: Servato pede et pollicis ictu

Nach Versfuß und Daumenschlag. Neun Oden des Horaz für vierstimmigen gemischten Chor (entstanden 1972)
Text: Horaz, Carmina 1, 7; 1, 5; 1, 9; 1, 11; 1, 22; 3, 21; 1, 4; 1, 8; 1, 17
Übersetzung: Wilfried Stroh, 1994 (Programmheft zum Gedenkkonzert am 16./17. 11. 1994; die Übersetzungen wurden der neuen Rechtschreibung angeglichen.)


SERVATO PEDE ET POLLICIS ICTV
IX carmina Horati choro IV vocum mixtarum concinenda

NACH VERSFUSS UND DAUMENSCHLAG
Horazmotette aus neun Oden für vierstimmigen gemischten Chor
in freier Übersetzung

1, 7, 1-14 (Archilochium primum)

Laudabunt alii claram Rhodon aut Mytilenen
   aut Epheson bimarisve Corinthi
moenia vel Baccho Thebas vel Apolline Delphos
   insignis aut Thessala Tempe;

sunt quibus unum opus est intactae Palladis urbem
   carmine perpetuo celebrare et
undique decerptam fronti praeponere olivam;
   plurimus in Iunonis honorem

aptum dicet equis Argos ditisque Mycenas:
   me nec tam patiens Lacedaemon
nec tam Larisae percussit campus opimae
   quam domus Albuneae resonantis

et praeceps Anio ac Tiburni lucus et uda
   mobilibus pomaria rivis.


I.

Klar, andere werden das berühmte Rhodos preisen oder Mytilene
oder Ephesus oder die Mauern von Korinth mit dem Meer
links und rechts; auch Theben bietet sich an dank Bacchus
oder Delphi mit seinem Apoll oder in Thessalien das sehenswerte Tempetal.

Manche Leute haben ja nichts zu tun, als im Dauerepos
Athen, die Stadt der göttlichen Jungfrau, zu feiern,
sich überall deren Ölzweige zu pflücken und vor die Stirn zu heften.
Besonders viele singen auch zu Ehren der Juno

von Argos, wo die Rösser gedeihen, und vom reichen Mykene.
Nicht ich! Nicht einmal das strapazenfreudige Sparta
oder die fetten Felder von Larissa können mir
so imponieren wie mein Tibur: die tönende Grotte der Nymphe Albunea

und Anio, der reißende Fluss, der Hain des Tiburnus
und die Apfelgärten mit ihrer rieselnden Bewässerung.


1, 5 (Asclepiadeum tertium)

Quis multa gracilis te puer in rosa
perfusus liquidis urget odoribus
   grato, Pyrrha, sub antro?
      cui flavam religas comam

simplex munditiis? heu quotiens fidem
mutatosque deos flebit et aspera
   nigris aequora ventis
      emirabitur insolens,

qui nunc te fruitur credulus aurea,
qui semper vacuam, semper amabilem
   sperat, nescius aurae
      fallacis. miseri, quibus

intemptata nites: me tabula sacer
votiva paries indicat uvida
   suspendisse potenti
      vestimenta maris deo.


II.

Wer ist mit dichtem Rosenkranz, in duftender
Parfümwolke der schlanke junge Mann,
der dir so zusetzt tief in der schönen  Grotte?
Wer ist er, für den du dir so schlicht das Haar nach hinten bindest

und raffiniert zugleich? O weh! Wie oft wird er noch jammern,
dass die Treue dahin ist, die Götter wetterwendisch!
Staunen wird er, der Übermütige, wie auf dem Meer der Liebe
plötzlich der Sturm bläst und die Wogen schwärzt!

Jetzt genießt er dich noch naiv als pures Gold,
jetzt meint er, du hättest immer Zeit für ihn, wärest
immer liebenswürdig. Keine Ahnung hat er,
wie der Wind umschlägt. Wahrhaft, die Armen tun mir alle leid, die dich

noch kennenlernen werden, Opfer deines Glanzes! Von mir hängt
zum Glück schon ex voto ein Bild im Tempel,
das zeigt, wie ich, dem Meer entronnen,
dem Gott Neptun zum Dank die triefenden Kleider aufgehängt habe.

1, 9 (Alcaicum)

Vides ut alta stet nive candidum
Soracte nec iam sustineant onus
   silvae laborantes geluque
      flumina constiterint acuto.

dissolve frigus ligna super foco
large reponens atque benignius
   deprome quadrimum Sabina,
      o Thaliarche, merum diota.

permitte divis cetera, qui simul
stravere ventos aequore fervido
   deproeliantis, nec cupressi
      nec veteres agitantur orni.

quid sit futurum cras, fuge quaerere, et
quem Fors dierum cumque dabit, lucro
   adpone, nec dulcis amores
      sperne puer neque tu choreas,

donec virenti canities abest
morosa. nunc et campus et areae
   lenesque sub noctem susurri
      composita repetantur hora,

nunc et latentis proditor intumo
gratus puellae risus ab angulo
   pignusque dereptum lacertis
      aut digito male pertinaci.


III.

Siehst du? Weiß steht von tiefem Schnee der Berg
Soracte da, und die Wälder sind
kaum mehr der Last gewachsen. Spitz klirrt der Frost
und hat die Flüsse zum Stillstand gebracht.

Tau auf die Kälte, indem du reichlich Holz
auf dem Herd häufst! O Thaliarch, sei splendid und lass
deinen vierjährigen Sabinerwein
aus der Amphore fließen!

Den Rest überlass den Göttern! Wenn sie erst einmal
den Kampf der Winde auf dem brausenden Meer
beigelegt haben, rührt sich keine Zypresse
und keine alte Esche hat mehr das Zittern.

Frag nicht danach, was morgen sein wird, und
buche jeden Tag, den das Glück dir schenkt,
als Gewinn! Und, mein Junge, du darfst nicht
die süße Liebe verachten und das Tanzvergnügen,

solange du noch grün bist, kein Silberhaar auf dem Kopf dich
verdrießlich macht. Jetzt geht's zu Sport- und anderen Plätzen,
wo's gegen Abend beim pünktlich eingehaltnen Rendezvous
immer wieder das zärtlichste Geflüster gibt.

Jetzt versteckt sich wohl auch einmal das Mädchen im hinteren
Winkel, aber süß ist's, wenn (verräterisch!) du sie lachen hörst,
ihr ein Pfand von den Armen streifst
oder vom Finger, der sich (pfui doch!) weigert.


1, 11 (Asclepiadei maiores)

Tu ne quaesieris, scire nefas, quem mihi, quem tibi
finem di dederint, Leuconoe, nec Babylonios
temptaris numeros. ut melius, quidquid erit, pati.
seu pluris hiemes seu tribuit Iuppiter ultimam,
quae nunc oppositis debilitat pumicibus mare
Tyrrhenum: sapias, vina liques, et spatio brevi
spem longam reseces, dum loquimur, fugerit invida
aetas: carpe diem quam minimum credula postero.


IV.

Frag nicht, Leuconoe, was man nicht wissen darf: welches Ende mir,
welches dir die Götter gesetzt haben. Und die Horoskope
von Babylon lass ganz aus dem Spiel! Besser ist, man nimmt's, wie's kommt.
Vielleicht gibt uns Jupiter noch ein paar Winter, vielleicht ist dies schon der letzte,
der jetzt gegen den Bimsstein am Ufer des Tyrrhener Meers
so mächtig anstürmt. Sei schlau! Filtre den Wein und beschneide deine Hoffnung,
dass sie nicht in die Weite wuchert. Schon während wir reden, flieht die Zeit,
die uns nichts gönnt. Pflücke den Tag! Jetzt! Den morgigen kannst du vergessen.

1, 22 (Sapphicum)

Integer vitae scelerisque purus
non eget Mauris iaculis neque arcu
nec venenatis gravida sagittis
   Fusce, pharetra,

sive per Syrtis iter aestuosas
sive facturus per inhospitalem
Caucasum vel quae loca fabulosus
   lambit Hydaspes.

namque me silva lupus in Sabina,
dum meam canto Lalagen et ultra
terminum curis vagor expeditis,
   fugit inermem,

quale portentum neque militaris
Daunias latis alit aesculetis
nec Iubae tellus generat, leonum
   arida nutrix.

pone me pigris ubi nulla campis
arbor aestiva recreatur aura,
quod latus mundi nebulae malusque
   Iuppiter urget,

pone sub curru nimium propinqui
solis, in terra domibus negata:
dulce ridentem Lalagen amabo
   dulce loquentem.


V.

Wer brav sein Leben führt, von Verbrechen sich rein hält,
der braucht keine maurischen Spieße, mein lieber Fuscus,
keine Bogen und keinen Köcher,
der mit Giftpfeilen schwanger geht.

Er kann getrost durch die tropenheißen Syrten reisen
oder über den unwirtlichen Kaukasus
oder durch die Gegend, die der sagenhafte Fluss
Hydaspes abschleckt.

Denn mir erschien ein Wolf im Sabinerwald,
als ich gerade meine Lalage besang und, ganz ohne Sorgen,
über die Grenzen meines Grundstücks hinaus schlenderte –
und obwohl ich keine Waffen hatte: riss er aus!

Aber  d a s  war ein Monster! So etwas wächst nicht
in den weiten Eichenwäldern vom Daunusland Apulien;
nicht einmal in König Jubas trockener Wüste,
die ohne Milch die Löwen säugt.

Ja, jetzt könnte ich sogar in die Gegend gehen, wo gar nichts wächst,
wo kein Baum sich im Sommerwind erholt,
in den Teil der Welt, wo Jupiter böse ist und
mit Nebel die Welt bedrückt,

oder auch dorthin, wo einem der Sonnenwagen schon allzu nah kommt,
dass man keine Häuser mehr bauen mag:
Wo ich auch bin, ich werde Lalage lieben, die so süß lacht,
die so süß plaudert.


1, 4 (Archilochium tertium)

Solvitur acris hiems grata vice   veris et Favoni
   trahuntque siccas machinae carinas,
ac neque iam stabulis gaudet pecus   aut arator igni
   nec prata canis albicant pruinis.

iam Cytherea choros ducit Venus   imminente luna,
   iunctaeque Nymphis Gratiae decentes
alterno terram quatiunt pede,   dum gravis Cyclopum
   Volcanus ardens visit officinas.

nunc decet aut viridi nitidum caput   impedire myrto
   aut flore, terrae quem ferunt solutae.
nunc et in umbrosis Fauno decet   immolare lucis,
   seu poscat agna sive malit haedo.

pallida Mors aequo pulsat pede   pauperum tabernas
   regumque turris, o beate Sesti,
vitae summa brevis spem nos vetat   inchoare longam;
   iam te premet nox fabulae que Manes

et domus exilis Plutonia;   quo simul mearis,
   nec regna vini sortiere talis
nec tenerum Lycidan mirabere,   quo calet iuventus
   nunc omnis et mox virgines tepebunt.
VI.

Es taut der strenge Winter, es kehrt der liebe Frühling wieder und der Föhn,
und dank technischer Hilfen rollen die eingetrockneten Schiffe ins Meer.
Schon hält's das Vieh nicht mehr im Stall aus, der Bauer strebt vom Herd zum Pflug,
und es glitzert kein Silberreif mehr auf den Wiesen.

Schon leitet Frau Venus von Cythera bei Mondenschein den Tanzreigen,
und die Nymphen mit den schönen Grazien
hüpfen links, rechts, auf die Erde, während Schmiedegott Vulcanus
die Werkstatt seiner Zyklopen aufsucht und zur Arbeit einheizt.

Jetzt muss man den grünen Myrtenkranz ins wohlgesalbte Haar winden
oder die ersten Blumen aus der aufgetauten Erde,
jetzt dem Faunus ein Opfer bringen im dunklen Wald,
ein Lamm oder, falls ihm lieber, ein Böckchen.

Der Tod macht ja keinen Unterschied: Er stößt mit seinem Stiefel gegen die Tür
an den Hütten der Armen wie an der Könige Paläste. Ja, mein glücklicher Sestius,
um langfristige Projekte anzufangen ist das Leben zu kurz.
Bald bist du gefangen in der ewigen Nacht, bei den schrecklichen Toten

und im öden Haus des Pluto. Bist du dort einmal,
dann wird nicht mehr um den Vorsitz beim Symposion gewürfelt,
dann kannst du nicht mehr den schlanken Lycidas bewundern. Ja! Der macht zur Zeit
alle jungen Männer heiß, und bald werden sich auch die Mädchen für ihn erwärmen.



3, 21 (Alcaicum)

O nata mecum consule Manlio,
seu tu querellas sive geris iocos
   seu rixam et insanos amores
      seu facilem, pia testa, somnum,

quocumque lectum nomine Massicum
servas, moveri digna bono die
   descende Corvino iubente
      promere languidiora vina.

non ille, quamquam Socraticis madet
sermonibus, te neglegit horridus:
   narratur et prisci Catonis
      saepe mero caluisse virtus.

tu lene tormentum ingenio admoves
plerumque duro, tu sapientium
   curas et arcanum iocoso
      consilium retegis Lyaeo,

tu spem reducis mentibus anxiis
virisque et addis cornua pauperi
   post te neque iratos trementi
      regum apices neque militum arma.

te Liber et si laeta aderit Venus
segnesque nodum solvere Gratiae
   vivaeque producent lucernae,
      dum rediens fugat astra Phoebus.


VII.

O die du mit mir im Konsulat des Manlius geboren warst,
du Bringerin von Klagen wie von Scherzen,
du Schöpferin von Streit und Liebeswahnsinn
und sanftem Schlaf – dich, liebe Flasche, die du,

unter welchem Ehrentitel auch immer, den edlen Massiker
bewahrst, den man nur an einem Glückstag öffnen darf,
jetzt steig herab vom Kamin: Corvinus gebietet's,
der Freund eines milderen Tröpfleins.

Wenn der ernste Mensch auch sonst nichts als Sokrates und Dialoge
im Kopf hat, dich weiß er doch zu würdigen.
(Es soll ja sogar die Tugend des alten Cato
beim Wein erst so richtig in Hitze gekommen sein.)

Du machst oft den Hartgesottenen weich
mit deinen süßen Zwangsmaßnahmen; du bringst mit dem Frohsinn
des Weingotts auch die weisen Philosophen ins Plaudern,
dass Sorgen und verborgne Pläne sich enthüllen.

Du schenkst den ängstlichen Herzen wieder neue Hoffnung,
dem kleinen Mann besorgst du Kraft und Hörner:
Mit dir zittert er vor keines Königs Wut samt Krone mehr
und vor keinem Soldaten in Waffen.

Bei dir ist Bacchus, bei dir die fröhliche Venus, wenn sie mag,
und die Grazien, die so gern zusammenhalten,
auch die Lampe, die nicht verlischt, dass wir mit dir die Nacht durchmachen können,
bis die Sonne zurückkehrt und die Sterne verscheucht.



1, 8 (Sapphicum maius)

Lydia, dic, per omnis
   te deos oro, Sybarin cur properes amando
perdere, cur apricum
   oderit campum patiens pulveris atque solis,

cur neque militaris
   inter aequalis equitet, Gallica nec lupatis
temperet ora frenis?
   cur timet flavum Tiberim tangere? cur olivum

sanguine viperino
   cautius vitat neque iam livida gestat armis
bracchia, saepe disco,
   saepe trans findem iaculo nobilis expedito?

quid latet, ut marinae
   filium dicunt Thetidis sub lacrimosa Troiae
funera, ne virilis
   cultus in caedem et Lycias proriperet catervas?


VIII.

Jetzt sag mir nur, Lydia, bei allen
Göttern sag mir, warum du es so eilig hast, den Sybaris mit deiner Liebe
ins Unglück zu bringen? Warum kommt er,
früher ein Freund von Sand und Sonne, jetzt nicht mehr auf den Sportplatz

Warum macht er keine Reitübungen mehr
mit Freunden seines Jahrgangs, hat nicht mehr den Ehrgeiz, stolze Rösser aus Gallien
mit dem Wolfsgebiss kleinzukriegen?
Warum hat er plötzlich Angst, im blonden Tiber zu schwimmen? Warum meidet er

Sonnenöl noch sorgsamer
als Schlangenblut? Warum hat sein Arm keine blauen Flecken mehr vom Waffenkampf,
wo er doch früher so berühmt war
für seine Würfe mit Diskus und Speer, die noch übers gesteckte Ziel gingen?

Jetzt versteckt er sich, wie (so die Sage)
Achill, der Sohn der Meergöttin Thetis, bevor's zum tränenreichen
Untergang von Troia ging: dass ihn bloß ja nicht
ein Stück Mannskleid zum Morden verlocken könnte und zum Kampf mit dem lykischen Heer!


1, 17, 1-16 (Alcaicum)

Velox amoenum saepe Lucretilem
mutat Lycaeo Faunus et igneam
   defendit aestatem capellis
      usque meis pluviosque ventos.

inpune tutum per nemus arbutos
quaerunt latentis et thyma deviae
   olentis uxores mariti
      nec viridis metuunt colubras

nec Martialis haediliae lupos,
utcumque dulci, Tyndari, fistula
   valles et Usticae cubantis
      levia personuere saxa.

di me tuentur, dis pietas mea
et musa cordi est. hic tibi copia
   manabit ad plenum benigno
      ruris honorem opulenta cornu.


IX.

Oft lässt der flinke Faunus in Arkadien seinen Lycaeus hinter sich
und kommt zum lieblichen Lucretilis: Hier sorgt er dafür,
dass meine Ziegen nicht immer an Sonnengluten
oder an Wind und Regen leiden müssen.

Dann können die Gemahlinnen des stinkenden Bocks
gefahrlos durch den Wald spazieren und vom Feldweg abkommen,
wenn sie Beerensträucher aufspüren und Thymian suchen:
Sie brauchen dann keine grünen Schlangen mehr zu fürchten;

und auch die Geißlein, liebe Tyndaris, haben
keine Angst mehr vor den Wölfen des Mars,
sobald von seiner süßen Flöte die Wälder tönen
und die glatten Felsen am Abhang von Ustica.

Ja, mich schützen die Götter; den Göttern ist meine Frömmigkeit
und meine Musik nicht gleichgültig. Aus prallem Füllhorn
wird sich mit allen guten Gaben der Segen
herrlichster Landwirtschaft ergießen – für dich.


Zurück zum Werkverzeichnis