Wilfried Stroh

Ein unsterbliches Gespenst: Latein


Da mihi ueniam, si quis es genius Latinitatis, quod hodie in te celebrando barbara lingua utor; atque etiam magis ignosce mihi quod te mortuum esse confiteor, cum tamen sciam omnem genium uitae uiuacitatisque esse auctorem. seruiendum est opinionibus auditorum. seruiendum est etiam eis qui me me audiunt collegae, quorum doctrinae ac scientiae aduersari non audeo.

Das war ein kleines Gebet an den Genius der Latinität, bei dem ich mich für meinen sogleich folgenden Ausführungen entschuldigt habe: Ist das Latein eine tote Sprache? Meine Antwort darauf gibt der Titel dieses Vortrags: Gespenster gibt es nur von Toten, Latein  i s t  also tot – in diesem Punkt wage ich meinem Vorredner der letzten Woche, Herrn Kollegen Krefeld, nicht zu widersprechen - obwohl ich nicht gerne ein Spezialist für Leichen bin; aber so ganz tot scheint es doch nun auch wieder nicht, jedenfalls ist es nie ausgestorben, wie etwas das Etruskische, das in diesem Semester von Herrn Kollegen Schrijver betrieben wird, und wer sich auch nur in einen der im Internet blühenden Latin Chatclubs einklickt, muss den Eindruck haben, dass Latein seinen Tod sogar irgendwie ganz gut überlebt hat. Wie schwierig und uneindeutig die Dinge im übrigen sind, zeigt schon die Tatsache, dass sich zwar über den Tod des Lateinischen so gut wie alle einig sind, dagegen durchaus nicht über die Frage, wann und woran denn das Latein gestorben sei: mors certa, tempus incertum . Beim Durchblättern der Literatur finde ich etwa folgende Versuche, dem Totenschein des Latein sein Datum zu verpassen.
Da meinen die einen, erst im 18. Jahrhundert sei das Latein gestorben, damals als es aufhörte die internationale Sprache von Wissenschaft und Universität zu sein. Andere gehen drei Jahrhunderte weiter zurück, und behaupten schon die großen Humanisten der Renaissance hätten das lebendige Latein getötet, indem sie eine bis dahin fröhlich lebende, ja geradezu wuchernde Sprache in das streng schnürende Korsett des Cicerolateins gesperrt und dabei erstickt hätten. Und wieder andere glauben, es sei Karl der Große gewesen, der im achten Jahrhundert durch seine berühmten Bildungsreform, die im wesentlichen eine Wiederherstellung des Lateinunterrichts war, zum Mörder des lebendigen Lateins geworden wäre. Und schließlich gibt es natürlich auch die Meinung derer – sie dürften noch immer in der Überzahl sein -, die annehmen, dass das Lateinische mit dem Ende der Antike, das man dann vom 5. bis 7. Jahrhundert hin- und herschieben kann, untergegangen sei.  Quot capita, tot sensus – wie viele Köpfe, so viele Ansichten. Ich will Ihnen die meine nicht verhehlen: Latein, wenn es denn wirklich gestorben ist, hat seinen Tod schon einige Jahrhunderte früher erlebt: ausgerechnet zur Zeit seiner größten Blüte, der Zeit, die etwa mit Christi Geburt, unserer Zeitenwende, zusammenfällt.
Aber um das zu verstehen, müssen wir schön ordentlich mit den Anfängen beginnen: ab ouo. Was ist, was war Latein? Von Hause aus, bis ins vierte vorchristliche Jahrhundert, war Latein nur eine kleine Regionalsprache Italiens: die Sprache der Landschaft Latium, deren Hauptstadt Rom werden sollte. Seine ältesten Sprecher also waren nicht die Römer, sondern die Latini, die Einwohner von Latium und ihre Lokalgötter, die Fauni, die in lateinischen Saturniern, dem einheimischen Versmaß, die Zukunft verkündet haben sollen. Trotz Roms überragender Bedeutung hat sich auch später als Bezeichnung der Sprache lingua Romana gegenüber lingua Latina nie recht durchsetzen können. Indem Rom dann Italien erobert, vom 4. Jahrhundert bis zum Bundesgenossenkrieg (89 v. Chr.), der allen Italikern das römische Bürgerrecht verschafft, breitet auch Latein sich aus: Es verdrängt die anderen Sprachen, Faliskisch, Messapisch, Oskisch usw.; nur das Etruskische leistet partiell Widerstand, und alte Griechenstädte in Süditalien, wie Neapel, Tarent, behalten auf lange Zeit ihr Griechisch. Aber obschon man am Ende der Republik, also in der Mitte des ersten vorchristlichen Jahrhunderts, sogar schon in Westsizilien und dem südlichen Sardinien, Roms ältesten Provinzen, Latein spricht, ist noch in dieser Zeit natürlich Griechisch die führende Weltsprache. Als Cicero im Jahr 62 v. Chr. sein zu Hause ruhmreiches Konsulat auch international  verherrlichen möchte, will er einen griechischen Dichter, Archias, dafür gewinnen, wie er sagt: propterea quod Graeca leguntur in omnibus fere gentibus, Latina suis finibus exiguis sane continentur, „darum weil man Griechisches bei allen Völkern liest, das Lateinische in seinen eigenen, doch recht engen Grenzen eingeschlossen bleibt“..
Vierzig Jahre später sieht die Lage immerhin schon etwas anders aus. Wenn sich Horaz in seiner (i.J. 23 v. Chr. herausgebenen) Sammlung lyrischer Oden – dem bis dahin anspruchsvollsten Werk lateinischer Dichtung überhaupt – seine zukünftige Verwandlung in einen über alle Länder fliegenden Schwan ausmalt (um so den dereinst weltweiten Ruhm seiner Lyrik zu verbildlichen), heißt es (ich übersetze):
    .
„Schon werde ich, berühmter als der Daedalus des Icarus, die seufzenden Gestade des Bosporus besichtigen, als ein singender Vogel, und die gätulischen Syrten [also Afrika] und die Felder der Hyperboreer [im äußersten Norden];
mich wird der Colcher kennen lernen und der Daker [im heutigen Rumänien], der noch so tut, als ob er den marsischen Soldaten nicht fürchte, und die entferntesten Geloner [in Thrakien], mich wird der kunstverständige Hiberer [in Spanien] einstudieren und der, der aus der Rhone trinkt [also der heutige Franzose].“
             me Colchus et qui dissimulat metum
            Marsae cohortis Dacus et ultimi
                 noscent Geloni, me peritus
                      discet Hiber Rhodanique potor

Das war, so kühn es zu seiner Zeit geklungen haben muss, die zum Teil echte und wahre Prophezeihung eines uates, „Dichterpropheten“, wie Horaz sich stolz nannte: Er ahnte voraus, dass er gelesen, vielleicht sogar gesungen würde von Byzanz bis Gallien und Spanien, von Britannien bis Afrika - in der Tat überall dort, wo später (noch nicht zur Zeit des Horaz selber) in lateinischen Grammatikschulen die römischen Klassiker traktiert wurden. Obwohl die gebildeten Römer selber lange Zeit zweisprachig blieben, eroberte Latein in der Kaiserzeit schließlich fast alle Provinzen des imperium Romanum: Nicht nur romanische Sprachen wie Französisch und Spanisch, bezeugen ihre Mutter; lateinische Lehnwörter hat bekanntlich sogar dass Germanische, wie unser Wort „Kaiser“, das offenbar zu einer Zeit übernommen wurde, wo man noch nicht „Zäsar“, sondern „Kaisar“ aussprach. Nur die östliche Reichshälfte blieb im Kern griechisch, aber auch dort unter den „römischen Kaisern“, wie sie sich immer nannten, war Latein die offizielle Amtssprache. Im leibhaftigen Konstantinopel lehrt (im sechsten Jahrhundert n.Chr.) der für ein Jahrtausend bedeutendste lateinische  Grammatiker, Priscian; dort wird unter Kaiser Justinian das lateinische Corpus Iuris redigiert; dort wird ein Feldzug des Kaisers vom Hofdichter Corippus in lateinischen  Versen besungen.
Schon dies weist darauf: Der Welterfolg des Lateinischen beruhte nicht nur auf der Gewalt der römischen Waffen, sondern auch auf der geistigen Leistung der Römer. Sie zeigt sich im römischen Recht, das immer an die lateinische Sprache gebunden blieb; sie zeigt sich aber genau so an der sonstigen literarischen Produktivität. Die Römer waren als einziges antikes Volk befähigt (und willens), die literarischen Formen der kulturell überlegenen Griechen in eigener Sprache nachzubilden, eine dem Griechischen vergleichbare Literatur zu schaffen. Dies beginnt mit dem genialen Großvater der lateinischen Literatur, dem Zensor Appius Claudius Caecus, der im Jahr 280 v.Chr. eine Senatsrede gegen den Frieden mit Pyrrhus veröffentlicht, eine Kriegsrede offenbar in Art der Philippiken des Demosthenes (die er sicherlich gekannt hat). Sein Nachfolger, der üblicherweise als der Begründer der lateinischen Literatur gilt, war selber ein romanisierter Grieche, der Freigelassene Livius Andronicus  aus Tarent. Er führte im Jahr 240 ein lateinisches Drama (ob Komödie oder Tragödie, wissen wir nicht) nach griechischer Vorlage offenbar im Staatsauftrag auf. Und diesem Gründungsereignis folgte eine Serie von Dramen (Plautus, Terenz usw.), die anderthalb Jahrhunderte nicht abriss.
Das war unerhört in der antiken Welt. Wo sonst einmal von einem Nichtgriechen ein Drama verfasst wird (wie die Tragödie Exagoge vom Juden Ezechiel, über den „Auszug“ der Kinder Israel), geschieht dies natürlich auf Griechisch, und so ist es in allen Gattungen. Nur in Rom wird die griechische Literatur latinisiert, zunächst das Drama – warum gerade das Drama? Weil danach ein populäres Bedürfnis vorhanden war. Der römische Soldat, der auf Feldzügen, vor allem in Unteritalien, griechisches Drama erlebte, wollte selber so etwas Schönes auch in Rom haben. Wäre das Theater nur für die gebildete Oberschicht dagewesen, so hätte es griechisch bleiben können. Aber es war eine Kunstform auch des kleinen Mannes, des Plebeiers, Handwerkers, Tagelöhners; ins Theater gingen ja sogar auch Frauen. Wohl aus diesem Grund veranstaltete Livius Andronicus in seinen Dramen, und nur dort, eine metrische Revolution von großen Folgen. Er verwendete nicht den einheimischen, angeblich schon von den Faunen verwendeten latinischen bzw. italischen Vers (Saturnius), der zur Verfügung gestanden hätte und den er z.B. für seine Übersetzung der griechischen Odyssee gebrauchte (die für ein exklusiveres Lesepublikum bestimmt war): Virum mihi Camena, insece uersutum. Das Drama der Römer sollte klingen wie im griechischen Theater; darum gebrauchten er und seine Nachfolger griechisches Versmaß, wobei sie die lateinische Sprache, ohne ihr Gewalt anzutun, nach griechischer Prosodie, also Phonetik, aufbereiteten. Konstitutiv für lateinische Dichtung war von nun an die Unterscheidung von langen und kurzen Silben (die im Saturnius noch minder wichtig war): obsequium amicos, ueritas odium parit. Dieser Vers des Terenz („Gefälligkeit schafft Freunde, Wahrheit macht verhasst“) klang doch recht ähnlich einem entsprechenden Vers des Menander: hos charien est’ anthropos en anthropos e („Wie reizend ist ein Mensch doch, wenn ein Mensch er ist“). So sehen wir auch von hieraus, dass am Anfang der lateinischen Literatur ein volkstümliches Bedürfnis stand.
Aber obwohl die Römer diesen Vorgang so ansahen, als seien sie selber dem kulturell überlegenen Griechenland zum Opfer gefallen, nach der berühmten Formulierung des Horaz: Graecia capta ferum uictorem cepit et artes / intulit agresti Latio ... („Das eroberte Griechenland eroberte selber seinen wilden Bezwinger und brachte seine Künste nach Latium“), trotz dieser höchst bescheidenen Selbsteinschätzung galt doch im wesentlichen bereits für das erste Jahrhundert v. Chr.: Rom hatte mit Griechenland literarisch nicht nur gleichgezogen, sondern es sogar überflügelt. Den Meisterwerken vor allem von Cicero, dem größten Schriftsteller seines Jahrhunderts, aber auch von den Prosaikern Sallust und Livius, den Dichtern Lukrez, Catull, Horaz, Ovid, und ganz besonders Vergil, dem sogleich als Nationaldichter Verehrten, hatte die griechische Welt damals nichts Ebenbürtiges mehr entgegenzusetzen. Nun strahlte Rom seinerseits auf Griechenland zurück. Sogar die Bewegung des sogenannten Attizismus, die eine Eneuerung der griechischen Literatur mit sich brachte, scheint von der egeisterung junger Römer für die klassischen attischen Redner ausgegangen zu sein. Und die römischen Schriftsteller selbst, besonders die Dichter, haben das Gefühl bleibende, klassische Werke zu schaffen; sie glauben seit der Augusteerzeit an eine förmliche Unsterblichkeit ihres Werks und damit ihrer selbst. Am berühmtesten ist der Ausspruch des schon erwähnten Lyrikers Horaz, der am Ende seiner ersten Odensammlung von dem „Denkmal dauernder als Erz“ (monumentum aere perennius), das er sich errichtet habe, spricht und sich selber verheißt: non omnis  moriar („ich werde nicht ganz sterben“). Was allerdings geknüpft bleibt an die Unvergänglichkeit des „ewigen Roms“: Man werde von seiner Leistung reden, dum Capitolium scandet cum tacita uirgine pontifex („solange aufs Capitol mit der schweigenden Jungfrau [der Vestalin] der Pontifex steigen wird“), d.h. solange der die Dauer Roms verbürgende römische Staatskult fortbesteht. Mit ähnlicher Einschränkung (ohne dass er freilich selber sie als Einschränkung sähe) verheißt Vergil den Helden seiner Aeneis ewigen Ruhm: dum domus Aeneae Capitoli immobile saxum / accolet imperiumque pater Romanus habebit („solange das Haus des Aeneas den unerschütterlichen Felsen des Capitols bewohnen und der Römer sein Reich haben wird“). Die Wirklichkeit hat hier einmal die Wünsche und Prophezeiungen der Dichter überboten: Das römische Reich ist zusammengebrochen, in Rom ist längst ein anderer Pontifex maximus am Werk – aber Horaz und Vergil werden noch immer, zum Teil sogar in deutschen Klassenzimmern, gelesen.
    Dieses Gefühl der Unsterblichkeit bei den römischen Dichtern, das Gefühl der eigenen Klassizität, fällt nun eigenartigerweise – und damit komme ich eigentlich auf mein Thema -  zusammen mit dem Tod, vorsichtiger gesagt: dem ersten Tod des Lateinischen. Im linguistischen Sinn ist ja eine Sprache vor allem dann tot, wenn sie aufgehört hat sich fortzuentwickeln; und dieser Entwicklungsstop fällt nun beim Lateinischen eben in die Epoche bereits des Augustus, also, wie ich schon gesagt habe, etwa in die Zeit um Christi Geburt. In den anderthalb Jahrhunderten von Plautus (um 200 v.Chr.) bis Cicero konstatieren wir, besonders in Satzbau (Syntax) und Formenlehre (Morphologie), eine fühlbare Sprachentwicklung. Vergleichen wir dagegen einen Brief Ciceros mit einem etwa des Symmachus (im vierten Jahrhundert n.Chr.), einen Dialog Ciceros mit der berühmten Consolatio philosophiae des Boethius (am Anfang des sechsten Jahrhunderts) oder auch Hexameter Vergils mit solchen des Claudian (der um 400 gedichtet hat), so scheint die Sprache, was zumindest ihren harten Kern angeht, stehengeblieben zu sein. Man hat eine „Syntax of early Latin“ schreiben können; eine vergleichbare „Syntax of late Latin“ wäre weniger sinnvoll; entsprechende Werke haben denn auch Titel wie „Beiträge zur Kenntis der späteren Latinität“.. Eine Weiterentwicklung des Lateinischen seit der Augusteerzeit gibt es eigentlich nur noch im Vokabular: Klar, dass etwa die christliche Religion seit dem zweiten Jahrhundert oder der technische Fortschritt in Mittelalter und Neuzeit neue Wörter (Neologismen) nötig machten . Aber wenn etwa die Christen das griechische baptisma (für „Taufe“) lateinisch eingemeinden oder das lateinische sacramentum, ursprünglich der „Fahneneid“ des Soldaten, religiös umfunktionieren oder wenn neuerdings Pater Eichenseer mit seinen Lateinfreunden in Saarbrücken die clusura tractilis für den „Reißverschluss“ kreiert, so wird die Sprache damit nicht wesentlich verändert; sie bleibt, in ihrem Kern, die Sprache Ciceros.
Dieser frühe Tod des Lateinischen ist darum von den Philologen bzw. Linguisten nie recht scharf erkannt worden, weil der literarische Stil der Prosa auch nach Cicero durchaus variabel blieb, weil Cicero trotz seiner Dominanz keineswegs überall und durchweg vorbildlich war. Seit den Fünfzigerjahren v.Chr. gibt es neben enragierten Ciceronianern auch Stilisten, die z.T. dezidiert anders schreiben als er: zunächst die Attizisten um Calvus und den Archaisten Sallust, dann die pointenreichen „silbernen“ Lateiner Seneca und Tacitus, schließlich Fronto, Apuleius, Augustin, in der Neuzeit Poggio, Erasmus, besonders Justus Lipsius (am Ende des 16. Jahrhunderts) – sie allen gestalten ein mehr oder minder unciceronisches Latein je eigener Prägung. Und selbst Vergil ist nicht so vorbildlich, dass nicht etwa Ovid und Lucan einen ganz eigenen epischen Sound entwickelt hätten. Aber solche Wechselfälle der parole, wenn man so sagen darf, ändern nichts an der substantiellen Konstanz der langue, die nur hier und dort in Kleinigkeiten schwankt, sich aber nicht mehr eigentlich fortentwickelt, linguistisch gesehen also tot ist.
    Wie ist es zu diesem Tod des Lateinischen gekommen? Da die Frage nie präzise gestellt wird, gibt es keine Antwort, jedenfalls keine anerkannte. Meine eigene Meinung, die ich seit über fünfzehn Jahren (vorsichtigerweise bisher fast nur in populären Vorträgen) vertrete und die ich hier zum ersten Mal vor Fachlinguisten, zu denen ich selber nicht gehöre, mit der gebührenden Zaghaftigkeit zur Diskussion stelle, ist die, dass es das Erlebnis eben der als klassisch empfundenen lateinischen Meisterwerke gewesen sein muss, der Werke besonders von Cicero und Vergil, das zur Folge hatte, dass die Gebildeten (nicht bewusst, aber doch instinktiv) fühlten: eine Sprache, in der Vergils Aeneis oder die Philippischen Reden Ciceros verfasst seien, dürfe sich einfach nicht mehr ändern. Diese Werke verdienten es, so empfand man offenbar, immer gelesen zu werden,  sie mussten immer – wenn nicht tatsächliches Vorbild sein, dann doch zumindest Vorbild sein  k ö n n e n. Und das konnten sie nicht, wenn die Sprache sich ändern würde. Kein deutscher Dichter orientiert sich mehr an Nibelungenlied oder Walter von der Vogelweide, die uns sprachlich zu weit entrückt sind; aber jedem lateinischen Ependichter, wie dem mittelalterlichen Waltharius, dem frühneuzeitlichen Petrarca oder auch Giovanni Pascoli an der Schwelle zum zwanzigsten Jahrhundert, stand es frei, Vergil zu folgen. So gibt es seit der goldenen Blütezeit der lateinischen Literatur nur noch dieses eine, im Kern unveränderte Latein. Es war also nicht ein Verfall, ein Erschöpftsein der Kraft, das den Tod des Lateinischen bewirkt hat, es war, wenn ich recht sehe, gerade die schiere Kraft und Schönheit der klassischen Meisterwerke. Allegorisierend könnten wir Graf von Platens „Tristan“ zitieren: „Wer die Schönheit angeschaut mit Augen, ist dem Tode schon anheim gegeben ...“.
Natürlich hat sich das gesprochene Latein des kleinen Mannes seine Entwicklung nicht völlig verbieten lassen. Dieses Latein verändert sich weiter, und es wird dabei fast eine andere Sprache. Aus dem alten Umgangslatein, das auch ein Klassiker wie Terenz gebraucht und sogar Cicero in seinen intimeren Briefen, wird nun – und nun erst – das sogenannte „Vulgärlatein“, in dem die Väter der romanistischen Sprachwissenschaft (Dietz usw.) seit zweihundert Jahren den Quell der romanischen Sprachen erkannt haben. Frühe Zeugnisse für dieses vom Standpunkt der Normgrammatik aus z.T. fehlerhafte Latein sind vor allem die Wandinschriften Pompeiis und die Freigelassenengespräche Petrons, später auch etwa die Warnungen der Grammatiker vor Sprachfehlern. Hier werden Casus durch Präpositionalausdrücke ersetzt (de deo statt  dei, wie später ital. di dio, franz. de dieu), hier wird das Perfekt umschrieben (habeo cantatum statt cantavi, wie ho cantato usw.), hier gebraucht man etwa tirare für trahere; schon an den Wänden Pompeiis sieht der Berufslateiner mit Entsetzen, wie der Ablativ, der lateinische Paradecasus, durch einen schäbigen Akkusativ verdrängt wird: Er steht nicht nur bei frui und uti, sondern – horribile dictu - sogar schon beim präpositionalen cum: „mit den Kameraden“, cum sodales, das ist bitter. Wäre Latein im Zeitalter von Nero und Vespasian noch eine lebendige Sprache, wären solche Verirrungen natürlich im Laufe der Zeit auch in die Schriftsprache eingedrungen, wären sie korrekt geworden. So aber bleiben sie Verirrungen, zum Glück bis heute.
Den tiefsten Einschnitt bedeutete es, dass im „Vulgärlateinischen“, um diesen heute umstrittenen Begriff für die Umgangssprache des ungebildeten Mannes beizubehalten, die Unterschiede der Silbenquantitäten allmählich zusammenbrachen, dass man vor allem unter Einwirkung des Wortakzents, der offenbar stärker wurde, Silben fälschlich längte oder kürzte. Während nach einem ausdrücklichen Zeugnis Ciceros zu seiner Zeit noch das ganze Theater aufschrie, wenn versehentlich von einem Schauspieler die korrekte Silbenquantität nicht eingehalten und somit das Metrum zerstört wurde, wird man hier nun unempfindlich. Wiederum schon in der Versinschrift eines pompeianischen Graffito wird die erste Silbe der Göttin Venus wie in schlechtester bayerischer Schulaussprache lang gemessen:
amoris ignes si sentires, mulio,
magis properares ut uideres Venerem -
wohingegen natürlich in den Schulen der Grammatiker weiterhin korrekt Venus mit kurzem e gesprochen und gewertet wurde. Überhaupt wird nun der grammaticus, der „Philologe“ bzw. antike Mittelstufenlehrer, dem die Autorenlektüre der Jugend und ihre erste sprachliche Bildung anvertraut ist, zum Wächter der Sprache, custos Latini sermonis, wie schon Seneca formuliert (bzw., mit einem neueren Buchtitel,). Er hält beim Latein sozusagen die Totenwache, oder, freundlicher formuliert: Er bürgt als Anwalt des Genius der Latinität für Einheit und Konstanz der Sprache; bei ihm lernt man immer wieder auch, bis weit in die neueste Neuzeit, korrekte lateinische Verse zu schreiben, Verse, die auf der strengen Einteilung der Silben in lange und kurze beruhen; bei ihm lernt man überhaupt – hier ist meine Meinung von der vieler Romanisten offenbar verschieden – die alte klassische Aussprache, so gut er sie eben selber beherrscht (denn Tonbänder von Cicero hat auch er keine); solange es ihn gibt, heißt jedenfalls Caesar kaisar. Wobei ich übrigens auch nicht glaube, dass dieses klassische Normlatein immer erst als eine Art Zweitsprache erlernt wurde: Warum sollen nicht auch gebildete Mütter schon mit ihren Kindern sich in der Sprache des grammaticus unterhalten haben?
    So entsteht, um auf Metrik und Prosodie zurückzukommen, erst relativ spät und zögerlich eine Dichtung, die der Entwicklung der volkstümlichen Aussprache Rechnung trägt. Zuerst finden wir so etwas bei Commodian, einem christlichen Autor wohl des dritten Jahrhunderts, der vielleicht mehr aus Versehen als Absicht abenteuerliche Hexameter produziert, denen man ihre Herkunft von Vergil kaum mehr ansieht. Dann ist es aber kein geringerer als der auch hier Epoche machende Kirchenvater Augustin, der am Anfang des fünften Jahrhunderts in seinem Psalmus contra Donatistas (einem Trutzlied gegen die Sekte der Donatisten) ein Stück Poesie verfasst, das programmatisch der tatsächlichen Aussprache ungebildeter Afrikaner entsprechen soll (ad iudicium aurium, „nach dem Urteil der Ohren“, wie er schreibt): Bei festgelegter Silbenzahl gelten alle Silben als gleichwertig, nur die Zäsur-und Versschlüsse sind durch den Akzentfall, die Versschlüsse auch durch einen einfachen Vokalreim, leicht reguliert:
    Abundantia peccatórum    solet fratres conturbáre.
    propter hoc dominus nóster    voluit nos admonére    
Dies war zweifellos seit Livius Andronicus die größte schöpferische Tat der lateinischen Versgeschichte, ein unerwartetes Stück Leben am lateinischen Leichnam. Seitdem gibt es bis heute zwei Arten lateinischer Dichtung: die „metrische“ (in der es auf die Silbenquantität ankommt) und die „rhythmische“ (in der neben der Silbenzahl meist auch der Wortakzent berücksichtigt wird). Dabei konnte sich die „rhythmische“ Dichtung umso leichter verbreiten, als die Silbenquantitäten in Mittelalter und Neuzeit ja auch weiterhin missachtet wurden, meist wohl auch im Unterricht, obwohl man sonst das (letztlich auf der Sprache Ciceros beruhende) Normlatein pflegte. Erst gelegentlich im sechzehnten und dann, zunehmend, im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert mehren sich Versuche, Latein wieder quantitätsrichtig auszusprechen. Dem Buchstaben des Lehrplans nach wäre dies sogar die Pflicht an deutschen Schulen; aber in diesem Fall erregt, soweit man hört, die Pflichterfüllung gelegentlich mehr Befremden als die Pflichtverletzung.
Das Latein kam in die wohl größte Krise seiner Geschichte, als in der Zeit der Völkerwanderungen das Bildungssystem, d.h. der fundamentale Grammatikunterricht, wenn auch nicht überall gleichzeitig, zusammenbrach (nur in der Reichskrise des dritten Jahrhunderts scheint das schon einmal kurz der Fall gewesen zu sein). Das hatte zur Folge, dass, abgesehen von der Entartung des in der Kirche gesprochenen Lateins, auch das geschriebene Latein, selbst bei bemühten Schriftstellern, nun verwilderte und dass die romanischen Sprachen, Italienisch, Französisch usw., entstanden, die sich offenbar erst jetzt (in relativ kurzer Zeit, wie es scheint)  aus dem Vulgärlatein regional verschieden herausdifferenzierten: Der „Vulgärlateiner“ verstand noch Latein, der Italiener kann von Hause aus keines mehr. Auch Augustin litt zwar schon unter dem Problem, wie er sich in seinen Kirchenpredigten vor ungebildetem Volk verständlich machen solle. Aber obwohl er in diesem Zusammenhang das berühmte Wort sprach: melius nos reprehendant grammatici quam non intelligant populi „Besser, dass die Grammatiker uns schelten, als dass das Volk uns nicht versteht“, hielt er sich doch auch in seinen Predigten im wesentlichen an die Normgrammatik und wurde trotzdem vom Volk verstanden. Allein die Tatsache, dass Gebildete und Ungebildete, genauer gesagt: vom grammaticus Geschulte und nicht von ihm Geschulte, miteinander kommunizieren mussten, verhinderte, dass sich die Schere zwischen Latein und Vulgärlatein zu weit öffnete; der Verständigungszwang sorgte, meine ich, dafür, dass indirekt auch noch der sermo uulgaris vom grammaticus gesteuert wurde. Solange es letzteren eben gab! Die romanischen Sprachen sonderten sich endgültig vom Latein ab, nicht weil, wie jetzt der treffliche Hermann Lüdtke in seinem fundamentalen Artikel über „’Tote’ Sprachen“ formuliert, „sich die Traditionssprache gegenüber nahezu allen entscheidenden Neuerungen der Spontansprache“ verschloss (was an sich richtig ist), sondern weil die Traditionssprache ihren Wächter verlor. Wäre der Grammatikunterricht intakt geblieben, gäbe es auch heute wohl keine Romanistik, sondern nur eine Vulgärlatinistik, am Seminar für Klassische Philologie als ein Anhängsel geduldet. So aber sind, unwiderruflich, die romanischen Sprachen entstanden. Als am Anfang des neunten Jahrhunderts, genauer 813 auf dem Konzil von Tours, die versammelten Bischöfe beschlossen, es sollten hinkünftig lateinische Predigten in die (wörtlich) „ungebildet romanische oder deutsche Sprache“ übersetzt werden (in rusticam Romanam linguam aut Thiotiscam) damit jeder sie verstehe, war das Latein von den aus ihm entstandenen romanischen Sprachen sozusagen aktenkundig getrennt. Hier beginnt das lateinische Mittelalter, wo Latein nunmehr auch in dem Sinne tot ist, dass endgültig niemand mehr diese Sprache von seiner Mutter lernt (der zweite Tod also).
    An Anfang dieses lateinischen Mittelalters steht, wie schon am Anfang der Spätantike (unter Diocletian), eine Bildungsreform, also die Wiederherstellung des Grammatikunterrichts (jetzt eindrücklich geschildert und gewürdigt von Manfred Fuhrmann in seinem Buch Latein und Europa). Karl der Große, Carolus Magnus, war der wohl bedeutendste Bildungsreformer Europas. Er sorgte, dass wieder echtes, wenn auch totes, Latein im Anschluss an die spätlateinischen grammatici Latini gelernt wurde (vor allem von den clerici); er machte so Latein zur standardisierten Zweitsprache eines sonst sprachlich differenzierten Europas (schuf also einen Zustand, der so bis ins achtzehnte Jahrhundert fortdauerte). Aus eigenen, sozusagen kontinentalen Kräften konnte das Karl nicht schaffen. Er holte sich gelehrte Hilfe aus dem Norden, aus Schottland und Irland. Dort hatte sich geschützt vor den Stürmen der Völkerwanderung ein geordneter Lateinunterricht gehalten; dort war, wie Fuhrmann schön hervorhebt, Latein schon bisher echte Zweitsprache, „Vatersprache“ gewissermaßen neben der jeweiligen Muttersprache, gewesen, jetzt ein Vorbild für den Kontinent. Vor allem war es bekanntlich der bedeutende Alcuin von York, der sich um das Bildungswesen verdient machte.
Es ist wohl etwas schief, wenn jetzt Fuhrmann die Dinge so darstellt, als hätten Karl und Alcuin bei ihrer Reform auf das „Spätlatein“ der Spätantike zurückgegriffen und somit Jahrhunderte sprachlicher Entwicklung übersprungen: Latein war immer Latein, und individuelle Entartungen können nicht als Entwicklung gelten. So ist auch zu warnen vor dem Begriff des „Mittellatein“, das gar zu leicht, zumal es dafür eigene Lehrstühle gibt, nach Analogie eines Mittelfranzösisch oder Mittelhochdeutsch, als Bezeichnung einer Entwicklungsstufe missverstanden wird. Wie vor allem Walter Bulst in seiner zu wenig bekannten Schrift Über die mittlere Latinität des Abendlands (1946) hervorgehoben hat, steht das „Mittellatein“ zu allen Zeiten des Mittelalters auf derselben antiken Sprachstufe, es entwickelt sich auch hier nicht weiter; und immer gibt es Autoren, die perfekt den Stil antiker Vorbilder nachbilden, wie Einhard den Sueton, Baudri de Bourgueil seinen Ovid. Wenn in geringer stilisierten Texten auch „Fehler“ im Sinn der Normgrammatik toleriert werden (etwa dass man dico oder sentio, nach Analogie neuerer Sprachen, mit quod statt dem Accusativ mit Infinitiv verbindet), so wird doch aus solchen Fehlern nie eine letztliche Sprachrichtigkeit, die es dann ja verbieten müsste, die alte Regel noch anzuwenden. Nie war (für „Ich sage, dass ich krank bin“) dico quod aegroto – man verzeihe! – korrekter als dico me aegrotare.
Schöpferisch und geradezu lebendig war auch das an sich tote Mittellatein vor allem in der Erschaffung neuer Formen der „rhythmischen“ Dichtung, die nun in der Regel um den Silbenreim bereichert wurde. Lange kannte man in neuerer Zeit dies fast nur aus religiösen Dichtungen wie dem unvergleichlichen Dies irae oder dem Stabat mater. Dann war es vor allem der Genius des Bayern Carl Orff, der entdeckte, dass sich auch die weltliche Lyrik des „rhythmischen Mittelalters“ (bis dahin nur durch wenige Nummern des Kommersbuchs erschlossen) geschickt aufbereitet an ein modernes Publikum vermitteln ließ: Seine ohrwurmreichen Carmina Burana wurden ja überraschenderweise das erfolgreichste Werk des Musiktheaters im vergangenen zwanzigsten Jahrhundert.
Im übrigen wurde die unter Karl dem Großen etablierte Zweisprachigkeit der Gelehrten nunmehr so selbstverständlich, dass man sie sogar unwillkürlich ins Altertum zurückprojizierte. Dante in seinem berühmten Traktat über die Volkssprache (De uulgari eloquentia) meinte, schon die alten Römer hätten neben der Volkssprache (uulgaris locutio ), die sie von Mutter und Amme lernten, auch eine Zweitsprache gehabt, die sie grammatica genannt und sich über Studium und Regeln angeeignet hätten, womit natürlich unser klassisches Latein gemeint ist; m.a.W. Cicero hätte nur mit seinen gelehrten Freunden de officiis Latein gesprochen, mit Frau Terentia dagegen zu Hause über den Ärger mit Sohn Marcus Italienisch. So unglaublich es klingt: Diese Ansicht wurde noch im 15. Jahrhundert von historisch Gebildeten vertreten, die sich einfach nicht vorstellen konnten, eine so schwierige Sprache wie die lateinische sei je natürlich erworben worden (im Zusammenhang der über dieses Problem geführten Debatte entstand übrigens, wie jetzt Lüdtke gezeigt hat, überhaupt der Begriff der toten Sprache; ja es gab sogar einen Humanisten, Benedetto Varchi, in der Mitte des 16. Jahrhunderts, der schon völlig richtig zwischen ausgestorbenen und gewissermaßen mausetoten Sprachen – lingue morte affatto – und halb lebenden Sprachen unterschied –  : Das sind eben Gespenstersprachen wie das Lateinische).
Aber, da wir nun schon bei den Humanisten der Renaissance sind, haben sie sich denn nicht, beginnend mit Francesco Petrarca, gegen das Latein des Mittelalters, das „Mittellatein“ gewandt, es als „Mönchslatein“ oder „Küchenlatein“ verspottet? Nein, das haben sie nicht; und darum ist auch die Behauptung, sie etwa hätten, wie klassische Philologen fast regelmäßig behaupten, durch ihre Begeisterung für Cicero und die klassischen Autoren dem lebendigen Latein den Todesstoß gegeben, von Grund auf verkehrt. Ihr Protest richtete sich nur gegen eine gewisse Entartung des Lateinischen an den Universitäten, in der Wissenschaftssprache, besonders in der Sprache der Scholastik. Tatsächlich bemühten sich diese Scholastiker, wie etwa auch ein Thomas von Aquin, um nur den Größten zu nennen, kaum oder gar nicht um Eleganz ihres Lateins (das sie im übrigen korrekt beherrschten); was sie schreiben, wirkt, wenn man von Cicero, Seneca oder auch Augustin herkommt, hölzern und hässlich; und nur gegen diese vor allem im Spätmittelalter zunehmende Vernachlässigung der Form protestierten die Humanisten - mit denen dann freilich ein neuer Lateinenthusiasmus über Europa kam, wie man ihn auch zu Karls des Großen Zeiten nicht erlebt hatte.
    Petrarca, so formulierten spätere Renaissancehumanisten, wagte es als erster, sein Haupt aus dem Schlamm der Barbarei zu erheben, d.h. er versuchte wieder, auch im Stil, ein an Cicero orientiertes Latein zu schreiben. Und dann geht eine Begeisterung für das Latein, das klassische Latein, wie ein Rausch über Europa: „Das Lateinische“, so schwärmt der große Historiker Lorenzo Valla (1440), „wird von allen Nationen verehrt, wie ein Gott, der vom Himmel herabgesandt wurde“ (quasi Deum quendam à Coelo demissum). Latein aber hieß vor allem: ciceronisches Latein. Es entsteht der moderne Ciceronianismus, eine Nachahmung Ciceros, die sogar recht sonderbare Blüten treibt. Ein fanatischer Ciceronianer, wie der Kardinal Bembo, spricht von seinen Standesgenossen nicht mehr als von „Kardinälen“ (cardinales), sondern von senatores; er gebraucht nicht mehr das Wort „Nonnen“ (moniales) sondern Virgines Vestales (vestalische Jungfrauen) usw. Die Sprache wird bis an die Grenzen des Unverständlichen von allen christlichen und mittelalterlichen Schlacken gereinigt. Erlaubt ist nur noch, was auch bei Cicero belegt ist. Die förmliche Karikatur eines solchen Ciceronianers hat ein Jahrhundert später, 1528, der berühmte Humanist Erasmus in einem Dialog vorgeführt. Es tritt dort auf ein gewisser Herr Nosoponus (was etwa so viel heißt wie „Mühekrank“), ein Mann, der ängstlich bemüht ist, nur Ciceronisches zu sprechen, und zwar in der Weise, daß er nicht nur die Wörter vermeidet, die Cicero nicht hat, sondern sogar die Wortformen, die bei diesem zufälligerweise nicht belegt sind. Und so wälzt er aus Angst vor Fehlern am Schluß nur noch stumm seinen Cicero... - Auch wenn aber die Wirklichkeit bisweilen einer solchen Karikatur nahe gekommen sein sollte, so wäre es trotzdem verkehrt zu behaupten, die Humanisten hätten dem lebendigen Gebrauch der toten Sprache Latein geschadet; Latein wurde nie wieder so sprühend lebendig, lebhaft und einfallsreich gebraucht wie in diesen Jahrhunderten der Renaissance, wobei der größte Lateiner nördlich der Alpen eben Erasmus von Rotterdam ist, ein Mann, in dessen Verehrung sich die Lateinbegeisterung eines ganzen Jahrhunderts symbolisiert.
    Eigentlich bahnbrechend aber war für Deutschland der „Erzhumanist“ Conrad Celtis, der im Jahr 1487 in Nürnberg vom Kaiser mit dem Lorbeer zum Dichter gekrönt wurde, zum ersten deutsche poeta laureatus; damit war ausgedrückt, daß es nun auch in Deutschland eine lateinische Poesie gebe, die wie die der Italiener in der großen antiken Tradition stehe. Die Gedichte freilich, mit denen sich damals der junge Celtis, der später als Professor unserer Universität mein eigener Amtsvorgänger (und Vorbild) ist, diesen Ruhm und Lorbeer erwarb, waren noch ziemlich mäßig; aber schon wesentlich anspruchsvoller waren seine 1502, vor genau vierhundert Jahren, erschienenen Amores, sein dichterisches Hauptwerk, dem soeben in einer Schweinfurter Ausstellung gehuldigt wurde; und der von ihm einmal erhobene Anspruch wurde wenigstens von Späteren dann voll eingelöst. Die lateinische Dichtung des sechzehnten und des siebzehnten Jahrhunderts überragt in ihren besten Werken fast alles, was Deutschland damals in der eigenen Sprache hervorgebracht hat.
    Literarisch führend waren im sechzehnten Jahrhundert zunächst die Protestanten, denen Luthers Freund, Melanchthon, ihre moderne Lateinschule, die Vorläuferin unseres humanistischen Gymnasiums, einrichtete. In dieser Schule, in der nur Latein gesprochen werden sollte, herrschte das schöne Bildungsziel der eloquens pietas, der „Frömmigkeit in beredtem Latein“. Ihr diente vor allem auch das von Luther so hoch geschätzte Schultheater, das sich in Werken wie dem europaweit gespielten Acolastus des Gnapheus (einer Dramatisierung des verlorenen Sohns nach Lukas) zu wirklicher poetischer Größe erhebt.
    Dieses protestantische Schultheater übernehmen dann die Jesuiten, die von der zweiten Hälfte des Jahrhunderts an, auch ihrerseits der eloquens pietas huldigend, die Führung im Bildungswesen anstreben, wobei sie um so erfolgreicher sind, als ihnen der einheitliche Lehrplan ihrer Ratio studiorum internationale Schlagkraft gibt. Ihr Theaterspiel, mit dem sie zumindest in Deutschland ein Jahrhundert lang mehr für das Bühnenwesen getan haben dürften als jede andere Institution, diente nicht nur der propaganda fides, „Verbreitung des Glaubens“, sondern auch der öffentlichen Selbstdarstellung ihres Ordens als führender Macht der Schulbildung, d.h. Lateinbildung. Ihre Aufführungen etwa hier in München sind bis heute Höhepunkte der lokalen Theatergeschichte. Z. B. wurde hier 1597 zur Einweihung von St. Michael, dem neuen Herz der Gegenreformation, mit tausend Mitwirkenden und viel Musik das zehnstündige Lateinspektakel Triumphus Divi Michaelis aufgeführt, mit einer wohl größeren Breitenwirkung als sie selbst Max Reinhardt gut dreihundert Jahre später bei seinen Münchner Masseninszenierungen antiker Tragödien erreichen konnte. Künstlerisch ungleich bedeutender waren die Dramen des Jacob Bidermann, dessen Cenodoxus, 1602 vor genau dreihundert Jahren in Augsburg uraufgeführt, noch heute in Übersetzung gelegentlich auf die Bühne kommt. Alle aber überragt der Genius des Jesuiten Jacobus Balde (1604-1668), einem der größten, leider auch vergessensten lateinischen Dichter aller Zeiten, ein Mann, der in fast sämtlichen antiken Dichtungsgattungen (und einigen weiteren) ein Lebenswerk geschaffen hat, das an Originalität und Kreativität eigentlich nur noch mit Goethe verglichen werden kann. Mit „Münchner Baldestudien“ – denn er wirkte vor allem von München aus - versuchen wir an unserem Institut zur Zeit die Erinnerung an ihn wenigstens wissenschaftlich zu beleben; vielleicht wird das demnächst zu feiernde  Jahr des vierhundertsten Geburtstags 2004 auch die Gelegenheit schaffen, endlich eine Uraufführung – man denke nur! – seines dramatischen Meisterwerks, der 1654 edierten monumentalen Tragödie Jephtias, zustande zu bringen.
    So lebt das tote Latein noch im 17. Jahrhundert, dank der Jesuitenmission bis nach Japan und Südamerika, als die führende Sprache nicht nur in Kirche und Wissenschaft, sondern auch in der schönen Literatur. Selbst erfolgreiche Unterhaltungsromane werden aus der jeweiligen Nationalsprache ins Lateinische übersetzt, um überall verstanden werden zu können. Das hört erst auf mit dem 18. Jahrhundert, in dem, bedingt durch das Erstarken der nationalsprachigen Literatur, auch in Deutschland die letzte große Zeit der lateinischen Dichtung zu Ende geht. Für das Jahrhundert von Leibniz, das Jahrhundert der Aufklärung, der deutschen Klassik und der beginnenden Romantik wird nun das lateinische Verseschmieden zu einer Angelegenheit vor allem der Schulmeister, einer Sache, mit der man unter Männern von Welt keinen großen Ruhm mehr erwerben kann. Das gilt noch nicht für das Latein im allgemeinen. Latein bleibt ja zunächst noch Sprache vor allem der Philosophie und Wissenschaft. Latein schreiben Descartes, Spinoza und spätere Philosophen; in Latein erläutert Newton die mathematischen Grundlagen der Physik, Linné das System der Botanik, Galvani die Elektrizität in den Froschschenkeln, und noch Carl Friedrich Gauß schreibt am Anfang des neunzehnten Jahrhunderts seine fundamentalen Werke über Zahlentheorie und Astronomie in lateinischer Sprache. Aber damit war gerade Gauß schon beinahe ein Nachzügler; denn im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts war Latein als Sprache der Wissenschaft fast in ganz Europa allmählich durch die modernen Sprachen ersetzt worden. Schon 1688 hatte ein gewisser Thomasius zum Entsetzen seiner Kollegen als erster eine deutschsprachige Vorlesung in Halle gehalten; und die damit begonnene Bewegung kam nicht mehr zum Stillstand (der dritte Tod des Lateinischen). Schuld war nicht etwa eine Defizienz des toten Latein gegenüber der modernen Welt – das Latein blieb wunderbar ausdrucksfähig: Noch Kants „Kritik der reinen Vernunft“ wird erfolgreich ins Lateinische übersetzt; und Goethe hat nach eigenem Bekunden an seinem Lieblingswerk „Hermann und Dorothea“ in der lateinischen Version eines Herrn von Berlichingen mehr Freude noch als am deutschen Original (Latein sei doch eine viel gebildetere Sprache, meint er) – also nicht eine Defizienz des toten Latein war schuld an seinem Rückgang, sondern der verhängnisvoll aufkommende Nationalismus bewirkte, dass es dem Gelehrten wichtiger wurde, sich auch dem minder Gebildeten im eigenen Volk mitzuteilen, als den geistigen Austausch in einer international lateinischen res publica litterarum zu suchen. So hatte am Ende des achtzehnten Jahrhunderts die Wissenschaft - von den Theologen und Philologen zunächst einmal abgesehen - das Latein schon fast aufgegeben: ein schwerer, bis heute fühlbarer Verlust! Denn im Englischen, das ja in den letzten Jahrzehnten  d i e  moderne Wissenschaftssprache geworden ist, sind die Engländer, zumal wenn es um Geisteswissenschaften geht, uns anderen überlegen. In Latein waren alle gleich (das konnte sowieso keiner).
    Damit war an der Wende zum neunzehnten Jahrhundert das Latein an der Schule seiner stärksten Belastungsprobe seit der Völkerwanderungszeit ausgesetzt. Und es fehlten schon damals die Stimmen nicht, die ihm mit Nützlichkeitsargumenten, genau wie heute, den Garaus machen wollten: Warum noch eine Sprache lernen, die kaum mehr gebraucht wird? Und dennoch erlebt Latein ausgerechnet in der höheren Schule des neunzehnten Jahrhunderts, dem sogenannten neuhumanistischen Gymnasium, wie es hier in Bayern vor allem der Freund Ludwigs I., Friedrich Thiersch, Begründer auch unseres Philologischen Seminars, gestaltet hat, im Zeitalter der leibhaftigen industriellen Revolution, wie in einem geistigen Widerstand gegen diese, eine große, ans Unglaubliche grenzende Nachblüte. Kein anderer Weg führt zum akademischen Studium als der durchs Gymnasium; kein Weg führt durchs Gymnasium ohne exzessives Latein: Latein, das nicht nur passiv verstanden, sondern auch aktiv geübt sein will, im schriftlichen Aufsatz, in der mündlichen Rede, ja lange Zeit sogar noch im lateinischen Verseschreiben. Diese Dominanz des Lateinischen ist um so überraschender, als der deutsche Altphilologe an sich von lateinischer Literatur gar nicht so viel zu halten behauptet. Sie gilt ihm ja im neunzehnten Jahrhundert als wenig originell, als ein weithin unschöpferischer Abklatsch der griechischen Literatur. Aber die Griechen lobt man mehr, und das Lateinische lernt man mehr, angeblich wegen seiner formalbildenden Kraft – über die einschlägige Theorie wird gleich noch zu reden sein -, in Wahrheit wohl mindestens ebenso sehr wegen des Glanzes und Zaubers, der die alte tote Sprache immer noch umschwebte. Das Schullatein des neunzehnten Jahrhunderts ist paradoxerweise schöner, von humanistischerem Schwung erfüllt, als es das Wissenschaftslatein des vorigen Jahrhunderts gewesen war.
    Erst am Ende des Jahrhunderts, als das moderne Realgymnasium seinen Anspruch anmeldete, wurde das Latein als eine noch geübte, zumindest geschriebene Sprache in der Schule zurückgedrängt. Deutscher Gewerbefleiß und deutscher Patriotismus waren gegen das Latein, gegen den altsprachlichen Unterricht überhaupt, verbündet, und ungerügt konnte Kaiser Wilhelm II. im Jahre 1890 ausrufen: Man solle junge Deutsche erziehen, nicht junge Griechen und Römer! So haben erst etwa die letzten gut hundert Jahre den schrittweisen, immer wieder auch verzögerten und aufgehaltenen Abbau des Lateinunterrichts am Gymnasium gebracht; d.h. mit großer Phasenverschiebung hat das Gymnasium dem Rückgang des Lateinischen außerhalb der Schule – die katholische Kirche war hier noch am zögerlichsten - Rechnung getragen. Auch unsere Universität, wie man weiß. Jüngstes, beliebiges Beispiel: Die Würde eines Münchner Magister Artium in der Germanistik soll künftig auch erwerben können, wer statt des bisher geforderten Lateins eine beliebige dritte Fremdsprache gelernt hat. Und andere Fächer planen anderen Ersatz. Als ließe Latein sich ersetzen! Als wäre es nur eine Hürde, um das Studium ein bisschen schwerer zu machen und das akademische Niveau zu heben!
    Das Bedenklichste aber ist nicht, dass von zu wenigen Latein gelernt wird – denn etwa im glücklichen  Bayern dürfte es heute der Zahl nach sogar mehr Lateinschüler geben als je zuvor -, sondern dass es so schlecht gelernt wird, dass kaum ein Schüler nach vielen Jahren Unterrichts in der Lage ist, lateinische Texte so zu verstehen, wie er andere fremdsprachliche Texte auffasst, durch einfaches Hören oder Lesen. Das ist keineswegs eine Folge der Tatsache, dass Latein tot ist – wie fast zwei Jahrtausende beweisen -, es ist auch nicht nur die Folge einer zu geringen Stundenzahl an den Schulen, sondern vor allem auch die einer einseitig forcierten formalen Bildung, wie sie der heutigen didaktischen Theorie entspricht und wie sie sich vor allem im sogenannten Konstruieren niederschlägt („Suche das Prädikat ...“, und dann wird der Satz von links nach rechts, von rechts nach links, auseinandergenommen, bis sich sein Sinn quasi als Lösung einer mathematischen Aufgabe ergibt!). Diese Theorie der formalen Bildung, von der die großen Zeiten des Lateinischen nichts wissen, entstand in der Tat in dem Augenblick, wo Latein als Kommunikationssprache wenig mehr gebraucht wurde, also am Ende des 18. Jahrhunderts: Wie die Tanzstunde, sagte man da, auch dem zukünftigen Nichttänzer nützlich sei, weil sie seinen Körper geschmeidig und beweglich gemacht habe, so komme auch dem Nichtlatinisten das Latein zu gute, weil es seinen Geist schule, in dem es sich ja – der Leichnam machts möglich – so schön sezieren und analysieren lasse. Das ist eine treffliche und in vielen Publikationen seit zweihundert Jahren wohldurchdachte Theorie, deren Folgen für die Praxis dennoch fatal sind. Wo das Latein nicht um seiner selbst willen gelernt wird, sondern um  a n  ihm, weil es dafür optimal geeignet sei, allerlei Kategorien des Verstands und der Sprache zu erlernen – als Service dann auch für die Erlernung anderer, besonders romanischer Sprachen -, da schwindet notwendig die Sprachbeherrschung und damit auch die Freude am Latein, die es ohne Können nicht geben kann. Zur Rechtfertigung des Lateinunterrichts ersonnen, ist diese einst nützliche Doktrin von der besonderen geistesbildenden Kraft der toten Sprache längst selber tödlich geworden – auch weil sie kaum mehr jemanden wirklich überzeugt. Die beste Kennerin des Lateinunterrichts in der Neuzeit, Françoise Waquet, beschloss kürzlich ihre nachrufartige Chronik Le latin ou l’ empire d’ un signe (1998) mit der Forderung, dass das Latein nun aber endlich und endgültig von der Schule abtreten solle, weil es auch für die „gymnastique mentale“ schlechterdings nichts mehr zu bieten habe. Das wäre dann der vierte und bisher schlimmste Tod des Lateinischen: O tempora! o mores! o cadauera!
    Bevor ich mich aber mit diesem Ausruf von unserem Thema und Ihnen verabschiede, sei doch wenigstens auch auf eine Gegenbewegung hingewiesen, die mir zukunftsträchtig scheint und die man jedenfalls nicht unterschätzen sollte: die des „lebendigen Latein“, „Latin vivant“, Viva Latinitas usw.. Seitdem der praktische Gebrauch der Sprache auch im Lateinbetrieb von  Schule und Universität reduziert oder beseitigt wurde – also vom Ende des neunzehnten Jahrhunderts an -, gibt es im erklärten Widerstand dagegen vor allem außerhalb der Bildungsinstitutionen weltweite Bemühungen darum, Latein wieder in seine alten Rechte als internationale Kommunikationssprache einzusetzen. Ein Pionier war der deutsche Jurist und Poet Karl Heinrich Ulrichs, heute berühmter als Vorläufer der sogenannten „Schwulenbewegung“ und als solcher in München sogar von OB Ude durch einen eigenen Karl-Heinrich-Ulrichsplatz geehrt, der im Jahr 1889 vom Abruzzenstädtchen L’Aquila aus eine lateinische Konversationszeitschrift mit dem beflügelnden Namen Alaudae („Lerchen“) in die Welt flattern ließ (und sogar den König von Württemberg als Abonnenten gewann). Ihm folgte Papst Leo XII. 1898 mit seiner Vox Urbis, diesem viele andere. Heute gibt der schon erwähnte Pater Eichenseer die Vox Latina, ein Brüsseler Radiologe die Melissa heraus; im Vatikan vertreibt Cletus Pavanetto die gediegene Latinitas; noch mehr aber gelesen werden dürfte der nur im Internet zugängliche Retiarius unseres amerikanischen Universitätskollegen Terence Tunberg.
    Überhaupt ist es heute, wie schon eingangs erwähnt, das Internet, in dem sich die jüngsten Anhänger der alten Weltsprache Latein tummeln können. Rasch findet man hier – denn Lateiner verlinken sich gern per copulas copularum - die wichtigsten heutigen Lateinclubs, etwa den soeben entstandenen quicklebendigen Circulus Latinus Panormitanus (Palermo), die schon älteren Vereine Societas Latina (Saarbrücken), Circulus Latinus Matritensis (Madrid), Societas LVDIS LATINIS faciundis (München) mit dem westfälischen Tochterverein LVPA (= Latinitatis Vivae Provehendae Associatio ) und natürlich auch lateinische Chatclubs wie den Grex alter Latine loquentium (Latein im Internet ist mittlerweile auch schon Thema einer Münchner Doktordissertation im Fach Kommunikationswissenschaft geworden). Viele dieser Vereinigungen veranstalten lateinische Seminarien, Tagungen, Festspiele, wie die LVDI LATINI oder die eindrucksvollen internationalen Conventus der höchst seriösen römischen Academia Latinitati fovendae. Überflüssig zu sagen, dass solche Unternehmungen, zu denen besonders auch die lateinischen Rundfunknachrichten aus Finnland und (neuerdings) aus Bremen zählen, ihrerseits wieder vielerorts auf den akademischen Lehrbetrieb zurückwirken. So können Sie z.B. an der Universität München zur Zeit pro Woche eine Vorlesung in lateinischer Sprache und ein ebensolches Colloquium Latinum besuchen. In dieser méthode directe, die die der alten Humanisten war und die der neuen Fremdsprachendidaktiker ist, wird auch für die Schule, hoffe ich, die Zukunft des lateinischen Sprachunterrichts liegen. Obwohl Latein eine tote Sprache ist, darf es doch nicht als eine solche, sondern muss als echte Fremdsprache unterrichtet werden.
    Manches von dem, was sich unter den Junglateinern der Gegenwart tut, mag oft ein wenig skurril oder auch anspruchslos scheinen, wenn man es mit den Lateinproduktionen größerer Jahrhunderte vergleicht. Das darf aber nicht vergessen lassen, dass auch unsere Zeit bedeutende Lateinhumanisten hervorgebracht hat. Ich nenne nur drei Männer des vergangenen Jahrhunderts, die ich persönlich noch erlebt habe: den Herausgeber der Stuttgarter Zeitung Josef Eberle (Iosephus Apella P.L.), einen genialen, von der Universität Tübingen zu Recht zum poeta laureatus gekrönten Lateindichter; den Amerikaner Harry C. Schnur (C. Arrius Nurus), der, von Hause aus Jurist,  als bissiger lateinischer Satiriker berühmt wurde und in der Stiftung Pegasus limited fortlebt; schließlich den tschechischen Musiker, Dichter und Weltbürger Jan Novák (1921-1984), dem als schöpferischem Lateinkomponisten auch frühere Jahrhunderte keinen Ebenbürtigen an die Seite zu setzen haben. Sein Werk pflegen wir besonders an der Universität München. Wenige Minuten, nachdem vor einem guten Jahr der Angriff auf das World Trade Center die gesittete Welt erschütterte, wurde beim Münchner Weltkongress Germania latina (veranstaltet vom Seminar für Geistesgeschichte des Humanismus) durch die „Singphoniker“ eine Kantate uraufgeführt, namens Politicon , die der historischen Stunde – wovon wir im Moment der Aufführung noch nichts ahnten - in geradezu beklemmender Weise gerecht wurde. In diesem Politicon hatte Jan Novák Texte über den Staatsfeind zusammengestellt und komponiert, Texte von Cicero, Seneca und eben dem erwähnten Harry C. Schnur, dem amerikanischen Juden, der anlässlich des Baus der Berliner Mauer vor vierzig Jahren zur Verteidigung der Freiheit in leidenschaftlichen lateinischen Distichen aufrief. Um die Lebendigkeit des alten, toten Latein fühlbar zu machen, gebe ich wenigstens noch ein Zitat (leider nur des Texts) aus diesem herrlichen Musikwerk:
             Conspecto muro complectere mente, viator,
                    quam sit libertas proxima servitio.
            fallitur impavida quisquis negat esse tuendam
                    cura: ni vigilas, haud mora, servus eris,

        Hast du die Mauer erblickt, so bedenke denn, Wandrer, im Geiste,
            wie der Freiheit so nah immer die Knechtschaft auch wohnt.
        Wer um diese nicht wachsamen Sinns und furchtlos besorgt ist,
            täuscht sich: Gibst du nicht acht, bist du ein Sklave im Nu.
Auch wenn es heute viele nicht sehr viele sind, die solche lateinischen Verse genießen oder würdigen, sie haben bei sich doch den Reisepass in die Unsterblichkeit. Denn das Gespenst Latein, das gewissermaßen von der Höhe seines Ahnenschlosses aus die Generationen kommen und gehen sieht, ist ja selber unwandelbar und unsterblich. Es wird eine Zeit geben, unweigerlich, wo man auch die Verse Schillers und Goethes nicht mehr oder nur in Übersetzungen wird verstehen können. Wer Latein schreibt, braucht dies nicht befürchten; er blickt, wie durch Jahrhunderte zurück, so nach vorne, er spricht wie mit Cicero und Erasmus, so mit der Nachwelt und wird immer seine Leser finden – falls er sie verdient, versteht sich! Dixi.





Literaturhinweise

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