Jan Novák: Ioci vernales

für Bassstimme, acht Musiker sowie Vögel, die, auf einem Tonband eingefangen, die Begleitmusik machen (1964)
Texte: Carmina Burana 96, 116, 186/I, 84 (Die z. T. dem Wortlaut nach umstrittenen Texte sind, so weit wie möglich, in der Fassung wiedergegeben, in der man sie in Nováks gedruckter Partitur liest.)
Übersetzungen: Wilfried Stroh, 2001

Das angeblich finstere, auf jeden Fall höchst christliche Mittelalter hat auch eine weltliche Poesie in lateinischer Sprache hervorgebracht, die, unter Kennern unbestritten, zur Weltliteratur gehört. Einschlägige Glanzstücke des 12. und 13. Jahrhunderts enthält eine seit 1803 in der Bayerischen Staatsbibliothek München aufbewahrte Handschrift aus dem Kloster Benediktbeuern: Diese sogenannten "Carmina Burana" sind vor allem durch die geniale Vertonung Carl Orffs (1937) populär geworden: Seine Melodien hört man mittlerweile sogar zur Fernsehreklame; und nicht einmal eine Großflughafeneinweihung hat man ihnen erspart (O Fortuna velut luna...- welch ein Omen!).

Im Gegensatz zu dem handfest eingängigen Bayern Orff gibt sich der junge Tscheche Novák hier geradezu esoterisch: Schon der Anblick der Partitur von "Ioci vernales" erinnert an das Donaueschingen der Sechziger Jahre, und auf jeden Fall sollte durch die Einbeziehung von aleatorischen Elementen und dem gerade modischen Tonband ein sichtbares Dokument der Verbundenheit mit der westlichen Musik gegeben werden – dem diente ja wieder einmal auch die Wahl der lateinischen Sprache. Dass dabei das Amüsement des Publikums, falls es sich überhaupt auf Latein und neue Töne einlässt, nicht zu kurz kommt, versteht sich bei Novák von selbst.

Was die Themen angeht, beschränkt sich der Komponiste auf zwei seiner Favoriten: Frühling und Liebe. Nach schwungvoller Einstimmung durch ein zur tätigen Liebe ermunterndes Vogelkonzert, dessen Sänger sogar namentlich, fast vogellehrgangsmäßig präsentiert werden, bietet der zweite Teil die melodische, höchst ausdrucksvolle Klage eines nicht erhörten Liebhabers. Beide Texte sind verfasst in rhythmischen Reimstrophen, wie das Mittelalter sie entwickelt hat: Auf die klassisch antike Quantität der Silben (kurz oder lang) ist dabei keine Rücksicht genommen, im zweiten Stück auch nicht durchgängig auf die Wortbetonung - so dass man nach Hebungen und Senkungen nicht suchen sollte -; dafür betrifft der Reim hier regelmäßig beide Schlussilben, und durchweg ist die Silbenzahl jeden Verses festgelegt. Die kurze dritte Nummer, musikalisch am kühnsten, enthält eine mit vielen Wortspielereien garnierte Liebeswerbung in sogenannten leoninischen Hexametern: Hier handelt es sich also um metrische, d.h. nach Silbenquantität differenzierende Dichtung (echte Hexameter), wobei jedoch Versmitte und –ende durch zweisilbigen Reim miteinander verbunden sind (suscipe flos florem, quia flos designat amorem

Nach Verzweiflung und Hoffnung enthält das vierte Stück, wiederum in Reimstrophen mit einem Refrain, endlich die Liebeserfüllung - aber, leider, politically very incorrect! Ein Scholar hält sich bei der Bauernjungfer, in die er sich blitzartig verliebt hat, nicht allzu lange mit Überredung auf – sein Latein dürfte sie ohnehin kaum verstehen -, er kommt nach wenigem Geplänkel geradezu überfallartig zur Sache, und das trotz Gegenwehr auch noch mit Erfolg. Man spürt hier wie in der ganzen (nicht selten ja höchst unanständigen) Dichtung dieser Zeit, der sogenannten aetas Ovidiana, den Einfluss Ovids, der im ersten Buch seiner berühmten "Liebeskunst", auf die Novák durch den Titel sinnreich anspielt, den Männern den bedenklichen Rat gegeben hatte, bei der Liebeswerbung nicht unnötig zimperlich zu sein, da den meisten Mädchen ein bisschen Gewalt ganz recht sei. In Nováks Komposition ist diese Anstößigkeit noch dadurch verstärkt, dass er den mildernden Refrain am Ende weglässt und mit kurzem, höchst brutalem Triumphjubel abschließt. Machtvoll setzt a tempo zum Glück wieder der Vogelchor ein, um diesen ungalant renommierenden Liebhaber zu übertönen ... Was jedenfalls die gute Laune angeht, braucht sich Novák hinter Orff nicht zu verstecken.

Wie die Partitur angibt, wurde das Werk am 26. Juni 1964 bei einem Brünner Konzert der "Schöpferischen Gruppe A" (Coniunctio A) mit Nováks Vetter Richard als Solisten unter Leitung seines Schwagers Jiri Hanousek uraufgeführt. Dass nicht nur der Text der Komposition, sondern auch alle Texte der Partitur (inclusive der Instrumentenbeschreibung) lateinisch verfasst sind, hat der Komponist in einer Vorrede begründet. Außerdem hat er dem Leser dieser Vorrede folgende heiteren und nicht immer ganz schulmäßigen Hexameter gewidmet bzw. "ins Ohr gesummt" (... haec hexametra tibi in aurem susurro):

His hilaris notulis chartas complevimus albas,
dum nostri rimas animi distendit amoenus
veris spiritus exhalans tunc undique odores
atque tepores, dum nares oculosque
titillat modo flos varius modo laeta avium vox.
(ne mirere meis hanc vocem blandiloquentem
paginulis ultro irrepsisse et dulce sonantem!)
o ver almum, o ver gratum verque venustum!
nostra foves tu corpora, laetificas hominum cor,
mites reddis anus vetulas rigidosque Catones!
Sic et nos succumbentes, en, viribus illis
lusimus hosque Iocos ridentes condidimus tunc
vernales (non verniles, si hoc dixeris, erras!)
in versus, celeber codex quos suppeditavit
Buranus. Domicelli hic et iuvenes et amantes
suspirant gaudent flent rident et moriuntur,
blanditias adhibent, amplectuntur domicellas,
omnia quae facit indomita insipiensque iuventus.
serius atque gravis vir ridet tempora at illa
et curas iuveniles. invidet an potius tum?
paginulas igitur sume has atque inspice clemens,
lascivus quas dictavit flatus mihi veris.
 
So denn füllten wir weißes Papier mit den heiteren Noten,
während die Ritzen im Geist anmutig des atmenden Frühlings
Anhauch glättet, von hier und von dort, mit süßeren Düften
und mit dem laueren Wehn, dieweil uns an Nasen und Ohren
kitzelt die blumige Pracht, dann wieder die zwitschernden Vögel.
(Drum auch wundre dich nicht, dass deren bezaubernde Stimme
mit dem schmeichelnden Schall auf unsere Seiten sich einschlich!)
O holdseliger Lenz, o Lenz so lieb und so lieblich!
Du erquickest den Leib, erfreust auch die Herzen der Menschen,
zähmst noch das älteste Weib und selbst die rigiden Catonen.
Dir erlagen wir gern und deinen gewaltigen Kräften,
und so spielten wir, lachend im Scherz, mit den scherzenden
Ioci,
die wir
vernales getauft (verniles wäre was andres!),
alle in Versen geschenkt von dem ruhmvollen Codex Buranus,
der uns die grünere zeigt und die reifere Jugend in Liebe,
wie sie da seufzt und sich freut, wie sie weinen und lachen und sterben, mit Liebkosungen auch ihre Mägdlein bedrängen und halsen,
wie's halt die Jugend so treibt, in völliger Freiheit und Narrheit.
Ja, da verachtet der ernstere Mann den Leichtsinn der Jungen
und so kindischen Sinn. Er lacht - oder wär er nur neidisch?
Du, nimm her dieses Buch und lies es mit gnädigem Auge:
So hat's der Frühling diktiert, so blies mich sein heiterer Wind an.
 

W. Stroh

 

Ioci vernales: cantiones lasciviores voce gravi decantandae symphoniacis VIII nec non avibus in taenia sonora captis succinentibus
 
   
Frühlingsscherze: ausgelassene Gesänge für Bassstimme, acht Musiker sowie Vögel, die, auf einem Tonband eingefangen, die Begleitmusik machen
 
I. Avium concentus – Vogelkonzert [Carmina Burana 96, Str. 1 und 2, leicht verändert]

Iuvenes amoriferi,
virgines amplexamini!
      ludos incitat
   avium concentus:
fringilla – sylvia atricapilla – luscinia
 
Domicelli, surgite,
domicellas quaerite!
      ludos incitat
   avium concentus:
merula – alauda – cuculus culinarius
 
o vireat,   o floreat,   o gaudeat
   in tempore iuventus.
 
 

Ihr jungen Männer voller Liebe,

umarmt die Mädchen!
      Zu Spielen beschwingt
   das Vogelkonzert:
der Fink - die Grasmücke – die Nachtigall
 
Ihr Herrlein, steht auf,
sucht euch die Fräulein!
      Zu Spielen beschwingt
   das Vogelkonzert:
die Amsel – die Lerche – der Kuckuck in der Küche
 
O es grüne,   o es blühe,   o es freue sich
   zur rechten Zeit die Jugend!
 
 
II. Suspiria – Seufzer [Carmina Burana 116]

Sic mea fata canendo solor, o o o!
ut nece proxima facit olor. o o o!
roseus effugit ore color, o o o!
blandus inest meo cordi dolor.
      cura crescente,
      labore vigente,
      vigore labente
         miser morior.
   ei morior, ei morior, ei morior,
dum, quod amem, cogor, sed non amor.
 
Si me dignetur, quam desidero, o o o!
felicitate Iovem supero. o o o!
nocte cum illa si dormiero,o o o!
si sua labra semel suxero,
      mortem subire,
      placenter obire
      vitamque finire
         libens potero,
   ei potero, ei potero, ei potero -
tanta si gaudia concepero.
 
 

So tröste ich mich über mein Schicksal mit Gesang,

wie der Schwan es tut, wenn der Tod ihm nahe ist.
Die rosige Farbe hat mein Gesicht verlassen,
ein süßer Schmerz ist in meinem Herzen.
      Da das Leid mir wächst,
      die Plage groß ist,
      die Kraft mich verlässt
         sterbe ich Armer,
   ach ich sterbe, ach ich sterbe, ach ich sterbe,
weil ich lieben muss, aber nicht geliebt werde.
 
Sollte sie mich erhören, nach der ich mich sehne,

ich wäre seliger als Jupiter.
Dürfte ich eine Nacht mit ihr schlafen,
dürfte ich nur einmal an ihren Lippen saugen,
      bin ich bereit zum Tode,
      sterbe ich gerne,
      kann ich mein Leben
         mit Freude beenden,
   ach mit Freude, ach mit Freude, ach mit Freude -
wenn ich so große Wonnen erlebt habe!
 
 
III. Aria alearia – Würfelarie [Carmina Burana 186/I]

Suscipe, flos, florem,   quia flos designat amorem!
illo de flore   nimio sum captus amore.
hunc florem, Flora   dulcissima, semper odora!
nam velut aurora   fiet tua forma decora.
florem, Flora, vide,   quem dum videas, mihi ride!
flori fare bene!   tua vox cantus Philomenae,
oscula des flori!   rubeo flos convenit ori.
 
 

Nimm, du Blume, die Blume,   denn die Blume ist Zeichen der Liebe!

Nach jener Blume   hat mich die Liebe nur zu sehr ergriffen.
An dieser Blume, Flora,   du süßeste, rieche immer!
Denn, wie die Morgenröte,   so schön wird dann deine Gestalt.
Sieh, Flora, die Blume   und, wenn du sie siehst, lache mir zu!
Segne [?] die Blume!   Nachtigallenlieder soll deine Stimme singen,
du selbst sollst der Blume Küsse geben!   Zum rosigen Mund passt die Blume.
 
 
IV. Ars amandi – Liebeskunst [Carmina Burana 84]

Dum prius inculta   coleret virgulta
aestas iam adulta   hieme sepulta,
vidi   viridi   Phyllidem sub tilia,
vidi   Phyllidi   quaevis arridentia.
invideo,   dum video.   sic capi cogit sedulus
me laqueo   virgineo   cordis venator oculus
visa captus virgine.
      Ey morior.
      sed haec mihi penitus
      mors dulcior.
      sic amanti vivitur,
      dum sic amans moritur.
 

Als die Büsche,   die zuvor schmucklos waren,

schon der reife Sommer schmückte   und der Winter beerdigt war,
da sah ich   Phyllis   unter der grünen Linde,
da sah ich,   wie alles   Phyllis zulachte.
Keinem gönne ich sie,   wie ich sie sehe:   So nimmt mich gefangen
mit der Schlinge   eines Mädchens   das Auge, der rührige Herzensjäger,
selber gefangen vom Anblick des Mädchens.
      Ach ich sterbe.
      Aber dieser Tod ist für mich
      viel süßer.
      So lebt der Liebende,
      wenn er so liebend stirbt.
 
Fronte explicata   exiit in prata
ceu Dione nata   Veneris legata.
videns   invidens   huc spe duce rapior.
ridens   residens   residenti blandior.
sed tremula   virguncula   frondis ad modum tremulae
ut primula   discipula   nondum subducta ferulae
tremit ad blanditias.
      Ey morior etc.
 
Mit heiterer Stirn   kam sie auf die Wiese
wie die Tochter Diones,   als Gesandte der Venus.
Ich sehe sieh,   gönne sie keinem,   stürze dorthin voll Hoffnung,
ich lache,   ich setze mich zu ihr,   liebkose sie.
Aber das Mädchen,   zitternd   gleich dem zitternden Laub,
wie eine junge   Schülerin,   die noch keine Rute gespürt hat,
so zittert sie bei den Liebkosungen.
      Ach ich sterbe usw.
 
Respondendi metus   trahit hanc ad fletus.
sed natura laetus   Amor indiscretus,
queam lineam   ut pudoris tangere,
meam in eam   manum mittit propere.
dum propero,   vim infero   post imminente machina;
nec supero,   nam aspero   defendens ungue limina
obserat introitus.
      Ey morior.
 
Die Furcht vor einer Erwiderung   nötigt sie zu Tränen.
Aber der heitere Amor,   von Natur aus unverschämt,
lässt mich, um die Grenzlinie   ihrer Keuschheit zu berühren,
die Hand gegen sie   eilends ausstrecken.
Da ich eile,   will ich Gewalt anwenden,   die Maschine droht von hinten.
Aber ich siege nicht,   denn mit scharfem   Nagel verteidigt und verriegelt sie die Schwelle des Eingangs.
      Ach ich sterbe.
 
Tantalus admotum   non amitto potum.
sed ne meum totum   frustret illa votum,
suo   denuo   collo iungens bracchium,
ruo,   diruo   tricaturam crurium.
ut virginem   devirginem,   me toti totum insero.
ut cardinem,   determinem   duellum istud, resero:
      glorior victoria.
 
 
Wie ein Tantalus zwar, will ich aber doch   den nahen Trunk nicht verlieren;
damit sie mir vielmehr nicht meinen ganzen   Wunsch zunichte macht,
lege ich   von neuem   um ihren Hals den Arm,
ich stürme,   ich breche auf   die Verschlingung ihrer Schenkel;
um die Jungfer   zu entjungfern,   dränge ich mich ganz in ihre Tiefe.
Wie ich die Pforte,   um diesen Krieg   zu beenden, entriegle!
      Ich rühme mich des Siegs.
 
 
V. Conclusio – Abschluss [wie oben: Carmina Burana 96, verkürzt]

Iuvenes amoriferi,
virgines amplexamini!
domicelli, surgite,
domicellas quaerite!

Ihr jungen Männer voller Liebe,

umarmt die Mädchen!
Ihr Herrlein, steht auf,
sucht euch die Fräulein!


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