Wilfried Stroh
Ein unsterbliches Gespenst: Latein
Ist das Latein eine tote Sprache? Meine Antwort darauf gibt der Titel
dieses Vortrags:1 Gespenster gibt es nur von
Toten, Latein i s t also tot – in diesem Punkt wage ich
meinem Vorredner der letzten Woche nicht zu widersprechen - obwohl auch
ich nicht gerne ein Spezialist für Leichen bin. Aber so ganz tot
scheint es doch nun auch wieder nicht, jedenfalls ist es nie
ausgestorben, wie etwas das Hethitische oder das Etruskische; und wer
sich auch nur in einen der im Internet blühenden Latin Chatclubs
einklickt, muss den Eindruck haben, dass Latein seinen Tod sogar
irgendwie ganz gut überlebt hat. Wie schwierig und uneindeutig die
Dinge im übrigen sind, zeigt schon die Tatsache, dass sich zwar
über den Tod des Lateinischen so gut wie alle einig sind, dagegen
durchaus nicht über die Frage, wann und woran denn das Latein
gestorben sei: mors certa, tempus incertum. Beim
Durchblättern der Literatur finde ich etwa folgende Versuche, dem
Totenschein des Latein sein Datum zu verpassen.2
Da meinen die einen, erst im 18. Jahrhundert sei das Latein gestorben,
damals als es aufhörte die internationale Sprache von Wissenschaft
und Universität zu sein. Andere gehen drei Jahrhunderte weiter
zurück, und behaupten schon die großen Humanisten der
Renaissance hätten das lebendige Latein getötet, indem sie
eine bis dahin fröhlich lebende, ja geradezu wuchernde Sprache in
das streng schnürende Korsett des Cicerolateins gesperrt und dabei
erstickt hätten. Und wieder andere glauben, es sei Karl der
Große gewesen, der im achten Jahrhundert durch seine berühmte
Bildungsreform, die im wesentlichen eine Wiederherstellung des
Lateinunterrichts war, zum Mörder des lebendigen Lateins geworden
wäre. Und schließlich gibt es natürlich auch die
Meinung derer – sie dürften noch immer in der Überzahl sein
-, die annehmen, dass das Lateinische mit dem Ende der Antike, das man
dann vom 5. bis 7. Jahrhundert hin- und herschieben kann, sein Dasein
als lebende Sprache verloren habe. Quot capita, tot sensus
– wie viele Köpfe, so viele Ansichten. Ich will Ihnen die meine
nicht verhehlen: Latein, wenn es denn wirklich gestorben ist, hat
seinen Tod schon einige Jahrhunderte früher erlebt: ausgerechnet
zur Zeit seiner größten Blüte, der Zeit, die etwa mit
Christi Geburt, unserer Zeitenwende, zusammenfällt.
Aber um das zu verstehen, müssen wir mit den Anfängen
beginnen: ab ovo. Was ist, was war Latein?3
Von Hause aus, bis ins vierte vorchristliche Jahrhundert, war Latein
nur
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1 Er berührt sich in einigen
Gedanken und Formulierungen mit älteren Arbeiten und
Vorträgen des Verfassers, die z.T. an entlegenen Orten
veröffentlicht sind. Vgl. bes. „Vom Zauber des Lateinischen“, Freihof-Mitteilungen
(Berichte und Informationen des Freihof-Gymnasiums Göppingen)
Nr. 41, Nov. 1984, 28-35( Jubiläumsvortrag); De litteris
Latinis hodie docendis – The Importance of Latin Studies for the Present
Age, o.O. (München) 1988 (Vortrag an Kamuzu Academy und
Universität Zomba, Malawi, zweispr.); „O Latinitas! Erfahrungen
mit lebendigem Latein und ein Rückblick auf zehn Jahre Sodalitas“
(zuerst 1995), Gymnasium 104, 1997, 271-290; „Lob des Lateins“,
Mitteilungen für Lehrerinnen und Lehrer der Alten Sprachen (DAV
Baden-Württemberg) 26, H. 2, 1998, 3-13, auch: http://www.klassphil.uni-muenchen.de/~stroh/lobdeslat.htm
(Geburtstagsrede für Michael von Albrecht, Heidelberg);
„Weltsprache Latein“. In: zur debatte (Themen der Katholischen
Akademie in Bayern) 39, München 2002, Heft 2, 22-24.
2 Vgl. dazu M. Van Uytfanghe,
„Après les ‚morts’ successives du latin: quelques
réflexions sur son avenir“, in : F. Decreus / C. Deroux (Hrsg.), Hommages
à Jozef Veremans, Brüssel 1986, 328-354. Wichtig jetzt
Stotz (wie unten Anm. 22) 29-35. Umfassend zum Problem: Helmut
Lüdtke, „‚Tote‘ Sprachen“, in: Martin Haspelmath u.a. (Hrsg.), Language
Typology and Language Universals, Bd. 2, Berlin / New York 2001,
1678-1691 (mit Lit.).
3 Einfühlsame und informative
Einführung: Jules Marouzeau: Introduction au latin, Paris
1954 ; deutsche Bearbeitung zuerst: Einführung in das Latein,
Zürich 1966, dann: Das Latein: Gestalt und Geschichte einer
Weltsprache, München (dtv) 1969 (mit Lit.). Zur
Gesamtgeschichte der lateinischen Tradition: Karl Büchner (Hrsg.): Latein
und Europa: Traditionen und Renaissancen, Stuttgart 1978. Zur
Gesamtgeschichte speziell der Sprache: Johannes Kramer, „Geschichte der
lateinischen Sprache“, in: Fritz Graf (Hrsg.), Einleitung in die
lateinische Philologie, Stuttgart/Leipzig 1997, 115-162
(verzeichnet die wichtigsten Grammatiken und Standardwerke);
Oswald Szemerényi, „Latein in Europa“, in: Büchner (wie
oben), 26-46; als Gesamtgeschichte für die ältere Zeit
wichtig: Io. Georgius Walchius: Historica critica linguae Latinae,
Leipzig (1716) ³1761.
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2
eine kleine Regionalsprache Italiens: die Sprache der Landschaft
Latium, deren Hauptstadt Rom werden sollte.4
Seine ältesten Sprecher also waren nicht die Römer, sondern
die Latini, die Einwohner von Latium und ihre Lokalgötter,
die Fauni, die in lateinischen Saturniern, dem einheimischen
Versmaß, die Zukunft verkündet haben sollen. Trotz Roms
überragender Bedeutung hat sich auch später als Bezeichnung
der Sprache lingua Romana gegenüber lingua Latina nie
recht durchsetzen können. Indem Rom dann Italien erobert, vom 4.
Jahrhundert bis zum Bundesgenossenkrieg (89 v. Chr.), der allen
Italikern das römische Bürgerrecht verschafft, breitet auch
Latein sich aus: Es verdrängt die anderen Sprachen, Faliskisch,
Messapisch, Oskisch usw.; nur das Etruskische leistet partiell
Widerstand, und alte Griechenstädte in Süditalien, wie Neapel,
Tarent, behalten auf lange Zeit ihr Griechisch. Aber obschon man am
Ende der Republik, also in der Mitte des ersten vorchristlichen
Jahrhunderts, sogar schon in Westsizilien und dem südlichen
Sardinien, Roms ältesten Provinzen, Latein spricht, ist noch in
dieser Zeit natürlich Griechisch die führende Weltsprache. Als
Cicero im Jahr 62 v. Chr. sein zu Hause ruhmreiches Konsulat auch
international verherrlichen möchte, will er einen griechischen
Dichter, Archias, dafür gewinnen, wie er sagt: propterea quod
Graeca leguntur in omnibus fere gentibus, Latina suis finibus exiguis
sane continentur, „darum weil man Griechisches bei allen
Völkern liest, das Lateinische in seinen eigenen, doch recht engen
Grenzen eingeschlossen bleibt“ (Pro Archia 23).
Vierzig Jahre später sieht die Lage immerhin schon etwas anders
aus. Wenn sich Horaz in seiner (i.J. 23 v. Chr. herausgebenen) Sammlung
lyrischer Oden – dem bis dahin anspruchsvollsten Werk lateinischer
Dichtung überhaupt – seine zukünftige Verwandlung in einen
über alle Länder fliegenden Schwan ausmalt (um so den dereinst
weltweiten Ruhm seiner Lyrik zu verbildlichen), heißt es (Carmina
2,20,13-20):
iam
Daedaleo notior Icaro
visam gementis
litora Bosphori
Syrtisque Gaetulas canorus
ales Hyperboreosque campos.
me Colchus et
qui dissimulat metum
Marsae
cohortis Dacus et ultimi
noscent Geloni, me peritus
discet Hiber Rhodanique potor
„Schon werde ich, bekannter als der Icarus des Daedalus, die
seufzenden Gestade des Bosporus besichtigen, als ein singender Vogel,
und die gätulischen Syrten [also Afrika] und die Felder der
Hyperboreer [im äußersten Norden]; mich wird der Colcher
kennen lernen und der Daker [im heutigen Rumänien], der noch so
tut, als ob er den marsischen Soldaten nicht fürchte, und die
entferntesten Geloner [in Thrakien], mich wird der kunstverständige
Hiberer [in Spanien] einstudieren und der, der aus der Rhone trinkt
[also der heutige Franzose].“
Das war, so kühn es zu seiner Zeit geklungen haben muss, die zum
Teil echte und wahre Prophezeihung eines vates,
„Dichterpropheten“, wie Horaz sich gelegentlich stolz nannte: Er ahnte
voraus, dass er gelesen, vielleicht sogar gesungen würde von
Byzanz bis Gallien und Spanien, von Britannien bis Afrika - in der Tat
überall dort, wo später (noch nicht zur Zeit des Horaz
selber) in lateinischen Grammatikschulen die römischen Klassiker
traktiert wurden. Obwohl die gebildeten Römer selber lange Zeit
zweisprachig blieben, eroberte Latein in der
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4 Zur antiken Geschichte des
Lateinischen: L.R. Palmer, The Latin language, London (1954)
²1955 (deutsch: Hamburg 1990; Paperback. 2000); Giacomo Devoto, Geschichte
der Sprache Roms (zuerst ital.), Heidelberg 1968. Umfassende
Information: Fabio Cupaiuolo, Bibliografia della lingua latina
(1949-1991), Neapel 1993.
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3
Kaiserzeit schließlich fast alle Provinzen des imperium
Romanum5: Nicht nur romanische Sprachen
wie Französisch und Spanisch bezeugen ihre Mutter;6
lateinische Lehnwörter hat bekanntlich sogar das Germanische, wie
unser Wort „Kaiser“, das offenbar zu einer Zeit übernommen wurde,
wo man noch nicht zäsar, sondern kaisar aussprach.
Nur die östliche Reichshälfte blieb im Kern griechisch, aber
auch dort unter den „römischen Kaisern“, wie sie sich immer
nannten, war Latein die offizielle Amtssprache. Im leibhaftigen
Konstantinopel lehrt (im sechsten Jahrhundert n.Chr.) der für ein
Jahrtausend bedeutendste lateinische Grammatiker, Priscian; dort
wird unter Kaiser Justinian das lateinische Corpus Iuris
redigiert; dort wird ein Feldzug des Kaisers vom Hofdichter Corippus in
lateinischen Hexametern besungen.
Schon dies weist darauf: Der Welterfolg des Lateinischen beruhte nicht
nur auf der Gewalt der römischen Waffen, sondern auch auf der
geistigen Leistung der Römer. Sie zeigt sich im römischen
Recht, das immer an die lateinische Sprache gebunden blieb; sie zeigt
sich aber genau so an der sonstigen literarischen Produktivität.
Die Römer waren als einziges antikes Volk befähigt (und
willens), die literarischen Formen der kulturell überlegenen
Griechen in eigener Sprache nachzubilden, eine dem Griechischen
vergleichbare Literatur zu schaffen.7 Dies
beginnt mit dem genialen Großvater der lateinischen Literatur, dem
Zensor Appius Claudius Caecus, der im Jahr 280 v.Chr. eine Senatsrede
gegen den Frieden mit Pyrrhus veröffentlicht, eine Kriegsrede
offenbar in Art der Philippiken des Demosthenes (die er sicherlich
gekannt hat). Sein Nachfolger, der üblicherweise als der
Begründer der lateinischen Literatur gilt, war selber wohl ein
romanisierter Grieche, der Freigelassene Livius Andronicus aus
Tarent. Er führte im Jahr 240 ein lateinisches Drama (ob
Komödie oder Tragödie, wissen wir nicht) nach griechischer
Vorlage offenbar im Staatsauftrag auf. Und diesem
Gründungsereignis folgte eine Serie von Dramen (Plautus, Terenz
usw.), die anderthalb Jahrhunderte nicht abriss.
Das war unerhört in der antiken Welt. Wo sonst einmal von einem
Nichtgriechen ein Drama verfasst wird (wie die Tragödie Exagoge vom
Juden Ezechiel, über den „Auszug“ der Kinder Israel), geschieht
dies natürlich auf Griechisch, und so ist es in allen Gattungen.
Nur in Rom wird die griechische Literatur latinisiert, zunächst
das Drama – warum gerade das Drama? Weil danach ein populäres
Bedürfnis vorhanden war.8 Der
römische Soldat, der auf Feldzügen, vor allem in
Unteritalien, griechisches Drama erlebte, wollte selber so etwas
Schönes auch in Rom haben. Wäre das Theater nur für die
gebildete Oberschicht dagewesen, so hätte es griechisch bleiben
können. Aber es war eine Kunstform auch des kleinen Mannes, des
Plebeiers, Handwerkers, Tagelöhners; ins Theater gingen ja sogar
auch Frauen. Wohl aus diesem Grund veranstaltete Livius Andronicus in
seinen Dramen, und nur dort, eine metrische Revolution von großen
Folgen. Er verwendete nicht den einheimischen, angeblich schon von den
Faunen verwendeten latinischen bzw. italischen Vers (Saturnius),
der zur Verfügung
5 Vgl. neben der allgemeinen Lit.
(oben Anm. 4) noch immer: Alexander Budinszky: Die Ausbreitung der
lateinischen Sprache über Italien und die Provinzen des
römischen Reiches, Berlin 1881
6 Vgl. Carl Vossen: Mutter Latein und
ihre Töchter: Europas Sprachen und ihre Herkunft,
Düsseldorf 141999 (populäre Darstellung)
7 Umfassend informiert jetzt über
die Anfänge der lateinischen Literatur: Werner Suerbaum (Hrsg.), Die
archaische Literatur: Von den Anfängen bis Sullas Tod (in:
Reinhart Herzog / Peter L. Schmidt, Handbuch der lateinischen
Literatur der Antike, Bd. 1), München 2002; dazu immer noch
lesenwert: Friedrich Leo, Geschichte der römischen Literatur,
Bd. 1: Die archaische Literatur, Berlin 1913 (Ndr. 1967, nur
dieser Band ist erschienen). Neuere deutschsprachige
Gesamtdarstellungen der antiken lateinischen Literatur: Ludwig Bieler, Geschichte
der römischen Literatur, 2 Bde. (zuerst 1960), Berlin / New
York 41980 (knapp, aber
vorzüglich); Michael von Albrecht, Geschichte der
römischen Literatur, 2 Bde. (1990), München u.a.
²1994 (auch als Taschenbuch); Manfred Fuhrmann, Geschichte der
römischen Literatur, Stuttgart 1999 (ohne Spätantike).
8 Vgl. speziell dazu Jürgen
Blänsdorf, „Voraussetzungen und Entstehung der römischen
Komödie“, in: Eckard Lefèvre (Hrsg.), Das römische
Drama, Darmstadt 1978, 91-134; Wilfried Stroh, „Bühne frei!
Die Welt des Theaters“, in: Eckart Köhne / Cornelia Ewigleben
(Hrsg.), Gladiatoren und Caesaren: Die Macht der Unterhaltung im
antiken Rom, Mainz 2000, 109-130.
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4
gestanden hätte und den er z.B. für seine Übersetzung
der griechischen Odyssee gebrauchte (die für ein exklusiveres
Lesepublikum bestimmt war):
Virum mihi, Camena,
insece versutum
„Den Mann mir,
Camena, ansage den verschlagnen“.
Das Drama der Römer sollte klingen wie im griechischen Theater;
darum gebrauchten er und seine Nachfolger griechisches Versmaß,
wobei sie die lateinische Sprache, offenbar ohne ihr doch Gewalt
anzutun, nach griechischer Prosodie, also Phonetik, aufbereiteten.
Konstitutiv für lateinische Dichtung war von nun an die
Unterscheidung von langen und kurzen Silben (die im Saturnius,
wo wohl vor allem auch die Wortlänge beachtet wurde, noch minder
wichtig war):
obsequium amicos, veritas
odium parit
q k k k q q q k q k k q k k
„Gefälligkeit schafft
Freunde, Wahrheit macht verhasst“.
Das klang fast wie ein entsprechender Vers des Menander. So sehen wir
auch von hieraus, dass am Anfang der lateinischen Literatur ein
volkstümliches Bedürfnis stand.
Aber obwohl die Römer diesen Vorgang so
ansahen, als seien sie selber dem kulturell überlegenen
Griechenland zum Opfer gefallen - nach der berühmten Formulierung
des Horaz (Epist 2,1,156 f.): Graecia capta ferum victorem cepit et
artes / intulit agresti Latio ... („Das eroberte Griechenland
eroberte selber seinen wilden Bezwinger und brachte seine Künste
nach Latium“) -, trotz dieser höchst bescheidenen
Selbsteinschätzung galt doch im wesentlichen bereits für das
erste Jahrhundert v. Chr.: Rom hatte mit Griechenland literarisch nicht
nur gleichgezogen, sondern es sogar überflügelt. Den
Meisterwerken vor allem von Cicero, dem größten
Schriftsteller seines Jahrhunderts, aber auch von den Prosaikern
Sallust und Livius, den Dichtern Lukrez, Catull, Horaz, Ovid, und ganz
besonders Vergil, dem sogleich als Nationaldichter Verehrten, hatte die
griechische Welt damals nichts Ebenbürtiges mehr entgegenzusetzen.
Nun strahlte Rom seinerseits auf Griechenland zurück. Sogar die
Bewegung des sogenannten Attizismus, die eine Eneuerung der
griechischen Literatur mit sich brachte, scheint (was freilich nicht
ganz unumstritten ist) von der Begeisterung junger Römer für
die klassischen attischen Redner ausgegangen zu sein. Und die
römischen Schriftsteller selbst, besonders die Dichter, haben das
Gefühl bleibende, klassische Werke zu schaffen; sie glauben seit
der Augusteerzeit an eine förmliche Unsterblichkeit ihres Werks
und damit ihrer selbst. Am berühmtesten ist der Ausspruch des
schon erwähnten Lyrikers Horaz, der am Ende seiner ersten
Odensammlung (Carmina 3,30) von dem „Denkmal dauernder als Erz“ (monumentum
aere perennius), das er sich errichtet habe, spricht und sich
selber verheißt: non omnis moriar („ich werde nicht ganz
sterben“). Was allerdings geknüpft bleibt an die
Unvergänglichkeit des „ewigen Roms“: Man werde von seiner Leistung
reden, dum Capitolium scandet cum tacita uirgine pontifex („solange
aufs Capitol mit der schweigenden Jungfrau [der Vestalin] der Pontifex
steigen wird“), d.h. solange der die Dauer Roms verbürgende
römische Staatskult fortbesteht. Mit ähnlicher
Einschränkung (ohne dass er freilich selber sie als
Einschränkung sähe) verheißt Vergil den Helden seiner
Aeneis (9, 448 f.) ewigen Ruhm: dum domus Aeneae Capitoli immobile
saxum / accolet imperiumque pater Romanus habebit („solange das Haus
des Aeneas den unerschütterlichen Felsen des Capitols bewohnen und
der Römer sein Reich haben wird“). Die Wirklichkeit hat hier einmal
die Wünsche und Prophezeiungen der Dichter überboten: Das
römische Reich ist zusammengebrochen, in Rom ist längst ein
anderer Pontifex maximus am Werk – aber Horaz und Vergil werden noch
immer, zum Teil sogar in deutschen Schulklassen, gelesen.
Dieses Gefühl der Unsterblichkeit bei den
römischen Dichtern, das Bewusstsein der eigenen Klassizität,
fällt nun eigenartigerweise – und damit komme ich eigentlich auf
mein
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5
Thema - zusammen mit dem Tod, vorsichtiger gesagt: dem ersten Tod
des Lateinischen. Im linguistischen Sinn ist ja eine Sprache vor allem
dann tot, wenn sie aufgehört hat sich fortzuentwickeln; und dieser
Entwicklungsstop fällt nun beim Lateinischen eben in die Epoche
bereits des Augustus, also, wie ich schon gesagt habe, etwa in die Zeit
um Christi Geburt. In den anderthalb Jahrhunderten von Plautus (um 200
v.Chr.) bis Cicero konstatieren wir, besonders in Satzbau (Syntax) und
Formenlehre (Morphologie), eine fühlbare Sprachentwicklung.
Vergleichen wir dagegen einen Brief Ciceros mit einem etwa des Symmachus
(im vierten Jahrhundert n.Chr.), einen Dialog Ciceros mit der
berühmten Consolatio philosophiae des Boethius (am Anfang
des sechsten Jahrhunderts) oder auch Hexameter Vergils mit solchen des
Claudian (der um 400 gedichtet hat), so scheint die Sprache, was
zumindest ihren harten Kern angeht, stehengeblieben zu sein. Man hat
eine „Syntax des Altlatein“ schreiben können9;
eine vergleichbare „Syntax des Spätlatein“ wäre weniger
sinnvoll. Eine Weiterentwicklung des Lateinischen seit der Augusteerzeit
gibt es eigentlich nur noch im Vokabular: Klar, dass etwa die
christliche Religion seit dem zweiten Jahrhundert10
oder der technische Fortschritt in Mittelalter und Neuzeit neue
Wörter (Neologismen) nötig machte. Aber wenn etwa die
Christen das griechische baptisma (für „Taufe“)
lateinisch eingemeinden oder das lateinische sacramentum,
ursprünglich der „Fahneneid“ des Soldaten, religiös
umfunktionieren oder wenn neuerdings Pater Eichenseer mit seinen
Lateinfreunden in Saarbrücken die clusura tractilis für
den „Reißverschluss“ kreiert,11 so wird
die Sprache damit nicht wesentlich verändert; sie bleibt, in ihrem
Kern, die Sprache Ciceros.
Dieser frühe Tod des Lateinischen ist darum von
den Philologen bzw. Linguisten nie recht scharf erkannt worden, weil der
literarische Stil der Prosa auch nach Cicero durchaus variabel blieb,
weil Cicero trotz seiner Dominanz keineswegs überall und durchweg
vorbildlich war. Seit den Fünfzigerjahren v.Chr. gibt es neben
Ciceronianern auch Stilisten, die z.T. dezidiert anders schreiben als
er: zunächst die Attizisten um Calvus und den Archaisten Sallust,
dann die pointenreichen „silbernen“ Lateiner Seneca und Tacitus,
schließlich Fronto, Apuleius, Augustin, in der Neuzeit Poggio,
Erasmus, besonders Justus Lipsius (um 1600) – sie alle gestalten ein
mehr oder minder unciceronisches Latein je eigener Prägung. Und
selbst Vergil ist nicht so vorbildlich, dass nicht etwa Ovid und Lucan
einen ganz eigenen epischen Sound entwickelt hätten. Aber solche
Wechselfälle der parole, wenn man so sagen darf,
ändern nichts an der substantiellen Konstanz der langue,
die nur hier und dort in Kleinigkeiten schwankt, sich aber nicht mehr
eigentlich fortentwickelt, linguistisch gesehen also tot ist.
Wie ist es zu diesem Tod des Lateinischen gekommen?
Da die Frage nie präzise gestellt wird, gibt es keine Antwort,
jedenfalls keine anerkannte. Meine eigene Meinung, die ich seit
über fünfzehn Jahren (vorsichtigerweise bisher fast nur in
populären Vorträgen) vertrete12 und
die ich hier zum ersten Mal vor Fachlinguisten, zu denen ich selber
nicht gehöre, mit der gebührenden Zaghaftigkeit zur Diskussion
stelle, ist die, dass es das Erlebnis eben der als klassisch
empfundenen lateinischen Meisterwerke gewesen sein muss, der Werke
besonders von Cicero und Vergil, das zur Folge hatte, dass die
Gebildeten (nicht bewusst natürlich, aber doch instinktiv)
fühlten: eine Sprache, in der Vergils Aeneis oder die Philippischen
Reden Ciceros verfasst seien, dürfe sich einfach nicht mehr
ändern. Diese Werke verdienten es, so empfand man offenbar, immer
gelesen zu werden, sie mussten immer – wenn nicht
tatsächliches Vorbild sein, dann doch zumindest Vorbild sein
k ö n n e n.
9 Charles E. Bennett, Syntax
of early Latin, Boston 1910/ 1914 (Ndr. 1966)
10 Dazu bes. Christine Mohrmann, Études
sur le latin des Chrétiens, 4 Bde., Rom ²1961-1977
11 Ein Wörterbuch solcher
Neologismen ist unter Federführung des soeben (Herbst 2003)
verstorbenen Vatikanlateiners Carl Egger entstanden (ital. 1992/1997);
deutsche Fassung: Neues Latein-Lexikon – Lexicon recentis latinitatis,
Bonn 1998
12 Zuerst in einem Vortrag von 1984 (s.
oben Anm. 1).
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6
Und das konnten sie nicht, wenn die Sprache sich ändern
würde. Kein deutscher Dichter orientiert sich mehr an
Nibelungenlied oder Walter von der Vogelweide, die uns sprachlich zu
weit entrückt sind; aber jedem lateinischen Ependichter, wie dem
mittelalterlichen Waltharius, dem frühneuzeitlichen Petrarca oder
auch Giovanni Pascoli an der Schwelle zum zwanzigsten Jahrhundert, stand
es frei, Vergil zu folgen. So gibt es seit der goldenen Blütezeit
der lateinischen Literatur nur noch dieses eine, im Kern
unveränderte Latein. Es war also nicht ein Verfall, ein
Erschöpftsein der Kraft, das den Tod des Lateinischen bewirkt hat,
es war, wenn ich recht sehe, gerade die schiere Kraft und
Schönheit der klassischen Meisterwerke. Allegorisierend
könnten wir Graf von Platens „Tristan“ zitieren: „Wer die
Schönheit angeschaut mit Augen, ist dem Tode schon anheim gegeben
...“.
Natürlich hat sich das gesprochene Latein des
kleinen Mannes seine Entwicklung nicht völlig verbieten lassen.
Dieses Latein verändert sich weiter, und es wird dabei fast eine
andere Sprache. Aus dem alten Umgangslatein, das auch ein Klassiker wie
Terenz gebraucht und sogar Cicero in seinen intimeren Briefen,13
wird nun – und nun erst – das sogenannte „Vulgärlatein“14,
in dem die Väter der romanistischen Sprachwissenschaft (Dietz
usw.) seit zweihundert Jahren den Quell der romanischen Sprachen erkannt
haben. Frühe Zeugnisse für dieses vom Standpunkt der
Normgrammatik aus z.T. fehlerhafte Latein sind vor allem die
Wandinschriften Pompeiis und die Freigelassenengespräche Petrons,
später auch etwa die Warnungen der Grammatiker vor Sprachfehlern.
Hier werden Casus durch Präpositionalausdrücke ersetzt (de
deo statt dei, wie später ital. di dio,
franz. de dieu), hier wird das Perfekt umschrieben (habeo
cantatum statt cantavi, wie ho cantato usw.), hier
gebraucht man etwa tirare für trahere; schon an
den Wänden Pompeiis sieht der Berufslateiner mit Entsetzen, wie der
Ablativ, der lateinische Paradecasus, durch einen schäbigen
Akkusativ verdrängt wird: Er steht nicht nur bei frui und uti,
sondern – horribile dictu - sogar schon beim
präpositionalen cum: „mit den Kameraden“, cum sodales,
das ist bitter. Wäre Latein im Zeitalter von Nero und Vespasian
noch eine voll lebendige Sprache, hätten solche Verirrungen
natürlich im Laufe der Zeit auch in die Schriftsprache eindringen
müssen, wären sie korrekt geworden. So aber bleiben sie
Verirrungen, bis heute.
Den tiefsten Einschnitt bedeutete es, dass im
„Vulgärlateinischen“, um diesen nicht unumstrittenen Begriff
für die Umgangssprache des ungebildeten Mannes beizubehalten, die
Unterschiede der Silbenquantitäten allmählich zusammenbrachen,
dass man vor allem unter Einwirkung des Wortakzents, der offenbar
stärker wurde, Silben fälschlich längte oder
kürzte. Während nach einem ausdrücklichen Zeugnis
Ciceros zu seiner Zeit noch das ganze Theater aufschrie, wenn
versehentlich von einem Schauspieler die korrekte Silbenquantität
nicht eingehalten und somit das Metrum zerstört wurde (Orator 173),
wird man hier nun unempfindlich. Wiederum schon in der Versinschrift
eines pompeianischen Graffito wird die erste Silbe der Göttin Venuswie
in schlechtester bayerischer Schulaussprache lang (Vēnus)
gemessen:
amoris ignes si sentires,
mulio,
k q k q q q q q q q k q
magi(s) properares ut videres
Vēnerem
k k k k q q q k q q q k k ,
13 Klassisch ist J.B. Hofmann, Lateinische
Umgangssprache, Heidelberg (1926) 41978, wo aber nur
die Besonderheiten gegenüber der höher stilisierten
Schriftsprache notiert sind; eine eigentliche Darstellung des in der
Antike überhaupt gesprochenen Latein gibt es noch nicht. Nur
praktischen Zwecken diente das geistvolle Opusculum von Georg
Capellanus, Sprechen Sie Lateinisch? Moderne Konversation in
lateinischer Sprache (1890), Bonn 151979.
14 Wichtigste Gesamtdarstellung: Veikko
Väänänen, Introduction au latin vulgaire, Paris
(1963) ³1981
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7
wohingegen natürlich in den Schulen der Grammatiker weiterhin
korrekt Vĕnus mit kurzem e gesprochen und gewertet wurde.
Überhaupt wird nun der grammaticus, der „Philologe“ bzw.
antike Mittelstufenlehrer, dem die Autorenlektüre der Jugend und
ihre erste sprachliche Bildung anvertraut ist, zum Wächter der
Sprache, custos Latini sermonis, wie schon Seneca Epistulae
morales 95, 65) formuliert, bzw., mit einem neueren Buchtitel, guardian
of language15. Er hält beim Latein
sozusagen die Totenwache, oder, freundlicher formuliert: Er bürgt
als Anwalt des Genius der Latinität für Einheit und Konstanz
der Sprache. Bei ihm lernt man immer wieder auch, bis weit in die
neueste Neuzeit, korrekte lateinische Verse zu schreiben, Verse, die auf
der strengen Einteilung der Silben in lange und kurze beruhen. Bei ihm
lernt man überhaupt – hier ist meine Meinung von der vieler
Romanisten offenbar verschieden – die alte klassische Aussprache, so gut
er sie eben selber beherrscht (denn Tonbänder von Cicero hat auch
er keine). Solange es ihn gibt, spricht man jedenfalls „Caesar“ als kaisar.
Wobei ich übrigens nicht glaube, dass dieses klassische Normlatein
immer erst als eine Art Zweitsprache erlernt wurde: Warum sollen nicht
auch gebildete Mütter schon mit ihren Kindern sich in der Sprache
des grammaticus unterhalten haben?
So entsteht, um auf Metrik und
Prosodie – d.h. die Phonetik, soweit sie für die Metrik relevant
ist - zurückzukommen, erst relativ spät und zögerlich
eine Dichtung, die der Entwicklung der volkstümlichen Aussprache
Rechnung trägt. Zuerst finden wir so etwas bei Commodian, einem
christlichen Autor wohl des dritten Jahrhunderts, der vielleicht mehr
aus Versehen als Absicht abenteuerliche Hexameter produziert, denen man
ihre Herkunft von Vergil kaum mehr ansieht. Dann ist es aber kein
Geringerer als der auch hier Epoche machende Kirchenvater Augustin, der
am Anfang des fünften Jahrhunderts in seinem Psalmus contra
Donatistas (einem Trutzlied gegen die Sekte der Donatisten) ein
Stück Poesie verfasst, das der tatsächlichen Aussprache
ungebildeter Afrikaner entsprechen sollte und darum nicht in einem
üblichen Versmaß (aliquo carminis genere“, wie er
schreibt16) abgefasst sein musste: Bei
festgelegter Silbenzahl gelten alle Silben als gleichwertig; nur die
Zäsur- und Versschlüsse sind durch den Akzentfall, die
Versschlüsse auch durch einen einfachen Vokalreim, leicht reguliert:
Abundantia
peccatórum solet fratres conturbáre.
propter hoc dominus
nóster voluit nos admonére
x x x x
x x X x x x
x x x x X x
Diese Veränderung, für die Augustin immerhin, wie es scheint,
schon volkstümliche punische und lateinische Psalmendichter als
Vorgänger hatte, war zweifellos seit Livius Andronicus die
größte innovatorische Tat der lateinischen Versgeschichte,
ein unerwartetes Stück Leben am lateinischen Leichnam. Seitdem gibt
es bis heute zwei Arten lateinischer Dichtung: die „metrische“ (in der
es auf die Silbenquantität ankommt) und die „rhythmische“ (in der
neben der Silbenzahl meist auch der Wortakzent berücksichtigt
wird).17 Dabei konnte sich die „rhythmische“
Dichtung umso leichter verbreiten, als die Silbenquantitäten in
Mittelalter und Neuzeit ja auch weiterhin vielfach missachtet wurden,
meist wohl auch im Unterricht, obwohl man dort sonst das (letztlich auf
der Sprache Ciceros beruhende) Normlatein pflegte. Erst gelegentlich im
sechzehnten und dann, zunehmend, im neunzehnten und zwanzigsten
Jahrhundert mehren sich Versuche, Latein wieder quantitätsrichtig
auszusprechen. Dem Buchstaben des Lehrplans nach ist dies sogar die
Pflicht an deutschen Schulen; aber in diesem
15 Robert A. Kaster, Guardians
of Language: The Grammarian and Society in Late Antiquity, Berkeley
u.a. 1988
16 Bequem zugänglich bei Walther
Bulst (Hrsg.), Hymni Latini antiquissimi LXXV – Psalmi III,
Heidelberg 1965 (mit brillanter Einleitung), dort S. 170 (der Text des PsalmusS.
139-146.
17 Beste Darstellung der
Verhältnisse im Mittelalter: Dag Norberg, Introduction à
l’étude de la versification latine médiévale,
Stockholm o.J. (1958); eine Einteilung aller Gedichte in metra undrhythminoch
bei Josephus Eberle (Hrsg.): Viva Camena: Latina huius aetatis
carmina collecta et edita, Zürich/Stuttgart 1961
(Blütenlese lateinischer Poesie des 20. Jahrhunderts).
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8
Fall erregt, soweit man hört, die Pflichterfüllung
gelegentlich mehr Befremden als die Pflichtverletzung.
Das Latein kam in die wohl
größte Krise seiner Geschichte, als in der Zeit der
Völkerwanderungen das Bildungssystem, d.h. der fundamentale
Grammatikunterricht, wenn auch nicht überall gleichzeitig,
zusammenbrach (nur in der Reichskrise des dritten Jahrhunderts, die
nach heutiger Auffassung die Zäsur zur Spätantike markiert,18 scheint
das schon einmal kurz der Fall gewesen zu sein). Das hatte zur Folge,
dass, abgesehen von der Entartung des in der Kirche gesprochenen
Lateins, auch das geschriebene Latein, selbst bei bemühten
Schriftstellern, nun verwilderte und dass die romanischen Sprachen,
Italienisch, Französisch usw., entstanden, die sich offenbar erst
jetzt (in relativ kurzer Zeit, wie es scheint) aus dem
Vulgärlatein regional verschieden herausdifferenzierten: Der
„Vulgärlateiner“ verstand noch Latein, der Italiener kann von
Hause aus keines mehr. Auch Augustin litt zwar schon unter dem Problem,
wie er sich in seinen Kirchenpredigten vor ungebildetem Volk
verständlich machen solle. Aber auch wenn er sich im wesentlichen
an die Normgrammatik hielt, wurde er trotzdem vom Volk verstanden.
Allein schon die Tatsache, dass Gebildete und Ungebildete, genauer
gesagt: vom grammaticus Geschulte und nicht von ihm Geschulte,
miteinander kommunizieren mussten, verhinderte, dass sich die Schere
zwischen Latein und Vulgärlatein zu weit öffnete; der
Verständigungszwang sorgte, meine ich, dafür, dass indirekt
auch noch der sermo vulgaris vom grammaticus gesteuert
wurde. Solange es letzteren eben gab! Die romanischen Sprachen sonderten
sich endgültig vom Latein ab, nicht eigentlich weil sich, wie
jetzt Helmut Lüdtke in seinem fundamentalen und
tiefschürfenden Artikel über „’Tote’ Sprachen“ formuliert,
„die Traditionssprache gegenüber nahezu allen entscheidenden
Neuerungen der Spontansprache“ verschloss19
(was an sich natürlich völlig richtig ist), sondern weil die
Traditionssprache ihren Wächter verlor. So sind denn,
unwiderruflich, die romanischen Sprachen entstanden. Als am Anfang des
neunten Jahrhunderts, genauer 813 auf dem Konzil von Tours, die
versammelten Bischöfe beschlossen, es sollten hinkünftig
lateinische Predigten in die (wörtlich) „ungebildete romanische
oder deutsche Sprache“ übersetzt werden (in rusticam Romanam
linguam aut Thiotiscam) damit jeder sie verstehe, war das Latein
von den aus ihm entstandenen romanischen Sprachen sozusagen aktenkundig
getrennt. Hier beginnt das lateinische Mittelalter, wo Latein nunmehr
auch in dem Sinne tot ist, dass endgültig niemand mehr diese
Sprache von seiner Mutter lernt (der zweite Tod also).
An Anfang dieses lateinischen
Mittelalters steht, wie wohl schon am Anfang der Spätantike (unter
Diocletian), eine Bildungserneuerung, also die Wiederherstellung des
Grammatikunterrichts (jetzt eindrücklich gewürdigt von
Manfred Fuhrmann in seinem schönen Buch über die Geschichte
des Lateinunterrichts20). Karl der
Große, Carolus Magnus, war der wohl bedeutendste
Bildungsreformer Europas. Er sorgte, dass wieder echtes, wenn auch
totes, Latein im Anschluss an die spätlateinischen grammatici
Latini gelernt wurde (vor allem von den clerici); er machte
so Latein zur standardisierten Zweitsprache eines sonst sprachlich
differenzierten Europas (schuf also einen Zustand, der so bis ins
achtzehnte Jahrhundert fortdauerte). Aus eigenen, sozusagen
kontinentalen Kräften konnte das Karl offenbar nicht schaffen. Er
holte sich gelehrte Hilfe aus dem Norden, aus Schottland und Irland.
Dort hatte sich geschützt vor den Stürmen der
Völkerwanderung ein geordneter Lateinunterricht gehalten; dort
war, wie Fuhrmann treffend hervorhebt, Latein schon bisher
18 Vgl. Manfred Fuhrmann, Rom
in der Spätantike: Porträt einer Epoche, Zürich 1994,
, als Taschenbuch: Reinbek 1996, bes. S. 42-46 (zum Einschnitt in der
Literaturgeschichte); Reinhart Herzog: „Einführung in die
lateinische Literatur der Spätantike“, in: R. Herzog / Peter L.
Schmidt (Hrsg.), Handbuch der lateinischen Literatur der Antike,
Bd. 5: Restauration und Erneuerung: Die lateinische Literatur von
284 bis 374 n. Chr., München 1989, 1-44.
19 „Tote Sprachen“ (wie oben Anm. 2)
1685
20 Manfred Fuhrmann, Latein und
Europa: Geschichte des gelehrten Unterrichts in Deutschland von Karl dem
Großen bis Wilhelm II., Köln 2001, bes. 11-15
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9
echte Zweitsprache, „Vatersprache“ gewissermaßen neben der
jeweiligen Muttersprache, gewesen, jetzt ein Vorbild für den
Kontinent. Vor allem war es bekanntlich der bedeutende Alcuin von York,
der sich um das Bildungswesen verdient machte.
Es ist aber etwas schief, wenn
jetzt Fuhrmann die Dinge so darstellt, als hätten Karl und Alcuin
bei ihrer Reform auf das „Spätlatein“ der Spätantike
zurückgegriffen und somit Jahrhunderte sprachlicher Entwicklung
übersprungen: Latein war immer Latein, und individuelle
Entartungen können nicht als Entwicklung gelten. So ist auch zu
warnen vor dem Begriff des „Mittellatein“, das gar zu leicht, zumal es
dafür eigene Lehrstühle gibt, nach Analogie eines
Mittelfranzösisch oder Mittelhochdeutsch, als Bezeichnung einer
Entwicklungsstufe missverstanden wird. Wie vor allem Walther Bulst in
seiner zu wenig bekannten kleinen Schrift Über die mittlere
Latinität des Abendlands21
hervorgehoben hat, steht das „Mittellatein“ zu allen Zeiten des
Mittelalters auf derselben antiken Sprachstufe, es entwickelt sich auch
hier nicht weiter; und immer gibt es Autoren, die perfekt den Stil
antiker Vorbilder nachbilden, wie Einhard den Sueton, Baudri de
Bourgueil seinen Ovid. Wenn in geringer stilisierten Texten auch
„Fehler“ im Sinn der Normgrammatik toleriert werden (etwa dass man dico
oder sentio, nach Analogie neuerer Sprachen, mit quod statt dem
Accusativ mit Infinitiv verbindet), so wird doch aus solchen Fehlern
nie eine letztliche Sprachrichtigkeit, die es dann ja verbieten
müsste, die alte Regel noch anzuwenden.22
Nie war (für „Ich sage, dass ich krank bin“) dico quod aegroto
– man verzeihe! – korrekter als dico me aegrotare.
Schöpferisch und geradezu lebendig war auch das an sich tote
Mittellatein vor allem in der Erschaffung neuer Formen der
„rhythmischen“ Dichtung, die nun in der Regel um den
versschließenden Silbenreim bereichert wurde. Lange kannte man in
neuerer Zeit dies fast nur aus religiösen Dichtungen wie dem
unvergleichlichen Dies irae oder dem Stabat mater. Dann war
es vor allem der Genius des Bayern Carl Orff, der entdeckte, dass sich
auch die weltliche Lyrik des „rhythmischen Mittelalters“ (bis dahin nur
durch wenige Nummern des Kommersbuchs erschlossen) geschickt aufbereitet
an ein modernes Publikum vermitteln ließ: Seine ohrwurmreichen Carmina
Burana wurden ja überraschenderweise das erfolgreichste Werk
des Musiktheaters im vergangenen zwanzigsten Jahrhundert.
Im übrigen wurde die unter Karl dem Großen etablierte
Zweisprachigkeit der Gelehrten nunmehr so selbstverständlich, dass
man sie sogar unwillkürlich ins Altertum zurückprojizierte.
Dante in seinem berühmten Traktat über die Volkssprache (De
vulgari eloquentia) meinte, schon die alten Römer hätten
neben der Volkssprache (vulgaris locutio), die sie von Mutter
und Amme lernten, auch eine Zweitsprache gehabt, die sie grammatica genannt
und sich über Studium und Regeln angeeignet hätten, womit
natürlich unser klassisches Latein gemeint ist; m.a.W. Cicero
hätte nur mit seinen gelehrten Freunden de officiis Latein
gesprochen, mit Frau Terentia dagegen zu Hause über den Ärger
mit Sohn Marcus Italienisch. So unglaublich es klingt: Diese Ansicht
wurde noch im 15. Jahrhundert von historisch Gebildeten vertreten, die
sich einfach nicht vorstellen konnten, eine so schwierige Sprache wie
die lateinische sei je natürlich erworben worden (im Zusammenhang
der über dieses Problem geführten Debatte entstand
übrigens, wie jetzt der schon zitierte Lüdtke gezeigt hat,23
überhaupt der Begriff der toten Sprache; ja es gab sogar einen
Humanisten, Benedetto Varchi, in der Mitte des 16. Jahrhunderts, der
schon völlig richtig zwischen ausgestorbenen und
gewissermaßen mausetoten Sprachen – lingue morte affatto –
und halb lebenden Sprachen unterschied – lingue mezze vive: Das
sind eben Gespenstersprachen wie das Lateinische).
21 Heidelberg 1946
22 Treffend jetzt Peter Stotz, Handbuch
zur lateinischen Sprache des Mittelalters, Bd. 1, München
2002, 3-5 (wo die Vokabel „Mittellatein“ programmatisch gemieden wird).
23 „Tote Sprachen“ (wie oben Anm.2) 1681
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10
Aber, da wir nun schon bei den
Humanisten der Renaissance sind:24 Haben sie
sich denn nicht, beginnend mit Francesco Petrarca, gegen das Latein des
Mittelalters, das „Mittellatein“ gewandt, es als „Mönchslatein“
oder „Küchenlatein“25 verspottet?
Nein, das haben sie nicht! Und darum ist auch die Behauptung, sie etwa
hätten, wie klassische Philologen fast regelmäßig
behaupten, durch ihre Begeisterung für Cicero und die klassischen
Autoren dem lebendigen Latein „den Todesstoß gegeben“,26
von Grund auf verkehrt. Ihr Protest richtete sich nur gegen eine gewisse
Entartung des Lateinischen an den Universitäten, in der
Wissenschaftssprache, besonders in der Sprache der Scholastik.
Tatsächlich bemühten sich diese Scholastiker, wie etwa auch
ein Thomas von Aquin, um nur den Größten zu nennen, kaum oder
gar nicht um Eleganz ihres Lateins (das sie im übrigen korrekt
beherrschten); was sie schreiben, wirkt, wenn man von Cicero, Seneca
oder auch Augustin herkommt, hölzern und hässlich; und nur
gegen diese vor allem im Spätmittelalter zunehmende
Vernachlässigung der Form protestierten die Humanisten - mit denen
dann freilich ein neuer Lateinenthusiasmus über Europa kam, wie man
ihn auch zu Karls des Großen Zeiten nicht erlebt hatte.
Petrarca, so formulierten
spätere Renaissancehumanisten, wagte es als erster, sein Haupt aus
dem Schlamm der Barbarei zu erheben,27
d.h. er versuchte wieder, auch im Stil, ein an Cicero orientiertes
Latein zu schreiben. Und dann geht eine Begeisterung für das
Latein, das klassische Latein, wie ein Rausch über Europa: „Das
Lateinische“, so schwärmt der große Historiker Lorenzo Valla
(1440), „wird von allen Nationen verehrt, wie ein Gott, der vom Himmel
herabgesandt wurde“ (quasi Deum quendam à Coelo demissum).
Latein aber hieß vor allem: ciceronisches Latein. Es entsteht der
moderne Ciceronianismus,28 eine
Nachahmung Ciceros, die sogar recht sonderbare Blüten treibt. Ein
fanatischer Ciceronianer, wie der Kardinal Bembo, spricht von seinen
Standesgenossen nicht mehr als von „Kardinälen“ (cardinales),
sondern von senatores; er gebraucht nicht mehr das Wort
„Nonnen“ (moniales) sondern Virgines Vestales
(vestalische Jungfrauen) usw. Die Sprache wird bis an die Grenzen des
Unverständlichen von allen christlichen und mittelalterlichen
Schlacken gereinigt. Erlaubt ist nur noch, was auch bei Cicero belegt
ist. Die förmliche Karikatur eines solchen Ciceronianers hat ein
Jahrhundert später, 1528, der berühmte Humanist Erasmus in
einem Dialog Ciceronianus sive De optimo dicendi genere („über
den besten Redestil“)vorgeführt. Es tritt dort auf ein
gewisser Herr Nosoponus (was etwa so viel heißt wie
„Mühekrank“), ein Mann, der ängstlich bemüht ist, nur
Ciceronisches zu sprechen, und zwar in der Weise, daß er nicht nur
die Wörter vermeidet, die Cicero nicht hat, sondern sogar die
Wortformen, die bei diesem zufälligerweise nicht belegt sind. Und
so wälzt er aus Angst vor Fehlern am Schluß nur noch stumm
seinen Cicero ... - Auch wenn aber die Wirklichkeit bisweilen einer
solchen
24 Die immer noch klassischen
Darstellungen des (vor allem als antik-heidnisch interpretierten)
Renaissancehumanismus durch Georg Voigt, Die Wiederlebung des
classischen Alterthums oder das erste Jahrhundert des Humanismus, 2
Bde., Berlin ²1881 und Carl Burckhardt, Die Kultur der Renaissance
in Italien (1860), Stuttgart (Reclam) 1960 sind im vergangenen
Jahrhundert stark korrigiert worden besonders durch die Forschungen von
Paul Kristeller; vgl. etwa dessen Aufsatzsammlung Humanismus und
Renaissance, 2 Bde., München 1976. Zusammenfassend: A. Rabil, jr.
(Hrsg.), Renaissance humanism: Foundations, forms, and legacy, 3
Bde., Philadelphia 1988.
25 Zur Herkunft des Begriffs: Rudolf
Pfeiffer, „Küchenlatein“ (zuerst 1931), in: R.P., Ausgewählte
Schriften, München 1960, 183-187.
26 Verbreitet vor allem durch Eduard Norden, Die
antike Kunstprosa vom VI. Jahrhundert v. Chr. bis in die Zeit der
Renaissance, 2 Bde., Leipzig 31915 (= 101995); vgl. dagegen zuletzt
bes. Ludwig, „Latein im Leben“ (wie unten Anm. 30) 73 f. Anm. 2.
27 Einen guten ersten Zugang zu diesem
„Vater des Humanismus“ gibt jetzt Florian Neumann, Francesco Petrarca,
Reinbek 1998 (in rororo-monographien), mit ausgewählten Urteilen
28 Klassische Darstellung: R.
Sabbadini, Storia del Ciceronianesimo, Turin 1885; vgl jetzt F.
Tateo / B. Teuber / R.E. Schade, „Ciceronianismus“, in: Gert Ueding
(Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 2,
Tübingen 1994, 225-247.
29 Bequem zugänglich in der
achtbändigen zweisprachigen Erasmus-Ausgabe von Werner Welzig,
Darmstadt (1968-1980) ²1990 (als Paperback 1995), Bd. 7, hrsg. von
Theresia Payr (zuerst 1972), S. 2-355
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11
Karikatur nahe gekommen sein sollte, so wäre es trotzdem verkehrt
zu behaupten, die Humanisten hätten dem lebendigen Gebrauch der
toten Sprache Latein geschadet; Latein wurde nie wieder so sprühend
lebendig, lebhaft und einfallsreich gebraucht wie in diesen
Jahrhunderten der Renaissance,30 wobei der
größte Lateiner nördlich der Alpen eben Erasmus von
Rotterdam ist, ein Mann, in dessen Verehrung sich die
Lateinbegeisterung eine ganzen Epoche symbolisiert.
Eigentlich bahnbrechend aber war
für Deutschland31 der „Erzhumanist“ Conrad
Celtis, der im Jahr 1487 in Nürnberg vom Kaiser mit dem Lorbeer zum
Dichter gekrönt wurde, zum ersten deutschen poeta laureatus;
damit war ausgedrückt, daß es nun auch in Deutschland eine
lateinische Poesie gebe, die wie die der Italiener in der großen
antiken Tradition (besonders des lorbeerbekränzten Horaz) stehe.
Die Gedichte freilich, mit denen sich damals der junge Celtis, der
später als Professor unserer Universität mein eigener
Amtsvorgänger (und Vorbild) ist, diesen Ruhm und Lorbeer erwarb,
waren noch ziemlich mäßig.32 Aber
schon wesentlich anspruchsvoller waren seine 1502 erschienenen Amores,
sein dichterisches Hauptwerk;33 und der von
ihm einmal erhobene Anspruch wurde wenigstens von Späteren dann
voll eingelöst. Die lateinische Dichtung des sechzehnten und des
siebzehnten Jahrhunderts überragt in ihren besten Werken fast
alles, was Deutschland damals in der eigenen Sprache hervorgebracht hat.34
Literarisch führend waren im
sechzehnten Jahrhundert zunächst die Protestanten, denen Luthers
Freund, Melanchthon, ihre moderne Lateinschule, die Vorläuferin
unseres humanistischen Gymnasiums, einrichtete.35
In dieser Schule, in der nur Latein gesprochen werden sollte, herrschte
das schöne Bildungsziel der eloquens pietas, der
„Frömmigkeit in beredtem Latein“. Ihr diente vor allem auch das
von Luther so hoch geschätzte Schultheater,
30 Zur lateinischen Literatur
der Renaissance und überhaupt der Neuzeit s. jetzt die knappe
Darstellung von Walther Ludwig, „Die neuzeitliche lateinische Literatur
seit der Renaissance“ in Graf, Einleitung (wie oben Anm.3)
323-356 (mit Lit.); grundlegend für jede tiefere
Beschäftigung ist Jozef IJsewijn / (Dirk Sacré): Companion
to Neo-Latin Studies, 2 Bde., Löwen 21990/1998. Viel auch zur
Literaturgeschichte gibt Rudolf Pfeiffer, Die Klassische Philologie
von Petrarca bis Mommsen (zuerst engl. 1976), München 1982. Zur
generellen Rolle des Latein in der Neuzeit: Peter Burke, Küchenlatein:
Sprache und Umgangssprache in der frühen Neuzeit (zuerst
engl. 1987), Berlin 1989 (populär einführend) und jetzt bes.
Walther Ludwig, „Latein im Leben: Funktionen der lateinischen Sprache in
der frühen Neuzeit“, in: Eckard Keßler / Heinrich C. Kuhn
(Hrsg.), Germania Latina – Latinitas teutonica: Politik,
Wissenschaft, humanistische Kultur vom späten Mittelalter bis in
unsere Zeit, 2 Bde., München 2003, Bd. 1, 73-106.
Ungewürdigt bleibt die neulateinische Literatur in dem (vor allem
für den Schulunterricht materialreichen) Werk von Françoise
Waquet, Le Latin ou l’empire d’un signe: XVIe-XXe siècle,
Paris 1998 (engl.: London/New York 2001).
31 Vgl. als immer noch höchst
lesbare Gesamtdarstellung: Heinz Otto Burger, Renaissance –
Humanismus – Reformation: Deutsche Literatur im europäischen
Kontext, Bad Homburg u.a. 1969; vgl. auch Walther Ludwig (Hrsg.), Die
Musen im Reformationszeitalter, Leipzig 2001. Handbuch: Hans
Rupprich, Die deutsche Literatur vom späten Mittelalter bis
zum Barock, 2 Teile, München I: (1970) ²1994 (bearb. v.
Hedwig Heger) /II: 1973. Einzeldarstellungen in Stephan Füssel
(Hrsg.), Deutsche Dichter der frühen Neuzeit (1450-1600),
Berlin 1993 und Paul G. Schmidt: Humanismus im deutschen
Südwesten: Biographische Profile (1993) Stuttgart ²2000.
Bis zur deutschen Gegenwart gehen die einschlägigen, meist sehr
qualitätvollen Beiträge in Keßler / Kuhn, Germania
latina (wie oben Anm. 30), vgl. bes. Laetitia Boehm, „Latinitas –
Ferment europäischer Kultur: Überlegungen zur Dominanz des
Latein im germanisch-deutschen Sprachraum Alteuropas“, a.O. 21-70.
32 Vgl. W. Stroh, „Horaz und das
Proseuticum des Celtis“ in dem einschlägigen Sammelband von Ulrike
Auhagen / Eckard Lefèvre / Eckart Schäfer, Horaz und
Celtis, Tübingen 2001, 87-119
33 Dazu Claudia Wiener u.a. (Hrsg. ), Amor
als Topograph: 500 Jahre ‚Amores‘ des Conrad Celtis – ein Manifest des
deutschen Humanismus, Schweinfurt 2002 (mit Lit.)
34 Wertvolle Anthologien: Harry C.
Schnur (Hrsg.), Lateinische Gedichte deutscher Humanisten,
Stuttgart (1967) ²1978; Wilhelm Kühlmann / Robert Seidel /
Hermann Wiegand (Hrsg.), Humanistische Lyrik des 16. Jahrhunderts,
lat.-dt., Frankfurt/M. 1997.
35 Lesenswert bleibt, auch neben
Fuhrmann (wie oben Anm. 20), die tiefdringende Darstellung von Friedrich
Paulsen, Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen
Schulen und Universitäten vom Ausgang des Mittelalters bis zur
Gegenwart, 2 Bde., 3. Aufl. hrsg. v. R. Lehmann, Berlin/Leipzig
1919-1921. Zur pädagogischen Leistung speziell Melanchthons jetzt
sehr informativ: Jürgen Leonhardt (Hrsg.), Melanchthon und das
Lehrbuch des 16. Jahrhunderts, Rostock 1997 (mit Lit.).
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12
das sich in Werken wie dem europaweit gespielten Acolastus des
Gnapheus (einer Dramatisierung des verlorenen Sohns nach Lukas) zu
wirklicher poetischer Größe erhebt.
Dieses protestantische Schultheater
übernehmen dann die Jesuiten, die von der zweiten Hälfte des
Jahrhunderts an, auch ihrerseits der eloquens pietas huldigend,
die Führung im Bildungswesen anstreben, wobei sie um so
erfolgreicher sind, als ihnen der einheitliche Lehrplan ihrer Ratio
studiorum internationale Schlagkraft gibt.36
Ihr (immer lateinisches) Theaterspiel, mit dem sie zumindest in
Deutschland ein Jahrhundert lang mehr für das Bühnenwesen
getan haben dürften als jede andere Institution,37
diente nicht nur der propaganda fides, „Verbreitung des
Glaubens“, sondern auch der öffentlichen Selbstdarstellung ihres
Ordens als führender Macht der Schulbildung, d.h. Lateinbildung.38
Ihre Aufführungen etwa hier in München39
sind bis heute Höhepunkte der lokalen Theatergeschichte. Z.B. wurde
hier 1597 zur Einweihung von St. Michael, dem neuen Herz der
Gegenreformation, mit tausend Mitwirkenden und viel Musik das
zehnstündige Lateinspektakel Triumphus Divi Michaelis
aufgeführt,40 mit einer wohl
größeren Breitenwirkung als sie selbst Max Reinhardt gut
dreihundert Jahre später bei seinen Münchner
Masseninszenierungen antiker Tragödien erreichen konnte.
Künstlerisch ungleich bedeutender waren die Dramen des Jacob
Bidermann, dessen Cenodoxus, 1602, vor dreihundert Jahren, in
Augsburg uraufgeführt,41 noch
heute in Übersetzung gelegentlich auf die Bühne kommt.42
Alle aber überragt der Genius des Jesuiten Jacobus Balde
(1604-1668), eines der größten, leider auch vergessensten
lateinischen Dichtes aller Zeiten, eines Manns, der in fast
sämtlichen antiken Dichtungsgattungen (und einigen weiteren) ein
Lebenswerk geschaffen hat, das an Originalität und Kreativität
eigentlich nur noch mit Goethe verglichen werden kann.43
Mit „Münchner Baldestudien“ – denn er wirkte vor allem von
München aus - versuchen wir an unserem Institut zur Zeit die
Erinnerung an ihn wenigstens wissenschaftlich zu beleben; vielleicht
wird sein vierhundertster Geburtstag im Jahr 2004 dazu anstoßen,
endlich eine Uraufführung – man denke nur! – seines dramatischen
Meisterwerks, der 1654 edierten monumentalen Tragödie Jephtias,
zustande zu bringen.44
So lebt das tote Latein noch im 17.
Jahrhundert, dank der Jesuitenmission bis nach Japan und
Südamerika, als die führende Sprache nicht nur in Kirche und
Wissenschaft, sondern auch in der schönen Literatur. Selbst
erfolgreiche Unterhaltungsromane werden aus der jeweiligen
Nationalsprache ins Lateinische übersetzt, um überall
verstanden werden zu
36 Noch immer fesselnde
Lektüre: René Fülöp-Miller, Macht und
Geheimnis der Jesuiten: Eine Kultur-und Geistesgeschichte (1947),
München 1960 (dort S. 626 ff. zum Erziehungswesen).
37 Kurze, treffliche Einführung:
Fidel Rädle, „Lateinisches Theater fürs Volk: Zum Problem des
frühen Jesuitendramas“, in: W. Raible (Hrsg.), Zwischen Festtag
und Alltag, Tübingen 1988, 133-147. Sonst am umfassendsten:
Jean-Marie Valentin, Les Jésuites et le théâtre
(1554-1680), Paris 2001.
38 Hervorgehoben von Barbara Bauer, Jesuitische
‚ars rhetorica‘ im Zeitalter der Glaubenskämpfe, Frankfurt/M.
u.a. 1986. Die sprachliche Kultur gerade der bayerischen Jesuiten
bezeugt jetzt eindrucksvoll die von Alois Schmid herausgegebene Bayerische
Gelehrtenkorrespondenz: P. Matthäus Rader SJ, Bd. 1: 1595-1612
(bearb. v. Helmut Zäh und Silvia Strodel), München 1995.
39 Karl von Reinhartstoettner: „Zur
Geschichte des Jesuitendramas in München“, Jahrbuch für
Münchener Geschichte 3, 1889, 53-176
40 Barbara Bauer / Jürgen
Leonhardt (Hrsg.), Triumphus Divi Michaelis Archangeli Bavaric -.
Triumph des Heiligen Michael, Patron Bayerns (München 1597),
Regensburg 2000
41 Zur Erinnerung daran fand im Oktober
2002 in Augsburg ein zweitägiges Symposion statt, dessen Akten
demnächst veröffentlicht werden sollen.
42 Zuletzt in einer Fernsehaufzeichnung
der Augsburger Puppenkiste, bayern alpha November 2003.
43 Noch immer grundlegend: Georg
Westermayer, Jacob Balde (1604-1668), sein Leben und seine Werke.
Photomechanischer Nachdruck der Ausgabe München 1868,
herausgegeben von Hans Pörnbacher und Wilfried Stroh, Amsterdam /
Maarssen 1998; neuere Literatur (ständig ergänzt) unter www.klassphil.uni-muenchen.de/~stroh/balde_lit.htm
44 Fest geplant ist die
Wiederaufführung seiner Schulkomödie Iocus serius („Aus
Spaß wird Ernst“) durch das Münchner Wilhelmsgymnasium (wo
Balde selbst unterrichtet hat); die Premiere soll im Rahmen einer
Baldetagung vom 4. bis 7. April (auf dem Freisinger Domberg)
stattfinden.
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können. Das hört erst auf mit dem 18. Jahrhundert, in dem,
bedingt durch das Erstarken der nationalsprachigen Literatur, auch in
Deutschland die letzte große Zeit der lateinischen Dichtung zu
Ende geht. Für das Jahrhundert der Aufklärung, der deutschen
Klassik und der beginnenden Romantik wird nun das lateinische
Verseschmieden zu einer Angelegenheit vor allem der Schulmeister, einer
Sache, mit der man unter Männern von Welt keinen großen Ruhm
mehr erwerben kann. Das gilt noch nicht für das Latein im
allgemeinen. Latein bleibt ja zunächst noch Sprache vor allem der
Philosophie und Wissenschaft.45 Latein
schreiben Descartes, Spinoza und spätere Philosophen; in Latein
erläutert Newton die mathematischen Grundlagen der Physik,
Linné das System der Botanik, Galvani die Elektrizität in
den Froschschenkeln, und noch Carl Friedrich Gauß schreibt am
Anfang des neunzehnten Jahrhunderts seine fundamentalen Werke über
Zahlentheorie und Astronomie in lateinischer Sprache.46
Aber damit war gerade Gauß schon beinahe ein Nachzügler;
denn im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts war Latein als Sprache der
Wissenschaft fast in ganz Europa allmählich durch die modernen
Sprachen ersetzt worden. Schon 1688 hatte ein gewisser Professor
Christian Thomasius zum Entsetzen seiner Kollegen als erster eine
deutschsprachige Vorlesung in Halle gehalten; und die damit begonnene
Bewegung kam nicht mehr zum Stillstand (der dritte Tod des
Lateinischen). Schuld war nicht etwa eine Defizienz des toten Latein
gegenüber der modernen Welt – das Latein blieb wunderbar
ausdrucksfähig: Noch Kants „Kritik der reinen Vernunft“ wird
erfolgreich ins Lateinische übersetzt; und Goethe hat nach eigenem
Bekunden an seinem Lieblingswerk „Hermann und Dorothea“ in der
lateinischen Version eines Herrn von Berlichingen mehr Freude noch als
am deutschen Original (Latein sei doch eine viel gebildetere Sprache,
meint er)47 – also nicht eine Defizienz
des toten Latein war schuld an seinem Rückgang, sondern der
verhängnisvoll aufkommende Nationalismus bewirkte, dass es dem
Gelehrten wichtiger wurde, sich auch dem minder Gebildeten im eigenen
Volk mitzuteilen, als den geistigen Austausch in einer international
lateinischen res publica litterarum zu suchen. So hatte am Ende
des achtzehnten Jahrhunderts die Wissenschaft - von den Theologen und
Philologen zunächst einmal abgesehen - das Latein schon fast
aufgegeben: ein schwerer, bis heute fühlbarer Verlust! Denn im
Englischen, das ja in den letzten Jahrzehnten d i e moderne
Wissenschaftssprache geworden ist, sind die Engländer, zumal wenn
es um Geisteswissenschaften geht, uns anderen überlegen. In Latein
wären alle gleich (das kann sowieso keiner).
Damit war an der Wende zum
neunzehnten Jahrhundert das Latein an der Schule seiner stärksten
Belastungsprobe seit der Völkerwanderungszeit ausgesetzt. Und es
fehlten schon damals die Stimmen nicht, die ihm mit
Nützlichkeitsargumenten, genau wie heute, den Garaus machen
wollten: Warum noch eine Sprache lernen, die kaum mehr gebraucht wird?
Und dennoch erlebt Latein ausgerechnet in der höheren Schule des
neunzehnten Jahrhunderts, dem sogenannten neuhumanistischen Gymnasium,
wie es hier in Bayern vor allem der Freund Ludwigs I., Friedrich
Thiersch, Begründer auch unseres Philologischen Seminars, gestaltet
hat, im Zeitalter der leibhaftigen industriellen Revolution, wie in
einem geistigen Widerstand gegen diese, eine große, ans
Unglaubliche grenzende Nachblüte.48
Kein anderer Weg führt zum akademischen Studium als der durchs
Gymnasium; kein Weg führt durchs Gymnasium ohne exzessives Latein:
Latein, das nicht nur passiv verstanden, sondern auch aktiv geübt
sein will, im schriftlichen Aufsatz, in der mündlichen Rede, ja
lange Zeit sogar noch im lateinischen Verseschreiben. Diese Dominanz
des Lateinischen ist um so überraschender, als
45 Das Latein der Philologen
behandelt in Form eines (seinerseits höchst elegant geschriebenen)
ciceronischen Dialogs: Helgus (Oleg) Nikitinski, De eloquentia
Latina saeculi XVII et XVIII dialogus, Neapel 2000.
46 Wichtige Dokumente für dieses
Wissenschaftslatein sind gesammelt bei Aemilius Springhetti S.J., Selecta
Latinitatis scripta auctorum recentium (saec. XV-XX), Rom 1951.
47 Bei Ernst Grumach, Goethe und
die Antike, Bd. 1, Berlin 1949, 79-83 sind solche
Äußerungen Goethes über die lateinische Sprache
zusammengestellt.
48 Vorzüglich informativ: Manfred
Landfester, Humanismus und Gesellschaft im 19. Jahrhundert,
Darmstadt 1988
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14
der deutsche Altphilologe an sich von lateinischer Literatur gar nicht
so viel zu halten behauptet. Sie gilt ihm ja im neunzehnten Jahrhundert
als wenig originell, als ein weithin unschöpferischer Abklatsch der
griechischen Literatur. Aber die Griechen lobt man mehr, und das
Lateinische lernt man mehr, angeblich wegen seiner formalbildenden Kraft
– über die einschlägige Theorie wird gleich noch zu reden
sein -, in Wahrheit wohl mindestens ebenso sehr wegen des Glanzes und
Zaubers, der die alte tote Sprache immer noch umschwebte. Das
Schullatein des neunzehnten Jahrhunderts ist paradoxerweise
schöner, von humanistischerem Schwung erfüllt, als es das
Wissenschaftslatein des vorigen Jahrhunderts gewesen war.
Erst am Ende des Jahrhunderts, als das
moderne Realgymnasium seinen Anspruch anmeldete, wurde das Latein als
eine noch geübte, zumindest geschriebene Sprache in der Schule
zurückgedrängt. Deutscher Gewerbefleiß und deutscher
Patriotismus waren gegen das Latein, gegen den altsprachlichen
Unterricht überhaupt, verbündet, und ungerügt konnte
Kaiser Wilhelm II. im Jahre 1890 ausrufen: Man solle junge Deutsche
erziehen, nicht junge Griechen und Römer! So haben erst etwa die
letzten gut hundert Jahre den schrittweisen, immer wieder auch
verzögerten und aufgehaltenen Abbau des Lateinunterrichts am
Gymnasium gebracht; d.h. mit großer Phasenverschiebung hat das
Gymnasium dem Rückgang des Lateinischen außerhalb der Schule
– die katholische Kirche war hier noch am zögerlichsten – Rechnung
getragen. Auch die Universitäten, wie man weiß. An die
Stelle des früher zur Promotion in den Geisteswissenschaften
erforderlichen Latinums kann heute vielfach auch der Nachweis von
Kenntnissen anderer Sprachen (oder auch einmal des statistischen
Rechnens) als Ersatz treten. Als ließe Latein sich ersetzen! Als
wäre es nur eine Hürde, um das Studium ein bisschen schwerer
zu machen und das akademische Niveau zu heben!
Das Bedenklichste aber ist nicht, dass
von zu wenigen Latein gelernt wird – denn etwa im glücklichen
Bayern dürfte es heute der Zahl nach sogar mehr Lateinschüler
geben als je zuvor -, sondern dass es so schlecht gelernt wird, dass
kaum ein Schüler nach vielen Jahren Unterrichts in der Lage ist,
lateinische Texte so zu verstehen, wie er andere fremdsprachliche Texte
auffasst, durch einfaches Hören oder Lesen. Das ist keineswegs
eine Folge der Tatsache, dass Latein tot ist – wie fast zwei
Jahrtausende beweisen -, es ist auch nicht nur die Folge einer zu
geringen Stundenzahl an den Schulen, sondern vor allem auch die einer
einseitig forcierten formalen Bildung, wie sie der heutigen
didaktischen Theorie entspricht und wie sie sich vor allem im
sogenannten Konstruieren niederschlägt („Suche das Prädikat
...“, und dann wird der Satz von links nach rechts, von rechts nach
links, auseinandergenommen, bis sich sein Sinn quasi als Lösung
einer mathematischen Aufgabe ergibt!). Diese Theorie der formalen
Bildung, von der die großen Zeiten des Lateinischen nichts
wissen, entstand in der Tat in dem Augenblick, wo Latein als
Kommunikationssprache wenig mehr gebraucht wurde, also am Ende des 18.
Jahrhunderts:49 Wie die Tanzstunde, sagte man
da, auch dem zukünftigen Nichttänzer nützlich sei, weil
sie seinen Körper geschmeidig und beweglich gemacht habe, so komme
auch dem Nichtlatinisten das Latein zu gute, weil es seinen Geist
schule, in dem es sich ja – der Leichnam machts möglich – so
schön sezieren und analysieren lasse. Das ist eine treffliche und
in vielen Publikationen seit zweihundert Jahren wohldurchdachte
Theorie, deren Folgen für die Praxis dennoch fatal sind. Wo das
Latein nicht um seiner selbst willen gelernt wird, sondern um a
n ihm, weil es dafür optimal geeignet sei, allerlei
Kategorien des Verstands und der Sprache zu erlernen – als Service dann
auch für die Erlernung anderer, besonders romanischer Sprachen -,
da schwindet notwendig die Sprachbeherrschung und damit auch die Freude
am Latein, die es ohne Können nicht geben
49 Vgl. bes. etwa Wilhelm
Luther, „Die neuhumanistische Theorie der ‚formalen Bildung’ und ihre
Bedeutung für den lateinischen Sprachunterricht der Gegenwart“,
Der altsprachliche Unterricht 5, Heft 2, 1961, 5-31. Ganz auf dieser
Theorie basiert die z.Zt. erfolgreichste Apologetik des
Lateinunterrichts: Karl-Wilhelm Weeber, Mit dem Latein am Ende?
Tradition mit Perspektiven, Göttingen 1998; kritisch dazu mein
Vortrag von 1998 (wie oben Anm. 1) und in Classical Review N.S.
51, 2001, 458-459.
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kann. Zur Rechtfertigung des Lateinunterrichts ersonnen, ist diese
einst nützliche Doktrin von der besonderen geistesbildenden Kraft
der toten Sprache längst selber tödlich geworden – auch weil
sie kaum mehr jemanden wirklich überzeugt. Die beste Kennerin des
Lateinunterrichts in der Neuzeit, Françoise Waquet, beschloss
kürzlich ihre nachrufartige Chronik des neuzeitlichen
Latein-„Imperiums“ (1998)50 mit der
Forderung, dass diese Sprache nun aber endlich und endgültig von
der Schule abtreten solle, weil sie auch für die „gymnastique
mentale“ schlechterdings nichts mehr zu bieten habe. Das wäre dann
der vierte und bisher schlimmste Tod des Lateinischen: O tempora! o
mores! o cadavera!
Bevor ich mich aber mit diesem Ausruf
von unserem Thema und Ihnen verabschiede, sei doch wenigstens auch auf
eine Gegenbewegung hingewiesen, die mir zukunftsträchtig scheint
und die man jedenfalls nicht unterschätzen sollte: die des
„Lebendigen Latein“, „Latin vivant“, Viva Latinitas usw..51
Seitdem der praktische Gebrauch der Sprache auch im Lateinbetrieb
von Schule und Universität reduziert oder beseitigt wurde –
also vom Ende des neunzehnten Jahrhunderts an -, gibt es im
erklärten Widerstand dagegen vor allem außerhalb der
Bildungsinstitutionen weltweite Bemühungen darum, Latein wieder in
seine alten Rechte als internationale Kommunikationssprache
einzusetzen. Ein Pionier war der deutsche Jurist und Poet Karl Heinrich
Ulrichs52, heute berühmter als
Vorläufer der sogenannten „Schwulenbewegung“ und als solcher in
München sogar von Oberbürgermeister Ude durch einen eigenen
Karl-Heinrich-Ulrichsplatz geehrt, der im Jahr 1889 vom
Abruzzenstädtchen L’Aquila aus eine lateinische
Konversationszeitschrift mit dem beflügelnden Namen Alaudae („Lerchen“)
in die Welt zwitschern ließ (und sogar den König von
Württemberg als Abonnenten gewann).53 Ihm
folgte Papst Leo XII. 1898 mit seiner volleren Vox Urbis,
diesem viele andere. Heute gibt der schon erwähnte Pater
Eichenseer die in Deutschland beliebte Vox Latina, ein
Brüsseler Radiologe, Guy Licoppe, die Melissa heraus. Im Vatikan
vertreibt Cletus Pavanetto die gediegene Latinitas; noch mehr
aber gelesen werden dürfte der nur im Internet zugängliche,
ebenfalls niveauvolle Retiarius unseres amerikanischen
Universitätskollegen Terence Tunberg.54
Überhaupt ist es heute, wie
schon eingangs erwähnt, das Internet (interrete) bzw.
WorldWideWeb (Tela Totius Terrae), in dem sich die jüngsten
und lebendigsten Anhänger der alten toten Weltsprache Latein
tummeln können. Rasch findet man hier – denn Lateiner verlinken
sich gern per copulas copularum - die wichtigsten heutigen
Lateinclubs, etwa den kürzlich entstandenen quicklebendigen Circulus
Latinus Panormitanus (Palermo), www.cirlapa.org55),
die schon älteren Vereine Societas Latina
(Saarbrücken, www.uni-saarland.de/fak5/stockmann/voxlatina), Circulus
Latinus Matritensis (Madrid. http://augustinus.eresmas.net),
Sodalitas LVDIS LATINIS faciundis (München, www.sodalitas.de)
mit dem westfälischen Tochterverein LVPA d.h. Latinitatis
Vivae Provehendae Associatio (http:/pagina.de/lvpa) und
natürlich auch lateinische Chatclubs wie den Grex alter Latine
loquentium (www.grexlat.com). Viele dieser Vereinigungen
veranstalten lateinische Seminarien, Tagungen, Festspiele, wie die LVDI
LATINI oder die internationalen Conventus und Seminaria der
höchst seriösen römischen Academia Latinitati
fovendae (www.tekhnai.es/alfconventus/seminaria).
Überflüssig zu sagen, dass solche Unternehmungen, zu denen
besonders auch die lateinischen Rundfunknachrichten aus
50 Zitiert oben in Anm. 30.
51 Zusammenfassend: W. Stroh,
„Lebendiges Latein“, Der Neue Pauly: Enzyklopädie der Antike –
Rezeptions- und Wissenschaftsgeschichte, Bd. 15, 2001, 92-99.
52 Zu ihm W. Stroh, „Karl Heinrich
Ulrichs als Vorkämpfer eines lebendigen Latein“, In: Wolfram Setz
(Hrsg.), Karl Heinrich Ulrichs zu Ehren: Materialien zu Leben und
Werk, Berlin 2000, 81-92
53 Ein Nachdruck dieser Zeitschrift,
herausgegeben von Wolfram Setz, soll i.J. 2004 erscheinen.
54 www.uky.edu/ArtsSciences/Classics/retiarius.
Vgl. Dirk Sacré, „Zeitschriften in lateinischer Sprache“, in: W.
Stroh (Hrsg.): Lateinsprechen (= Der altsprachliche Unterricht 37,
1994, Heft 5), 72-75, mit Verweis auf eine frühere,
ausführlichere Publikation.
55 Von hier aus ereicht man viele
weitere internationale Lateinvereinigungen.
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Finnland (über: www.yleradio1.fi) und neuerdings die aus Bremen
(www.radiobremen.de/online/latein) zählen, ihrerseits wieder an
vielen Orten auf den akademischen Lehrbetrieb zurückwirken. So kann
man z.B. an der Universität München seit über zwanzig
Jahren allwöchentlich ein Colloquium Latinum, öfter
auch eine Vorlesung in lateinischer Sprache besuchen. In dieser méthode
directe, welche die der alten Humanisten war und die der neuen
Fremdsprachendidaktiker ist, wird auch für die Schule, hoffe ich,
die Zukunft des lateinischen Sprachunterrichts liegen. Obwohl Latein
eine tote Sprache ist, sollte es doch nicht als eine solche, sondern als
echte Fremdsprache unterrichtet werden.56
Manches von dem, was sich unter den
Junglateinern der Gegenwart tut, mag oft ein wenig skurril oder auch
anspruchslos scheinen, wenn man es mit den Lateinproduktionen
größerer Jahrhunderte vergleicht. Das darf aber nicht
vergessen lassen, dass auch unsere Zeit bedeutende Lateinhumanisten
hervorgebracht hat.57 Ich nenne nur
drei Männer des vergangenen Jahrhunderts, die ich persönlich
noch erlebt habe: den Herausgeber der Stuttgarter Zeitung Josef Eberle
(Iosephus Apella P.L.), einen genialen, von der Universität
Tübingen zu Recht zum poeta laureatus gekrönten
Lateindichter;58 den Amerikaner Harry C.
Schnur (C. Arrius Nurus), der, von Hause aus Jurist, als bissiger
lateinischer Satiriker berühmt wurde59
und in der Stiftung Pegasus limited fortlebt; schließlich
den tschechischen Musiker, Dichter und Weltbürger Jan Novák
(1921-1984), dem als schöpferischem Lateinkomponisten auch
frühere Jahrhunderte keinen Ebenbürtigen an die Seite zu
setzen haben.60 Sein Werk pflegen wir
besonders an der Universität München. Wenige Minuten, nachdem
am 11. September 2001 der Angriff auf das World Trade Center die
gesittete Welt erschütterte, wurde beim Münchner Weltkongress Germania
latina (veranstaltet vom Seminar für Geistesgeschichte des
Humanismus) durch die „Singphoniker“ eine Kantate uraufgeführt,
namens Politicon, die der historischen Stunde – wovon wir im
Moment der Aufführung noch nichts ahnten - in geradezu beklemmender
Weise gerecht wurde. In diesem Politicon hatte Jan
Novák Texte über den Staatsfeind zusammengestellt und
komponiert, Texte von Cicero, Seneca und eben dem erwähnten Harry
C. Schnur, dem amerikanischen Juden, der anlässlich des Baus der
Berliner Mauer vor vierzig Jahren zur Verteidigung der Freiheit in
leidenschaftlichen lateinischen Distichen aufrief. Um die Lebendigkeit
des alten, toten Latein fühlbar zu machen, gebe ich wenigstens noch
ein Zitat (leider nur des Texts) aus diesem herrlichen Musikwerk: 61
Conspecto muro complectere mente, viator,
quam sit libertas proxima
servitio.
fallitur impavida quisquis negat esse tuendam
cura: ni vigilas, haud mora,
servus eris,
Hast du die Mauer erblickt, so
bedenke denn, Wandrer, im Geiste,
56 Vgl. das oben (Anm.53)
zitierte Heft von Der altsprachliche Unterricht und ganz besonders
das grundlegende Buch von Andreas Fritsch, Lateinsprechen im
Unterricht: Geschichte – Probleme – Möglichkeiten, Bamberg
1990.
57 Einen Überblick über die
lateinische Dichtung des 20. Jahrhunderts gibt Theodoricus (Dirk)
Sacré, Musa superstes: De poesi saeculi XXiLatina, Rom
2001.
58 Vgl. Monika Balzert, „Rühmen und
gerühmt werden: Josef Eberle als lateinischer Dichter“, in:
Karlheinz Geppert (Hrsg.), Josef Eberle: Poet und Publizist,
Stuttgart 2001.
59 Zu ihm bes. Gilbert Tournoy / Dirk
Sacré (Hrsg.), Pegasus devocatus: Studia in honorem C. Arri
Nuri sive Harry C. Schnur, Löwen 1992
60 Vgl. W. Stroh, „Jan Novák:
moderner Komponist antiker Texte”, Atti dell’ Accademia Roveretana
degli Agiati a. 249 (1999), ser. VII, vol. IX, A, 33-62 und ders.,
„De Iano Novák musico et poeta“ in: Keßler / Kuhn, Germania
latina (wie oben Anm. 30) 195-216; mehr unter www.klassphil.uni-muenchen.de/~stroh/j_novak.htm.
61 Der gesamte Text (mit
Übersetzung) ist abgedruckt in “Texte zu Jan Nováks
Politicon“ in: Keßler / Kuhn, Germania latina (wie oben
Anm. 30), 216-220. Die Publikation einer CD der „Singphoniker“, die
auch dieses Werk enthalten soll, ist in Aussicht gestellt.
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wie der Freiheit so
nah immer die Knechtschaft auch wohnt.
Wer um diese nicht wachsamen
Sinns und furchtlos besorgt ist,
täuscht
sich: Gibst du nicht acht, bist du ein Sklave im Nu.
Auch wenn es heute viele nicht sehr viele sind, die solche lateinischen
Verse genießen oder würdigen, diese haben bei sich doch den
Reisepass in die Unsterblichkeit. Denn das Gespenst Latein, das
gewissermaßen von der Höhe seines Ahnenschlosses aus die
Generationen kommen und gehen sieht, ist ja selber unwandelbar und
unsterblich. Es wird eine Zeit geben, unweigerlich, wo man auch die
Verse Schillers und Goethes, ja auch Rilkes und Brechts, nicht mehr oder
nur in Übersetzungen wird verstehen können. Wer Latein
schreibt, braucht dies nicht befürchten; er blickt mit dem Kopf
eines Janus, wie durch Jahrhunderte zurück, so nach vorne, er
spricht, wie mit Cicero und Erasmus, so mit der Nachwelt und wird immer
seine Leser finden – falls er sie verdient, versteht sich. Dixi.